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  • Keller-Sutter, Karin (fdp, plr) BR EJPD / CF DFJP

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Dieselben zwei Anträge standen auch bei der Debatte des Nachtrags Ib zum Voranschlag im Nationalrat im Mittelpunkt. Im Unterschied zu ihrer Schwesterkommission beantragte die FK-NR jedoch bezüglich des Kredits für Container für Asylsuchende, dem Bundesrat zu folgen. Das Geld sei nötig, um «Asylgesuche rasch und gesetzeskonform bearbeiten» und den Betroffenen «ein Dach über dem Kopf gewährleisten zu können», betonte Kommissionssprecherin Wyss (sp, BS). Eine Minderheit Sollberger (svp, BL) beantragte jedoch nicht nur wie im Ständerat den Nachmeldungskredit über CHF 132.9 Mio., sondern auch den ursprünglichen Kredit über CHF 139.9 Mio. sowie einen Kredit für das SEM über CHF 26.2 Mio. abzulehnen. Das schweizerische und europäische Asylsystem sei gescheitert, es kämen zu viele und die falschen Asylsuchenden. Man solle daher das Problem nicht überdecken, indem man neue Plätze schaffe, sondern das System ändern und «nur die Menschen im Land behalten, die auch wirklich in ihrem Land effektiv an Leib und Leben bedroht sind». Finanzministerin Keller-Sutter betonte, dass mit der Streichung des gesamten Nachtragskredits 2023 nur 4'500 Betten anstelle der vermutlich benötigten 10'000 Betten bereitstünden. Mit 136 zu 50 Stimmen respektive 99 zu 83 Stimmen (bei 4 Enthaltungen) folgte der Rat in der Folge seiner Kommissionsmehrheit. Während die Streichung des Nachtragskredits für das SEM einzig von den geschlossen stimmenden Mitgliedern der SVP-Fraktion gutgeheissen wurde, sprachen sich auch eine Mehrheit der FDP- und die Hälfte der Mitte-Fraktion gegen die Nachtragskredite für die Bundesasylzentren aus.
Dies blieb jedoch die einzige Differenz zum Ständerat. So teilte die FK-NR etwa bezüglich der Lohnmassnahmen in der Bundesverwaltung die Meinung ihrer Schwesterkommission und beantragte ebenfalls deren Streichung. Eine Minderheit Gysi (sp, SG) argumentierte vergeblich für eine Gewährung des Kredits, mit 102 zu 82 Stimmen (bei 1 Enthaltung) und gegen den Willen von SP, Grünen, GLP und 2 Mitgliedern der Mitte-Fraktion lehnte der Nationalrat diesen Nachtragskredit definitiv ab.
Erfolglos blieben verschiedene Vorstösse von Mitgliedern der SVP-Fraktion zum Kostensparen: So forderte etwa Jean-Pierre Grin (svp, VD), dass drei Nachtragskredite des EDA (CHF 73 Mio.) sowie die dazugehörigen Verpflichtungskredite (CHF 113 Mio.) und ein Kredit des SECO (CHF 40 Mio.) zugunsten der Ukraine kompensiert werden müssen. Die Schweiz tue bereits sehr viel für die Ukraine, die zusätzlichen Ausgaben sollten nun aufgrund der klammen Bundesfinanzen bei anderen Budgetposten kompensiert werden. Eine Minderheit Peter Keller (svp, NW) forderte auf die zusätzlichen CHF 7 Mio. für das Generalsekretariat des EFD zur Organisation der Übernahme der CS durch die UBS zu verzichten und eine weitere Minderheit Manfred Bühler (svp, BE) lehnte die zusätzlichen CHF 87 Mio. für den regionalen Personenverkehr ab, da die Unternehmen die verglichen mit ihren Budgets niedrigen Beträge selbst aufbringen sollten – falls nötig durch eine Angebotsanpassung beim nächsten Fahrplanwechsel. In der Folge nahm der Nationalrat den Bundesbeschluss über den Nachtrag Ib zum Voranschlag 2023 sowie die Planungsgrössen mit je 134 zu 49 Stimmen gegen den Willen der SVP-Fraktion an.

Nachträge Ia und Ib zum Voranschlag 2023 (BRG 23.007)
Dossier: Übernahme der Credit Suisse durch die UBS
Dossier: Bundeshaushalt 2023: Voranschlag und Staatsrechnung

Mitte Mai 2022 empfing Bundespräsident Ignazio Cassis die slowakische Präsidentin Zuzana Čaputová in Bern. Dabei handelte es sich um den ersten Staatsbesuch eines slowakischen Staatsoberhaupts in der Schweiz seit der Unabhängigkeit der Slowakischen Republik 1993. Hauptthema der Gespräche, an denen auch Bundesrätin Karin Keller-Sutter teilnahm, war der Krieg in der Ukraine und dessen Folgen. Der Schweizer Aussenminister erklärte die Politik und das Engagement der Schweiz im Rahmen des Konflikts und betonte – mit Blick auf die Ukraine Recovery Conference in der Schweiz –, dass derartige Aufbauinitiativen untereinander koordiniert werden müssten. Die beiden Regierungsmitglieder betonten zudem, dass die Schweiz den bilateralen Weg mit der EU stabilisieren und weiterentwickeln wolle, wozu auch die Fortführung der solidarischen Partnerschaft mit den europäischen Staaten und der EU zur Förderung von Sicherheit, Frieden und Demokratie gehöre. Bundespräsident Cassis erläuterte in diesem Kontext die neue Stossrichtung für ein Verhandlungspaket mit der EU und die beiden Delegationen diskutierten die angestrebte Assoziierung der Schweiz an Horizon Europe und Erasmus+, sowie den zweiten Kohäsionsbeitrag, zu dessen Empfängern auch die Slowakei gehört. Auch die Lage im westlichen Balkan und die Migration wurden thematisiert, wobei Justizministerin Keller-Sutter die Wichtigkeit einer koordinierten europäischen Asyl- und Migrationspolitik, die über die gegenwärtige Flüchtlingskrise hinausgehen müsse, hervorhob. Die Delegationen würdigten auch die Strategien der beiden Länder, die beide über grosse Berggebiete verfügen und damit vom Klimawandel besonders betroffen sind, im Bereich der Klima- und Umweltpolitik und die Zusammenarbeit ihrer Forschungs- und Bildungsstätten.

Staatsbesuch der slowakischen Präsidentin Čaputová
Dossier: Staatsbesuche und öffentliche Besuche in der Schweiz seit 1990

Nach dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine aktivierte die Schweiz auf den 12. März 2022 erstmals in ihrer Geschichte den seit der Totalrevision des Asylgesetzes 1998 gesetzlich geregelten Schutzstatus S. Dieser ermöglicht es, schutzsuchenden Personen – im gegebenen Fall aus der Ukraine – ohne ordentliches Asylverfahren rasch und unbürokratisch ein einjähriges Aufenthaltsrecht zu erteilen, das bei Bedarf verlängert werden kann. Der Schutzstatus S bietet somit einer Gruppe kollektiven Schutz für die Dauer der in ihrem Ursprungsland bestehenden schweren Gefährdung. Ferner schliesst er – auch im Unterschied zum Status der vorläufigen Aufnahme – den unmittelbaren und bedingungslosen Familiennachzug mit ein und mündet, nach fünfjährigem Bestehen, in die Erteilung einer befristeten Aufenthaltsbewilligung B. Der Bundesrat schlug die erstmalige Aktivierung des Schutzstatus S nach Absprache mit der EU vor, um europaweit möglichst einheitliche Regeln zu schaffen. Die EU-Mitgliedstaaten aktivierten ihrerseits mit der «Temporary Protection Directive» erstmals eine seit 2001 bestehende entsprechende Notfallregelung. Bei den konsultierten Akteuren, namentlich den Kantonen, Gemeinden, Städten, Hilfswerken und dem UNHCR, stiess der Vorschlag der Aktivierung des Schutzstatus S auf breite Unterstützung.

Als «Européens qui connaissent notre mentalité et la vie que nous menons ici» beschrieb EJPD-Vorsteherin Karin Keller-Sutter gemäss «La Liberté» die Ukrainerinnen und Ukrainer, als sie die bundesrätliche Solidaritätsbekundung in die Aktivierung des Schutzstatus S sowie in Verordnungsanpassungen zur Lockerung der Bestimmungen des Status übersetzte. So entfällt für Ukrainerinnen und Ukrainer die Wartefrist von drei Monaten, bis sie in der Schweiz einer Erwerbstätigkeit nachgehen dürfen, und ebenso ist es ihnen erlaubt, unmittelbar nach ihrer Einreise in die Schweiz eine selbständige Erwerbstätigkeit auszuüben. Auch dürfen Personen mit Schutzstatus S innerhalb des Schengen-Raums frei reisen – dies ebenfalls im Unterschied zu in der Schweiz vorläufig aufgenommenen Personen, für die seit einem Parlamentsbeschluss in der Wintersession 2021 starke Einschränkungen bei der Reisefreiheit gelten. Ebenso beschloss der Bundesrat, den Schutzstatus S in gewissen Fällen auch an Personen ohne ukrainische Staatsbürgerschaft zu erteilen, und zwar an solche, die in der Ukraine über eine Aufenthaltsbewilligung verfügten, sofern für sie eine Rückreise in ihr Heimatland aus Sicherheitsgründen nicht möglich ist. Mit diesen Anpassungen am Schutzstatus S bezweckte die Schweiz nicht zuletzt eine stärkere Harmonisierung mit der EU. Mitte April beschloss der Bundesrat ferner, den Kantonen pro Person mit Schutzstatus S zusätzlich zur jährlichen Globalpauschale von ungefähr CHF 18'000 eine Integrationspauschale von CHF 3'000 zu entrichten. Diese soll primär zum Spracherwerb eingesetzt werden und somit die Beteiligung am Sozial- und Arbeitsleben in der Schweiz erleichtern. Ende August 2022 zog das EJPD bezüglich der Arbeitsmarktintegration denn auch eine erste, positive Bilanz: Von den ca. 34'000 bis zu diesem Zeitpunkt in die Schweiz geflüchteten Personen im erwerbsfähigen Alter mit Schutzstatus S hatten 11 Prozent eine Erwerbstätigkeit aufnehmen können; ein Anteil, der beinahe doppelt so hoch ausfiel wie derjenige bei anerkannten Flüchtlingen oder vorläufig aufgenommenen Personen.

Seinen erstmaligen Einsatz erlebte auch der Sonderstab Asyl (SONAS), den die zuständige Bundesrätin nach Absprache mit der VBS-Vorsteherin Viola Amherd sowie dem Präsidenten der KKJPD, Fredy Fässler (SG, sp), und der Präsidentin der SODK, Nathalie Barthoulot (JU, sp), bereits im März 2022 einberief. Ziel dieses im Jahr 2011 geschaffenen «politisch-strategischen Führungsorgan[s]» ist die Unterstützung des Bundes bei der Bewältigung besonderer und ausserordentlicher Lagen im Asylbereich, namentlich durch die Koordination unterschiedlicher Aktivitäten und die Verkürzung von Entscheidungswegen. Dieser Sonderstab war es denn auch, der Anfang Juni auf Vorschlag des SEM und nach durchgeführter Konsultation beschloss, dass der Schutzstatus S bei ausgedehnten Heimatreisen oder bei längerem Aufenthalt in einem Drittstaat widerrufen werden kann.

Im Frühling schuf Karin Keller Sutter zudem eine Evaluationsgruppe zum Schutzstatus S, die sich Anfang Juli 2022 erstmals traf. Diese hat zum Ziel, die ersten Erfahrungen mit dem Schutzstatus S, etwa in Bezug auf dessen Schutzfunktion, die Auswirkungen auf das Asylsystem sowie auf die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen, zu untersuchen und daraus Handlungsmöglichkeiten und -bedarf für die Zukunft abzuleiten. Bereits Ende 2022 soll hierzu ein Zwischenbericht vorgelegt werden.

Trotz der generellen und breiten politischen Unterstützung zur Aktivierung des Schutzstatus S für Personen aus der Ukraine war diese vor Kritik aus verschiedenen Lagern nicht gefeit. So erachtete etwa die Schweizerische Flüchtlingshilfe die durch den Schutzstatus S geschaffene Ungleichbehandlung gegenüber vorläufig aufgenommenen Personen als «stossend», obgleich sie relativierte, dass die Ausgangslage in der Ukraine eine andere sei als diejenige von Flüchtenden aus vielen anderen Ländern: Ukrainerinnen und Ukrainer flüchteten alle aus demselben unmittelbaren Grund – dem Krieg. Auch im Rahmen der zweiten Flüchtlingssession im Mai 2022 wurden die Gleichbehandlung aller geflüchteten Personen sowie die Ausdehnung des Schutzstatus auf andere Flüchtlingsgruppen gefordert. Ferner erachteten etwa die Kantone die zugesprochene Integrationspauschale von CHF 3'000 mehrheitlich als zu tief.
Auf der anderen Seite verlangten Vertreterinnen und Vertreter der SVP bereits im Mai in Form von politischen Vorstössen eine regelmässige Überprüfung des Schutzstatus S und stellten in Frage, ob dieser an alle geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainer – das heisst unabhängig von deren geografischer Distanz zu Gebieten mit aktiven Kriegshandlungen – vergeben werden soll. Ebenso postulierten Mitglieder der SVP, Personen aus Drittstaaten mit rechtmässiger Aufenthaltsbewilligung in der Ukraine sei kein Schutzstatus S zu gewähren. Nicht zuletzt wurde eine gewisse Kritik laut, da bei Personen mit Schutzstatus S im Gegenzug zu vorläufig Aufgenommenen für die Frage des Sozialhilfeanspruchs lediglich das Einkommen und nicht ebenfalls die Vermögenswerte berücksichtigt wurden. Diesen Umstand änderte die SODK Mitte August 2022 durch die Publikation neuer Empfehlungen.

Ukraine-Konflikt: Erstmals Schutzstatus S aktiviert
Dossier: Schutzstatus S für Personen aus der Ukraine
Dossier: Schweizer Reaktion auf die russischen Aggressionen in der Ukraine (ab 2014)

Am 23. Februar 2022 verurteilte die Schweizer Regierung erstmals öffentlich das völkerrechtswidrige Vorgehen Russlands in der Ostukraine. Der Bundesrat beobachte die Lage wegen der Eskalationsgefahr mit grosser Sorge und setze sich für eine friedliche Lösung des Konflikts ein, unter anderem durch die Unterstützung der OSZE. Um der Umgehung der EU-Sanktionen gegen Russland vorzubeugen, werde man die Sanktionen analysieren und anschliessend entscheiden, wie man zu verfahren habe. Der Bundesrat verwies in seiner Medienmitteilung auf das Embargogesetz, auf dessen Grundlage der Bund Zwangsmassnahmen erlassen könne, um Sanktionen der UNO, der OSZE oder der wichtigsten Handelspartner durchzusetzen.
Tags darauf veröffentlichte der Bundesrat eine Erklärung von Bundespräsident Cassis, in der er sich zum bewaffneten Konflikt in der Ukraine äusserte. Der Bundesrat verurteile die Intervention Russlands «aufs Schärfste» und rufe die Konfliktparteien dazu auf, das humanitäre Völkerrecht zu respektieren, so Cassis. Er nahm auch Bezug auf die zusätzlich erlassenen Sanktionen der EU gegen Russland. Diese hatte Finanz- und Reisesanktionen gegen Banken und Geschäftspersonen sowie gegen Mitglieder der Duma, der Armee und der Regierung erhoben, aber auch Handelsrestriktionen bezüglich der Regionen Donetsk und Luhansk erlassen. Zudem wurde der Zugang zum europäischen Finanz- und Kapitalmarkt für die russische Regierung und die Zentralbank beschränkt. Der Bundespräsident kündigte an, dass die Schweiz diese Sanktionen in Form von «Umgehungsverhinderungsmassnahmen» in die Verordnung zur Verhinderung der Umgehung der EU-Sanktionen aus dem Jahr 2014 übernehmen werde. Man werde die Liste der von der EU sanktionierten Personen und Unternehmen grundsätzlich übernehmen. Auf Nachfrage der anwesenden Journalistinnen und Journalisten bei der Pressekonferenz konnte Cassis in der Folge jedoch nicht bestätigen, dass die Schweiz die EU-Sanktionen übernehmen werde. Laut Sonntagsblick und Republik gebe es keine Grundlage für die Genehmigung von konkreten Sanktionen, weil Wirtschaftsminister Parmelin dem Gesamtbundesrat aus Versehen keinen formellen Antrag dazu vorgelegt habe. Wie die Sonntagszeitung berichtete, lud die APK-NR Aussenminister Cassis in der Folge zu einer ausserordentlichen Sitzung ein, an der er die Sanktionspolitik der Schweiz rechtfertigten sollte. Während in allen Parteien eine Mehrheit für die Übernahme von Sanktionen vorhanden sei, lehne die SVP dies unter Berufung auf die Schweizer Neutralität ab, so die Sonntagszeitung weiter. Alt-Bundesrat Blocher verurteilte indes die Sanktionsübernahme in der Aargauer Zeitung und betonte, die Schweiz sei dadurch eine «Kriegspartei» geworden.
Die zurückhaltende Reaktion des Bundesrats stiess bei den meisten Parteien und der Bevölkerung auf Unverständnis und sorgte für Kritik. Der Sonntagsblick zitierte Mitte-Präsident Gerhard Pfister (mitte, ZG), für den die Massnahmen nicht weit genug gingen, und FDP-Präsident Burkart (fdp, AG), der eine vollumfängliche Übernahme der EU-Sanktionen forderte. In Bern kam es zur grössten Friedensdemonstration seit dem Irakkrieg im Jahr 2003, an der nicht mit Kritik am Bundesrat gespart wurde. Auch aussenpolitisch wurde Druck auf den Bundesrat ausgeübt: Sowohl die USA wie auch die EU brachten dem Vorgehen des Bundesrats wenig Verständnis entgegen. EU-Botschafter Mavromichalis ermutigte die Schweiz, «Mut und Entschlossenheit» zu zeigen und die EU-Sanktionen zu unterstützen. Die stellvertretende Aussenministerin der USA – Wendy Sherman – ging sogar noch weiter und suchte ein direktes Gespräch mit Staatssekretärin Livia Leu, um die Lage in der Ukraine zu besprechen.

Nur vier Tage später reagierte der Bundesrat im Rahmen einer ausserordentlichen Sitzung auf die dramatische Lage in der Ukraine und beschloss die Übernahme der Sanktionspakete der EU gegen Russland sowie Hilfsgüterlieferungen für die ukrainische Bevölkerung. Die Schweiz setzte mit sofortiger Wirkung die Güter- und Finanzsanktionen der EU um, was zur Folge hatte, dass die Vermögen der sanktionierten Personen und Unternehmen gesperrt und die Eröffnung neuer Geschäftsbeziehungen verboten wurden. Gegen Präsident Putin, Premierminister Mishustin und Aussenminister Lavrov wurden aufgrund schwerwiegender Verstösse gegen das Völkerrecht zusätzliche Finanzsanktionen erlassen. Das Einfuhr-, Ausfuhr- und Investitionsverbot, das seit 2014 für das Gebiet der Krim angewendet wurde, erweiterte der Bundesrat auf die Regionen Donezk und Luhansk. Ausserdem entschied der Bundesrat, das Abkommen über Visaerleichterungen mit Russland teilweise zu suspendieren und Einreiseverbote gegen verschiedene Personen zu erlassen, die einen Bezug zur Schweiz hatten und Vladimir Putin nahestanden. Im Sinne der Luftraumsperrungen anderer europäischer Länder wurde auch der schweizerische Luftraum für sämtliche russischen Flüge gesperrt, mit Ausnahme von Flugbewegungen für humanitäre, medizinische und diplomatische Zwecke. Trotz der in diesem Ausmass bisher noch nie dagewesenen Sanktionsübernahmen betonte der Bundesrat, dass er die Neutralität bei seiner Entscheidung berücksichtigt habe und die Schweiz auch weiterhin mit ihren Guten Diensten zur Lösung des Konflikts beitragen wolle. Dieser Kurswechsel wurde in den Medien positiv aufgenommen, wenngleich der Bundesrat für seine Zögerlichkeit kritisiert wurde. Die AZ bezeichnete den Entscheid als «Berner Pirouette», während die WOZ die Entscheidfindung der Exekutive mit einem tagelangen Irrlauf verglich. Aussenminister Cassis verteidigte sich im Interview mit dem Sonntagsblick Anfang März und argumentierte, dass der Bundesrat «selten etwas so Wichtiges so schnell entschieden» habe. Er warb für Verständnis, denn der Bundesrat habe zuerst einen Weg finden müssen, so weit wie möglich mit der EU mitzuziehen, ohne die Neutralität zu verletzen und damit die Handlungsfähigkeit der Schweizer Diplomatie einzuschränken.

Es sollte nicht lange dauern, bis die Schweizer Exekutive am 4. März das Sanktionsregime wiederum dem neusten Stand der EU anpassen musste. Der Bundesrat beschloss daher die Totalrevision der «Verordnung über Massnahmen im Zusammenhang mit der Situation in der Ukraine». Neu war der Export aller doppelt (zivil und militärisch) verwendbarer Güter nach Russland verboten und zwar unabhängig vom Endverwendungszweck oder dem Endverwender. Auch die Ausfuhr von Gütern, die zur militärischen oder technologischen Stärkung Russlands oder zur Entwicklung des Verteidigungs- und Sicherheitssektors beitragen könnten, untersagte der Bundesrat. Darunter fielen auch die Vermittlung oder das Bereitstellen von Finanzmitteln und die Erbringung technischer Hilfe. Weitere Ausfuhrverbote betrafen Güter und Dienstleistungen im Ölsektor und in der Luft- und Raumfahrtindustrie sowie damit zusammenhängende Dienstleistungen wie Versicherungen, Inspektionen, Vermittlungsdienste und Finanzhilfen. Die Finanzsanktionen wurden ebenfalls ausgeweitet; so beschloss die Regierung das Verbot von Transaktionen mit der russischen Zentralbank und den Ausschluss Russlands aus dem Kommunikationsnetzwerk SWIFT. Erneut wurde der Bundesrat nicht müde zu betonen, dass die Umsetzung der Sanktionen nicht gegen die Schweizer Neutralität verstosse und dass damit keine humanitären Aktivitäten behindert würden.

Eine Woche später entschied der Bundesrat, Überfluggesuche der beiden Konfliktparteien und anderer Staaten, die diese mit Kriegsmaterial unterstützen wollten, nicht zu genehmigen. Der Schweizer Luftraum blieb somit in der Folge für sämtliche Flüge, die im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt standen, verboten, ausgenommen davon waren weiterhin Überflüge aus humanitären oder medizinischen Zwecken. Die SVP reagierte auf diesen Ausbau der Sanktionen, indem Roger Köppel (svp, ZH) im Nationalrat anlässlich der Diskussion über den Schweizer Sitz im UNO-Sicherheitsrat nicht nur auf dessen Ablehnung pochte, sondern auch eine Beendigung der Sanktionen gegen Russland forderte.

Am 16. März übernahm die Schweiz auch die Sanktionen, welche die EU gegen Belarus wegen dessen Mitverantwortung an den russischen Völkerrechtsverletzungen in der Ukraine erhoben hatte. Auch in diesem Fall handelte es sich um Güter- und Finanzsanktionen, die inhaltlich sehr stark an die Sanktionen gegen Russland angelehnt waren. Abweichend davon wurden jedoch auch Einfuhrverbote geschaffen, die unter anderem den Import von Holz- und Kautschukprodukten, Eisen, Stahl und Zement untersagten.

Die schrittweise Ausdehnung der Sanktionen gegen Russland setzte sich am 18. März fort, als die Schweiz das vierte Sanktionspaket der EU nachvollzog. Dieses umfasste weitergehende Massnahmen im Güterbereich, Einschränkungen von Transaktionen mit gewissen russischen Staatsunternehmen, ein Verbot von Ratingdiensten für russische Kunden sowie den Entzug der Meistbegünstigungsbehandlung Russlands im Rahmen der WTO.

Und nur sieben Tage später folgte eine weitere Ausdehnung der Sanktionen, die nun auch die Ausfuhr von Gütern für den Energiesektor und damit verbundene Dienstleistungen unmöglich machten. Ebenso verboten wurde die Beteiligung und Bereitstellung von Darlehen oder anderweitigen Finanzmitteln an Energieunternehmen. Auch neue Einfuhr- und Ausfuhrverbote gegenüber Russland fanden sich auf der Liste der EU-Sanktionen, darunter Importe von Eisen- und Stahlerzeugnissen aus oder mit Ursprung in Russland und Exporte von Luxusgütern und Gütern zur «maritimen Navigation». Etwas überraschend entschied sich der Bundesrat hingegen dazu, die anfangs März erlassenen Massnahmen der EU gegen russische Medienkanäle nicht zu übernehmen. Sputnik und Russia Today durften somit weiterhin in der Schweiz publizieren und ausstrahlen, obwohl der Bundesrat anerkannte, dass die Sender als Propagandawerkzeuge zur Streuung von Desinformation genutzt würden.
Eine Umfrage des Forschungsinstituts Gallup International, die Ende März im Sonntagsblick veröffentlicht wurde, zeigte auf, dass ein Grossteil der Schweizer Bevölkerung die Sanktionen für angemessen befand (50%) oder gar schärfere Massnahmen forderte (34%). Eine Mehrheit befürchtete jedoch auch wirtschaftliche Schäden und eine Inflation sowie Probleme bei der Energieversorgung. Nichtsdestotrotz war die Unterstützung für das Sanktionsregime ungebrochen gross. Derweil forderte der ukrainische Botschafter in der Schweiz, Artym Rybchenko, vom Bundesrat mehr Initiative bei der Beschlagnahmung von Vermögenswerten russischer Oligarchen. Obwohl Rybchenko Bundespräsident Cassis zugute hielt, schon viel für die Ukraine getan zu haben, erwartete er mehr und schnellere Sanktionen in den Bereichen Finanzen, Energie und Banken.

Anfang April tauchten Bilder auf, die den Verdacht auf russische Kriegsverbrechen in der Ukraine erhärteten. Bundesrätin Karin Keller-Sutter verurteilte die Handlungen Russlands in einem NZZ-Interview explizit als «Kriegsverbrechen» und äusserte die Erwartung, dass die EU und damit auch die Schweiz ihre Sanktionen gegen Russland verstärken würden. Noch im gleichen Monat kam es dann in zwei Etappen tatsächlich zu einer weiteren Übernahme von EU-Sanktionen gegen Russland und Belarus: Das fünfte Sanktionspaket umfasste ein Importverbot für Kohle, Holz, Zement, Meeresfrüchte und Wodka, die für Russland wichtige Einnahmequellen darstellten, sowie ein Exportverbot von Kerosin und weiterer Güter, die der Stärkung der industriellen Kapazitäten Russlands dienen könnten. Auch die finanzielle Unterstützung von öffentlichen russischen Einrichtungen wurde untersagt. Das WBF sanktionierte des Weiteren über 200 natürliche und juristische Organisationen, darunter zwei Töchter des russischen Präsidenten Putin. In Abweichung zur EU sah die Schweiz jedoch noch davon ab, die Vergabe öffentlicher Aufträge an russische Staatsangehörige und in Russland ansässige Organisationen zu verbieten. Die Umsetzung eines solchen Verbots habe Fragen hinsichtlich der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen und dessen Geltungsbereich aufgeworfen. Bis Ende Juni 2022 sollten die zuständigen Stellen die Unklarheiten jedoch klären und in einem Bericht Stellung dazu beziehen. Wie die NZZ berichtete, wurde zunehmend die Forderung laut, dass die Schweiz «aktiv» nach den Vermögen der von den Sanktionen betroffenen Personen suchen müsse. Während Banken dies im Rahmen der Geldwäschereibekämpfung sowieso tun müssten, verfügten kantonale Grundbuchämter kaum über die nötigen Ressourcen, um derartige Abklärung vorzunehmen, erklärte die NZZ.

Ende April sorgten zwei mit den Sanktionen zusammenhängende Enthüllungen für medialen Wirbel. Zuerst gelangte ein vertraulicher Brief der GPDel an die Medien, in dem diese den Bundesrat für dessen schlechte Vorbereitung auf die russische Invasion im Februar rügte. Le Temps zitierte aus dem Brief und führte aus, dass die Kerngruppe Sicherheit – zusammengesetzt aus der Staatssekretärin des EDA sowie den Direktoren des NDB und des Fedpol – den Sicherheitsausschuss des Bundesrats unzureichend und zu spät informiert habe. Viola Amherd, Karin Keller-Sutter und Ignazio Cassis, die Teil des Ausschusses seien, hätten daher den Gesamtbundesrat nicht adäquat über die Lage in der Ukraine aufklären können.
Kurz darauf machte CH Media öffentlich, dass das Seco Deutschland daran gehindert habe, Panzermunition aus der Schweiz in die Ukraine zu exportieren. Das Seco erklärte, dass das Schweizer Gesetz den Export von Kriegsmaterial verbiete, wenn das Empfängerland in einen internen oder internationalen bewaffneten Konflikt verwickelt sei. Während dieser Entscheid von einer Mehrheit der Schweizer Parteien gutgeheissen wurde, äusserte sich Mitte-Präsident Gerhard Pfister gegenteilig. Er argumentierte, dass der Bundesrat seine notrechtlichen Kompetenzen ausnutzen könnte, um im Rahmen des Embargogesetzes derartige Lieferungen an die Ukraine zu erlauben, solange dabei die Interessen der Schweiz gewahrt würden. Das Seco schob dieser Forderung aber in seiner Stellungnahme einen Riegel vor und argumentierte, die von Pfister angesprochene Klausel in der Bundesverfassung käme nur zum Tragen, wenn eine klare gesetzliche Regelung fehle oder die Anwendung ebenjener Klausel im Gesetz explizit vorgesehen werde. Im Gegensatz zum Embargogesetz – wo der Bundesrat durchaus Spielraum beim Erlass von Sanktionen hat – sei das beim Kriegsmaterialgesetz aber nicht der Fall, so das Seco.

Die Schweiz übernimmt die EU-Sanktionen gegen Russland
Dossier: Schweizer Reaktion auf die russischen Aggressionen in der Ukraine (ab 2014)
Dossier: Die Schweizer Neutralität