Année politique Suisse 2012 : Politique sociale / Assurances sociales / Invalidenversicherung
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IV-Revision
Im Berichtsjahr trat das im Vorjahr beschlossene erste Massnahmenpaket (Revision 6a) in Kraft. Das Presseecho blieb relativ gering. Als bedeutende Veränderung positiv hervorgehoben wurden einzig die neu beschlossenen Assistenzbeiträge. Diese erlauben es Bezügern einer Hilflosenentschädigung, welche zu Hause und nicht im Heim leben, eine Assistenzperson zur Unterstützung bei ihren täglichen Verrichtungen einzustellen. Im Februar lancierte die IV zudem eine Kampagne zur Information der Firmen über die vorhandenen Instrumente für die Integration Behinderter [10].
Im Vorjahr war die Behandlung des zweiten Massnahmenpakets, der Revision 6b, vom Ständerat als Erstrat in zwei Teile zerlegt worden: Während Entwurf 2 die Kostenvergütung für stationäre Massnahmen bei IV-Bezügern behandelt, enthält Entwurf 1 die restlichen Bestimmungen. Im Berichtsjahr trennte der Nationalrat vom Entwurf 1 noch einen dritten Teil ab, welcher an die SGK-N zurückgewiesen und noch nicht beraten wurde (siehe unten) [11].
In der Sommersession behandelte der Nationalrat Entwurf 2. Hier war eine gewisse Dringlichkeit gegeben, da es an einer gesetzlichen Grundlage für die Kostenvergütung bei stationären Spitalaufenthalten von IV-Beziehenden fehlte. Bei der Beratung des Entwurfs hatte der Ständerat 2011 vor dem Hintergrund der neuen Spitalfinanzierung einen Antrag Kuprecht (svp, SZ) gutgeheissen, wonach diese Kosten weiterhin zu 20% von den Kantonen und zu 80% vom Bund, d.h. von der IV, zu tragen sind. Die grosse Kammer beschloss, auf die Vorlage einzutreten und folgte damit der Mehrheit ihrer Kommission gegen eine Minderheit Cassis (fdp, TI). Umstritten war ein Minderheitsantrag Gilli (gp, SG), welcher eine Rückweisung an den Bundesrat mit dem Auftrag forderte, in einer zweijährigen Übergangsregelung an der bisherigen Verteilung der Finanzierung zwischen Kantonen und IV festzuhalten. Die definitive Finanzierung sollte nach einer Vernehmlassung bei den betroffenen Kreisen, insbesondere den Kantonen, in Form einer regulären Gesetzesvorlage vorgelegt werden. Die Gegner des Antrags befürchteten, dass dies längerfristig möglicherweise eine vollumfängliche Übernahme durch die IV zur Folge hätte, da die Gesundheitsdirektorenkonferenz bereits 2008 angekündigt hatte, den Kantonsanteil schrittweise von 20% auf 10% und schliesslich auf Null senken zu wollen. Die Befürworter des Antrages wurden schliesslich von der SVP, der SP und der Hälfte der CVP überstimmt. In der Detailberatung wurde letztlich einzig eine Präzisierung bezüglich der Frage, welche Spitäler von der Regelung betroffen seien, angebracht. In allen anderen Punkten folgte der Nationalrat dem Ständerat. In der Gesamtabstimmung nahm die grosse Kammer den Entwurf mit 135 zu 36 Stimmen an. Einzig die FDP-Liberale und die grünliberale Fraktion legten geschlossen ein Nein ein. Der Ständerat schloss sich darauf der Änderung des Nationalrats diskussionslos an. In der Schlussabstimmung nahm die grosse Kammer den Entwurf mit 153 zu 36 Stimmen an, die kleine Kammer mit 38 zu 1 Stimme bei 2 Enthaltungen [12].
Die ständerätliche Beratung von Entwurf 1 hatte im Vorjahr zu diversen Abweichungen von der Bundesratsbotschaft geführt. In der Wintersession des Berichtsjahres behandelte der Nationalrat das Thema und nahm weitere Änderungen vor. Die Debatte wurde auch hier intensiv und teilweise emotional geführt. Sie war geprägt vom Gegensatz zwischen zwei Allianzen: Die Ratslinke und der soziale Flügel der CVP auf der einen Seite setzten sich gegen zu starke Belastungen für die Versicherungsnehmer ein und machten geltend, der IV gehe es finanziell bereits deutlich besser, womit sich weitere Reformen im Moment erübrigten. Auf der anderen Seite positionierten sich der bürgerliche Teil der CVP und die übrigen Parteien, welche zugunsten einer konsequenten Sanierung auch bereit waren, stärkere Leistungskürzungen vorzunehmen. In der Eintretensdebatte wurden zwei linke Minderheitsanträge auf Nichteintreten und auf Rückweisung an den Bundesrat klar abgelehnt. Ein Antrag der Minderheit Ingold (evp, ZH), welcher vom Bundesrat unterstützt wurde, wurde dagegen knapp angenommen. Er verlangte eine Aufsplittung der Vorlage und die Rückweisung bestimmter Artikel als Entwurf 3 an die Kommission. Letztere sollte die betreffenden Bestimmungen erst beraten, wenn aussagekräftige Ergebnisse der Evaluation der Revisionen 5 und 6a vorliegen. Es handelt sich dabei insbesondere um die besonders umstrittenen Änderungen bei den Kinderrenten und der Übernahme von Reisekosten. Die Mehrheit des Rates teilte die Ansicht der Kommissionsminderheit, wonach eine verspätete Einführung dieser Bestimmungen angesichts der leicht verbesserten finanziellen Lage der IV und der neusten wirtschaftlichen und demographischen Prognosen für die Sanierung der IV verkraftbar sei. Der restliche Teil von Entwurf 1, der strukturelle Verbesserungen anstrebt (Änderung des Rentensystems von einer abgestuften hin zu einer stufenlosen Berechnung, verstärkte Eingliederung, Betrugsbekämpfung, Entschuldung, Einführung eines Interventionsmechanismus) sollte dagegen sofort beraten werden. Mit der Aufsplittung wollte die Minderheit das Risiko eines Scheiterns des als wichtig betrachteten neuen, stufenlosen Rentensystems durch eine allfällige Ablehnung der gesamten Vorlage vermeiden. Die Presse sprach von einem taktischen Entscheid im Hinblick auf das angedrohte Referendum der Behindertenorganisationen. In der Detailberatung wurde ein Minderheitenantrag Ingold (cvp, ZH), welcher die Dauer von Integrationsmassnahmen auf ein Maximum von zwei Jahren beschränken wollte, mit 101 zu 82 Stimmen abgelehnt. Die Frage nach der Höhe der Grundentschädigung spaltete den Rat: Die Kommissionsmehrheit beantragte, vom Entwurf des Bundesrates abzuweichen und die Höhe der Grundentschädigung während der Durchführung von Eingliederungsmassnahmen auf 70% anstelle von 80% des zuletzt erzielten Erwerbseinkommens ohne gesundheitliche Beeinträchtigung zu senken. Der Ständerat war als Erstrat noch dem Bundesrat gefolgt. Eine Minderheit Lohr (cvp, TG) wollte bei 80% bleiben, da das zuletzt erzielte Erwerbseinkommen aufgrund eines sich meist schleichend verschlechternden Gesundheitszustandes in der Regel schon sehr tief sei. Die Ratslinke und die CVP folgten dem Minderheitsantrag, während die restlichen bürgerlichen Parteien mit der Kommissionsmehrheit stimmten. Erst mit Stichentscheid der Ratspräsidentin Maya Graf (gps, BL) wurde schliesslich der Minderheitsantrag angenommen. Besonders umstritten und auch von den Medien stark beachtet war die Frage, ab welchem Invaliditätsgrad in Zukunft eine Vollrente ausgesprochen werden sollte. Nach gültigem Recht beträgt dieser 70%, die Bundesratsvorlage wollte die Schwelle jedoch auf 80% anheben. Während die Kommissionsmehrheit damit einverstanden war, wehrte sich eine Minderheit Lohr (cvp, TG) mit dem Argument, die Kürzung würde Schwerbehinderte treffen, für welche es faktisch unmöglich sei, den Ausfall mit einer Teilerwerbstätigkeit auszugleichen. Der Rat folgte dieser Minderheit mit 95 zu 87 Stimmen und nahm damit zwar das neue, stufenlose Rentensystem an, beliess aber den minimalen Invaliditätsgrad für eine Vollrente bei 70%. Im Gegensatz zum Ständerat und in Einklang mit seiner Kommissionsmehrheit beschloss der Nationalrat, auch laufende Renten dem neuen System zu unterstellen. Ausgenommen werden sollen einzig die Renten der über 55-jährigen Bezüger. Eine weitere Differenz zum Ständerat ergab sich in der Frage der Bemessung der Kinderrenten für im Ausland lebende Kinder. Dieser Punkt war im Gegensatz zu den allgemeinen Kinderrenten im Entwurf 1 verblieben. Die grosse Kammer folgte ihrer Kommissionsmehrheit und beschloss, die Renten der im Ausland herrschenden tieferen Kaufkraft anzupassen. Zuletzt behandelte die grosse Kammer die neue Schuldenbremse für die IV, den so genannten Interventionsmechanismus. Dieser soll bei einem Absinken der flüssigen Mittel der IV unter 40% einer Jahresausgabe wirksam werden, damit die IV finanziell stabil gehalten werden kann. Im Gegensatz zum Ständerat lehnte es der Nationalrat gänzlich ab, im Gesetz konkrete Massnahmen zu statuieren, welche bei drohenden Finanzierungsproblemen automatisch greifen sollten. Er strich auch einen Artikel, wonach die Schuldenbremse erst dann wieder ausser Kraft gesetzt worden wäre, wenn die flüssigen Mittel erneut 50% einer Jahresausgabe erreicht hätten. Ein Antrag Weibel (glp, ZH) schliesslich, der erneut die Idee verbindlicher Quoten für Unternehmen zur Eingliederung von Invaliden aufgriff, wurde mit 70 zu 108 Stimmen abgelehnt. In der Gesamtabstimmung sprachen sich 93 Nationalratsmitglieder für eine Annahme der Vorlage aus, 80 dagegen. Die Gegenstimmen kamen primär aus der SVP- und der FDP-Liberalen Fraktion, welche die Vorlage aufgrund der beschlossenen Änderungen als nicht mehr wirksam ansahen und sich geschlossen gegen sie stellten. SP, Grüne und Grünliberale stellten sich geschlossen, die CVP-EVP-Fraktion grossmehrheitlich hinter die Vorlage. Die BDP-Fraktion war gespalten. Die Differenzbereinigung durch den Ständerat wird im Folgejahr erwartet [13].
 
[10] TA, 28.2.12, Presse vom Januar und Februar 2012.
[11] BRG 11.030: AB NR, 2012, S. 2160 ff.; vgl. SPJ 2011, S. 308 ff.
[12] BRG 11.030: AB NR, 2012, S. 708ff. und S. 1240; AB SR, 2012, S. 397 und S. 641; vgl. SPJ 2011, S. 310.
[13] BRG 11.030: AB NR, 2012, S. 2160 ff; Presse vom 13.12.12; vgl. SPJ 2011, S. 308 ff.