Année politique Suisse 2011 : Partis, associations et groupes d'interêt / Partis
Bürgerlich-Demokratische Partei (BDP)
Wahlziele der 2008 gegründeten und erstmals bei nationalen Wahlen antretenden BDP waren die Verdoppelung der Nationalratsmandate von fünf auf zehn und die Verteidigung des Berner Ständeratssitzes. Parteipräsident Hans Grunder (BE) gab an, vor allem auf Wählerstimmen in der Mitte und auf dem Land abzuzielen und so gesamtschweizerisch 5% der Wählerschaft hinter sich bringen zu wollen. Man wolle Personen ansprechen, die sich in der bestehenden Schweizer Politlandschaft nicht mehr aufgehoben fühlen. Mit einer verstärkten Zusammenarbeit der Mitteparteien wurde zudem die Verteidigung des Bundesratssitzes von Eveline Widmer-Schlumpf anvisiert. Eine Fusion mit der CVP schloss Grunder aber aus. Für den Wahlkampf stehe ein Budget von rund CHF 400 000.- zur Verfügung
[107].
Die BDP hatte Mühe, sich thematisch zu profilieren. Sie zehrte vor allem vom Charisma ihrer Bundesrätin und ihrer Frische als junge Partei. Davon zeugte auch ihr Wahlslogan „DIE neue Kraft“. Die BDP wollte aber kein „Widmer-Schlumpf-Fan-Club“ sein, sondern im Wahlkampf auch mit
Themen punkten. Ein erstes Papier mit einem ganzen Strauss an möglichen Inhalten wurde Mitte Januar an der Delegiertenversammlung in Liestal präsentiert. Der Wahlkampf startete dann mit einer Pressekonferenz Mitte März. Diese fand später als geplant statt, da die Plakatkampagne aufgrund der Weigerung von Eveline Widmer-Schlumpf, dafür ihr Konterfei zur Verfügung zu stellen, neu kreiert werden musste. An besagter Pressekonferenz gedachte die BDP sich als „echte bürgerliche Alternative“ zu präsentieren: Eine Schuldenbremse für die Sozialversicherungen, die Aufhebung der Unterscheidung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung, das Ende der steuerlichen Ungleichbehandlung von Ehe- und Konkubinatspaaren, ein Ausbau der flankierenden Massnahmen bei der Personenfreizügigkeit, Blockzeiten in der Grundschule sowie eine stärkere Gewichtung von naturwissenschaftlichen Fächern an Grund- und Mittelschulen sollten die potenziellen Wählerinnen und Wähler ansprechen. Anlässlich der Delegiertenversammlung Ende März in Sempach gab die Partei den bewussten Verzicht auf eine Volksinitiative als Wahlköder bekannt
[108].
Nach dem Ausschluss der Bündner Sektion aus der SVP und der Solidarisierung von Teilen der Glarner und der Berner SVP mit den Bündnern war es 2008 zur Gründung der BDP gekommen. Bis zum nationalen Wahltermin hatte die Partei erfolgreich einige kantonale Wahlen bestritten: In den drei Gründerkantonen erhielt sie über 15% der Wählerstimmen und auch in den Kantonen Aargau (2009), Zürich, Freiburg und Basel-Landschaft(alle 2011, siehe unten) war sie in der kantonalen Legislative vertreten. Insgesamt waren 16 kantonale Sektionen aufgebaut worden – darunter die 2011 gegründeten Sektionen in der Waadt und Basel-Stadt – die sich alle zum ersten Mal an den
Nationalratswahlen beteiligten. In der Innerschweiz (UR, OW, NW, ZG), in Schaffhausen, den beiden Appenzell, im Tessin sowie in Genf und Jura war die neue Mittepartei noch nicht organisiert und trat nicht an. Durch Parteiwechsel hatte die BDP bereits vor den Wahlen über je zwei Nationalratsmandate aus den Kantonen Bern und Graubünden, aufgrund von Nachwahlen über ein Glarner Mandat, verfügt. Der Sitz aus Glarus war praktisch unbestritten und wurde locker verteidigt (61,7%). In Bern wurde die Sitzzahl verdoppelt (neu: 4 Sitze). Ein Siebtel der Berner Wählerschaft entschied sich für die BDP (14,9%). In Graubünden konnte hingegen nur einer der beiden Sitze gehalten werden. Der BDP-Mann Hansjörg Hassler erzielte zwar das beste Resultat aller Kandidierenden, ein Wähleranteil von 20,5% reichte aber nicht für einen zweiten Sitz. Sitzgewinne konnte die BDP hingegen in den Kantonen Zürich (neu 2 Sitze, 5,3%) und Aargau (neu 1 Sitz, 6,1%) feiern. Die Wählergewinne in den kleineren Kantonen Luzern (2,1%), Schwyz (3,4%), Solothurn (4,4%), Basel-Stadt (2,2%), Basel-Landschaft (6,4%) St. Gallen (3,8%) und Thurgau (5,0%) reichten hingegen nicht für ein Mandat. Nur wenige Wähler vermochte die BDP in der Romandie zu mobilisieren: Wähleranteile von 1,9% in Freiburg, 0,8% im Kanton Waadt, 0,6% im Kanton Wallis und 1,5% im Kanton Genf reichten ebenfalls nicht für einen Nationalratssitz. Mit total neun Sitzen und einem gesamtschweizerischen Wähleranteil von 5,4% erreichte die BDP Fraktionsstärke
[109].
Die Verteidigung des einzigen Ständeratssitzes gelang der BDP relativ locker. Zwar musste Werner Luginbühl bei den
Ständeratswahlen im Kanton Bern zu einem zweiten Wahlgang antreten, wurde dann aber deutlich wiedergewählt. In den Kantonen Wallis und Neuenburg, wo die BDP ebenfalls einen Angriff auf einen Sitz in der kleinen Kammer lanciert hatte, blieb sie jedoch glücklos. Die Ständeratskandidatur von Jürg Gehrig im Kanton St. Gallen musste gar zurückgezogen werden (siehe unten)
[110].
Auch wenn die Partei im Wahlkampf mit Themen in Erscheinung zu treten versuchte, berichteten die Medien praktisch nur im Zusammenhang mit den Spekulationen über die Wiederwahl ihrer Bundesrätin über die BDP. Zahlreiche mögliche Abwehrszenarien gegen den Angriff der SVP auf den BDP-Regierungssitz wurden erörtert. Dabei wurde immer wieder eine Fusion mit der CVP diskutiert, die von der BDP jeweils deutlich abgelehnt wurde. Indem sie sich etwa an der Delegiertenversammlung Mitte September in Zofingen scharf von der SVP-Politik abgrenzte und sich als verlässliche, konstruktive und lösungsorientierte Alternative zur Volkspartei präsentierte, versuchte die BDP deutlich zu machen, dass sie die bessere Wahl sei. Als wichtig wurde in den Medien zudem die Positionierung der Regierung in der Atomausstiegsfrage beurteilt, welche Widmer-Schlumpf aktiv mitgetragen hatte und welche ihr eine Mehrheit in der Bundesversammlung bescheren könnte. Das gute Abschneiden bei den Nationalratswahlen wurde zudem als Kompliment für die BDP-Bundesrätin gewertet. Bei den
Bundesratswahlen wurde Widmer-Schlumpf, die laut eigener Aussage selber nicht mit ihrer Wiederwahl gerechnet hatte, dann tatsächlich glänzend bestätigt. Sie erhielt mit 131 Stimmen wahrscheinlich die Unterstützung aller Parlamentarier mit Ausnahme der SVP- und der FDP-Fraktion, welche sich auf die SVP-Herausforderer Rime (41 Stimmen) und Walter (63 Stimmen) verteilten. Mit 174 Stimmen wurde die BDP-Magistratin auch zur neuen Bundepräsidentin gewählt
[111].
Von den im Berichtsjahr in sieben Kantonen (AI, AR, FR, LU, TI, ZH) stattfindenden
kantonalen Parlamentswahlen trat die BDP bei deren vier an. Insgesamt eroberte die BDP dabei zwölf kantonale Legislativmandate. Die Hälfte davon konnte im Kanton Zürich gewonnen werden, wo die BDP auf Anhieb 3,5% der Zürcher Wählerschaft von sich überzeugte. Im Kanton Basel-Landschaft reichte ein Wähleranteil von 5,5% für vier Landratsmandate. Im Kanton Freiburg konnte die BDP hingegen wie schon bei den Nationalratswahlen nur schwach mobilisieren. Trotzdem holte sie auch hier zwei Mandate (1,7% Wähleranteil). Einzig in Luzern blieb die neue Mittepartei erfolglos. Die Bürgerlichdemokraten überzeugten zwar auch hier 1,7% der Wählerinnen und Wähler, dieser Anteil reichte in Luzern allerdings knapp nicht für einen Parlamentssitz. Ende des Berichtsjahrs hielt die BDP damit 77 kantonale Mandate, wovon knapp vier Fünftel in den Gründerkantonen Bern (25 Sitze), Graubünden (26 Sitze) und Glarus (10 Sitze)
[112].
An der Delegiertenversammlung Mitte Januar in Liestal beschloss die BDP mit 82 zu 27 Stimmen die Nein-Parole zur
Waffenschutzinitiative. Ein Antrag auf Stimmfreigabe wurde abgelehnt
[113].
Nach der Atomkatastrophe im japanischen Fukushima reagierte die BDP relativ rasch und als erste bürgerliche Partei mit einem
Positionspapier zu einem Atomausstieg. Dieser müsse längerfristig geplant werden, aber bis 2040 erfolgen. Die ursprüngliche in der Wahlplattform vom Februar verankerte Haltung, sich bei einer allfälligen Versorgungslücke nicht gegen den nötigen Bau neuer AKWs zu stemmen bzw. den Atomausstieg erst dann zu befürworten, wenn ökologisch und ökonomisch sinnvolle und realisierbare Alternativen bestünden, wurde im Anfang April vorgelegten Ausstiegskonzept nicht mehr erwähnt. Der befürchteten Versorgungslücke müsste mit der gezielten Förderung erneuerbarer Energieformen entgegengetreten werden. Ein Plan B sah den Bau von Gaskombi-Kraftwerken vor, wobei die CO2-Kompensation im Ausland geleistet werden müsse
[114].
Im Sommer legte die BDP ein Acht-Punkte-Programm gegen die
Frankenstärke vor und wollte dabei nicht auf Steuersenkungen, sondern auf gezielte und befristete Entlastungsmassnahmen setzen. Gefordert wurden unter anderem die Senkung des Mehrwertsteuersatzes für die Tourismusbranche auf 2.5%, eine Abgabenentlastung für stark betroffene Exportfirmen, aber auch der Ausbau kantonaler Wirtschaftsförderungsprogramme und die Beschleunigung von Bewilligungsfragen
[115].
Für Verwirrung sorgte die Haltung der BDP-Nationalräte in der Frage der
Kampfflugzeugbeschaffung in der Herbstsession. In der Sonntagspresse wurde kolportiert, dass die Mitglieder der BDP-Fraktion aufgrund eines Versehens nicht wie geplant gestimmt hätten und dass dadurch ein Referendum über die Beschaffung der Kampfjets verhindert worden sei. Tatsächlich war das entsprechende Abstimmungsresultat relativ knapp ausgefallen (98 zu 93 Stimmen) und ein Grossteil der CVP-Fraktion war offenbar erst im letzten Moment noch umgeschwenkt. Die BDP-Nationalräte liessen jedoch verlauten, dass ihre Entscheidung bewusst gewesen sei und sie in der Referendumsfrage dem SiKo-Mitglied Ursula Haller gefolgt sei, die ein Finanzreferendum aus rechtlichen Gründen zur Ablehnung empfohlen habe
[116].
Weil er aufgrund der Atomausstiegspläne der BDP einen Interessenskonflikt befürchtete, trat der Berner Kantonalpräsident
Urs Gasche Ende März zurück. Der ehemalige Berner Regierungsrat ist Verwaltungsratspräsident der Berner BKW – Betreiberin des AKW Mühleberg. Gasche kandidierte jedoch für den Nationalrat, wo er für die Berner Sektion einen Sitz eroberte
[117].
Im September wählte die BDP-Fraktion, die erst mit der Wahl des Glarner Nationalrats Martin Landolt Anfang 2009 Fraktionsstärke erreicht hatte, Hansjörg Hassler (GR) zum neuen
Fraktionspräsidenten. Er löste die nicht mehr kandidierende Brigitta Gadient (GR) ab
[118].
Für einigen Wirbel sorgte kurz vor den Nationalratswahlen die Untersuchung wegen Verdachts strafbarer Handlungen gegen die sexuelle Integrität, die gegen
Jürg Gehrig eingeleitet wurde. Gehrig – erst im Sommer zur noch jungen BDP St. Gallen gestossen – war innert kurzer Zeit zum Spitzenkandidaten für die National- und Ständeratswahlen aufgebaut worden. Der Unternehmer war vorher bereits Mitglied der Autopartei, der FDP und der SVP gewesen. Aufgrund des drohenden Strafverfahrens zog Gehrig auf Aufforderung der Partei seine Kandidatur zurück. Die Affäre wurde als Hauptgrund für den Misserfolg der Sankt Galler BDP bei den Nationalratswahlen bezeichnet
[119].
[107]
BaZ, 8.1.11;
BZ, 10.1.11;
So-Bli, 16.1.11,
SGT, 17.1.11;
NZZ, 5.2.11.
[108]
So-Bli, 16.1.11;
SGT und
NF, 17.1.11;
AZ, 4.3.11;
NZZ, 14.3.11; Presse vom 15.3.11;
NZZ, 28.3.11;
TA, 29.3.11;
SN, 15.6.11 (Widmer-Schlumpf-Fan-Club).
[109]
NZZ, 13.8.11;
TA, 15.9.11; siehe
SPJ 2009, S. 48 f.;
SPJ 2010, S. 57 ff.; Presse vom 24.–26.10.11;
Lit. BFS, vgl. oben Teil I, 1e (Eidgenössische Wahlen) und die detaillierten Resultate im Anhang.
[110] Vgl. oben, Teil I, 1e (Eidgenössische Wahlen).
[111]
NLZ und
NZZ, 9.9.11;
NZZ, 12.9.11;
TA, 15.9. und 21.10.11;
Bund, 29.10.11; Presse vom 7.11. und vom 15.12.11;
SGT, 23.12.11; siehe auch oben, Teil I, 1c (Regierung).
[112] Vgl. oben, Teil I, 1e (Wahlen in die kantonalen Parlamente) und den detaillierten Anhang.
[114]
NLZ, 15.3.11;
So-Bli, 10.4.11.
[116]
So-Bli, 2.10.11;
SoS, 3.10.11.
[117]
SoZ, 20.3.11; Presse vom 25.3.11.
[118]
NZZ, 13.8.11; Presse vom 21.9.11.
[119]
WW, 22.9.11;
SGT,
TA und
SoS, 30.9.11;
SGT, 24.10.11.
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