Année politique Suisse 2010 : Partis, associations et groupes d'interêt / Partis
 
Christlichdemokratische Volkspartei (CVP)
Nicht alle Parlamentarier der CVP waren einverstanden mit der Strategie der Parteispitze, bei den Bundesratsersatzwahlen den frei werdenden FDP-Bundesratssitz nicht anzugreifen. Nachdem die Kampfkandidatur Schwaller für die Nachfolge von Bundesrat Couchepin im Jahr 2009 gescheitert war, wollte man sich nicht auf eine neuerliche Herausforderung der FDP einlassen. Da Ständerat Bruno Frick (SZ) befürchtete, dass mit der Wahl von Schneider-Ammann der CVP auf längere Zeit die erneute Besetzung eines zweiten Sitzes verwehrt bleiben wird, schlug er eine Fusion mit der BDP vor. Eine Idee, die bei diversen Exponenten seiner Partei durchaus Beachtung fand [38].
Die CVP verlor bei den Ersatzwahlen für Hansruedi Stadler ihren Urner Ständeratssitz an den Parteilosen Markus Stadler. Dieser trat später der GLP bei. Die Nichtwahl der Urner Regierungsrätin Heidi Z’graggen und die Wählerverluste in Ob- und Nidwalden veranlassten die Partei zu einer Krisensitzung, an der eine Strategie zur Sicherung des Wahlerfolgs in den Stammlanden diskutiert und aufgegleist werden sollte [39].
Bei den kantonalen Regierungswahlen, die 2010 in acht Kantonen durchgeführt wurden (AI, BE, GL, GR, JU, NW, OW, ZG), konnte die CVP ihre Sitze mit Ausnahme der Exekutivmandate im Kanton Nidwalden halten. Dort verlor sie einen Sitz an die SVP. Im Kanton Appenzell Innerrhoden stellt sie neu die gesamte Regierung [40].
In allen sieben Kantonen, in denen im Berichtsjahr Parlamentswahlen durchgeführt wurden (BE, GL, GR, JU, NW, OW, ZG) musste die CVP bei den Wähleranteilen Verluste hinnehmen. Die grössten Niederlagen verbuchte die Partei in Glarus (-3.3% Punkte; neuer Wähleranteil 10.7%), in Nidwalden (-3.2% Punkte / neu 31.1%) und in Zug (-2.1% Punkte / neu 26.5%). Die Verluste liessen sich durch die Konkurrenz von BDP und GLP erklären. Trotz insgesamt 16 Sitzverlusten in sieben kantonalen Wahlgängen, blieb die CVP stärkste politische Kraft in den Kantonen Nidwalden, Obwalden, Zug und Jura [41].
Zu Beginn des Berichtsjahrs kündigte die CVP an, im Gegensatz zu allen anderen Parteien keine Initiative zu planen. Konkordanz sei wichtiger als Veto und Blockade und man stehe dem zunehmenden Gebrauch von Initiativen als Wahlkampfinstrument eher skeptisch gegenüber. Ende 2010 kam die Partei allerdings auf diesen Entscheid zurück und gab bekannt, ebenfalls ein Volksbegehren zu planen. 2011 wurden unter dem Motto „Familien stärken“ dann gleich zwei Initiativen lanciert, welche die Steuerbefreiung von Kinder- und Ausbildungszulagen sowie die Abschaffung der Heiratsstrafe (finanzielle steuerliche Benachteiligung von verheirateten Doppelverdienern) fordern [42].
In einem im März präsentierten Positionspapier verdeutlichte die CVP ihre Migrationspolitik. Sie spricht sich gegen die Abkehr von der Personenfreizügigkeit aus, stellt sich aber auch gegen eine weitere Öffnung der Schweiz. Die Zuwanderung aus nicht EU-Staaten möchte die CVP restriktiv handhaben. Als Bedingungen für Einbürgerungen werden ein erfolgreicher Sprachtest und die Akzeptanz der grundlegenden Schweizer Werte genannt, die Antragstellende mit der Unterzeichnung einer Charta zu bekräftigen hätten [43].
In einem Bildungspapier fordert die CVP eine Rückbesinnung auf die Vermittlung von Grundkompetenzen (Lesen, Schreiben, Rechnen). Die Partei bekennt sich zum Harmos-Konkordat und wünscht eine landesweite Vereinheitlichung der Lernstandards auf Gymnasialstufe. Sie will sich überdies für Leistungslöhne bei Lehrerinnen und Lehrern sowie für obligatorische Elternabende einsetzen. Der „Verakademisierung der Kindergartenlehrerinnenausbildung“ steht die Partei skeptisch gegenüber. In Bezug auf die Hochschulpolitik verlangt sie höhere Semestergebühren für ausländische Studierende, die sich in immer grösserer Zahl an Schweizer Universitäten immatrikulieren, sowie die Abschaffung des Numerus Clausus für das Medizinstudium [44].
Im März entwarf die CVP unter Federführung von Nationalrätin Lucrezia Meier-Schatz (SG) eine Umfrage, mit der eine Diskussion zum C im Namen angeregt werden sollte. Die Ergebnisse wurden im Dezember in einem Papier veröffentlicht. Die Studienverantwortlichen hielten fest, dass das C nicht für christliche Politik, sondern für eine auf dem christlichen Menschenbild bzw. auf christlichen Werten beruhende Politik stehe. Entsprechend repräsentiere die CVP eine den Menschen achtende und sich für seine Würde einsetzende Haltung [45].
Im April stellte die CVP einen 6-Punkte-Plan zum Gesundheitswesen vor, der Massnahmen zur Kostensenkung und Effizienzsteigerung vorschlägt. Zu diskutieren seien die Einschränkung lebensverlängernder Therapien bei todkranken Menschen und eine generelle Kosten-Nutzenabwägung aller therapeutischen Massnahmen. Zur effizienteren Spitalplanung soll die Schweiz in fünf zentral organisierte Gesundheitsregionen eingeteilt werden. Im Weiteren seien die Kostenschlüssel für stationäre und ambulante Spitalbehandlungen zu vereinheitlichen. In beiden Fällen sollen die Kantone 30% und die Krankenkassen 70% der Behandlungskosten übernehmen. Ergänzt wurde das Papier mit der Forderung zur Abschaffung von Krankenkassenprämien für Kinder. Es wurde an der Delegiertenversammlung im April in Chur als Resolution verabschiedet. An dieser Versammlung beschloss die Partei zudem einstimmig die Unterstützung der Initiative „Ja zur Hausarztmedizin“ [46].
Im Parteitag vom 22. August in Cham stand die Wirtschaftspolitik im Zentrum. Die Delegierten nahmen den Jahresbericht 2009 an, in welchem sich die Partei als treibende Kraft hinter der erfolgreichen Schweizer Wirtschaftspolitik lobt. Ebenfalls verabschiedet wurde eine Wirtschaftsresolution, in der die CVP die Too-big-to-fail-Debatte mit den an die Banken gerichteten Forderungen nach der Erhöhung der Eigenmittel und nach der Umwandlung von Fremd- in Eigenkapital ergänzt. Weiter fordert das Papier bessere steuerliche Rahmenbedingungen in den Kantonen für KMU, eine erleichterte Zulassung von Nicht-EU-Ausländern mit Schweizer Hochschulabschluss, Steuererleichterungen für Start-up-Unternehmen oder die Linearität des Beitragssatzes für die berufliche Vorsorge. Im Vorfeld der Versammlung umstritten war die Forderung auf den Verzicht eines Agrarfreihandelsabkommen mit der EU, war es doch die CVP-Bundesrätin Leuthard, die mit diesem Dossier rang. Eine deutliche Mehrheit der Delegierten sprach sich schliesslich für die Annahme der ALV-Revision aus, deren Abstimmung am 26. September anstand [47].
An der Delegiertenversammlung vom 16. Oktober in Brig wurde Nationalrat Gerhard Pfister (ZG) ins CVP-Präsidium gewählt. Der Parteitag befasste sich schwerpunktmässig mit dem Tourismus. Um die hohe Qualität des Tourismuslandes Schweiz zu halten und zur Attraktivitätssteigerung für Besucher aus aufstrebenden Ländern wie China, Russland, Indien oder Brasilien brauche es eine Aufstockung der Bundesbeiträge um 10% oder 20 Millionen Franken. Attraktive Regionen müssten einfach und schnell mit dem öffentlichen Verkehr erreichbar sein und am reduzierten Mehrwertsteuersatz für den Tourismus sei festzuhalten. Die Delegierten fassten zudem die Parolen für die Abstimmungen vom 28. November. Die Steuergerechtigkeitsinitiative und die Ausschaffungsinitiative wurden deutlich abgelehnt, der Gegenvorschlag zu letzterer aber zur Annahme empfohlen. Weil der Partei kaum Mittel für den Abstimmungskampf gegen die Ausschaffungsinitiative zur Verfügung stünden, forderte Christoph Darbellay die Delegierten auf, Leserbriefe zu schreiben [48].
Im Dezember sprachen sich die CVP-Frauen gegen den Willen der Bundeshaus-Fraktion und des Präsidiums für eine Annahme der Waffeninitiative aus. Im Gegensatz zur Mutterpartei, die 2011 die Nein-Parole beschloss, empfahlen auch die Kantonalsektionen ZH, BE, BS, AR und VD die Initiative zur Annahme [49].
Im März feierte die St. Galler CVP ihr 175-jähriges Bestehen. Als eine der ersten parteiähnlichen Vereinigungen im Kanton St. Gallen konstituierte sich die CVP 1834 in Gossau als „Katholischer Verein im Kanton St. Gallen“. Zum Fest gab sich die Kantonalpartei ein neues Leitbild und eine neue Parteiorganisation [50].
 
[38] BaZ, 10.8.10; TA, 14.8.10; NLZ, 24.9. und 25.9.10; ausführlich zu den Bundesratswahlen berichten wir in Teil I, 1 c (Regierung).
[39] TA, 27.3.10
[40] Wir berichten ausführlich zu den Wahlen im Teil I, 1 e (Wahlen).
[41] Wir berichten ausführlich zu den Wahlen im Teil I, 1 e (Wahlen).
[42] BaZ, 23.3.10; SN, 3.12.10.
[43] NZZ, 9.3.10; TA, 10.3.10.
[44] TA, 22.3.10; NZZ, 18.8.10.
[45] SOS, 26.3.10; www.cvp.ch.
[46] Presse vom 10.4.10; NZZ, 26.4.10; vgl. SPJ 2009, S. 318 zum bereits 2009 vorgeschlagenen 15-Punkte-Entwurf.
[47] NZZ, 23.8.10; zur ALV-Revision vgl. oben Teil I, 7c (Arbeitslosenversicherung); zur Debatte über das Agrarfreihandelsabkommen im Vorfeld der Delegiertenversammlung vgl. Presse vom 26.5. und vom 2.9.10.
[48] NZZ, 18.10.10.
[49] TA, und NLZ, 16.12.10; NZZ, 10.12.10.
[50] SGT, 5.3. und 22.3.10.