Année politique Suisse 2011 : Eléments du système politique / Problèmes politiques fondamentaux et conscience nationale
Grundsatzfragen
Im Berichtjahr konkretisierte sich die Diskussion um die Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesebene. Ausführlich berichten wir dazu unten (Teil I, 1c, Volksrechte).
Zum ersten Mal wurde zu Beginn der neuen Legislaturperiode im National- und Ständeratssaal die
Nationalhymne intoniert. Nach der Vereidigung (117 Nationalrätinnen und Nationalräte) bzw. dem Gelübde (83 Mitglieder des Nationalrats) wurde der Schweizerpsalm von der Sopranistin Noëmi Nadelmann vorgetragen. Die erstmalige Darbietung geht auf eine Motion Marra (sp, VD) zurück, die gefordert hatte, dass die Nationalhymne nach jeder Gesamterneuerungswahl vorgetragen werden soll
[1].
Die Nationalhymne selber feierte 2011 ihr
50-jähriges Bestehen. Das von Alberich Zwyssig (1808-1854) komponierte Kirchenlied, das seit 1843 als „Schweizerpsalm“ an zahlreichen eidgenössischen Festen gespielt wurde, hatte 1958 auf Vorschlag des Bundesrates das damals als Hymne verwendete, melodisch mit der englischen Nationalhymne identische „Rufst du, mein Vaterland“ ersetzt. Nach einer dreijährigen Probezeit stimmte die Bevölkerung der Änderung zu, und seit dem 1. April 1961 gilt „Trittst im Morgenrot daher“ als offizielle Schweizer Nationalhymne
[2].
Für einigen Wirbel sorgte eine von der Universität Zürich und dem Wissenschaftszentrum Berlin herausgegebene Studie, welche die
Qualität von 30 etablierten Demokratien zwischen 1995 und 2005 bestimmt. Die Schweiz schneidet in dieser Studie lediglich mittelmässig ab und entpuppt sich nicht als Musterdemokratie. Zurückzuführen sei dies auf die schwache und insbesondere sehr ungleiche Partizipation, die schwache Gewaltenkontrolle und die intransparenten Politikprozesse (fehlende Transparenz bei Parteienfinanzierung). Die Reaktionen auf die Studie waren sehr unterschiedlich. Sie reichten von Empörung bis zu Scham ob des vorgehaltenen Spiegels und gipfelten gar in einer Interpellation
[3].
Einen ungewollt heftigen Disput über die
Schweizer Fahne löste Nationalratskandidat und Secondas Plus-Mitglied Ivica Petrusic (sp, AG) aus. An einer Medienkonferenz stellte Petrusic die Frage, ob die christliche Symbolik der Schweizerfahne noch zeitgemäss sei. Symbole unterstünden einem Wandel und unterlägen auch einem Anpassungsdruck. Diese Frage weckte harsche Kritik seitens der SVP, welche die Äusserung sogleich in ihre Wahlpropaganda und die Werbung für ihre Initiative zur Begrenzung der Zuwanderung einbaute
[4].
Die
Rütli-Wiese geriet auch im Berichtsjahr in die Schlagzeilen. Nicht die Jahrfeier, bei der Bundespräsidentin Calmy-Rey Überraschungsgast war und die dank dem seit 2009 bestehenden Ticketsystem ohne Zwischenfälle verlief, war Gegenstand der Diskussionen, sondern die Nutzung der Wiese für Parteianlässe. Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG), welche die symbolträchtige Wiese im Auftrag des Bundes verwaltet und für Anlässe mit mehr als 50 Personen Bewilligungen erteilt, verbietet parteipolitische Anlässe. Ende Mai trafen sich jedoch 70 Mitglieder des SVP-Zentralvorstandes ohne Bewilligung auf dem Rütli, um Widerstand gegen einen EU-Beitritt zu geloben. Die SGG bezeichnete dies als rechtswidrig und verlangte eine Entschuldigung, welche die SVP allerdings verweigerte. Es folgte eine Diskussion über die Öffnung des Rütli für Parteianlässe. Während die einen auf einen Zutritt für alle pochten, warnten andere vor der Vereinnahmung der Wiege der Eidgenossenschaft durch rechtsextreme Gruppierungen
[5].
Darüber hinaus wurden auch die Ereignisse von 2007 auf dem Rütli noch einmal Gegenstand parlamentarischer Debatten. Am 1. August 2007 explodierte auf der Rütliwiese kurz nach Ende der Nationalfeier ein Sprengsatz. Vier Tage später detonierten weitere Sprengsätze in Briefkästen dreier Rütlikommissionsmitglieder. Im Oktober des Berichtjahres wurde das Verfahren gegen den mutmasslichen Täter aufgrund fehlender Beweise eingestellt. Eine brisante Rolle spielte dabei der Bundesrat, der die Herausgabe eines Vernehmungsprotokolls des Nachrichtendienstes mit einem mutmasslichen Zeugen verweigerte, weil er die Sicherheit des letzteren höher gewichtete. Gleich zwei Anfragen wurden in der Folge eingereicht, in denen der Bundesrat diesen Entscheid rechtfertigen musste. Die Affäre um den „
Rütli-Bomber“ spielte dann auch bei der Debatte um die Änderung des Bundesgesetzes über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit eine Rolle (siehe unten, Teil I, 1b, Staatsschutz)
[6].
Da die Feierlichkeiten zum
Gedenken an die Schlacht bei Sempach in den letzten Jahren immer wieder durch Aufmärsche von Rechts- und teilweise auch Linksextremisten gestört wurden, was zu immensen Sicherheitskosten geführt hatte, beschloss die Luzerner Regierung für das 625-jährige Jubiläum von 2011 ein neues Konzept. Anders als auf dem Rütli wurden Extremisten allerdings nicht mit einem Zulassungssystem ferngehalten. Der Kanton Luzern richtete vielmehr ein grosses, allen zugängliches Mittelalter-Volksfest aus, verzichtete jedoch auf den Umzug auf das Schlachtgelände
[7].
Mit der Ratifizierung der Unesco-Konvention zur
Bewahrung des immateriellen Kulturerbes 2008 hat sich die Schweiz verpflichtet, eine Liste mit möglichem Kulturerbe zu erstellen. Die Kantone kamen der entsprechenden Aufforderung nach und reichten insgesamt 387 Vorschläge für ein Inventar lebendiger Traditionen ein. Neben traditionellen Festivitäten, Kunsthandwerk, Erzählkunst und Liedgut finden sich auch die Appenzeller Witze, die Mundartlieder von Mani Matter, das Hornussen oder die Zauberformel auf der Liste. Unter der Leitung des Bundesamtes für Kultur wurde die Liste aus gesamtschweizerischer Sicht bewertet, bereinigt und im September verabschiedet (vgl. dazu auch unten, Teil I, 8b, Kulturpolitik)
[8].
Über die Swissness-Vorlage berichten wir unten (Teil I, 4a, Strukturpolitik).
Die vom New Yorker Konsumentenforschungsinstitut GfK jährlich durchgeführte Studie zum
Image von 50 Ländern weist die Schweiz auf Rang 8 aus. Das EDA bezeichnet diesen Rang in Anbetracht der negativen Schlagzeilen zur UBS-Affäre als ausgezeichnetes Ergebnis. Als grösste Stärken der Schweiz betrachtet die Studie das Engagement für die Umwelt, die Lebensqualität und die Respektierung politischer Rechte. Hingegen scheint das Image der Bevölkerung von einigen Ländern eher negativ beurteilt worden zu sein. In Deutschland, Frankreich, der Türkei und Ägypten rutschte dieser Indikator im Vergleich zum Vorjahr stark ab. Dies dürfte auf die auch international stark wahrgenommenen Abstimmungsresultate – etwa zur Minarettinitiative - zurückzuführen sein. Angeführt wird die Rangliste von den USA, Deutschland und Frankreich
[9].
Die
Berichterstattung ausländischer Medien wurde vom EDA als zunehmend kritisch wahrgenommen. Die Medienpräsenz der Schweiz sei relativ hoch, die Tonalität jedoch teilweise negativ. Insbesondere das Bankenwesen kam in den Medien nicht gut weg. Positives Echo erhielten insbesondere der Entscheid, Potentatengelder aus Nordafrika zu blockieren, sowie der geplante Atomausstieg
[10].
Die international geführte Diskussion um die
Messung der sozialen Wohlfahrt in der Bevölkerung kam auch im Ständerat an. 2008 hatte der französische Präsident Nicolas Sarkozy eine Kommission ins Leben gerufen, die von den Nobelpreisträgern Amartya Sen und Joseph Stiglitz geleitet wird. Aufgabe der Kommission ist es, die Grenzen des bisher verwendeten Wohlfahrtsmass, dem Bruttoinlandprodukt, aufzuzeigen und alternative Masse zu finden, mit denen z.B. auch soziale Gerechtigkeit oder ökologische Nachhaltigkeit bestimmt werden können. Gleichzeitig wird auch auf Ebene der OECD an alternativen Massen gearbeitet. Mit seinem Postulat verlangte Markus Stadler (glp, UR) vom Bundesrat, dass er in seiner Strategie im Hinblick auf die Weltkonferenz zur nachhaltigen Entwicklung in Rio 2012 die Erkenntnisse der internationalen Diskussion integriere. Der Bundesrat unterstützte das Postulat, das dann von der kleinen Kammer auch angenommen wurde
[11].
Ein Mass, das sich bereits seit einigen Jahren in der internationalen Debatte etabliert, ist der von der UNO entwickelte
Human Development Index (HDI), der neben der wirtschaftlichen Entwicklung auch Indikatoren zu Bildung, Gesundheit und Umwelt berücksichtigt. Die Schweiz befindet sich im HDI-Ranking, das 2011 für 169 Länder besteht und von Norwegen, Australien und den Niederlanden angeführt wird, auf Rang 11
[12].
Die internationale Wirtschaftskrise schlug sich auf das Sorgenbarometer nieder, eine jährlich von der GfS-Bern im Auftrag der Crédit Suisse durchgeführte Befragung von rund 1000 Personen zu den Sorgen der Bevölkerung. Zwar war die Sorge um Arbeitslosigkeit wie bereits im Vorjahr auf Rang 1 (52% der Befragten nannten die Arbeitslosigkeit als grösste Sorge), die Sorge um die Wirtschaftsentwicklung (35%; Rang 3; Vorjahr Rang 14) und um die Finanzmärkte (30%; Rang 4; Vorjahr Rang 13) rückten aber scheinbar stark ins Bewusstsein. Nach wie vor grosse Sorgen machen sich die Befragten auch zum Thema Ausländer (36%; Rang 2; Vorjahr Rang 5). Nach hinten rutschten die Sorgen um AHV und Altersvorsorge (27%; Rang 6; Vorjahr Rang 2).
Ein ähnliches Bild zeichnet das vom Finanzunternehmen Aduno Gruppe finanzierte und von der GfS-Zürich durchgeführte
Angstbarometer: Im Vergleich zum Vorjahr hat die Angst vor einer Rezession oder einer Inflation stark zugenommen. Den grössten Zuwachs verzeichnet hingegen – aufgrund der Ereignisse in Japan wenig erstaunlich – die Angst vor einer Atomverseuchung
[13].
Nachdem die Pläne für eine Expo 2020 in der Gotthard-Region an den Streitigkeiten zwischen den Planern und aufgrund der insgesamt eher lauen Begeisterung gescheitert waren, äusserten sich die Kantone der Ostschweiz (TG, SH, SG, AI, AR) positiv zu einer Landesausstellung im Bodenseeraum. Allerdings würde eine Expo frühestens 2027 durchgeführt. Als erstes Etappenziel formulierten die Kantone die Schaffung von Grundlagen für eine „
Expo Bodensee-Ostschweiz 2027“, die Ende 2012 den Parlamenten zwecks Entscheids über ein Vorprojekt unterbreitet werden sollen. Der Enthusiasmus ist allerdings nicht in allen beteiligten Kantonen gleich gross. So sicherten etwa Schaffhausen und Appenzell Innerrhoden lediglich ideelle Unterstützung zu
[14].
Als erstes Gastland hat die Schweiz Anfang Februar die Teilnahme an der
Weltausstellung vom Mai 2015 in Mailand zugesagt. Beide Seiten betonten, dass die Expo, die unter dem Titel „Feeding the Planet, Energy for Life“ stattfinden wird, helfen werde, die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und Italien zu verbessern. Das Gesamtbudget des Schweizer Auftritts soll 25 Mio. Franken betragen. Der Schweizer Auftritt bei der Weltausstellung 2010 in Shanghai hatte ebenfalls 25 Mio. Franken gekostet, wovon der Bund 16 Mio. übernahm
[15].
[1]
AB NR, 2011, S. 1887 ff. Siehe
SPJ 2010, S. 16 f.
[2]
NZZ, 12.4.11;
Lib. und QJ, 14.6.11;
TA, 30.7.11;
BZ, 11.11.11.
[3]
AZ, 28.1.11; Presse vom 28.1. bis 11.2.11; Ip. 11.3018 Lustenberger (cvp, LU);
Lit. Bühlmann et al.
[5]
NLZ, 6.6, 7.6. und 10.6.11;
TA 7.6.11;
WOZ, 14.7.11.
[6]
TA, 19.10.11; Fra. 11.5024 Baettig (svp, BE); Fra. 11.5072 Vischer (gp, ZH).
[7]
SoS, 28.1.11;
BZ, 4.7.11.
[8]
NZZ,
LT, 1.6.11;
LT, 9.6.11; Medienmitteilung BAK, 31.5.11;
Lit. EDI, BAK
[9]
NLZ, 2.2.11;
SGT, 31.3.11; Medienmitteilung EDA, 1.2.11.
[10] Medienmitteilung EDA, 23.12.11.
[11] Po. 10.3897;
AB SR, 2011, S. 297;
Lit. Stiglitz et al. 2009.
[13] Sorgenbarometer:
BZ und
TA, 9.12.11; Angstbarometer:
Blick, 27.11.11; siehe
SPJ 2010, S. 17.
[14]
NZZ, 5.1., 4.2., 18.3. und 19.3.11;
SGT und
SN, 18.3.11;
SGT, 9.5. und 20.5.11.
[15]
SoS, 4.2.11;
BaZ, 31.3.11; Medienmitteilung EDA, 3.2.11.
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