Année politique Suisse 2010 : Partis, associations et groupes d'interêt / Partis
 
Sozialdemokratische Partei (SP)
Der Rücktritt von Bundesrat Moritz Leuenberger kam für die meisten Beobachter überraschend, war doch erwartet worden, dass der SP-Magistrat 2011 noch ein weiteres Jahr als Bundespräsident amtieren würde. Die SVP kündigte sofort an, den SP-Sitz attackieren zu wollen. In der SP positionierten sich vier Frauen als potentielle Nachfolgerinnen. Der Baselstädter Regierungsrätin Eva Herzog und der St. Galler Nationalrätin Hildegard Fässler wurden lediglich Aussenseiterchancen eingeräumt. Schliesslich nominierte die SP-Fraktion Anfang September ein Zweierticket bestehend aus Nationalrätin Jacqueline Fehr (ZH) und Ständerätin Simonetta Sommaruga (BE). Bei den Bundesratsersatzwahlen setzte sich Simonetta Sommaruga im dritten Wahlgang gegen Jacqueline Fehr und im vierten Wahlgang gegen den SVP-Herausforderer Jean-François Rime durch. Einziger Wermutstropfen der Wahl der Berner Ständerätin war der drohende Verlust des Ständeratssitzes ihrer Partei [8].
Für einen Eklat sorgte SP-Präsident Christian Levrat, der – unzufrieden mit der Departementsverteilung nach den Bundesratsersatzwahlen – den Präsidenten der FDP Fulvio Pelli der Lüge bezichtigte. Die FDP hätte versprochen, dass sie einen Departementswechsel der Bundesräte Maurer und Widmer-Schlumpf verhindern würde und einer Sitzverteilung nach dem Anciennitätsprinzip nicht entgegenstehen würde, unter der Bedingung, dass die SP den FDP-Bundesratssitz unterstützte. Beide Versprechen hätten die Freisinnigen nicht eingehalten. Die grosse Rochade bei der Departementsverteilung hatte zur Folge, dass die SP nicht nur das Uvek an die CVP abgeben musste, sondern auch, dass Bundesrätin Sommaruga als Konsumentenschützerin nicht das Volkswirtschaftsdepartement erhielt, sondern als Nichtjuristin das EJPD übernehmen musste. Pelli seinerseits kündigte eine Verleumdungsklage gegen Levrat an. Die Causa Levrat-Pelli beschäftigte die Presse einige Tage lang, bevor der Streit Mitte Oktober mit einer dürren Medienmitteilung beigelegt wurde [9].
Die Sozialdemokraten konnten den Solothurner Ständeratssitz, der nach dem Tod von Ernst Leuenberger vakant war, gegen die Angriffe von CVP und SVP verteidigen. Roberto Zanetti wurde im zweiten Wahlgang mit grossem Vorsprung gewählt [10]. Bei den im Berichtsjahr in acht Kantonen (AI, BE, GL, GR, JU, NW, OW und ZG) abgehaltenen kantonalen Regierungswahlen konnte die SP Teilerfolge verbuchen. In allen Kantonen, in denen die Partei an der Regierung beteiligt war, konnte sie ihre Sitze verteidigen. Im Kanton Jura vermochte sie zudem auf Kosten der CSP einen zweiten Sitz zu erobern. Allerdings schaffte es die SP im Kanton Zug nicht, den vor vier Jahren an die ‚Alternative – die Grünen‘ verlorenen Sitz zurückzuerobern. In den Kantonen Nidwalden und Obwalden war die SP gar nicht erst zu den Regierungswahlen angetreten. In den letzgenannten drei Kantonen sowie in Appenzell Innerrhoden haben die Sozialdemokraten damit keine Regierungsbeteiligung [11].
Den Abwärtstrend bei den kantonalen Parlamentswahlen konnten die Sozialdemokraten anlässlich der Neubesetzung der Legislativen in den Kantonen BE, GL, GR, JU, NW, OW und ZG nicht stoppen. In allen Kantonen – mit Ausnahme des Kantons Jura – mussten sie Wählerverluste hinnehmen. In Bern sank der Wähleranteil um 5.2 Prozentpunkte. Weniger als ein Fünftel der Bernerinnen und Berner wählten die SP (18.9% Wähleranteil). Auch in Obwalden (-2.2 Prozentpunkte), Glarus (-0.8 Prozentpunkte) und Nidwalden (-1.0) büsste die SP Wähler ein. Im Kanton Zug stagnierte sie bei 9.1% Wähleranteil. Einzig im Kanton Jura war ein Aufwärtstrend zu verzeichnen: hier legte die SP um 1.3 Prozentpunkte zu (neu: 21.2% Wähleranteil). Dieser Zuwachs wirkte sich denn auch in einem Sitzgewinn im Jurassischen Parlament aus. Schweizweit verlor die Partei damit im Berichtsjahr zwölf kantonale Mandate. Sie konnte ihre Parlamentssitze zwar in Obwalden (6), Nidwalden (1) und Zug (8) halten, verlor aber Mandate in Bern (-7 Sitze / neu: 35 Sitze), Glarus (-4 / 8) und Graubünden (-2 / 12). Die SP scheint dabei insbesondere Wähler an die Grünen, aber auch an die BDP und die GLP verloren zu haben [12].
Anlässlich der Medienkonferenz am Dreikönigstag verkündete Parteipräsident Levrat, dass das Jahr 2010 für die SP im Zeichen der Sozialpolitik stehen werde. Wohl auch im Hinblick auf die Wahlen wurden eine Reihe von entsprechenden Initiativen angekündigt: Im Februar lancierten die Sozialdemokraten die 2009 an einem ausserordentlichen Parteitag beschlossene Cleantech-Initiative, die mit Hilfe eines Ausbaus der Investitionen in alternative Energien neue Arbeitsplätze schaffen will. Zusammen mit den Gewerkschaften wurde zudem eine Mindestlohninitiative ausgearbeitet, deren Unterschriftensammlung im Januar 2011 begann. Im Mai hatten die Delegierten beschlossen, dass ein Mindeststundenlohn von 22 Franken in der Bundesverfassung festgeschrieben werden soll. Zudem wurde im Berichtsjahr ein neuer Anlauf in Richtung Einheitskrankenkasse genommen. Die entsprechende Unterschriftensammlung begann ebenfalls zu Beginn des Wahljahrs 2011. Ein ähnliches Begehren war erst 2007 an der Urne deutlich abgelehnt worden. Im neuen Vorstoss wurde auf einkommensabhängige Prämien verzichtet. Die JUSO hatten bereits im Herbst 2009 ihre 1:12-Initiative lanciert, mit der sie Maximallöhne in einem Betrieb auf das Zwölffache des Mindestlohnes beschränken will. Im September reichte die SP zudem die gültigen Unterschriften für die Initiative „Für eine starke Post“ ein. Mit dem Begehren soll der Liberalisierung des Postmarktes Einhalt geboten werden [13].
Auch den Sachvorlagen, welche die Sozialdemokraten im Berichtsjahr an die Urne brachten, war wenig Erfolg beschieden. Die Partei feierte zwar im März die Ablehnung der Anpassung des BVG-Umwandlungssatzes, gegen welche die SP zusammen mit Gewerkschaften das Referendum lanciert hatte. Das deutliche Nein wurde von Parteipräsident Levrat als Motivationsspritze für die Wahlen 2011 betrachtet, denn seit sechs Jahren, also seit dem gewonnenen Urnengang zur 11. AHV-Revision, hatte die SP keinen Referendumserfolg mehr feiern können. Dieses Ergebnis sollte allerdings im Berichtsjahr die Ausnahme bleiben: Die SP scheiterte mit ihrem Referendum zur 4. Revision der Arbeitslosenversicherung, das sie Ende Februar, also noch vor Abschluss der Parlamentsdebatte, an der Delegiertenversammlung einstimmig beschlossen hatte. Ebenfalls keine Chance hatte die Partei mit der Steuergerechtigkeitsinitiative. Gleich nach der Abstimmungsniederlage kündigte die SP die Planung einer nationalen Erbschaftssteuerinitiative an [14].
Viel zu reden gab das neue Parteiprogramm. Das alte war im November 1982 verabschiedet worden und galt in den Worten von Generalsekretär Thomas Christen als „nicht mehr zeitgemäss, ja hoffnungslos veraltet“. Allerdings stelle ein SP-Parteiprogramm immer einen Generationenauftrag dar und nicht ein kurzlebiges Bild aktueller Forderungen. Mit der Umsetzung der wissenschaftlichen Beiträge und der Resultate der Diskussionen mit der Basis wurde Hans-Jürg Fehr (SH) beauftragt. Dieser hatte bereits 2004 bei seinem Amtsantritt als Parteipräsident (bis 2008) auf die Dringlichkeit eines neuen Programms hingewiesen. Anfang April wurde ein erster Entwurf den Medien vorgestellt. Neben visionären Entwürfen für eine neue, demokratische Wirtschaftsordnung, – in den Medien als Aufruf zur Überwindung des Kapitalismus verbreitet – umfasste der Vorschlag auch konkrete Forderungen nach Mindestlöhnen, progressiven Steuern, der Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht oder einer Aufstockung der Bildungsausgaben. Darüber hinaus wollen die Sozialdemokraten ein Verfassungsgericht einführen und Kantonsfusionen fördern. Festgehalten wird am Ziel eines EU-Beitritts. In der anschliessenden Vernehmlassung zum Programm, die bis Ende Juli dauerte, wurde einige Kritik laut. Über 1000 Anträge wurden schliesslich eingereicht. Die Basis störte sich insbesondere an der nicht ganz zeitgemässen Sprache und der Länge des Textes. Gefordert wurden konkretere Positionen. Diskussionsbedarf bestand insbesondere zum Konzept der demokratischen Marktwirtschaft (Kapitalismus überwinden, zähmen oder tolerieren), zur Armee (abbauen, umbauen oder abschaffen), und zur Gewichtung des Ziels eines EU-Beitritts. Einzig die JUSO forderten eine noch stärkere ideologische Auseinandersetzung.
Nach zweitägiger Debatte am Parteitag in Lausanne, gab sich die SP schliesslich ein neues Programm. Gegen den Antrag der Parteileitung, die sich für den Begriff der Wirtschaftsdemokratie ausgesprochen hatte, blieben der demokratische Sozialismus und die Überwindung des Kapitalismus als Zielsetzungen bestehen. Ebenfalls gegen den Willen der Geschäftsleitung wurde beschlossen, die Abschaffung der Armee und das erwerbslose Grundeinkommen als Ziele ins Programm aufzunehmen. Nur knapp abgelehnt wurde die Idee einer Volkspension und der Abschaffung der zweiten Säule. Obwohl es viele kritische Stimmen gab, wurde auch am Ziel des EU-Beitritts letztlich nicht gerüttelt. Das Programm wurde mit 420 zu 5 Stimmen bei 15 Enthaltungen angenommen. Die Parteileitung muss künftig über den Umsetzungstand des Programms periodisch Rechenschaft ablegen. In der Presse wurde ausserordentlich lange über das neue Programm berichtet. Dass dieses nicht überall auf Wohlwollen stiess, zeigte der Rückkommensantrag zweier Berner Sektionen [15].
Zu Beginn des Berichtsjahrs hatte die SP angedroht, den Staatsvertrag mit der USA zum UBS-Deal zu torpedieren, wenn nicht flankierende Massnahmen insbesondere in Form von Bankenregulierungen oder einer Boni-Steuer geschaffen würden. Nachdem die SVP entgegen ihrer ursprünglichen Absicht umschwenkte und im Mai signalisierte, dem Staatsvertrag zuzustimmen, hatten die Sozialdemokraten jedoch mit ihrer Forderung im Parlament keine Chance. Demonstrativ trat die SP zusammen mit den Grünen und den Gewerkschaften nach der Annahme des Staatsvertrages am Ende der Sommersession vor die Medien. Mit scharfer Rhetorik wurde der Entscheid kritisiert: Die Finanzkrise verkomme zur Demokratiekrise und man sehe sich gezwungen, die demokratischen Verhältnisse mit Hilfe des Initiativrechts wiederherzustellen. Parteipräsident Levrat machte dabei Werbung für die im November anstehende Steuergerechtigkeitsinitiative und die 1:12-Initiative der JUSO. SP und Gewerkschaften dachten zudem laut über ein Volksbegehren zur Offenlegung von Parteispenden oder über eine eigene Abzockerinitiative nach [16].
In der Ablehnung der Ausschaffungsinitiative waren sich die Sozialdemokraten grundsätzlich eins. Uneinigkeit bestand aber darüber, ob der Gegenvorschlag zur Annahme empfehlen werden sollte oder nicht. Die Parteileitung hatte zuerst die Ablehnung des Gegenentwurfs empfohlen, was einige National- und Ständeräte – federführend Andy Tschümperlin (SZ) und auch die spätere Bundesrätin Simonetta Sommaruga – als strategischen Fehler betrachteten. Am Parteitag von Ende Oktober in Lausanne entschieden die Delegierten mit einer Zweidrittelmehrheit, auch den Gegenvorschlag zur Ablehnung zu empfehlen. Ein linkes Pro-Komitee machte sich in der Folge trotzdem für die Annahme des Gegenentwurfs stark. Die Befürchtung, mit einem doppelten Nein der Initiative zum Durchbruch zu verhelfen, spiegelte sich auch in den abweichenden Parolen von nicht weniger als zehn Kantonalsektionen wieder [17].
Ihre Position zum Islam in der Schweiz umriss die SP-Bundeshausfraktion in einem Papier, das sie im Juli verabschiedete. Gefordert wurde beidseitige religiöse Toleranz, was die Bildung von Parallelgesellschaften verhindern helfe und Hasspredigern die Gefolgschaft entziehe. Ein explizites Verbot von Burka oder Kopftuch lehnt die SP ab, hält aber fest, dass die Ganzkörperverhüllung aus westlicher Sicht eine Menschenrechtsverletzung darstelle, dass das religiös begründete Tragen von Kopftüchern im öffentlichen Dienst nicht angebracht sei, und dass die Dispensierung von Schulkindern für einzelne Stunden oder Veranstaltungen aus religiösen Gründen unerwünscht seien [18].
Für Kritik sorgte der Bruch zwischen der SP und dem ersten dunkelhäutigen Nationalrat Ricardo Lumengo. Nachdem dieser in erster Instanz durch ein Bieler Gericht wegen Wahlfälschung verurteilt worden war, forderte die SP Bern den sofortigen Rücktritt des Politikers aus dem Nationalrat. Dieser wollte den Entscheid weiterziehen und das Urteil des bernischen Obergerichts abwarten. Die heftige Kritik bewog Lumengo dann aber zum Austritt aus der SP und der Partei ging so ein Nationalratssitz verloren. Der Partei wurde vorgeworfen, vorschnell gehandelt zu haben. Im Mai 2011 wurde Lumengo vom Vorwurf der Wahlfälschung freigesprochen [19].
Eine Debatte innerhalb der Bundeshausfraktion löste das Verwaltungsratsmandat von Ex-Bundesrat Moritz Leuenberger bei der Baufirma Implenia aus. Als Verkehrsminister hatte Leuenberger die NEAT zu betreuen, an deren Erstellung die Implenia massgeblichen Anteil hatte. Während dem Ex-Magistraten auf der einen Seite mangelndes Fingerspitzengefühl, mangelnde Sensibilität und sogar Unanständigkeit vorgeworfen wurde, wollte sich die andere Seite nicht in die persönlichen Angelegenheiten des Ex-Ministers einmischen. Die Fraktion beschloss schliesslich Leuenberger zu rügen und ihn zu einem Verzicht aufzufordern [20].
Die SP des Kantons Zürich, die mit Christine Goll und Andreas Gross (beide seit 1991) und Anita Thanei (seit 1995) drei der dienstältesten Parlamentarierinnen nach Bern schickt, beschloss Ende November, ihren Delegierten mehr Mitbestimmungsrecht bei der Bestellung der Nationalratsliste zu geben. Künftig sollen diese den Kandidierenden die Listenplätze zuweisen. Zudem sollen National- und Ständeräte mit mehr als zwölf Amtsjahren nur dann wieder zur Wahl aufgestellt werden, wenn sie eine Zweidrittelmehrheit erhalten [21].
 
[8] Ausführlich berichten wir zu den Bundesratswahlen oben Teil I, 1c (Regierung); Nominierung: Presse vom 4.9.10.
[9] Presse vom 28.9. bis 13.10.10; Zur Departementsverteilung siehe oben, Teil I, 1c (Regierung).
[10] Presse vom 25.1.10; SPJ 2009, S. 56; vgl. auch oben Teil I, 1e (Ständeratswahlen).
[11] Wir berichten ausführlich zu den Wahlen im Teil I, 1 e (Wahlen), zu den Stimmen- und Sitzanteilen vgl. auch den tabellarischen Anhang.
[12] TA, 15.10; Bund, 30.3.10; Lit: Nicolet/Sciarini; wir berichten ausführlich zu den Wahlen im Teil I, 1 e (Wahlen), zu den Stimmen- und Sitzanteilen vgl. auch den tabellarischen Anhang.
[13] NZZ, 7.1. und 22.3.10; Presse vom 23.3.10 (Clean-Tech); SN, 3.12.10; NZZ, 31.5.10 (Mindestlohn).
[14] SZ, 8.3.10; SGT 1.3.10; Lib, 1.3.10; TA, 1.12.10; Ausführlich zu den Abstimmungen und Parlamentsdebatten berichten wir oben, Teil I, 7c (berufliche Vorsorge bzw. Arbeitslosenversicherung) und 5 (Direkte Steuern).
[15] Christen: SN, 5.1.10; NZZ, 26.2.10; Presse vom 8.4. bis 19.4. und vom 1.11 bis 17.12.10; TA, 3.7. und 29.9.10; NZZ, 30.7 und 30.9.10.
[16] SGT, 26.5.10; NZZ, 26.6.10.
[17] Presse vom 3.7 und vom 1. bis 11.11.10; Zur Abstimmung vgl. oben, Teil I, 7d (Ausländerpolitik).
[18] TA, 2.7.10; NZZ, 3.7.10.
[19] Presse vom 20.2.10, vom 17.11.10 und vom 18.5.2011.
[20] Presse vom 30.11. und 1.12.10.
[21] NZZ, 30.11. und 1.12.10.