Année politique Suisse 2012 : Enseignement, culture et médias / Culture, langues, églises
Kirchen und religionspolitische Fragen
Im Juni des Berichtjahres erfolgte in Bern der Spatenstich zum
„Haus der Religionen“, unter dessen Dach alle Religionen zum friedlichen Dialog zusammenfinden sollen. Die Überbauung an der Europastrasse soll auch Wohnungen, Restaurations- und Detailhandelsbetriebe umfassen. Der erfolgte Spatenstich entsprach einem grossen Meilenstein, da der Baubeginn aufgrund von Einsprachen und fehlenden finanziellen Mitteln mehrmals verzögert worden war
[14].
Bereits im Jahr 2011 berieten die beiden Staatspolitischen Kommissionen über eine parlamentarische Initiative Glanzmann-Hunkeler (cvp, LU), welche zum Ziel hatte,
Symbole der christlichen-abendländischen Kultur im öffentlichen Raum verfassungsrechtlich zu schützen. Während die SPK-NR die Annahme der Initiative empfahl, sprach sich die SPK-SR gegen die Vorlage aus, da eine Sonderstellung des Christentums die friedliche Koexistenz der verschiedenen Religionen gefährden würde. Somit gelangte das Geschäft während des Berichtjahrs zum Entscheid an die Räte. Der Nationalrat gab der Initiative mit 87 zu 75 Stimmen Folge, während der Ständerat sie knapp mit 21 zu 17 Stimmen ablehnte
[15].
Im Rahmen des
Nationalen Forschungsprogramms 58 „Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft“ entstanden in den letzten fünf Jahren insgesamt 28 Studien, welche im Juli des Berichtjahres in Form einer Synthese vorgestellt wurden. Die zentrale Erkenntnis aus dem NFP 58 war, dass sich in der Schweiz zusehends ein religiöser Graben zwischen der Politik und der säkularisierten Bevölkerung öffnet. Die Religion sei einerseits in den öffentlichen Debatten stark präsent, im privaten Leben der meisten Menschen werde sie aber immer unwichtiger. Indes verbinden die öffentlichen Debatten die Religion meist mit kontroversen anderen Themen wie etwa mit politischen Konflikten oder Migrationsproblemen. Ausserdem ergab eine Umfrage unter lokalen Verantwortlichen aller religiösen Gemeinschaften in der Schweiz, dass Frauen in muslimischen Gemeinden oft mehr Einfluss haben als Katholikinnen, Frauen in Freikirchen oder orthodoxen Jüdinnen. Dies rühre daher, dass Frauen beispielsweise bei Aleviten und Sufis mehr Möglichkeiten hätten, in spirituelle Führungspositionen aufzusteigen als dies bei Neuapostolen oder konservativen Freikirchen der Fall sei. Sehr offen gegenüber Frauen waren gemäss den Umfrage-Ergebnissen Reformierte, Christkatholiken, liberale Juden, Buddhisten und Hindus
[16].
Das Bundesamt für Statistik veröffentlichte im Juni des Berichtjahres die Daten der jährlichen
Strukturerhebung. Gemäss dieser war die römisch-katholische Kirche zwar immer noch die grösste Konfessionsgruppe der Schweiz, allerdings hat sie seit dem Jahr 1990 um 6.4 Prozentpunkte abgenommen. Auch die evangelisch-reformierte Kirche hat an Bindekraft verloren und beide Landeskirchen haben mit einer Überalterung der Anhängerschaft zu kämpfen. Parallel dazu hat sich die Anzahl der Konfessionslosen beinahe verdoppelt
[17].
Für zahlreiche Schlagzeilen sorgte auch in diesem Jahr der konservative
Bischof Vitus Huonder. Zu Beginn des Berichtjahres wurde ihm vorgeworfen, er verschärfe den aktuellen Priestermangel anstatt diesen zu bekämpfen. Diese Vorwürfe rührten daher, dass der Bischof zwei ehemaligen Priesteramtskandidaten nicht die kirchliche Beauftragung als Laientheologen erteilen wollte. Im Februar errichtete Bischof Huonder zwei Personalpfarreien, was ebenfalls grosse Kritik hervorrief. Personalpfarreien vereinigen ihre Mitglieder – anders als territoriale Pfarreien – aufgrund gemeinsamer Sprache, Bedürfnisse oder Nationalität. Mit diesem Schritt wurden die Traditionalisten aufgewertet und die Angst von einer „Kirche in der Kirche“ geschürt. Für die grösste Empörung schliesslich sorgte ein Hirtenbrief Huonders in welchem er forderte, dass Geschiedene, welche wieder heiraten, von den Sakramenten ausgeschlossen werden sollten. Viele Seelsorger warfen dem Bischof mangelnde Barmherzigkeit vor und konnten diese Forderung nicht unterstützen, weshalb sie darauf verzichteten, den Hirtenbrief in der Messe vorzulesen
[18].
Im September des Berichtjahres wurde eine schweizerische
„Pfarrei-Initiative“ lanciert. Diese sollte deutlich machen, wo die katholische Kirche tatsächlich steht und wo sie hinwill. Die Pfarrei-Initiative richtete sich in erster Linie an die Bischöfe, welche dadurch zu Reformen und Gesprächen gezwungen werden sollten. Mit dem Text sollte darauf aufmerksam gemacht werden, dass die seelsorgerische Praxis in den Pfarreien längst nicht mehr den offiziellen Vorgaben der Kirche entspräche. So wurde beispielsweise betont, dass die Kommunion mit allen geteilt werde – egal, ob geschieden oder homosexuell. Ausserdem werde und solle zukünftig weiterhin die Predigt auch von theologisch gebildeten Frauen gehalten werden können. In kürzester Zeit kamen über 200 Unterschriften zustande, was den Druck auf die Bischöfe in der Schweiz erhöhen sollte. Obwohl sich die Initianten im November des Berichtjahres mit drei Schweizer Bischöfen zur Aussprache trafen, blieben die Fronten bis zum Ende des Berichtjahres verhärtet
[19].
Im August des Berichtjahres bestätigte das Bundesgericht die
Möglichkeit eines Teilaustritts aus der Kirche. Ein Austritt aus der Landeskirche ohne gleichzeitige Abkehr von der katholischen Weltkirche ist weiterhin möglich. Somit kann der katholische Glauben beibehalten werden auch wenn keine Kirchensteuern mehr bezahlt werden. Begründet wurde dieser Entscheid dadurch, dass andernfalls das Grundrecht der Religionsfreiheit verletzt würde. Die Schweizer Bischofskonferenz verzichtete darauf, eine einheitliche Regelung zu beschliessen, wie mit den partiellen Austritten umzugehen sei. Dies solle jedem Bistum selber überlassen bleiben
[20].
Für Irritation – nicht nur bei Islamkritikern – sorgte zu Beginn des Berichtjahres der Plan der beiden grössten muslimischen Organisationen des Landes eine Art
muslimisches Parlament zu schaffen. Die „Umma Schweiz“ sollte sich in gesellschaftspolitischen Fragen, welche die Muslime betreffen, einigen, um danach mit einer Stimme sprechen zu können. Kritisiert wurde, dass die Schaffung eines solchen Parlaments die Situation nicht verbessere, sondern im Gegenteil die Tendenz zur Abschottung der konservativen Muslime fördere
[21].
In Reaktion auf ein umstrittenes Urteil des Kölner Landgerichts entschied das Zürcher Kinderspital, vorerst keine Wunschbeschneidungen mehr durchzuführen. Das Kölner Landgericht hatte die Beschneidung als Körperverletzung definiert, was Chirurgen und Politiker auch in der Schweiz verunsicherte. In jüdischen und muslimischen Glaubensgemeinschaften löste das
Moratorium von Beschneidungen Entsetzen aus, da dieses ein schwerwiegender Eingriff in die Glaubensfreiheit sei. Auch in der Medienberichterstattung herrschte breiter Konsens darüber, dass die Infragestellung der Beschneidung von Knaben unnötig und unsensibel sei. Uneinig waren sich hingegen Strafrechtler, ob die rituelle Beschneidung in der Schweiz strafbar sei oder nicht. Das Zürcher Kinderspital hob knapp einen Monat später den Beschneidungsstopp wieder auf. Allerdings wird der behandelnde Arzt künftig neu dazu verpflichtet, nach dem Motiv für den Eingriff zu fragen und die Unterschrift beider Elternteile einzuholen
[22].
Eine Studie des Zentrums für Religionsforschung der Universität Luzern erforschte während zwei Jahren die
muslimischen Jugendgruppen in der Schweiz. Die Studie kam zum Schluss, dass die religiöse Orientierung der Jugendlichen nicht desintegrativ wirke, sondern im Gegenteil den Austausch mit der Gesellschaft fördere. Vermehrt würden die von den Jugendlichen selbst organisierten Gruppen ethnische, nationale und sprachliche Grenzen überschreiten
[23].
[15] Pa.Iv. 10.512
: AB NR, 2012, S. 213 f.;
AB SR, 2012, S. 527 f.
; NLZ 10.3 und 12.6.12
.
[16]
AZ, TA, NZZ, 4.7.12
; So-Bli, 27.5.12;
Lit. Bochinger.
[18]
TA, 11.1., 28.2., 6.3., 10.3.12.;
NZZ, 28.2.12;
BaZ, 5.3., 3.4.12
; NLZ, 9.3.12
; SoZ, 11.3.12.
[19]
NZZ, 18.9., 27.11.12.;
NLZ, 19.9., 29.11.12;
TA, 22.12. und 24.12.12.
[20]
BaZ, 7.8.12;
NZZ, 4.8.12;
WW, 9.8.12;
SGT, 24.8., 7.9.12.
[21]
AZ, 9.2.12;
BaZ, 11.2.12.
[22]
TA, 20.7., 21.7., 24.7. und 11.8.12;
NZZ, 21.7., 25.2., 27.7. und 24.8.;
SGT, 21.7.12;
SoZ, 22.7.12;
AZ, 23.7.und 26.7.12
; BaZ, 23.7.12;
Bund, 24.7.12;
NLZ, 28.7.12.
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