Année politique Suisse 2013 : Politique sociale / Assurances sociales
 
Invalidenversicherung
Die Jahresergebnisse 2012 der Invalidenversicherung fielen positiv aus: Die IV konnte ihre Schulden beim AHV-Ausgleichsfonds um CHF 592 Mio. senken, womit der Fehlbetrag am Jahresende noch rund CHF 14,4 Mrd. betrug. Ausgaben von rund CHF 9,3 Mrd. standen 2012 Einnahmen von rund CHF 9,7 Mrd. gegenüber, dazu kam ein Anlagegewinn von rund CHF 200 Mio. Die Ausgabensenkung sei vor allem durch die funktionierende Eingliederung von Menschen mit einer Behinderung in den Arbeitsmarkt und die abnehmende Zahl an Neurenten erreicht worden, so das Bundesamt für Sozialversicherungen. Im Vergleich zum Vorjahr hatte die Anzahl der nach Umfang gewichteten Renten um knapp 2% abgenommen, die Zahl der Massnahmen zur beruflichen Eingliederung war gestiegen [17].
Der Ständerat nahm eine Motion Zanetti (sp, SO) zur Eintragung von Trisomie 23 (Down-Syndrom) in die Liste der Geburtsgebrechen an, was dem Antrag des Bundesrates entsprach. Dass die Krankheit bisher noch nicht auf dieser Liste aufgeführt ist, sei objektiv nicht nachvollziehbar, so der Motionär. Der Entscheid des Nationalrates stand Ende 2013 noch aus [18].
Der Nationalrat nahm gegen den Antrag des Bundesrates eine Motion Büchler (cvp, SG) an, die für teilinvalide Landwirte IV-Renten in einer Höhe fordert, die eine Weiterführung des Betriebs bis zur Übernahme durch die nächste Generation ermöglicht. Der Bundesrat hatte argumentiert, die IV biete eine Kompensation für den Erwerbsfähigkeitsverlust durch Invalidität, jedoch keine Garantie dafür, auf dem angestammten Beruf zu bleiben. Eine Andersbehandlung der Landwirte laufe dem Prinzip der Volksversicherung zuwider. Die Vorlage wurde vom Ständerat 2013 noch nicht behandelt [19].
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IV-Revision
Nachdem der Nationalrat im Vorjahr diverse Änderungen beschlossen hatte, ging der Entwurf 1 zur 6. IV-Revision im Berichtsjahr ins Differenzbereinigungsverfahren. In der Frühjahrssession befasste sich der Ständerat mit dem Geschäft und hielt dabei an den geforderten Einsparungen fest. Seiner Kommissionsmehrheit und dem Bundesrat folgend und entgegen einer Minderheit Kuprecht (svp, SZ), beschloss der Rat, dem nationalrätlichen Entscheid aus dem Vorjahr, mit den Kinderrenten und der Übernahme von Reisekosten einen umstrittenen Teil des Entwurfes 1 als Entwurf 3 auszukoppeln und an die Kommission zurückzuweisen, zuzustimmen. Die Befürworter der Aufteilung argumentierten, die Chancen der Vorlage bei einem – nicht unwahrscheinlichen – Referendum seien auf diese Weise deutlich höher und die Verzögerung der neu im Entwurf 3 eingeplanten Einsparungen seien angesichts der durch die Revisionen 5 und 6a bereits erreichten Ausgabenrückgänge zu verkraften. Die Gegner beklagten dagegen eine Verwässerung der Revision wegen ungenügender Sparbemühungen. Diese seien beim Volks-Ja zu einer befristeten Erhöhung der Mehrwertsteuer zugunsten der IV Bedingung gewesen. Es sei zu befürchten, dass der Entwurf 3 schliesslich unbehandelt von der politischen Bildfläche verschwinde. Der Nationalrat hatte im Vorjahr die Einführung eines stufenlosen Rentensystems auch für laufende Renten von Personen bis 55 Jahren beschlossen und dabei den minimalen Invaliditätsgrad für eine Vollrente von 80 auf 70% gesenkt. Die Mehrheit der ständerätlichen Kommission empfahl gegen eine Minderheit Maury Pasquier (sp, GE), am ursprünglichen Beschluss des Ständerates festzuhalten. Somit würde das neue System erst für Neurenten eingeführt und der minimale Invaliditätsgrad wäre bei 80% anzusetzen. Im Gegensatz zum Vorschlag des Nationalrates könnten damit tatsächlich Kosten eingespart werden, so die Begründung. Wichtig sei auch der vom Systemwechsel ausgehende Erwerbsanreiz, da zusätzlich verdientes Geld fast vollumfänglich behalten werden könne. Zudem sei das Reintegrationsziel gefährdet, sollte eine volle Rente bereits bei 70% Invalidität gewährt werden. Die Gegner sprachen sich zwar ebenfalls für ein lineares Rentensystem aus, lehnten aber ab, Einsparungen zulasten der Behinderten mit einem Invaliditätsgrad zwischen 70 und 79% vorzunehmen. Die blosse Kostenneutralität der Massnahme sei angesichts der schwarzen Zahlen der IV und der positiven Aussichten durchaus akzeptabel. Die durch die Erhöhung auf 80% angestrebten Einsparungen seien blosse Kostenverlagerungen, denn die Eingliederung gelinge in der Regel nicht und die entstehenden Härtefälle würden in Zukunft auf Ergänzungsleistungen oder Sozialhilfe angewiesen sein. Mit 25 zu 19 Stimmen entschied die kleine Kammer sich schliesslich für den Antrag der Mehrheit, womit eine Differenz zum Nationalrat erhalten blieb. Ein Minderheitsantrag Kuprecht (svp, SZ), der eine Verrechnung der IV-Kinderrenten mit den Familienzulagen verlangte, um zu verhindern, dass IV-beziehende Eltern ein höheres Einkommen erzielen als erwerbstätige, fand keine Mehrheit. Grössere Abweichungen zum Nationalrat bestanden zudem beim Interventionsmechanismus, wo der Nationalrat die Festschreibung von automatischen Massnahmen im Falle einer finanziellen Schieflage gänzlich abgelehnt hatte. Die Kommissionsmehrheit im Ständerat beantragte, am ursprünglichen Beschluss mit einer automatischen Beitragserhöhung und Sistierung der Anpassung der Renten an die Lohn- und Preisentwicklung festzuhalten. Die Schuldenbremse könne eine vernünftige Balance zwischen Einnahmen und Ausgaben herstellen, die nachhaltige Sanierung der IV sei notwendig und dem Volk versprochen worden. Eine Minderheit I Rechsteiner (sp, SG) beantragte, nur den Beitragssatz automatisch zu erhöhen, die selbe Minderheit II sprach sich alternativ für den Beschluss des Nationalrates und damit den Verzicht auf jegliche automatischen Massnahmen aus. Die Bestimmungen, wonach der Gesetzgeber beim Erreichen einer kritischen Grenze Massnahmen zu beschliessen habe, welche durch eine automatische Beitragserhöhung ergänzt würden, sei demokratisch und habe sich in der Arbeitslosenversicherung bewährt, so die Minderheit. Ein automatischer Eingriff in die Renten sei dagegen präzedenzlos und würde zu einer Entkoppelung der IV- von den AHV-Renten führen, womit faktisch das Niveau des Anspruchs zur Existenzsicherung gesenkt werde. Eine solche Absenkung sei verfassungswidrig. Dieser Argumentation folgte jedoch nur knapp ein Drittel der Ratsmitglieder, womit der Mehrheitsantrag deutlich angenommen wurde. In der Sommersession kam das Geschäft zum zweiten Mal in den Nationalrat, wo die Differenzen zum Ständerat nicht vollständig bereinigt werden konnten. So blieb die grosse Kammer gegen den Antrag ihrer Kommissionsmehrheit und mit einer Minderheit Lohr (cvp, TG) bei ihrem Beschluss, bereits ab einem Invaliditätsgrad von 70% eine Vollrente zuzusprechen. Das Resultat fiel dabei mit 108 zu 78 Stimmen recht deutlich aus; Unterstützung fand die Verschärfung nur bei der SVP, der FDP und bei einzelnen Mitgliedern der CVP/EVP-Fraktion. Mit einem sehr ähnlichen Stimmenverhältnis von 107 zu 74 Stimmen sprach der Rat sich dagegen für ein Streichen der Bestimmung zur Anpassung der Renten für Kinder im Ausland lebender IV-Beziehender an die dortige Kaufkraft und diesbezüglich also zugunsten einer Bereinigung mit dem Ständerat aus. Eine Minderheit Bortoluzzi (svp, ZH) hatte verlangt, am früheren Beschluss festzuhalten. Mit 108 zu 74 Stimmen blieb die grosse Kammer hingegen entsprechend dem Antrag ihrer Kommission bei ihrer Haltung gegen eine Schuldenbremse mit automatischen Massnahmen. Wie bereits in früheren Verhandlungen stellten sich dabei SP und Grüne gegen automatische Rentenkürzungen, während die SVP sich gegen höhere Lohnbeiträge wehrte. Diese unheilige Allianz überstimmte die Mitteparteien. Alle Fraktionen stimmten geschlossen ab und es gab keine Enthaltungen. Damit verblieben als Differenzen zwischen den beiden Kammern die Festlegung des minimalen Invaliditätsgrads zur Auszahlung einer Vollrente, die Ausgestaltung des Interventionsmechanismus sowie eine Begriffsänderung im IV-Gesetz. Bereits eine Woche später kam die Vorlage erneut zur Verhandlung in den Ständerat. Dieser hielt gegen Minderheitsanträge von linker Seite an der Schwelle von 80% Invalidität für eine volle Rente und an der Ausgestaltung der Schuldenbremse mit automatischen Beitragserhöhungen und Einfrieren der Renten fest. Zwei Tage später beschloss der Nationalrat, ebenfalls bei seiner Position zu bleiben. Damit kam der Entwurf in die Einigungskonferenz, welche noch in der gleichen Session zusammentrat. Die Konferenz schloss sich mit jeweils sehr knappen Mehrheiten bei der Frage des minimalen Invaliditätsgrads dem Nationalrat, bei jener der Schuldenbremse dem Ständerat an, womit eine Einigung nicht zustande kam. Die Kommissionen mussten daher ihren Räten beantragen, das Geschäft abzuschreiben. Dagegen wehrte sich im Ständerat ein Antrag Gutzwiler (fdp, ZH), der eine nochmalige Einberufung der Einigungskonferenz verlangte. Dieser Antrag wurde angenommen, am selben Tag lehnte jedoch der Nationalrat einen gleichlautenden Antrag Weibel (glp, ZH) klar ab, wobei sich wiederum eine unheilige Allianz aus Grünen, SP und SVP durchsetzte. Damit wurde Entwurf 1 der IV-Revision 6b definitiv abgeschrieben. Entwurf 3 war im Vorjahr an die Kommission zurückgewiesen und im Berichtsjahr nicht mehr behandelt worden [20].
Nachdem die Revision 6b der IV gescheitert war, griff in der Wintersession eine Motion Schwaller (cvp, FR) im Ständerat einige der Anliegen wieder auf, mit dem Ziel, eine nachhaltige Sanierung der IV zu erreichen. Der Vorstoss fordert vom Bundesrat die Ausarbeitung einer Gesetzesänderung, damit die Schulden der IV beim AHV-Fonds auch nach dem Ende der befristeten Mehrwertsteuerfinanzierung weiter abgetragen und bis ins Jahr 2028 getilgt werden können. Zur Verbesserung der Betrugsbekämpfung soll eine gemeinsame Gesetzesgrundlage für alle Versicherungen geschaffen werden. Zudem sollen die Massnahmen zur verstärkten Wiedereingliederung bzw. zum Verbleiben im Arbeitsmarkt intensiviert und insbesondere auf Personen mit psychischen Beeinträchtigungen ausgedehnt werden. Der Bundesrat beantragte die Annahme der Motion, die auch von Behindertenverbänden unterstützt wurde. Eine Minderheit Kuprecht (svp, SZ) beantragte, die Motion abzulehnen. Während verstärkte arbeitsmarktliche Integrationsmassnahmen nicht notwendig oder nicht im Gesetz über die Invalidenversicherung zu regeln seien, seien Massnahmen zur Verbesserung der Betrugsbekämpfung im zurückgestellten Entwurf 3 der Revision 6b enthalten, der nun angesichts neuer Zahlen wieder hervorgeholt werden könne. Inzwischen seien die Ressourcen des Bundesamtes für Sozialversicherungen für die Altersvorsorge 2020 (siehe oben) zu verwenden. Diese Minderheit wurde von einer grossen Mehrheit mit 29 zu 9 Stimmen bei 3 Enthaltungen überstimmt. Die Behandlung im Nationalrat stand im Berichtsjahr noch aus [21].
 
[17] AZ, 26.3.13; NZZ, 18.5.13.
[18] Mo. 13.3720: AB SR, 2013, S. 1154.
[19] Mo. 11.4012: AB NR, 2013, S. 1325 f.
[20] BRG 11.030: AB SR, 2013, S. 112 ff., 476 ff., 599 ff.; AB NR, 2013, S. 728 ff., 971 ff., 1096 ff.; NZZ, 5.6.13; BZ, 12.6.13; vgl. SPJ 2012, S. 301 ff.
[21] Mo. 13.3990: AB SR, 2013, S. 1155 ff.