An einer Delegiertenversammlung in Luzern stellten die CVP-Frauen die von der Mutterpartei jahrzehntelang vertretene Ablehnung des Schwangerschaftsabbruchs radikal in Frage, indem sie sich mit 42 zu 4 Stimmen bei 6 Enthaltungen für eine Fristenregelung beim Schwangerschaftsabbruch von 14 Wochen und damit für die parlamentarische Initiative Haering Binder (sp, ZH) aussprachen.
Die CVP hatte sich bisher konsequent sogar gegen eine soziale Indikation gewehrt und im Schwerpunktprogramm von 1994 nur die medizinische und juristische Indikation verankert. Die CVP-Frauen kritisierten insbesondere die unterschiedliche Handhabung der Gesetzesbestimmungen in den einzelnen Kantonen und verlangten die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs. Gleichzeitig forderten sie, dass Verhütungsmittel leicht zugänglich und kassenpflichtig werden müssten.
Der Entscheid der innerhalb der Partei zu einer eigenständigen Kraft erstarkten CVP-Frauen stellte die Gesamtpartei vor eine Zerreissprobe. Sie vertagte die heikle Schwangerschaftsabbruch-Debatte auf eine ausserordentliche Delegiertenversammlung im August und setzte eine von der Solothurner Ständerätin Rosmarie Simmen präsidierte Arbeitsgruppe ein. Diese arbeitete zwei Modelle für einen straflosen Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen aus: Während das «Schutzmodell mit Beratungspflicht» den Entscheid nach einer obligatorischen Beratung letztlich der Frau selbst überlassen wollte, hätte das «Indikationenmodell» Abtreibung nur bei einer medizinischen Notlage, nach einer Vergewaltigung oder bei Inzucht erlaubt, wobei eine Fachperson diesen Entscheid getroffen hätte.
Nachdem eine Mehrheit der CVP-Bundeshausfraktion das Indikationenmodell unterstützt hatte, entschieden sich die CVP-Delegierten im August mit 182 zu 91 Stimmen überraschend für das Schutzmodell. Die CVP-Frauen, deren oberstes Ziel es war, dass der Abtreibungsentscheid letztlich bei der Frau liegt, zeigten sich mit dem Kompromissvorschlag zufrieden. Im November war das CVP-Modell in der vorberatenden Kommission des Nationalrates dann allerdings chancenlos; diese sprach sich für den straflosen Schwangerschaftsabbruch in den ersten 14 Wochen aus. Damit ist die CVP weiterhin im Dilemma. Immerhin machte der Entscheid der CVP klar, dass sich die Partei weiter vom konservativ-katholischen Wählersegment löst und die konfessionelle und gesellschaftliche Öffnung, die sie nach den verlorenen Nationalratswahlen 95 ankündigte, ohne Rücksicht auf kurzfristige Wählerverluste auch umsetzen will.
Uneinigkeiten in der CVP beim Thema Fristenregelung beim Schwangerschaftsabruch