Im März 2021 reichten Ständerat Marco Chiesa (svp, TI) und Nationalrat Piero Marchesi (svp, TI) gleichlautende Motionen ein, mit denen sie verlangten, Artikel 14 des Freizügigkeitsabkommens anzuwenden und die Personenfreizügigkeit im Kanton Tessin und in den am stärksten von der Corona-Krise betroffenen Regionen vorläufig auszusetzen. Der Bundesrat solle unverzüglich den Gemischten Ausschuss Schweiz-EU einberufen, um eine Lösung für den Arbeitsmarkt der von der Covid-19-Pandemie am stärksten betroffenen Kantone zu finden. Obwohl die Zahl der Arbeitsplätze in der ganzen Schweiz gesunken sei, sei der Rückgang im Tessin etwa fünfmal so hoch gewesen wie das Schweizer Mittel, beklagten Chiesa und Marchesi. Gleichzeitig sei die Zahl der Grenzgänger und Grenzgängerinnen angestiegen – dies sei ein Zeichen des Verdrängungseffekts, durch den Schweizer Arbeitnehmende aus dem Markt ausscheiden würden. Sie beriefen sich auf Artikel 14 Absatz 2 des Freizügigkeitsabkommens, der dem Gemischten Ausschuss «bei schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen» die Kompetenz verleiht, geeignete Abhilfemassnahmen zu prüfen. Bis sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt normalisiere, sollten der Inländervorrang und die Kontingentierung der Bewilligungen daher temporär wiedereingeführt werden, schlugen die Motionäre vor.
Der Bundesrat sei sich der schwierigen Lage im Tessin bewusst, erklärte dieser in seiner Stellungnahme. Jedoch habe man mit der Ausweitung der Kurzarbeitsentschädigung und des Härtefallprogramms für Unternehmen entsprechende Massnahmen getroffen. Die Aufrechterhaltung der Personenfreizügigkeit stelle ein wichtiges Element für die wirtschaftliche Erholung der Schweiz nach Pandemieende dar, erklärte der Bundesrat. Die Verfügbarkeit ausländischer Arbeitskräfte trage auch während der Pandemie dazu bei, dass Unternehmen überleben könnten, was wiederum die Arbeitsplätze der inländischen Arbeitnehmenden sichere. Hinsichtlich der Nutzung des inländischen Arbeitskräftepotenzials gelte nach wie vor die 2018 eingeführte Stellenmeldepflicht. Für den Bundesrat gab es keinen Grund, den Gemischten Ausschuss anzurufen, er beantragte folglich die Ablehnung der Motion.
In der Herbstsession 2021 meinte Bundesrätin Karin Keller-Sutter zur Lage des Tessiner Arbeitsmarkts, dass der Kanton «auch etwas Opfer seines eigenen Erfolgs» geworden sei, diesbezüglich aber keine schwerwiegende Störung des Arbeitsmarkts vorliege. Die vorliegende Motion stehe zudem im Widerspruch zur kurz zuvor angenommenen Motion Herzog (sp, BS; Mo. 21.3698), die den Grenzverkehr in Grenzregionen explizit von den Massnahmen des Epidemiengesetzes ausnehmen wollte. Bundesrätin Keller-Sutter wies darüber hinaus darauf hin, dass die 4'000 Grenzgängerinnen und Grenzgänger im Gesundheitswesen während der Pandemie für die Aufrechterhaltung der Tessiner Gesundheitsinfrastruktur essentiell gewesen seien. Ihrem Antrag, die Motion abzulehnen, kam die kleine Kammer mit 27 zu 7 Stimmen nach.

Artikel 14 des Freizügigkeitsabkommens anwenden und die Personenfreizügigkeit im Kanton Tessin und in den am stärksten von der Krise betroffenen Regionen vorläufig aussetzen