Année politique Suisse 2013 : Eléments du système politique / Droits, ordre public et juridique / Strafrecht
Zwei tragische Vorfälle entfachten eine lebhafte Diskussion über den
Strafvollzug in der Schweiz. Im Mai war die 19-jährige Marie aus Payerne von einem 39-jährigen, vorbestraften Delinquenten entführt und erdrosselt worden. Im September wurde die Genfer Sozialtherapeutin Adeline M. von Fabrice A., einem seit 12 Jahren einsitzenden Sexualstraftäter, den sie im Rahmen eines Resozialisierungsprogramms allein zu einem Reiterhof begleitete, getötet. Die beiden Mordfälle liessen verschiedene Aspekte des Schweizer Strafvollzugsföderalismus Gegenstand heftiger Kritik werden, die sowohl im Parlament als auch in der Presse artikuliert wurde. Konsens bestand darüber, dass die beiden traurigen Vorfälle die Defizite im Strafvollzug deutlich zu Tage förderten. Uneinig war man sich hingegen bezüglich der Massnahmen, mit denen diese Fehler behoben werden sollten. Während Strafrechtsexperten und die Gefangenenorganisation Reform 91 eine stärkere Zentralisierung des Strafvollzugs – mitunter die Schaffung eines zentralen Registers für Sexualstraftäter, Gutachter und Gerichte – forderten, wehrten sich die Kantone weiterhin gegen ein nationales Strafvollzugsgesetz. Zudem gerieten mit dem Fall von Genf auch die psychiatrischen Gutachten und deren Verfasser in die Kritik. Es zeigte sich, dass eine gesetzliche Qualitätssicherung in den meisten Kantonen fehlt
[57].
Vor dem Hintergrund der beiden Mordfälle (siehe oben) überwies der Nationalrat zwei Motionen an die kleine Kammer. Zum einen handelte es sich um eine Motion Rickli (svp, ZH), die
Hafturlaube und Ausgänge für Verwahrte künftig ausschliessen wollte. Zum anderen forderte eine Motion Amherd (cvp, VS), dass gefährliche Straftäter – und nicht nur Wiederholungstäter – immer in Untersuchungshaft bleiben müssen
[58].
Keine Folge gab der Nationalrat einer parlamentarischen Initiative Rickli (svp, ZH), die dafür sorgen wollte, dass lebenslange Freiheitsstrafen für besonders gefährliche Straftäter und Wiederholungstäter auch wirklich lebenslang dauern. Konkret sollten Richter die Möglichkeit haben, unter bestimmten Voraussetzungen eine
bedingte Entlassung – welche heute im Schnitt nach 15 Jahren geschieht – auszuschliessen. Die Mehrheit des Rates sprach sich jedoch mit 110 zu 66 Stimmen gegen diesen Letztentscheid durch die Richter aus
[59].
Ebenfalls in Reaktion auf die beiden Mordfälle forderte ein diskussionslos überwiesenes Postulat Rickli (svp, ZH) einen Bericht über die Entwicklung der
Verwahrungspraxis in der Schweiz seit dem letzten Bericht aus dem Jahr 2007. Die aktuellen Daten sollten die Basis für die bevorstehende Revision des Besonderen Teils des Strafgesetzbuches sein
[60].
Die beiden Tötungsdelikte (siehe oben) gaben den Gegnern des erst 2007 eingeführten Primats des Resozialisierungsauftrags im Strafvollzug Aufwind. So hiess der Nationalrat in der Herbstsession im Rahmen der
Revision des Sanktionenrechts die Wiedereinführung der kurzen Haftstrafen von drei Tagen bis zu sechs Monaten zulasten der Geldstrafen mit 181 zu 13 Stimmen gut. Bedingte Geldstrafen sollten nur noch unter strengen Bedingungen möglich sein und der minimale Tagessatz von 10 auf 30 Franken erhöht werden. Die von der SVP geforderte Rückkehr zum Bussensystem vor 2007 fand aber ausserhalb der Partei keine Unterstützung. Da künftig wieder mehr Delinquenten Freiheitsstrafen verbüssen müssen, wollte die grosse Kammer den Einsatz von überwachtem Vollzug ausserhalb der Strafanstalt erleichtern. In der Schweiz laufen bereits seit 1999 in einzelnen Kantonen Pilotprojekte mit dem sogenannten Electronic Monitoring. Dieses wird sowohl als Massnahme bei der Resozialisierung als auch bei kurzen Haftstrafen eingesetzt. Da elektronische Fussfesseln auch beim Täter von Payerne zur Anwendung kamen, war deren Einsatz kritisiert worden. Dennoch sprach sich die grosse Kammer schliesslich für das Electronic Monitoring bei Freiheitsstrafen von bis zu zwölf Monaten aus, da es kostengünstig sei und dem Täter erlaube, einem Beruf nachzugehen. Zu den Verschärfungen des Sanktionenrechts sollte schliesslich der Landesverweis für Ausländer wieder eingeführt werden. Sowohl linke als auch rechte Nationalräte waren mit der Revision nicht zufrieden, weshalb die Vorlage mit lediglich 77 zu 54 Stimmen bei 52 Enthaltungen angenommen wurde
[61].
Im Fall Lucie Trezzini entschied das Bundesgericht, dass der Mörder Daniel H. doch nicht lebenslang verwahrt wird. Damit hiess es eine Beschwerde von Daniel H. gegen den Entscheid des Aargauer Obergerichts, das ihn lebenslang verwahren wollte, gut. Nur wer tatsächlich
auf Lebzeiten als unbehandelbar
gälte, dürfe lebenslang verwahrt werden. Unter dauerhafter Untherapierbarkeit sei laut Bundesgericht «ein mit der Person des Täters verbundener, unveränderbarer Zustand auf Lebzeiten» zu verstehen. Eine Untherapierbarkeit in Grössenordnung des Schwellenwerts von zwanzig Jahren reiche nicht aus. Damit fällte das Bundesgericht einen Grundsatzentscheid, was unter „dauerhaft nicht therapierbar“ zu verstehen ist. Laut der 2004 angenommenen
Verwahrungsinitiative sollte in diesem Fall ein Straftäter lebenslang und ohne periodische Überprüfung verwahrt werden. Das Aargauer Obergericht hatte in Folge noch zu entscheiden, ob Daniel H. nach dem Absitzen der lebenslänglichen Freiheitstrafe ordentlich verwahrt werden sollte. Auch eine ordentliche Verwahrung könnte faktisch lebenslang dauern. Die Initiantin Anita Chaaban zeigte sich enttäuscht über den Entscheid des Bundesgerichts und erwog die Lancierung einer neuen Volksinitiative. Diese soll sicherstellen, dass Personen, die bei der Haftentlassung von Straftätern Fehlentscheide treffen, zur Verantwortung gezogen werden können
[62].
Um das
Verursacherprinzip im Strafvollzug durchzusetzen, forderte eine parlamentarische Initiative Amaudruz (svp, GE), dass ausländische Delinquenten, die in der Schweiz keine Steuern zahlen, selbst für die Verfahrenskosten aufkommen und sich an den Haftkosten beteiligen müssen. Sollten sie den Betrag nicht selber aufbringen können, würde der Wert durch gemeinnützige Arbeit abgegolten werden müssen. Die Mehrheit des Nationalrates sah hingegen keinen Handlungsbedarf und lehnte die Initiative, die zudem in den Kompetenzbereich der Kantone eingreifen würde, mit 127 zu 60 Stimmen ab
[63].
Das geltende Bussensystem soll ausgeweitet werden. Der Bundesrat gab in Erfüllung einer Motion Frick (cvp, SZ) einen Entwurf für eine Totalrevision des
Ordnungsbussengesetzes (OBG) in die Vernehmlassung. Der Entwurf sah vor, dass Bussen nicht mehr nur im Strassenverkehr, sondern auch bei Verstössen gegen andere Gesetze eingesetzt werden können. Welche Tatbestände in den Geltungsbereich fallen, solle durch den Bundesrat festgelegt werden. Die Maximalbusse soll bei 300 Franken belassen werden
[64].
Für einen grossen Medienwirbel sorgte im Berichtjahr der Fall „
Carlos“. Den Auftakt machte eine Sendung des Schweizer Fernsehens über die Arbeit eines Zürcher Jugendanwaltes. Durch den TV-Bericht wurde publik, dass ein wegen verschiedenen Delikten 34 Mal vorbestrafter Jugendlicher eine Betreuung erhielt, die den Kanton Zürich monatlich über 29‘000 CHF kostete. Die allgemeine Empörung über dieses Sondersetting, das eine 4-Zimmerwohnung und Thaibox-Stunden miteinschloss, war so gewaltig, dass die Zürcher Justizdirektion sich gezwungen sah, zu handeln und „Carlos“ vorerst zu inhaftieren. Dagegen erhob der Bestrafte Beschwerde. Der Fall löste eine landesweite Debatte über den Jugendstrafvollzug und die dabei unterstellte „Kuscheljustiz“ aus. Nationalrat Fehr (svp, ZH) reichte in der Folge seine 2012 abgeschriebene Motion zur Verschärfung des Jugendstrafrechts erneut ein
[65].
Mit der Revision der Rechtsprechung, wonach die willentliche
Ansteckung mit HIV nicht mehr als lebensgefährliche Körperverletzung verurteilt werden soll, trug das Bundesgericht den medizinisch-therapeutischen Fortschritten in diesem Bereich Rechnung. Da eine Infektion mit AIDS an sich heute nicht mehr lebensgefährlich sei, sollten auch mindere Strafen für schwere oder einfache Körperverletzung ausgesprochen werden können
[66].
Der Fall Rappaz wirkte auch im Berichtjahr noch nach. Zur Debatte stand dabei das Dilemma zwischen Schutzpflicht des Staates und Selbstbestimmungsrecht des Häftlings. Die durch den
Hungerstreik des Hanfbauern angeregte Diskussion über die Zwangsernährung von Häftlingen führte dazu, dass mehrere Kantone diese Fälle nun explizit regelten. Abgeschlossen sind die Revisionen in den Kantonen Zug, St. Gallen und Solothurn. Gesetzesrevisionen laufen derzeit in den Kantonen Appenzell Ausserrhoden und Luzern. Dabei wurde meist der Standpunkt vertreten, dass der Wunsch des Häftlings zu respektieren sei, auch wenn dieser zum Tod führe
[67].
Eine Motion der ständerätliche Kommission für Rechtsfragen, welche die Verwendung und die Weitergabe von unrechtmässig erworbenen Bankkundendaten strafbar machen wollte, scheiterte im Nationalrat durch den Stichentscheid der Präsidentin. Einerseits sahen die Gegner keinen Handlungsbedarf und andererseits wollten sie verhindern, dass ein allfällig neu eingeführter Strafbestand
Datenhehlerei nur auf Bankkundendaten beschränkt würde
[68].
Am 25. März publizierte das Bundesamt für Statistik (BfS) die polizeiliche
Kriminalstatistik 2012. Insgesamt wurden im Vergleich zum Vorjahr 8,2 Prozent mehr Straftaten registriert. Der Befund einer verstärkten Zunahme der Kriminalität insbesondere bei Diebstählen (plus 11%), schweren Körperverletzungen (plus 23%), Gewalt und Drohungen gegen Beamten (plus 17%), Raubfällen (plus 16%), Nötigung (plus 12%), häusliche Gewalt (plus 6%) und Widerhandlungen gegen das Ausländergesetz (plus 15%) provozierte ein grosses Medienecho. Weitgehend stabil blieb die Anzahl Tötungs- und Drogendelikte
[69].
[57] Presse vom 16.5., 17.5., 21.-24.5, 7.6.13.
[58] Mo. 11.3911 (Amherd):
AB NR, 2013, S. 1577 ff.; Mo. 11.3767 (Rickli):
AB NR, 2013, S. 1575, Presse vom 24.9.13.
[59] Pa.Iv. 12.422:
AB NR, 2013, S. 725 ff.
[60] Po. 13.3978:
AB NR, 2013, S. 2209.
[61] BRG 12.046:
AB NR, 2013, S. 1579 ff. und 1641 ff.;
BBl, 2012, S. 4721 ff.; Presse vom 16.5., 17.5., 21.-24.5, 7.6.13;
SPJ 2012, S. 31.
[62] Presse vom 6.12.13;
SPJ 2012, S. 33.
[63] Pa.Iv. 12.440:
AB NR, 2013, S. 1972 ff.
[64] Mo. 10.3747; BRG 12.000:
NZZ, 16.3.13;
SPJ 2011, S. 32.
[65] Mo. 10.3131 bzw. Mo. 13.3725:
NZZ, 1.11.13;
NWZ, 25.10.13;
ZGZ, 11.10.13.
[66] BGE 6B_337/2012;
NZZ und
TA, 4.4.13.
[67]
NZZ, 19.4.13;
SPJ 2010, S. 30 f.
[68] Mo. 12.3976:
AB NR, 2013, S. 1085 f.
[69] AZ, NZZ, BaZ und LT, 26.3.13.
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