Année politique Suisse 2011 : Partis, associations et groupes d'interêt / Partis
 
Schweizerische Volkspartei (SVP)
Die SVP äusserte früh ihre ambitionierten Ziele für die eidgenössischen Wahlen: Eine weitere Erhöhung des Wähleranteils auf 30%, die Eroberung des Ständerates mit profilierten Kandidierenden in allen Kantonen und einen zweiten Sitz im Bundesrat. Potenzial sah die SVP in der Mobilisierung von ungebundenen Wählenden oder bisherigen Nichtwählern, die mit Hilfe des Kernthemas Zuwanderung in Verbindung mit den steigenden Mietpreisen, der steigenden Arbeitslosigkeit und der Aushöhlung der Sozialwerke angetrieben werden sollte. Zulegen wolle man in den Städten und in der Romandie, so Parteipräsident Brunner. Im Gegensatz zu den anderen Parteien kommunizierte die SVP keine Zahlen zu ihrem Wahlbudget. Schätzungen gingen von rund CHF 15 Mio. aus, was Brunner als „jenseits von Gut und Böse“ bezeichnete [59].
Mit dem Wahlslogan „Schweizer wählen SVP“, den die Partei bereits im Oktober 2010 präsentiert hatte, wollte man die traditionellen Werte der Schweiz betonen. Auch die Wahlplattform und ihre Kernthemen waren bereits im Vorjahr präsentiert worden: die Bekämpfung eines EU-Beitritts, ein schlanker Staat und eine restriktive Ausländer- und Asylpolitik. Bei Letzterer surfte die SVP auch dank der Annahme der umstrittenen Ausschaffungsinitiative im November des Vorjahrs auf einer Erfolgswelle, die sie zur Erreichung ihrer Wahlziele nutzen wollte [60].
Wie die anderen grossen Parteien wollte auch die SVP den eigenen Anhang mittels verschiedener Volksbegehren mobilisieren. Im Stadium der Unterschriftensammlung waren die Familieninitiative, mit der eine steuerliche Gleichbehandlung der Fremd- und Eigenbetreuung von Kindern gefordert wird und die Initiative für eine Volkswahl des Bundesrates. Beide Begehren wurden noch vor den Wahlen eingereicht. Im Juli des Berichtsjahres lancierte die SVP zudem eine weitere Initiative, mit der sie ihre Themenführerschaft in der Migrationspolitik bekräftigte. Mit der Initiative „gegen Masseneinwanderung“, mit der in der Folge in zahlreichen Inseraten Werbung für die Partei gemacht wurde, will die Partei die Zuwanderung in die Schweiz gezielter steuern. Die Initiative greift damit auch das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU an [61].
In Anbetracht der vorangegangenen Erfolge in den Kantonen (siehe unten) eher überraschend, konnte die SVP zum ersten Mal seit 1991 bei den Nationalratswahlen nicht mehr zulegen. Statt der erhofften 30% erzielte die Volkspartei 26.6% und büsste damit 2,3 Prozentpunkte an Wählerstimmen ein. Damit blieb sie allerdings die mit Abstand stärkste Fraktion in der grossen Kammer (7,8 Prozentpunkte vor der SP). Trotz des Erfolgs der BDP, die als Abspaltung der SVP auf Anhieb 5,4% Wählerstärke errungen hatte, waren die Verluste der SVP als eher gering einzuschätzen. So legte sie im Vergleich zu 2007 in jenen Kantonen weiter zu, in denen die BDP nicht angetreten war (OW, SH, AR, TI, JU). Ausnahmen waren die Kantone Genf, wo der MCG (MCR) die SVP konkurrenzierte, und Zug. In fast allen der übrigen 15 Kantone (in UR, GL und AI trat die SVP nicht an) verlor die SVP weniger Wählerprozente als die BDP zulegte. Auch für diese Regel finden sich Ausnahmen: in den Kantonen Waadt und Wallis vermochte die SVP ihren Wähleranteil trotz der neuen Konkurrenz zu steigern und in den Kantonen St. Gallen und Neuenburg entsprachen die Verluste der SVP in etwa den Gewinnen der BDP. Nur im Kanton Schwyz verlor die SVP deutlich mehr als die BDP zulegte. In elf Proporz- und zwei Majorzkantonen war die SVP 2011 wählerstärkste Partei (ZH, BE, SZ, ZG, SO, BL, SH, SG, GR, AG. TG, NW), allerdings hielt sie nur noch in Ob- und Nidwalden mehr als 40% des Wähleranteils. Im Kanton Schaffhausen erreichte sie 39.9% und in den Kantonen Schwyz und Thurgau sank sie erstmals seit 1999 wieder unter die 40%-Grenze. In der italienischen Schweiz konnte die SVP im Vergleich zu 2007 zulegen (von 9,6% auf 10,2%). Sie war dort aber immer noch schwächer als in der französischsprachigen Schweiz (20,2%), wo sich die Verluste in Grenzen hielten (2007: 20,9%) und in der Deutschschweiz (29,3%), wo am meisten Stimmenprozente verloren gingen (2007: 32,4%). Der Wählerstimmenrückgang von insgesamt 2,3 Prozentpunkten bedeutete im Vergleich zu 2007 den Verlust von acht Mandaten von einst 62. Vier Sitze waren bereits während der Legislatur 2007 an die BDP (je zwei in Bern und Graubünden) gegangen, wovon anlässlich der Wahlen ein Bündner Sitz zurückerobert werden konnte. Weil mit dem Übertritt des ehemaligen CVP-Manns Thomas Müller die Volkspartei damit unmittelbar vor den Wahlen 59 Mandate hielt, lag die Anzahl der im Wahlkampf verlorenen Mandate also eigentlich bei fünf: In sieben Kantonen musste die Volkspartei je einen Sitz abgeben (ZH, LU, SZ, OW, SG, VD, JU), in den Kantonen Nidwalden und Tessin konnte sie je einen dazugewinnen. Neu verfügte die SVP damit noch über 54 Sitze [62].
Mit den Behauptungen, die „Dunkelkammer Ständerat“ werde immer linker und „europhiler“ und die „Heimatmüdigkeit“ in der kleinen Kammer könne nur gestoppt werden, wenn mehr SVP-Kandidierende in den Ständerat gewählt würden, gelang es der Volkspartei nicht nur, den eigentlich kantonal ausgetragenen Ständeratswahlen nationale Bedeutung und Medienaufmerksamkeit zu verleihen, sondern sie verabreichte ihnen auch einen gehörigen Schuss Themenzentriertheit: Erst mit der Wahl von SVP-Personal – so die zugrunde liegende Idee – würde der Ständerat wieder für Schweizer Werte, also gegen Migration und EU, einstehen. Das Vorhaben, das in den Medien unter dem Titel „Sturm aufs Stöckli“ Niederschlag fand, muss im Nachhinein allerdings als gescheitert betrachtet werden. Zwar trat die SVP mit Ausnahme von lediglich sechs Ständen (OW, NW, AR, AI, TI und GE) in allen Kantonen mit teilweise namhaften und landesweit bekannten Personen zu den Wahlen in die kleine Kammer an und war damit auch für die zahlreichen nötigen zweiten Umgänge mitverantwortlich. Letztlich musste sie im Vergleich zu 2007 per Saldo aber sogar zwei Sitzverluste verkraften und sitzt lediglich noch mit fünf Vertretern im Ständerat. Einer ihrer Sitze war bereits während der vorangehenden Legislatur mit der Abspaltung der BDP verloren gegangen. Zwar vermochte die Partei bei den Ersatzwahlen für Bundesrätin Sommaruga im Frühling des Berichtsjahrs mit Adrian Amstutz kurzfristig das zweite Berner Mandat zu besetzen, nach wenigen Monaten in der kleinen Kammer musste dieser dann aber Hans Stöckli (sp) Platz machen. Weitere Sitzverluste erlitt die SVP in den Kantonen Graubünden und Aargau. In Graubünden war die SVP aufgrund der dortigen Stärke der BDP nach dem Rücktritt von Christoffel Brändli (svp) gar nicht erst angetreten und im Kanton Aargau scheiterte die angestrebte Rochade zwischen dem ehemaligen Nationalrat Giezendanner und dem ehemaligen Ständerat Reimann. Hier verlor die Volkspartei den Ständeratssitz an die SP (Bruderer). Einen Sitz gewinnen konnte die SVP im Kanton Schwyz, wo neu beide Kantonsvertreter der Volkspartei angehören. Alex Kuprecht wurde im ersten Wahlgang bestätigt und der für den zweiten Wahlgang nach seinem eigentlichen Rücktritt als Nationalrat reaktivierte Peter Föhn konnte den Sitz der CVP erobern. Die Angriffe in den weiteren Kantonen (ZH, LU, UR, ZG, FR, SO, BS, BL, SG, VD, VS, NE und JU), die mit bekannten Namen geführt wurden (z.B. Blocher, ZH, Baader, BL, Rime, FR, Brunner, SG, Parmelin, VD oder Freysinger, VS) führten zwar zu zweiten Wahlgängen, waren aber letztlich alle erfolglos. Verteidigen konnte die SVP ihre Sitze in jenen Kantonen, in denen eher als konziliant geltende Persönlichkeiten ihre Sitze verteidigten (Jenny in GL, Germann in SH, Roland Eberle neu in TG) [63].
Ein weiteres wichtiges Ziel der SVP wurde im Wahljahr ebenfalls verpasst: Der Partei blieb ein zweiter Bundesratssitz, auf den sie aus einer arithmetisch begründeten Konkordanz Anspruch erhob, bei den Bundesratswahlen verwehrt. Dies war auf unterschiedliche Gründe zurückzuführen. Erstens nahm ihre Niederlage bei den National- und Ständeratswahlen der SVP einigen Wind aus den Segeln. Zweitens machte die Partei bei der Auswahl ihrer Bundesratsanwärter eine überaus schlechte Figur. Sie brauchte sehr lange, bis sie endlich ein Zweierticket bestehend aus Jean-François Rime (FR) und Bruno Zuppiger (ZH) bekannt gab. Zuvor war lange gerätselt worden, ob die Volkspartei ein politisches Schwergewicht (Amstutz, Baader, Brunner, Eberle, Spuhler) auf den Schild heben würde. Als unprofessionell wurde die Kandididatenkür dann schliesslich nicht nur aufgrund der langen Vorlaufzeit bezeichnet, sondern auch weil Zuppiger aufgrund eines Vorwurfs, bei einer Erbschaft unrechtmässig Geld abgezweigt zu haben, seine Kandidatur zurückziehen musste. Anscheinend hatte die SVP-Spitze davon gewusst, aber trotzdem an Zuppiger festgehalten. In einer Nacht- und Nebelaktion wurde Hansjörg Walter für Zuppiger nachnominiert. Der Partei wurde vorgeworfen, es versäumt zu haben, die nötigen Kandidaten für den eindringlich geforderten zweiten Bunderatssitz aufzubauen. Drittens erwies sich bei den Bundesratswahlen ein Umstand als zentral, der sich auch bei kantonalen Regierungswahlen und bei den Ständeratswahlen deutlich gezeigt hatte: Die Oppositionspartei hat keine verlässlichen Partner mehr. Für ihren Kandidaten stimmte ausser beim Angriff auf den Sitz von Bundesrätin Widmer-Schlumpf praktisch nur die geschlossene SVP-Fraktion. Bei der Wahl der BDP-Bundesrätin erhielt Rime 41 Stimmen und Walter, der schon vor den Wahlen angekündigte hatte, nur für dieses Manöver zur Verfügung zu stehen, 63 Stimmen. Bei der Bestätigung des Sitzes von Didier Burkhalter erhielt Jean-François Rime 24 Stimmen, bei Simonetta Sommaruga 61 Stimmen, bei Johann Schneider-Ammann 64 Stimmen. Bei der Ersatzwahl für Micheline Calmy-Rey entfielen noch 59 Voten auf den SVP-Kandidaten [64].
Bei den in sieben Gliedstaaten stattfindenden kantonalen Wahlen (ZH, LU, FR, BL, AI, AR, TI) konnte die SVP in den Parlamenten zwar per Saldo zehn Sitze zulegen, musste aber ihren Regierungssitz im Kanton Basel-Landschaft abgeben. Darüber hinaus verlor die Partei bei Ersatzwahlen im Kanton Waadt ihren einzigen Exekutivsitz in der Romandie und ihre Angriffe auf die kantonalen Regierungen in den Kantonen Luzern und Freiburg scheiterten. Während die SVP in den Kantonen anders als auf nationaler Ebene bei der Besetzung der Legislativen also weiterhin Wählerstimmen gewann, vermochte sie bei Personenwahlen auch im kantonalen Rahmen nicht zu überzeugen. Den grössten Zuwachs in der Legislative feierte die Volkspartei im Kanton Luzern, wo sie die FDP überholte und mit 22,3% Wähleranteil (+3,2 Prozentpunkte) und dem Gewinn von vier Sitzen (neu: 27 Mandate) hinter der CVP zweitstärkste Partei wurde. Die Luzerner Wählerschaft gewährte der Volkspartei allerdings keinen Regierungssitz. Je drei Parlamentssitze konnte die SVP in den Kantonen Basel-Landschaft und Freiburg hinzugewinnen. Mit 24% Wähleranteil war die SVP in Basel-Landschaft neu die stärkste Fraktion im Landrat (neu: 24 Mandate). Trotzdem wurde ihr bisheriger Regierungsrat Jörg Krähenbühl zugunsten des Grünen Isaac Reber abgewählt. Im Kanton Freiburg legte die SVP um 2,6 Prozentpunkte zu und wusste nun 18,6% der Wählerschaft hinter sich, die sie mit 21 Mandaten vertritt. Der Angriff auf den frei werdenden Regierungssitz, den die Volkspartei 1996 verloren hatte, scheiterte hingegen. Auch hier wurde ein Vertreter der GP vorgezogen. Im Kanton Appenzell Ausserrhoden vergrösserte die SVP ihre Mandatszahl um zwei Sitze auf zehn. Ihre beiden Regierungsräte wurden bestätigt und neu stellt in Ausserrhoden nicht mehr die FDP, sondern die SVP den Regierungspräsidenten: Hans Diem (svp) setzte sich bei der Wahl zum Landammann gegen Matthias Weishaupt (sp) durch. Im Kanton Tessin konnte die SVP trotz starker Lega ihre fünf Sitze halten. Im Gegensatz zu 2007 trat sie bei den Tessiner Regierungsratswahlen 2011 nicht an. Verluste in kantonalen Parlamenten musste die SVP einzig im Kanton Zürich verkraften: Der Wähleranteil rutschte unter die 30%-Marke (29,6%; -0,9 Prozentpunkte), was mit einem Verlust von zwei Sitzen einherging. Mit 54 Mandaten blieb die SVP allerdings deutlich stärkste Kraft im Kanton Zürich. Die beiden Regierungsräte wurden denn auch bestätigt. Der überraschende Tod des Waadtländer SVP-Staatsrats und Ständeratskandidaten Jean-Claude Mermoud machte im Kanton Waadt Ersatzwahlen nötig. Die SVP unterlag im zweiten Wahlgang auch hier einer Kandidatur aus der Grünen Partei [65].
Gegen das 2010 an einer Delegiertenversammlung verabschiedete Papier zur Bildungspolitik, in dem die SVP eine Rückbesinnung auf alte pädagogische Werte, die Erlernung der „Schnürlischrift“, die Förderung der Mundart und die Abschaffung des Fremdsprachenunterrichts fordert, erwuchs parteiinterne Opposition. Nationalrat und Gymnasiallehrer Oskar Freysinger äusserte sich in der Presse dezidiert gegen diese Ideen [66].
An der Delegiertenversammlung in Emmenbrücke Mitte Januar empfahl die SVP die Waffenschutzinitiative mit 432 gegen eine Stimme zur Ablehnung. Die Armeewaffe zu Hause sei in der Schweiz Symbol und Teil der Freiheit. Die Initianten hätten kein Vertrauen in die Bürger – so die Argumentationen. Einzig Ständerat Jenny (GL) sprach sich – „aus persönlichen Gründen“ – für eine Annahme aus [67].
An ihrer Delegiertenversammlung in Lugano Ende März bekräftigte die SVP ihren Oppositionskurs in der EU-Politik. Gegen das geplante Vertragspaket der Bilateralen III wurde eine Resolution verabschiedet. Die Idee einer institutionellen Anbindung an die EU-Behörden bedeute eine automatische Übernahme von EU-Recht und müsse verhindert werden. In der Resolution wurde auch der definitive Rückzug des EU-Beitrittsgesuchs gefordert [68].
In der Energiepolitik blieb die SVP lange Zeit still. So war etwa die AKW-Frage an der Delegiertenversammlung Ende März in Lugano kein Thema. Die erfolgreichen kantonalen Wahlen in Zürich nahm Parteipräsident Brunner zum Anlass, einen Fukushima-Effekt in Abrede zu stellen, zumindest was die SVP anbelange, die sich für innenpolitisch wichtigere Themen engagiere. Kurz darauf versuchte die Volkspartei, die Atomfrage mit ihrem Kernthema Migrationspolitik zu verknüpfen: Wenn die Einwanderung weiterhin ungebremst weitergehe, so komme man um den Bau weiterer AKWs nicht herum. Verschiedene Parteiexponenten warnten vor einem unüberlegten Ausstieg und der Unmöglichkeit eines Verzichts auf Atomstrom [69].
In der Verkehrspolitik nahm die SVP eine strassenfreundliche Haltung ein. An der Delegiertenversammlung in Lugano warnte Ulrich Giezendanner (AG) vor einem drohenden Verkehrsinfarkt, weil es die bisherige Politik verpasst habe, ins Schweizer Strassennetz zu investieren. Die Bahn könne den Gütertransport nicht alleine bewältigen [70].
Die Umsetzungsvorschläge zur Ausschaffungsinitiative, die nach der Annahme des Begehrens im November 2010 von einer Arbeitsgruppe im Auftrag des EJPD ausgearbeitet und Ende Juni in einem Schlussbericht vorgelegt wurden, stiessen bei der SVP auf grosse Kritik. Die Partei beanstandete insbesondere, dass bei den Vorschlägen eine Auflistung der Delikte fehle, die zu einem Landesverweis führen sollen. Zudem mangle es an einer expliziten Festhaltung, dass die Ausschaffung unabhängig vom Strafmass zu erfolgen habe. Um die ursprüngliche Idee durchzusetzen, plante die SVP eine erneute Initiative, mit der ihr Vorschlag zur Umsetzung der Ausschaffungsinitiative in der Verfassung festgeschrieben werden soll. An der Delegiertenversammlung in Gossau am 1. Oktober wurde die Lancierung dieser neuen Initiative beschlossen, der Start der Unterschriftensammlung aber auf 2012 verschoben [71].
Die Masseneinwanderungsinitiative (siehe oben) löste in den Medien eine Debatte zur Stärke des Wirtschaftsflügels innerhalb der SVP aus. Die anhaltende Fokussierung der Partei auf die Ausländerpolitik und der Frontalangriff auf die Personenfreizügigkeit zeige, dass ihr wirtschaftsfreundlicher Flügel, der an der Personenfreizügigkeit eigentlich interessiert sei, an Gewicht verloren habe und sich immer weniger gegen die nationalkonservativen Kräfte durchsetzen könne. FDP-Parteipräsident Pelli und Fraktionspräsidentin Huber forderten die Exponenten des SVP-Wirtschaftsflügels brieflich zu einer Distanzierung von der Initiative auf. In der Folge hoben die Nationalräte Peter Spuhler (TG), Hansruedi Wandfluh (BE) und Alex Kuprecht (SZ) den Mahnfinger. Die Kündigung der bilateralen Verträge sei nicht zielführend, auch wenn deren Nachverhandlung durchaus nötig wäre [72].
Vorschläge in der Asylpolitik stellte die SVP-Spitze im Rahmen einer Medienkonferenz in Bern vor. Anlass dafür war die Präsentation der Zusatzanträge zur Asylgesetzrevision von Bundesrätin Simonetta Sommaruga. Die SVP hielt die Vorschläge zur Verkürzung der Asylverfahren für wirkungslos. Auch die SVP wolle kürzere Verfahren, dies aber durch eine Einschränkung der Rechtsmittel der Asylsuchenden erreichen. Mehrfach- oder Wiedererwägungsgesuche sollen verboten und der Familiennachzug für vorläufig Aufgenommene eingeschränkt werden. Zudem sollen die Abkommen von Schengen und Dublin gekündigt und die Kontrollen an den Schweizer Grenzen intensiviert werden [73].
Mit der Forderung eines Revitalisierungsprogramms, das eine Rationalisierung der Bundesbetriebe, die Senkung der Strompreise und die Reduktion von Steuern verlangte, nahm die SVP Stellung in der Diskussion um den starken Franken. Zudem solle der Mehrwertsteuersatz für die Tourismusbranche von 3,8% auf 1% gesenkt werden [74].
An die Albisgüetli-Tagung – traditionelle und häufig schlagzeilenträchtige Veranstaltung der Zürcher Kantonalsektion – wurde Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey eingeladen. Diese rief dazu auf, die Stärken der Schweiz auch ausserhalb der eigenen Grenzen zum Tragen zu bringen. In seiner Gegenrede griff SVP-Vizepräsident Blocher unter anderem auch die Nationalbank an, für die er schärfere Regeln forderte. Für Schlagzeilen sorgte eine Tätlichkeit von Linksautonomen gegen Hans Fehr (ZH), die im Vorfeld der Tagung im Internet zu einer Gegenkundgebung aufgerufen hatten. Fehr wurde auf dem Weg zum Albisgüetli von mehreren Demonstranten niedergerissen, geschlagen und getreten. Gastrednerin Calmy-Rey zeigte sich betroffen und empört und rief dazu auf, mit Worten und nicht mit Fäusten zu kämpfen. In der Folge bestätigten mehrere SVP-Exponenten, die Zunahme auch physischer Gewalt gegen sich und ihre Partei. Nach dem Vorfall veröffentlichten SP, CVP, FDP und SVP einen gemeinsamen Appell gegen Gewaltanwendung in der Politik [75].
Mediale Aufmerksamkeit fand eine Äusserung des SVP-Vizepräsidenten Christoph Blocher (ZH) bei dessen Neujahrsrede in Wynigen, in der er den Vorsitzenden der Euro-Gruppe Jean-Claude Juncker mit Hitler verglich. Juncker hatte in einem Interview den weissen Fleck in der Mitte der europäischen Landkarte als geostrategische Absurdität beklagt. Diese Aussage erinnere ihn an Hitlers Vergleich der Schweiz mit einem Stachelschwein. An einem Podiumsgespräch Mitte Januar, an dem die beiden Kontrahenten die Klingen kreuzten, wurde der Disput dann gütlich beigelegt, ohne dass sich Blocher allerdings für seine Aussage entschuldigt hätte [76].
Der von der CVP beklagte Parteiwechsel ihres Nationalrats Thomas Müller zur SVP löste dort unverhohlene Freude aus, kam diese damit doch zu einem zusätzlich Nationalratsmandat. Der ehemalige Präsident des Fussballclubs St. Gallen gab an, dass er sich in der SVP vor allem aufgrund ihrer Steuerpolitik besser aufgehoben fühle. Auch als Vertreter der neuen Partei schaffte Müller die Wiederwahl in den Nationalrat. Neben Müller liefen 2011 auch der Bündner CVP-Grossrat und ehemalige Pressesprecher von fünf Bundesräten Livio Zanolari sowie der Freiburger CVP-Kantonalpräsident Emanuel Waeber zur SVP über [77].
Die Ankündigung der SVP, wie bereits 2007 auch vor den Wahlen 2011 eine Wahlveranstaltung auf dem Bundesplatz veranstalten zu wollen, rief nicht nur unliebsame Erinnerungen an die damaligen gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Verletzten und hohem Sachschaden wach, sondern auch die Stadt Bern auf den Plan, die für die Organisation der Platzbenutzung verantwortlich ist. Auch die SP und die Gewerkschaften hatten für Oktober ein Demonstrationsgesuch eingereicht. Weil nur noch ein Datum frei sei und keine der beiden Parteien bevorzugt werden solle, schlug Reto Nause (cvp), Sicherheitsdirektor der Stadt Bern, ein Ersatzdatum am 10. September vor, das die SVP nach vorgängiger Weigerung schliesslich akzeptierte. Die als Familienfest angekündigte Wahlmanifestation provozierte die Ankündigung einer Gegenveranstaltung in der Berner Reitschule. Das SVP-Fest wurde in der Folge von rund 1 000 Polizisten beschützt, die Bern in eine eigentliche Festung verwandelten. Die Kosten für das Sicherheitsdispositiv, die von den Berner Steuerzahlern berappt werden mussten, wurden auf CHF 1 Mio. geschätzt, was laute Kritik provozierte [78].
Indem er für seinen „modernen Rütli-Rapport“ zur Beschwörung der schweizerischen Unabhängigkeit keine Bewilligung eingeholt hatte, widersetzte sich der Zentralvorstand der SVP der Benutzerordnung des Rütli. Diese von der zuständigen Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft (SGG) aufgestellte, rechtlich aber nicht bindende Regelung sieht vor, dass eine Veranstaltung mit mehr als 50 Personen auf der Rütli-Wiese bewilligt werden muss. Dabei wird Parteien grundsätzlich keine Bewilligung erteilt, was ein paar Wochen zuvor bereits die CVP erfahren hatte (siehe oben). SVP-Bundesrat Maurer, der eine Rede über General Guisan vorbereitet hatte, präzisierte, dass er seine Meinung überall ausdrücken wolle, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen. Er widersetzte sich der Weisung und hielt den Kaderrapport wie geplant ab. Die SGG reagierte mit grossem Befremden und verlangte eine offizielle Entschuldigung. Die Regierungspartei würde ein verfehltes Beispiel abgeben und die Hemmschwelle für andere politische Gruppen senken, so etwa Rechtsradikale, das Rütli ungebührlich zu instrumentalisieren. Die SVP verweigerte eine Entschuldigung und forderte ihrerseits eine Öffnung des Rütli für Parteien [79].
Anders als vor vier Jahren war die Medienresonanz auf die Wahlkampagne der SVP insgesamt gering. Hatten die Schäfchenplakate bei den Wahlen 2007 noch zu einem riesigen, der Partei zu Gratiswerbung verhelfendem Medienecho geführt, wurden die Plakate zur Masseneinwanderungsinitiative medial kaum debattiert. Einzige Ausnahme stellte das so genannte „Schlitzerplakat“ dar, auf dem die Messerattacke eines Kosovaren auf einen Schweizer als „Folge der unkontrollierten Masseneinwanderung“ dargestellt wurde. Der gewählte Plakattitel „Kosovaren schlitzen Schweizer auf“ musste auf Druck einiger Medien – zahlreiche weigerten sich, das Inserat überhaupt abzubilden – in „Kosovare schlitzt Schweizer auf“ geändert werden. Auch die Schweizer Bischofskonferenz protestierte gegen das Inserat und sprach in einem Communiqué von „gotteslästerlicher Menschenverachtung“ [80].
Zu einem eigentlichen Wahlspektakel verkam die Delegiertenversammlung Ende August in Oerlikon, an der keine Entscheide gefällt wurden, aber ein als Bundebrief gestalteter „Vertrag mit dem Volk“ von rund 200 National- und Ständeratskandidierenden der Partei unterzeichnet wurde. Mit der Unterschrift verpflichteten sich die Bewerberinnen und Bewerber, sich gegen einen allfälligen EU-Beitritt zur Wehr zu setzen, die Masseneinwanderung zu stoppen und dafür zu sorgen, dass kriminelle Ausländer ausgeschafft werden [81].
Nach der Wahlniederlage wurde in den Medien gemutmasst, ob und wie sich die SVP reformieren und von ihrem Übervater Christoph Blocher emanzipieren müsse. Insbesondere im Rahmen der wenig professionellen Kandidatenkür für die Bundesratswahlen wurde der parteiinterne Unmut gegenüber der Parteispitze in die Öffentlichkeit getragen. Diese hätte in letzter Zeit auch in der Fraktion nicht sehr transparent kommuniziert. Nach der Niederlage bei den Bundesratswahlen entbrannte dann ein offener Streit über die zukünftige Richtung der Partei. Während Blocher einen harten Oppositionskurs vorgab, sprachen sich gemässigtere Parteiexponenten für eine konstruktivere Opposition im Sinne eines das Konkordanzsystem mittragenden Status quo aus. Auch alt Bundesrat Adolf Ogi mischte sich in die Diskussion ein und empfahl Blocher einen geordneten und schrittweisen Rückzug. Der bereits vorher angekündigte Rücktritt von Caspar Baader als Fraktionschef gab dem Richtungsstreit ebenfalls Zunder. Die Parteispitze vertagte die Diskussion und die Wahl des neuen Fraktionschefs auf den Parteitag vom 28. Januar 2012, an dem auch entschieden werden sollte, ob die Partei künftig Regierungspartei bleiben oder in die Opposition treten soll. Fraktionsintern wurde allerdings bereits am 20. Dezember eine Aussprache vorgenommen, an der die Strategie und die Kommunikation der Parteileitung besprochen wurden. Die Fraktion beschloss, der Delegiertenversammlung das Verbleiben in der Regierung zu empfehlen. Gegen aussen gaben sich die Fraktionsmitglieder im Anschluss an die Aussprache wieder geeint [82].
 
[59] So-Bli, 2.1.11 (Jenseits von Gut und Böse); BaZ, 3.1.11; 24h, 11.1.11; NZZ, 5.2.11.
[60] 24h, 11.1.11; vgl. SPJ 2010, S. 365 f.
[61] BBl, 2011, S. 6671 (Familieninitiative); BBl, 2011, S. 6585 (Volkswahl des Bundesrates); BBl, 2011, S. 6269 (Masseneinwanderung); 24h, 11.1.11; SGT, 20.4.11 (Volkswahl); Presse vom 24.5., 30.5. und 26.7.11 (Lancierung und Beginn Unterschriftensammlung Masseneinwanderung); Presse vom 8.7.11 (Einreichung Volkswahl); Presse vom 13.7.11 (Einreichung Familieninitiative).
[62] Presse vom 24.–26.10.11; Lit. BFS, vgl. oben Teil I, 1e (Eidgenössische Wahlen) und die detaillierten Resultate im Anhang.
[63] TA, 6.1.11; NZZ, 17.1.11 (Dunkelkammer, europhil, heimatmüde); SZ, 7.3.11 und SoS, 8.3.11 (Ersatzwahlen in Bern); Presse vom 8.4.11 (Ankündigung der Kandidaturen Blocher, Brunner, Baader); Presse vom 24.10., 28.10., 13.11., 21.11., 28.11. und 5.12.11; NZZ, 7.12.11; vgl. oben Teil I, 1e (Eidgenössische Wahlen).
[64] Rime: SZ und SOS, 2.3.11; Baader: Presse vom 28.10; Eberle: AZ, 9.9.11; Amstutz: BZ, 7.11.11; Spuhler: Blick, 18.11.11; Brunner: SoZ, 13.11.; Parmelin: NZZ, 14.11.11, 24h, 19.11.11; Germann: BaZ, 16.11.11; Stark: SGT, 25.11.11; Tännler: Presse vom 30.11.11; Zuppiger: Presse vom 29.11. und 30.11.11; SPJ 2008, S. 33; Vorwürfe gegen Zuppiger: WW, 8.12.12; Presse vom 8.12. und 9.12.11; Nachnominierung Walter und Kritik: Presse vom 9.12. und 10.12.11.
[65] ZH: NZZ, 4.4.11; FR: NZZ, 2.11., 15.11. und 5.12.11; LU: NZZ, 12.4.11; in AI wird die Parteizugehörigkeit nicht ausgewiesen; hier stellt die SVP eine kleine Gruppe von Grossräten; vgl. oben Teil I, 1e (Wahlen in kantonale Parlamente / Wahlen in kantonale Regierungen) und den detaillierten Anhang.
[66] TA, 3.1.11; Lib. und NF, 4.1.11; vgl. SPJ 2010, S. 366.
[67] LT, 17.1.11.
[68] Presse vom 28.3.11.
[69] NZZ, 28.3.11; Blick, 29.3.11; NZZ und TG, 4.4.11; BaZ, 5.4.11.
[70] BZ, 28.3.11.
[71] Presse vom 9.7.11; SGT, 19.9.11; LT, 3.10.11; Medienmitteilungen BFM vom 28.06.2011 (vgl. ausführlich Teil I, 7d, Ausländerpolitik).
[72] Presse vom 27.7.11; AZ, 29.7.11; SoS, 30.7. und 3.8.11; Blick, 8.8.11.
[73] NZZ, 27.9.11.
[74] TA, 5.4.11; AZ und SoS, 6.8.11.
[75] AZ, 18.1.11; Presse vom 22.1. und 24.1.11; NZZ und BaZ, 24.1.11; LT, 25.1.11.
[76] So-Bli, 2.1.11; Presse vom 3.1. und 13.1.11.
[77] So-Bli, 16.1.11; Presse vom 17.1.11; 24h, 18.1.11; BZ, 17.3. und 25.3.11; Presse vom 28.3.11.
[78] Presse vom 15.2., 26.3., 15.4.11; BZ, 31.8.11; TA, 10.9.11; Presse vom 12.9.11; BZ, 13.9.11.
[79] NLZ, 28.5.11; LT, 30.5.11; Presse vom 4.6., 6.6. und 7.6.11; vgl. auch oben Teil I, 1a (Grundsatzfragen).
[80] Presse vom 27.8.11.
[81] Presse vom 29.8.11.
[82] TA, 27.10.11; SoZ, 11.12.11; Presse vom 16.12., 21 und 22.12.11.