Année politique Suisse 2010 : Politique sociale / Assurances sociales
 
Invalidenversicherung
Die Zahl der Neurenten in der IV hatte 2009 nochmals um rund 10% abgenommen. Damit gewährte die IV insgesamt 44% weniger neue Renten als im Jahr 2003, dem Jahr mit der höchsten Anzahl an Neurenten, bevor die Trendwende eingesetzt hatte. Als Konsequenz dieser Entwicklung nahm auch der Rentenbestand weiter ab. Trotz dieser Entwicklung resultierte 2009 ein Defizit von 1,1 Mia Fr. Die Gesamtschuld der IV bei der AHV betrug unterdessen 14 Mia Fr. Mit der beschlossenen Zusatzfinanzierung soll das Defizit von 2011 bis 2017 durch erhöhte Einnahmen ausgeglichen werden. Während mit der 4. und 5. IV-Revision erfolgreich auf die Entwicklung der Neurenten eingewirkt wurde, nahm die Zahl der laufenden Renten nur langsam ab. Dem wollte der Bundesrat mit gezielten zusätzlichen Massnahmen und einer eingliederungsorientierten Rentenrevision entgegenwirken (siehe weiter unten, 6. IV-Revision) [7].
Eine im Vorjahr vom Ständerat überwiesene parlamentarische Initiative seiner Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit, welche forderte, das Bundesgesetz über die Sanierung der Invalidenversicherung an den Bundesbeschluss über die Änderung der befristeten Zusatzfinanzierung durch Anhebung der Mehrwertsteuersätze zeitlich anzupassen, wurde im Berichtsjahr von der grossen Kammer behandelt. Hier gab es Widerstand von Seiten der SVP-Fraktion. Diese wollte anstelle der 5 Mia Fr., die aus dem AHV-Fonds an den neu geschaffenen IV-Fonds übertragen werden, dem IV-Fonds ein zinsloses, rückzahlbares Bundesdarlehen in gleicher Höhe gewähren. Der Minderheitsantrag wurde jedoch mit 117 zu 53 Stimmen abgelehnt. In der Gesamtabstimmung passierte die Gesetzesvorlage den Nationalrat mit 118 zu 54 Stimmen [8].
In der Schlussabstimmung nahmen sowohl der Ständerat als auch der Nationalrat das Bundesgesetz einstimmig an [9].
Gegen den Willen der Regierung nahm der Nationalrat eine Motion seiner Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit mit 163 zu 13 Stimmen an. Die Motion verlangte, dass gewährleistet werden könne, dass die finanzielle Deckung und der Zugang zur Behandlung und den Leistungen für an Geburtsgebrechen erkrankte Personen auch nach der Vollendung des 20. Lebensjahres, wenn der Anspruch auf IV-Leistungen erlischt, sichergestellt wird. Der Bundesrat hatte die Motion mit der Begründung abgelehnt, dass für eine Sonderbehandlung der Geburtsgebrechen gegenüber anderen Krankheiten die sachliche Rechtfertigung fehle. Die Kommission des Nationalrates hingegen hatte die Motion zur Annahme empfohlen. Eine parlamentarische Initiative Rossini (sp, VS), welche über die genannte Motion hinausging und forderte, dass bei Versicherten, die Anspruch auf die zur Behandlung von Geburtsgebrechen notwendigen medizinischen Massnahmen haben, die Altersgrenze (20. Altersjahr) erhöht oder aufgehoben wird, lehnte der Nationalrat jedoch mit 118 zu 62 Stimmen ab [10].
Eine parlamentarische Initiative der SVP forderte, dass Rentenauszahlungen an Personen im Ausland künftig kaufkraftbereinigt erfolgen sollten. Die Kommission des Nationalrates hatte die Initiative mit 10 zu 7 Stimmen bei 6 Enthaltungen zur Ablehnung empfohlen, weil das vermutete Einsparpotenzial in keinem Verhältnis zum Aufwand und zu den Kosten stehe. Der Nationalrat folgte seiner Kommission nicht und nahm die parlamentarische Initiative knapp mit 83 zu 81 Stimmen an [11].
Im Gegensatz zum Nationalrat, welcher im Vorjahr einer parlamentarischen Initiative Wehrli (svp, SZ) Folge gegeben hatte, lehnte der Ständerat ebendiese ab. Die Initiative hatte gefordert, dass die Hörgeräteversorgung von der IV in die Krankenversicherung übertragen wird. Die Kommission des Ständerates hatte die Initiative einstimmig zur Ablehnung empfohlen, da sie darin keinen tauglichen Weg zur Lösung des Problems der zu hohen Preise für Hörgeräte sah [12].
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IV-Revision
Der Bundesrat legte im Frühjahr eine Botschaft bezüglich eines ersten Massnahmenpaketes zur Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung vor. Eine weitere Revision des IV-Gesetzes erachtete die Regierung als unumgänglich, da die vom Volk 2009 angenommene Zusatzfinanzierung im Jahr 2018 auslaufen wird und danach das jährliche Defizit wieder auf 1,1 Mia Fr. ansteigen wird. Eine Sanierung der IV soll in zwei Schritten erfolgen: die rasch zu behandelnden ersten Massnahmen verfolgen eher kurzfristig zu realisierende Ziele. Weitere längerfristige Massnahmen sollen in einem zweiten Schritt angegangen werden. Die Botschaft betont vier Hauptbereiche: Mit einer eingliederungsorientierten Rentenrevision soll die Wiedereingliederung aktiv gefördert und damit die Zahl der Renten reduziert werden; durch eine Neuregelung des Finanzierungsmechanismus will der Bundesrat den Anteil des Bundes von den laufenden Ausgaben der IV entkoppeln und diesen nur noch nach der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung richten; da die Kosten gegenwärtig zu hoch sind, sollen im Hilfsmittelbereich Preissenkungen erfolgen und schliesslich muss gleichzeitig zur finanziellen Konsolidierung ein kostenneutraler Umbau des Leistungssystem im Bereich der Hilflosenentschädigung (Assistenzbeitrag) erfolgen. Durch die vorgeschlagenen Massnahmen könnten die Kosten nach Ansicht der Regierung beinahe halbiert werden [13].
Der Ständerat behandelte die Vorlage als Erstrat. Das Eintreten war zwar unbestritten, es gab aber auch Stimmen von linker Seite, welche die 6. IV-Revision für übereilt hielten, weil in ihren Augen erst die Auswirkungen der 5. Revision hätten evaluiert werden müssen. Die kleine Kammer nahm an der Vorlage des Bundesrates nur wenige Änderungen vor. So stimmte sie beispielsweise der veränderten Berechnungsweise des Bundesbeitrages an die IV zu, nahm jedoch eine Präzisierung vor. Nach einer intensiven Diskussion folgte der Ständerat dem Bundesrat und der Kommissionsmehrheit und stimmte gegen den Willen einer sozialdemokratischen Minderheit einer Überprüfung derjenigen Renten zu, die vor 2008 „gestützt auf eine Diagnose von organisch nicht erklärbaren Schmerzzuständen“ ausgesprochen worden waren. In der Gesamtabstimmung nahm der Ständerat den ersten Teil der 6. IV-Revision mit 24 zu 3 Stimmen an [14].
Wesentlich umstrittener war die Vorlage im Nationalrat. Hier kam es zu den für sozialpolitische Vorlagen typischen Konfrontationen zwischen dem linken und dem rechten Lager. Während die Bürgerlichen am Sparkurs festhalten wollten, bezeichnete das linke Lager die Revision als Programm des wirtschaftlichen und sozialen Ausschlusses und prangerte die aus seiner Sicht diskriminierenden Massnahmen an. Gegen den Willen dieser links-grünen Minderheit beschloss der Nationalrat schliesslich mit 121 zu 46 Stimmen das Eintreten auf die Vorlage. Eine Rückweisung an den Bundesrat mit dem Auftrag, die Arbeitgeber zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderung zu verpflichten und die Streichung von Renten einzuschränken, wurde mit 120 zu 57 Stimmen abgelehnt. Obwohl die grosse Kammer im Vergleich zum Ständerat nur geringfügige Differenzen schuf, kam es doch zu intensiven Diskussionen. Gegen den Willen des Bundesrates und einer Kommissionsminderheit nahm der Nationalrat eine Bestimmung an, welche vorsah, dass zum Zweck der Früherfassung auch die Krankenkassen der IV „verdächtige“ Fälle melden können. Eine links-grüne Minderheit hatte sich aus Datenschutzgründen gegen diese Regelung ausgesprochen. Bei Sanktionen gegen Personen, die sich Wiedereingliederungsmassnahmen verweigern, folgte der Nationalrat mit grosser Mehrheit der Fassung von Bundes- und Ständerat. Heftige Diskussionen löste Artikel 8b aus, welcher vorsah, dass Unternehmen mit über 250 Beschäftigten einen bestimmten Anteil an Personen einstellen müssen, deren Renten im Rahmen der 6. IV-Revision herabgesetzt oder aufgehoben wurden oder die Wiedereingliederungsmassnahmen durchlaufen haben. Die Quotenbefürworter betonten, dass ein gewisses Gleichgewicht zwischen den Anstrengungen, die von den Versicherten verlangt werden und jenen, die von den Arbeitgebern erwartet werden dürfen, hergestellt werden müsse. Die Gegner hingegen hielten Quoten für ineffizient, schwierig durchzusetzen und nachteilig für die kleinen und mittleren Unternehmen. Für die Quotenvariante stimmten die SP, die Grünen und die Hälfte der CVP, was für eine Mehrheit nicht ausreichte. Auch das Thema der Rentenüberprüfung führte wie zuvor im Ständerat zu Diskussionen. Der Nationalrat nahm diese schliesslich mit 116 zu 63 Stimmen an. Nach mehr als sechs Stunden Beratung nahm die grosse Kammer dieses erste Massnahmenpaket der IV-Revision in der Gesamtabstimmung mit 115 zu 63 Stimmen an [15].
 
[7] BSV, Sichtbarer Erfolg der 4. und 5. IV-Revision: Erneut deutlich weniger Renten im Jahr 2009, Februar 2010.
[8] AB NR, 2010, S. 50 ff. Siehe SPJ 2009, S. 214.
[9] AB SR, 2010, S. 364; AB NR, 2010, S. 579.
[10] Motion: AB NR, 2010, S. 1534 ff.; Parlamentarische Initiative: AB NR, 2010, S. 1534 ff.
[11] AB NR, 2010, S. 1812 ff.
[12] AB SR, 2010, S. 74 f. Siehe SPJ 2009, S. 215.
[13] BBl, 2010, S. 1817 ff.
[14] AB SR, 2010, S. 642 ff.
[15] AB NR, 2010, S. 2010 ff. und 2085 ff.