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  • Schweizerische Volkspartei (SVP)
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  • Maret, Marianne (pdc/cvp, VS) SR/CE
  • Caroni, Andrea (fdp/plr, AR) SR/CE
  • Schneider-Ammann, Johann (fdp/plr) BR WBF / CF DEFR

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Noch bevor der Abstimmungskampf zur Änderung der direkten Bundessteuer zur steuerlichen Berücksichtigung der Kinderdrittbetreuungskosten, über die im Mai 2020 hätte abgestimmt werden sollen, richtig begonnen hatte, gab der Bundesrat im März 2020 bekannt, die Abstimmung aufgrund des Corona-bedingten Lockdowns auf September 2020 zu verschieben.
Die Abstimmungsvorlage umfasste zwei Aspekte: einerseits die im Titel aufgeführte Erhöhung des Drittbetreuungsabzugs von CH 10'000 auf CHF 25'000, andererseits die der Vorlage von der bürgerlichen Parlamentsmehrheit hinzugefügte Erhöhung des Kinderabzugs von CHF 6'500 auf CHF 10'000. Im Zentrum der Abstimmungskampagne stand der zweite Aspekt, die Erhöhung des Kinderabzugs, wobei dieselbe Frage die Diskussion dominierte, die schon im Rahmen der Parlamentsdebatte im Mittelpunkt gestanden hatte: Wer profitiert von den Kinderabzügen? Zur Beantwortung dieser Frage stützten sich beide Seiten auf die Daten der ESTV, welche Finanzminister Maurer in der Parlamentsdebatte präsentiert hatte.
Die Befürworterinnen und Befürworter stellten den Nutzen der Vorlage für den Mittelstand in den Mittelpunkt ihrer Kampagne. «Der Mittelstand profitiert», warb etwa die CVP auf ihrer Internetseite. Stütze man sich auf die Definition des BFS für «Mittelstand», erhalte der Mittelstand 49 Prozent der Ermässigungen, argumentierte Marianne Binder-Keller gegenüber dem Sonntagsblick. Gegen diese Darstellung wehrten sich die Gegnerinnen und Gegner der Vorlage: Der (obere) Mittelstand profitiere zwar auch, in erster Linie nütze die Vorlage aber vor allem den Gutverdienenden, kritisierten sie: Je höher das Einkommen, desto grösser sei der Spareffekt. 70 Prozent der Gesamtentlastung kämen so den 15 Prozent der Familien mit den höchsten Löhnen zu, während 45 Prozent der Familien keine Entlastung erfahren würden, da sie keine Bundessteuern bezahlten. Gar als «Klientelpolitik» bezeichnete etwa das liberale Komitee, vor allem bestehend aus Mitgliedern der GLP, die Vorlage. Noch einseitiger sei die Verteilung schliesslich, wenn nicht nur die Familien, sondern alle Haushalte, also auch die Alleinstehenden und die kinderlosen Paare, die ja ebenfalls von den Steuerausfällen betroffen wären, berücksichtigt würden, betonte überdies Jacqueline Badran (sp, ZH). Berücksichtige man diese ebenfalls, profitierten lediglich sechs Prozent aller Haushalte von 70 Prozent der Steuerausfälle. Man lasse jedoch den Mittelstand im Glauben, dass er von der Vorlage profitiere, indem in der Debatte sowie im Abstimmungsbüchlein jeweils das steuerbare Einkommen aufgeführt werde. Dies sei «total irreführend» (Badran gemäss Blick), da niemand die Höhe seines persönlichen steuerbaren Einkommens kenne. Die ESTV begründete die Verwendung des steuerbaren Einkommens jedoch damit, dass sich der tatsächliche Steuerbetrag beim Bruttoeinkommen zwischen verschiedenen Personen stark unterscheiden könne.
Obwohl die Befürworterinnen und Befürworter immer betonten, dass die Mehrheit der Familien profitiere, gab zum Beispiel Philipp Kutter (cvp, ZH), der die Erhöhung der Kinderabzüge im Nationalrat eingebracht hatte, in einem Interview gegenüber der NZZ unumwunden zu, dass die Vorlage auch eine Steuersenkung für Gutverdienende beinhalte: Über den Steuertarif seien allgemeine Steuersenkung für Gutverdienende «chancenlos», mehrheitsfähig sei einzig der «Weg über die Kinderabzüge».

Nicht nur der Mittelstand, sondern auch die Familien standen im Zentrum der Vorlage. Diese müssten endlich unterstützt werden, betonte Philipp Kutter, was mithilfe der aktuellen Vorlage möglich sei: 60 Prozent aller Familien könnten von einer Erhöhung des Kinderabzugs profitieren. Dem entgegnete etwa die NZZ, dass die Familien in den letzten Jahren stark entlastet worden seien (v.a. durch die Reduktion der Bundessteuer für Haushalte mit Kindern), deutlich stärker zumindest als Kinderlose. Brigitte Häberli-Koller (cvp, TG) befürwortete indes insbesondere, dass durch die aktuelle Vorlage alle Familienmodelle unabhängig der Betreuungsform entlastet würden. Die Gesellschaft habe als Ganzes ein Interesse daran, dass die Leute Kinder bekommen, ergänzte Kutter. Familiäre Strukturen seien für die Gesellschaft wichtig, überdies sei man dadurch weniger auf Zuwanderung angewiesen, die ja ebenfalls teilweise auf Ablehnung stosse. Demgegenüber wurde in der NZZ die Frage diskutiert, ob Kinderabzüge überhaupt gerechtfertigt seien. So könne man es als private Konsumentscheidung ansehen, Kinder zu haben; in diesem Falle würden Kinderabzüge der Besteuerung nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit widersprechen. Es gäbe aber einen politischen Konsens, dass das Steuerrecht Kinderkosten berücksichtigen solle. Die Entscheidung, wie diese Unterstützung erfolgen solle (durch degressiv wirkende Kinderabzüge, neutral wirkende Abzüge vom Steuerbetrag oder durch progressiv wirkende Kinderzulagen zum Erwerbseinkommen), sei dann eine weitere, umverteilungspolitische Entscheidung.

Ein weiteres Argument der Gegnerinnen und Gegner der Erhöhung des Kinderabzugs lag in den daraus folgenden hohen Kosten: Die Vorlage verursache voraussichtlich fast 40mal höhere Kosten, als für die Erhöhung des Drittbetreuungsabzugs geplant worden war, und übertreffe damit auch die Kosten der medial deutlich umstritteneren Verlängerung des Vaterschaftsurlaubs. Dadurch sei zukünftig weniger Geld für andere, sinnvollere Projekte vorhanden, argumentierten sie. SP, Grüne und die Kritikerinnen und Kritiker der Vorlage aus der FDP stellten dabei insbesondere die Individualbesteuerung in den Mittelpunkt. Dieser sprachen sie eine deutlich grössere Wirkung auf die Erwerbstätigkeit von Frauen zu als den Drittbetreuungsabzügen. Da sie aber ebenfalls zu hohen Steuerausfällen führen würde, befürchteten sie, dass die Abschaffung der Heiratsstrafe bei Annahme der aktuellen Vorlage auf die lange Bank geschoben würde, weil kein Geld mehr vorhanden wäre. Verstärkt wurde dieses Argument durch die hohen Kosten zur Bewältigung der Corona-Pandemie: Hatte der Bundesrat während der Budgetdebatte fürs Jahr 2020 noch mit einem Überschuss von CHF 344 Mio. gerechnet, wurde jetzt ein Defizit über CHF 20 Mrd. erwartet. Die Medien vermuteten von diesem Defizit nicht nur Auswirkungen auf die Vorlage zum Drittbetreuungs- und zum Kinderabzug, sondern auch auf die gleichzeitig stattfindenden Abstimmungen zu den Kampfflugzeugen und über den Vaterschaftsurlaub. «Angesichts enormer Zusatzlasten kann sich unsere Gesellschaft erst recht keine Steuergeschenke mehr leisten, die nichts bringen», argumentierte etwa GLP-Nationalrat Thomas Brunner (glp, SG). Das sahen die Befürwortenden anders, Philipp Kutter etwa betonte: «Das wird den Bund nicht umbringen».

Schliesslich waren sich Befürwortende und Gegnerschaft nicht einig, inwiefern das ursprüngliche Ziel der Vorlage, die Förderung der Beschäftigung hochgebildeter Personen, insbesondere von Frauen, durch die Ergänzung der Kinderabzüge gefördert wird. Raphaela Birrer argumentierte im Tages-Anzeiger, dass die Erhöhung der Kinderabzüge die Anreize zur Erhöhung der Erwerbstätigkeit verstärke. In einer Studie zur Wirkung der beiden Abzüge (Kinderabzug und Drittbetreuungsabzug) auf die Erwerbstätigkeit bestätigte Avenir Suisse diesen Effekt nur bedingt: Zwar senkten beide Abzüge den Grenzsteuersatz (also die Besteuerung von zusätzlichem Einkommen) und förderten damit die Erwerbstätigkeit, jedoch sei der entsprechende Effekt des Kinderabzugs gering. Zudem senke er auch den Grenzsteuersatz von Einverdienerhaushalten, wodurch die Erwerbstätigkeit von Frauen nicht gesteigert werde. Von der Erhöhung des Betreuungskostenabzugs sei hingegen ein deutlich stärkerer Effekt auf die Erwerbstätigkeit zu erwarten, damit könne der Anreiz des aktuellen Steuersystems für Zweitverdienende, nicht oder nur wenig zu arbeiten, gemildert werden. Die GLP stellte entsprechend insbesondere diesen Aspekt in den Mittelpunkt und sprach von einer Mogelpackung, weil die Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch die Erhöhung des Kinderabzugs nicht verbessert werde. Nationalrätin Christa Markwalder (fdp, BE), die sich ebenfalls im liberalen Komitee engagierte, reichte im Juni 2020 eine parlamentarische Initiative (Pa.Iv. 20.455) ein, mit der sie das Originalanliegen der Vorlage, also den Drittbetreuungsabzug, erneut aufnahm. Damit sollte dieser bei einer Ablehnung der Vorlage möglichst schnell verwirklicht werden können.
Die Frage, ob die Vorlage Anreize zur Erhöhung der Erwerbstätigkeit beinhalte oder nicht, hatte aber noch eine zweite Komponente. So störte sich die Weltwoche überhaupt daran, dass das Steuerrecht «für alle möglichen Zwecke instrumentalisiert» werde. Es sei nicht dafür da, «bestimmte Lebensmodelle zu fördern», argumentierte Katharina Fontana. Zudem sei es unmöglich, Steuergerechtigkeit herzustellen, zumal sich niemand jemals gerecht besteuert fühle.

Bezüglich der Komitees gibt es weniger zu sagen. Auf der Befürworterseite der Vorlage standen insbesondere die CVP und die SVP. Ja-Parolen gaben auch die BDP, EVP und die FDP.Liberalen aus, unterstützt wurden sie vom Gewerbeverband. Die Medien interessierten sich indes insbesondere für die Position der Freisinnigen, zumal sie die Vorlage im Parlament anfangs bekämpft, ihr mit ihrem Meinungswandel dann aber zum Durchbruch verholfen hatten. Nun wolle sich die Partei nicht an der Kampagne beteiligen, so die WOZ, zumal sie intern gespalten war: Einzelne Personen, darunter Ständerat Andrea Caroni (fdp, AR) und Nationalrätin Christa Markwalder, sprachen sich gegen die Vorlage aus und beteiligten sich gar am liberalen Nein-Komitee. Dieses setzte sich insbesondere aus Mitgliedern der GLP zusammen und kämpfte vor allem dagegen, dass die «Mogelpackung» viel koste, aber keine oder gar negative Auswirkungen hätte. Damit würden «keine Anreize für arbeitstätige Elternteile geschaffen», betonte Kathrin Bertschy (glp, BE). Auf linker Seite kämpften vor allem die SP und die Grünen, welche die Unterschriften für das Referendum gesammelt hatten, für ein Nein. Unterstützt wurden sie von den Gewerkschaften, aber auch Avenir Suisse sprach sich gegen die Kinderabzüge aus. Stimmfreigabe erteilten hingegen unter anderem die FDP Frauen. Sie befürworteten zwar den Drittbetreuungsabzug, störten sich aber an den hohen Kosten des Kinderabzugs, durch den das wichtigere Projekt der Individualbesteuerung weiter hinausgeschoben werde. Auch der Arbeitgeberverband entschied sich für Stimmfreigabe, nachdem er das Projekt im Parlament noch bekämpft hatte, da es «kaum zu einer stärkeren Arbeitstätigkeit der Eltern beitrage», wie der Blick berichtete. Dasselbe geschah mit Economiesuisse, der das Kosten-Nutzen-Verhältnis der Vorlage anfangs zu wenig ausgewogen gewesen sei. Der Sonntags-Blick vermutete, dass sich die Verbände nicht zu einer Nein-Parole hätten durchringen können, da das Referendum «aus dem falschen politischen Lager» stammte. Interessant war für die Medien schliesslich auch die Position des Bundesrates, insbesondere von Finanzminister Maurer. Dieser hatte die Vorlage im Parlament mit deutlichen Worten bekämpft, vertrat nun aber – wie im Gesetz für politische Rechte geregelt – die Position des Parlaments. Ersteres hatte er so gut getan, dass sich auch die NZZ nicht sicher war, ob er denn nun die Vorlage persönlich befürworte, wie seine Partei, oder sie ablehne.

Der Abstimmungskampf zur Vorlage verlief ungemein schwach. So stand sie deutlich im Schatten der Corona-Pandemie sowie der anderen vier Vorlagen. Sie wurde gemäss Analysen vom Fög und von Année Politique Suisse einerseits nur sehr schwach in Zeitungsinseraten beworben und andererseits auch in den Medien vergleichsweise selten thematisiert. Die briefliche Stimmabgabe deutete anfänglich auf mässiges Interesse am Super-Sonntag hin, wie der Abstimmungstag mit fünf Vorlagen in den Medien genannt wurde. Die SP schaltete sieben kurze Animationsfilme und gab ein Comic-Heftchen zu den Filmen aus, um zu verhindern, dass die Vorlage untergeht. Die ersten Vorumfragen Mitte August 2020 zeigten dann auch, dass die Meinungsbildung zur Vorlage noch nicht weit fortgeschritten war. Auf diese Tatsache wurde in den entsprechenden Berichten das Zwischenergebnis, wonach die Sympathisierenden von SP und Grünen die Vorlage mehrheitlich befürworteten, zurückgeführt. Besserverdienende gaben zu diesem Zeitpunkt an, der Vorlage eher zuzustimmen. Christian Levrat (sp, FR) hoffte, diese Personen durch die Kampagne noch umstimmen zu können. Die erste Tamedia-Umfrage ergab insgesamt eine Zustimmung («dafür» oder «eher dafür») von 55 Prozent und eine Ablehnung von 37 Prozent, während die SRG-Vorumfrage mit 51 Prozent zu 43 Prozent zu ähnlichen Ergebnissen kam. Diese Zahlen kehrten sich bis zum Termin der letzten Welle Mitte September um: Die Tamedia-Umfrage ergab eine Zustimmung von 46 Prozent und eine Ablehnung von 51 Prozent, die SRG-Umfrage eine von 43 Prozent zu 52 Prozent. Bei den Sympathisierenden von SP und Grünen war die Zustimmung vom ersten zum zweiten Termin gemäss SRG-Umfragen um 19 respektive 14 Prozentpunkte gesunken, bei den Sympathisierenden der GLP ebenfalls um 12 Prozentpunkte. Bei den übrigen Parteien nahm sie ebenfalls leicht ab.

Das Resultat der Abstimmung zur Änderung der direkten Bundessteuer über die steuerliche Berücksichtigung der Kinderdrittbetreuungskosten war schliesslich deutlicher, als die Vorumfragen und die Ausgangslage viele Kommentatorinnen und Kommentatoren hatten vermuten lassen: Mit 63.2 Prozent Nein-Stimmen lehnte das Stimmvolk die Vorlage mit einer vergleichsweise hohen Stimmbeteiligung von 59.2 Prozent deutlich ab. Dieses Nein lasse jedoch einigen Interpretationsspielraum, betonten die Medien. So gab es zwischen den Kantonen doch beträchtliche Unterschiede: Am kritischsten zeigte sich die Stimmbevölkerung im Kanton Appenzell-Ausserrhoden (28.1%), gefolgt von denjenigen in Appenzell-Innerrhoden (29.3%) und Bern (29.5%), am höchsten lag die Zustimmung im Tessin (52.0%) und in Genf (50.1%), beide Kantonsbevölkerungen hätten die Vorlage angenommen. Allgemein wurde gemäss BFS ersichtlich, dass die italienischsprachige (52.0%) und die französischsprachige Schweiz (48.5%) der Vorlage deutlich mehr abgewinnen konnten als die Deutschschweiz. Kaum Unterschiede waren zwischen Stadt und Land erkennbar: Die ländlichen Regionen (35.3%) lehnten die Vorlage ähnlich stark ab wie die Kernstädte (35.8%). Das Resultat könne nicht mit dem Links-Rechts-Schema erklärt werden, betonte die NZZ. Stattdessen seien vor allem die persönliche Einstellung zur Familienpolitik und zur Rolle des Staates relevant gewesen. Die externe Kinderbetreuung würde in der Romandie stärker akzeptiert und durch den Staat stärker unterstützt als in der Deutschschweiz, betonte denn auch CVP-Ständerätin Marianne Maret (cvp, VS) gegenüber der NZZ. Entsprechend habe in der Westschweiz vor allem der Drittbetreuungsabzug im Mittelpunkt gestanden, während in der Deutschschweiz hauptsächlich über den Kinderabzug diskutiert worden sei, stellte SP-Nationalrätin Franziska Roth (sp, SO) fest. Eine zu späte Kampagne in der Romandie machte schliesslich SP-Nationalrat Roger Nordmann für den hohen Anteil Ja-Stimmen in der französischsprachigen Schweiz verantwortlich. Christian Levrat erachtete das Ergebnis insgesamt als Absage des Volkes an die bürgerliche Steuerpolitik und als Ausblick auf andere bürgerliche Projekte zur Abschaffung der Stempelabgabe, der Industriezölle, des Eigenmietwerts oder der Heiratsstrafe. Stattdessen müssten nun Familien mit tiefen und mittleren Einkommen entlastet werden, insbesondere durch die Senkung der Krankenkassenprämien und die kostenlose Bereitstellung von Kita-Plätzen. Philipp Kutter wollte die Entlastung von Familien weiterverfolgen und plante anstelle des Kinderabzugs einen Abzug vom Steuerbetrag. Dass neben der Erhöhung des Kinderabzugs auch die Erhöhung des Drittbetreuungsabzugs gescheitert war, erachtete Christa Markwalder nicht als entmutigend und setzte auf ihre eingereichte parlamentarische Initiative. Anders als bei der ersten Behandlung des Themas im Nationalrat, als sich die SP- und die Grüne-Fraktion gegen Eintreten ausgesprochen hatten, kündigte Christian Levrat an, die parlamentarische Initiative zu unterstützen. Dies sei aber nur ein erster Schritt, zusätzlich brauche es auch Lösungen, die sich für die Mehrheit der Bevölkerung auszahlten.


Abstimmung vom 27. September 2020

Beteiligung: 59.2%
Ja: 1'164'415 (36.8%)
Nein: 2'003'179 (63.2%)

Parolen:
- Ja: BDP (1*), CVP, EVP (1*), FDP (1*), SVP; SGV
- Nein: EDU, GLP (1*), GPS, PdA, SD, SP; SGB, SSV, Travail.Suisse, VPOD
- Stimmfreigabe: Economiesuisse, SAV
* Anzahl abweichender Kantonalsektionen

Steuerliche Berücksichtigung der Kinderdrittbetreuungskosten

Die in der Regel als relativ unbestritten geltenden Gesamterneuerungswahlen des Bundesgerichts wurden 2020 zur Vorlage für eine fast epische Diskussion um die Gewaltenteilung. Den Wahlen für die Amtsperiode 2021-2026 war nämlich die medial virulent diskutierte Ankündigung der SVP vorausgegangen, Yves Donzallaz, einen der SVP angehörenden Bundesrichter, nicht wiederzuwählen.
Ursprung der Weigerung der SVP war unter anderem ein Entscheid des Bundesgerichtes im Sommer 2019, einem Amtshilfegesuch Frankreichs zuzustimmen, das die Auslieferung von Bankkundendaten verlangte. In diesem Urteil hatte besagter Donzallaz laut Blick «das Zünglein an der Waage» gespielt, zum Unverständnis seiner Partei. In der Folge stellten SVP-Politiker in den Medien offen die Frage, «ob wir Bundesrichter unserer Partei wiederwählen wollen, wenn sie in keiner Weise unser Gedankengut vertreten» – so etwa Fraktionschef Thomas Aeschi (svp, ZG) in der Sonntagszeitung. Pirmin Schwander (svp, SZ) forderte in der gleichen Zeitung gar ein Amtsenthebungsverfahren gegen den eigenen Bundesrichter. Thomas Matter (svp, ZH) wiederum kündigte in der Liberté an, dass er den Namen dieses Richters bei dessen Wiederwahl sicher nicht vergessen werde. Donzallaz war laut der Basler Zeitung bereits 2015 von der Weltwoche als «Abweichler» bezeichnet worden, weil er mitentschieden hatte, dass das Freizügigkeitsabkommen mit der EU Vorrang vor der Masseneinwanderungsinitiative der SVP habe.
Gegen die Reaktion der SVP wurde in den Medien rasch Kritik laut. Sie wurde von vielen Kommentatorinnen und Kommentatoren als Angriff auf die Unabhängigkeit der Judikative oder als Respektlosigkeit gegenüber der Gewaltenteilung verurteilt. Diskutiert wurde in der Folge auch, ob Parteipolitik überhaupt einen Einfluss auf die Rechtsprechung haben dürfe – eine Frage, die auch mit der Justizinitiative einer Antwort harrt, die im Tages-Anzeiger als «grösste Profiteurin der Querelen» bezeichnet wurde. Auch die Weltwoche kritisierte einen Angriff auf die Gewaltenteilung, allerdings aus alternativer Perspektive: Die Judikative setze sich beim Urteil über die Herausgabe der Bankkundendaten im Verbund mit der Exekutive über die Legislative und den Souverän hinweg. Zu reden gab schliesslich auch der unmittelbar nach der SVP-Kritik gefällte Entscheid des SVP-Fraktionschefs Thomas Aeschi, in der Gerichtskommission Einsitz zu nehmen. Die SVP mache «die Richterwahlen zur Chefsache», urteilte die Aargauer Zeitung.

Kurz nach der Entscheidung des Bundesgerichtes im Herbst 2019 ebbte die entsprechende Diksussion zwar wieder ab, allerdings nur um rund ein Jahr später bei der Vorbereitung der Wiederwahl der Richterinnen und Richter des Bundesgerichts wieder sehr laut zu werden. Der Sonntagsblick berichtete rund drei Wochen vor der für die Herbstsession 2020 angesetzten Wahl von mehreren Quellen, die bestätigten, dass die SVP in der vorberatenden GK beantragt habe, Yves Donzallaz nicht mehr als Vertreter der SVP zu behandeln und ihn nicht mehr zur Wiederwahl zu empfehlen. Die Kommissionsmehrheit habe jedoch nicht auf die Forderungen eingehen wollen. In der NZZ gab Donzallaz zu Protokoll, dass die SVP seit Jahren versuche, die Justiz zu instrumentalisieren. Den Versuchen, das Recht einer politischen Ideologie zu unterwerfen, müsse aber entschieden entgegengetreten werden. Er sei nicht verpflichtet, gegenüber einer Partei Entscheidungen zu rechtfertigen. Zwar sei es legitim, die Rechtsprechung zu kritisieren, nicht aber Richterinnen und Richter persönlich anzugreifen. Donzallaz berichtete auch, dass er von keinen Druckversuchen durch andere Parteien wisse. «Ganz ehrlich glaube ich, es handelt sich dabei um ein spezifisches Problem der SVP», betonte er. In der Aargauer Zeitung bestätigte ein ehemaliger SVP-Bundesrichter, der jedoch nicht namentlich genannt werden wollte, dass Druckversuche der Volkspartei schon in den 1990er Jahren vorgekommen seien. Man habe sich aber stets auf den Standpunkt gestellt, dass man nicht auf das Parteibuch vereidigt worden sei.

Einige Wellen warf auch, dass Donzallaz von seiner eigenen Partei vor dem Wahlgeschäft zu einem Hearing eingeladen wurde. Der Bundesrichter selber sprach von einer «Gewissensprüfung». Er habe während der Diskussion vor der Fraktion ausgeschlossen, dass er beim Urteilen ein Parteiprogramm anwenden könne, da er nur Verfassung und Gesetz verpflichtet sei. Für die SVP-Fraktion argumentierte hingegen Gregor Rutz (svp, ZH), dass jede Richterin und jeder Richter eine politische Grundhaltung habe, die das eigene Urteil beeinflussen würde. Der Parteienproporz sei dazu da, dies zu berücksichtigen und auszugleichen. Wenn nun aber ein Richter die Grundhaltung «seiner Partei» nicht mehr teile, dann müsse Letztere korrigierend eingreifen. Laut Tages-Anzeiger machte die SVP ihrem Richter das Angebot, aus der Partei auszutreten. Als Parteiloser würde er auch von der SVP wiedergewählt, sei ihm beschieden worden.

Die politische Kritik am Verhalten der SVP wurde in der Folge lauter. Dass die Volkspartei die Institutionen nicht mehr respektiere, müsse Konsequenzen haben, forderte CVP-Präsident Gerhard Pfister (cvp, ZG) im Tages-Anzeiger. SP-Präsident Christian Levrat (sp, FR) forderte ein Nachdenken über ein neues Wahlsystem, wenn sich die SVP aus dem Konsens über einen freiwilligen Parteienproporz und die Unabhängigkeit der eigenen Richterinnen und Richter verabschiede. Diskutiert wurde etwa eine Wahl auf Lebenszeit, um Unabhängigkeit nach einer gewissen pluralistisch garantierten Wahl zu garantieren. Kritisiert wurden auch die Mandatssteuern, mit denen Richter zu stark an die eigene Partei gebunden würden. Zudem müsste auch eine Anzahl parteiloser Richter gewählt werden, vorgeschlagen etwa von einer unabhängigen Fachkommission. Freilich gab CVP-Bundesrichterin Julia Hänni im Blick zu bedenken, dass die Unabhängigkeit der Judikative in jedem System vor allem auch vom Respekt der Politik vor dieser Unabhängigkeit abhänge.

Am 9. September 2020 entschied die GK, alle wieder antretenden Bundesrichterinnen und Bundesrichter zur Wiederwahl zu empfehlen. Tags darauf gaben die Parteispitzen der CVP, FDP und SP bekannt, den eigentlich für die anstehende Herbstsession geplanten «Konkordanzgipfel», bei dem das Verfahren für die Besetzung des Bundesrats beziehungsweise die Suche nach einer neuen Zauberformel hätten diskutiert werden sollen, nicht durchführen zu wollen. Man könne mit einer Partei, welche die Institutionen geringschätze, nicht über Konkordanz diskutieren – so die Begründung. Die NZZ schlussfolgerte daraus, dass die SVP nicht nur die Unabhängigkeit der Justiz gefährde, sondern auch ihre eigene Position – auf dem Spiel stünden gar die eigenen Bundesratssitze. SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi wehrte sich gegen den Vorwurf, die Partei halte nichts von der Gewaltentrennung. Bei den Gesprächen mit Donzallaz habe sich gezeigt, dass dieser die Werte der SVP nicht mehr vertrete. Die Partei könne deshalb die Verantwortung für dessen Wahl nicht mittragen. Seine Weigerung, aus der Partei auszutreten, zeuge zudem von «Charakterschwäche». Über Konkordanz werde man so oder so wieder reden; die Absage des Gipfels sei wohl eher dem Umstand geschuldet, dass man dafür keinen geeigneten Termin gefunden habe.

Noch mehr Öl ins Feuer goss dann die SP mit der Forderung, die Richterwahlen zu verschieben. Fraktionschef Roger Nordmann (sp, VD) wollte einen entsprechenden Ordnungsantrag einreichen. Es sei vor der Wahl abzuklären, wie unabhängig die Richterinnen und Richter der SVP seien. Sollte dieser Antrag nicht durchkommen, drohte Christian Levrat im Sonntagsblick, würde er gegen die Wiederwahl aller SVP-Richterinnen und -Richter stimmen. Auch dies provozierte Kritik: So äusserte sich etwa der Grüne Ständerat Matthias Zopfi (gp, GL) im Tages-Anzeiger, dass die anderen Parteien die Richterwahlen nicht noch mehr «verpolitisieren» sollten. Für GLP-Präsident Jürg Grossen (glp, BE) wäre eine kollektive Nichtwahl eine weitere Schwächung der Institution. Man habe ja kein Problem mit dem Gericht, sondern mit der SVP.

Wie so vieles in der Schweizer Politik wurde dann auch die Wahl der Bundesrichterinnen und Bundesrichter parlamentarisch wesentlich weniger heiss gegessen als es im Vorfeld medial aufgekocht wurde. Freilich wurden am 23. September 2020 in der Vereinigten Bundesversammlung im Rahmen des Ordnungsantrags der SP-Fraktion nochmals die parteipolitischen Klingen gekreuzt. Daniel Jositsch (sp, ZH) führte für seine Partei aus, dass die SVP «den politischen Kampf aus dem Parlament hinaus ins Bundesgericht tragen» wolle. Die Abwahlempfehlung eines eigenen Bundesrichters werfe die Frage auf, ob andere SVP-Richterinnen und -Richter noch unabhängig urteilen würden, wenn sie eine Abwahl befürchten müssten. Die Frage nach der Unabhängigkeit der SVP-Richterinnen und -Richter müsse die GK ab sofort vor jeder Wiederwahl prüfen, weshalb die Wahlen auf die Wintersession verschoben werden sollten. Andrea Caroni (fdp, AR) fasste als Sprecher der GK das Prozedere zusammen: Weil bei keiner der 37 wieder kandidierenden Personen Hinweise auf Amtspflichtverletzung gefunden worden seien, würden auch alle zur Wiederwahl empfohlen – diese Überprüfung sei nota bene die einzige Aufgabe der GK. Alle Fraktionen hätten den Entscheid, alle Richterinnen und Richter zur Wiederwahl zu empfehlen, unterstützt – mit Ausnahme der SVP, die die Wiederwahl von Bundesrichter Yves Donzallaz nicht unterstütze. Man habe in der GK auch über eine Verschiebung der Wahl und eine Art Gewissensprüfung diskutiert, dies aber verworfen, eben gerade weil die Unabhängigkeit der Judikative geschützt werden müsse. Mit einer Verschiebung würden alle 37 Kandidierenden dem Generalverdacht ausgesetzt, «Parteisoldaten» zu sein. Andererseits sei kaum zu erwarten, dass sich aufgrund einer Gewissensprüfung jemand als «fremdgesteuerten Parteisoldat» bezeichnen werde.
In der Folge legte Thomas Aeschi für die SVP auch im Parlament noch einmal dar, weshalb sie ihren Bundesrichter nicht zur Wiederwahl empfehlen könne. «Nicht die SVP politisiert die Justiz; die Justiz hat begonnen zu politisieren», führte der Fraktionschef aus. Da dürfe es nicht verwundern, dass die Zusammensetzung des Bundesgerichtes zum Thema werde. Man befürchte insbesondere, dass EU-Recht über Schweizer Recht gestellt werde, wogegen sich die SVP vehement wehre. Wenn nun aber ein eigener Richter die Werthaltungen seiner Partei nicht mehr teile, dann könne die SVP die Verantwortung für ihn nicht mehr tragen. «Wenn Sie, die anderen Fraktionen, Yves Donzallaz wiederwählen, sind Sie verantwortlich für sein künftiges richterliches Wirken: Dann ist er Ihr Richter, dann ist es Ihre Verantwortung», so Aeschi zum Schluss.

In der Folge wurde der Ordnungsantrag der SP-Fraktion mit 42 zu 190 Stimmen (6 Enthaltungen) abgelehnt – Zustimmung fand er ausschliesslich bei den Mitgliedern der SP-Fraktion. Anschliessend wurden alle 37 Kandidierenden wiedergewählt. Da auf den Wahlzetteln alle 37 Namen standen und lediglich gestrichen werden konnten, interessierten natürlich die individuellen Resultate. Am wenigsten von den 239 möglichen Stimmen erhielt wie erwartet Yves Donzallaz. Seine 177 Stimmen lagen aber klar über den nötigen 120 (absolutes Mehr). Die restlichen Kandidierenden erhielten zwischen 197 (Andreas Zünd, SP) und 236 Stimmen (Luca Marazzi, FDP; Thomas Stadelmann, CVP).
Auch die zur Wiederwahl stehenden 12 nebenamtlichen Bundesrichterinnen und -richter schafften die erneute Wahl problemlos (mit zwischen 220 und 236 von 240 möglichen Stimmen). Für den zurücktretenden Ulrich Meyer (SP) wurde Christoph Hurni (GLP) zum ordentlichen Richter gewählt (mit 232 von 241 Stimmen; 9 Wahlzettel blieben leer). Und schliesslich barg auch die Ergänzungswahl von sechs nebenamtlichen Richterinnen und Richtern keine Überraschungen mehr. Auch hier erhielten alle mehr als 200 von 239 möglichen Stimmen.

Freilich – so schloss die NZZ bereits am Tag vor der Wahl – stand das Schweizer Justizsystem bei diesen Wiederwahlen auf dem Prüfstand, auch wenn der Wahltag selbst ohne Überraschung endete. Eine Justizreform sei unumgänglich, folgerte auch der Tages-Anzeiger. Der Angriff der SVP sei zwar gescheitert und ein «Psychodrama» sei verhindert worden – so auch Le Temps, Tribune de Genève und Liberté –, die Justiz stehe nun aber unter Spannung. Dafür, dass die Diskussionen um die Wahl von Richterinnen und Richtern nicht versandet, wird auf jeden Fall die Justiz-Initiative sorgen.

Bundesgericht. Gesamterneuerungswahlen für die Amtsperiode 2021-2026
Dossier: Unabhängigkeit der Judikative

Im Konkordanzsystem Schweiz mangelt es – anders etwa als in einem System mit einem Präsidenten – an Köpfen, mit denen man aufgrund der zunehmenden Personalisierung Medienberichte besser verkaufen kann. Es verwundert deshalb nicht, dass sich die Medien für einzelne Exekutivmitglieder interessieren sowie gerne und häufig auch Spekulationen über Rücktritte und mögliche Nachfolgerinnen und Nachfolger amtierender Bundesrätinnen und Bundesräte anstellen. Dies taten sie auch bereits kurz nach der Wahl des neuen Bundesrates Cassis: Schliesslich ist nach der Wahl auch für das Regierungskollegium immer auch vor der Wahl.
In der Tat hatte Doris Leuthard ja bereits im Sommer 2017 ihren Rücktritt auf spätestens Ende der Legislatur im Herbst 2019 angekündigt. Dies war eine Steilvorlage für die Medien, die insbesondere den Umstand thematisierten, dass mit dem Rücktritt der Aargauerin nur noch eine Frau, nämlich Simonetta Sommaruga, in der Regierung sässe und die CVP deshalb gut daran täte, Frauen als mögliche Kandidatinnen aufzubauen – häufig genannt wurden die Ambitionen von Viola Amherd (cvp, VS). Freilich standen bei den Christdemokraten auch einige Männer in den Startlöchern: In den Medien kursierten insbesondere die Namen von Parteipräsident Gerhard Pfister (cvp, ZG), der Ständeräte Konrad Graber (cvp, LU) und Pirmin Bischof (cvp, SO), aber auch Benedikt Würth (SG, cvp), Regierungsrat des Kantons St. Gallen, und Bundeskanzler Walter Thurnherr wurden als Kandidaten gehandelt. Der Bundeskanzler winkte jedoch relativ rasch ab und auch Parteipräsident Pfister zog sich mit dem Argument zurück, einen Austausch im Präsidium kurz vor den Wahlen vermeiden zu wollen. Auch Konrad Graber nahm sich mit seiner Ende August gemachten Ankündigung, bei den eidgenössischen Wahlen 2019 nicht mehr antreten zu wollen, aus dem Rennen.
Ende April 2018 gab dann auch Johann Schneider-Ammann bekannt, dass er keine weitere Legislatur mehr anstrebe. Neben der Forderung, dass auch die FDP nun ein Frauenticket aufstellen müsse, wurde mit der Ankündigung des Berner Magistraten auch die Diskussion um einen konzertierten Doppel- (zusammen mit Leuthard) oder gar Dreierrücktritt (zusammen mit Ueli Maurer) angestossen. Das Parlament müsse eine möglichst grosse Auswahl haben, damit eine genügend grosse Frauenvertretung gesichert sei, lautete der Tenor in den Medien. Auch das Kandidatenkarussell für die Nachfolge des Berner Magistraten begann sich rasch zu drehen. Neben Karin Keller-Sutter (fdp, SG), die bei der Wahl Schneider-Ammanns 2010 noch unterlegen war, brachten die Medien Parteipräsidentin Petra Gössi (fdp, SZ), die Ständeräte Andrea Caroni (fdp, AR), Martin Schmid (fdp, GR) und Ruedi Noser (fdp, ZH) sowie Nationalrat Beat Walti (fdp, ZH) ins Spiel. Auch beim Freisinn zogen sich einige potenzielle Papabili allerdings bereits vor dem definitiven Rücktritt Schneider-Ammans zurück. So gab Petra Gössi etwa zu Protokoll, ihrer Partei eine Kandidatur nicht zumuten zu wollen. Mit dem Namen Keller-Sutter wurde in den Medien häufig auch der Anspruch der Zentral- und Ostschweiz auf einen Bundesratssitz zur Sprache gebracht.
Rücktrittspotenzial sahen die Medien schliesslich auch bei Ueli Maurer, bei dem sie vermuteten, dass er mit 67 Jahren und nach zehn Jahren im Amt bald genug haben könnte. Von verschiedener Seite wurde Magdalena Martullo-Blocher (svp, GR) als mögliche Nachfolgerin ins Spiel gebracht, die in mehreren Interviews ihre Bereitschaft signalisierte. Hierfür kam aber wenig später ein Dementi von der SVP-Spitze – Vater Christoph Blocher gab zu Protokoll, dass er seine Tochter nicht in das «Gefängnis» Landesregierung stecken wolle. Maurer selber gab in einem Interview zu Protokoll, dass er auf das Ende einer Legislatur zurücktreten werde – ob 2023, 2027 oder 2031 sei noch offen.
Ein vorläufiges Ende nahm zumindest ein Teil der Spekulationen Mitte September, als sowohl Johann Schneider-Ammann als auch Doris Leuthard ihren Rücktritt auf Ende 2018 bekannt gaben. In der Tat gilt die Herbstsession ein Jahr vor den Wahlen als idealer Zeitpunkt für einen Rücktritt vor Ende einer Legislatur, weil so Ersatzwahlen noch vor Ende eines Jahres stattfinden können. Rücktritte in einem Wahljahr selber gelten eher als unschicklich. Freilich war laut Aussage von Doris Leuthard der Doppelrücktritt vorher nicht abgesprochen worden; Schneider-Ammann habe immer davon gesprochen, erst auf Ende Legislatur 2019 zurückzutreten. In den Medien wurde das Vorpreschen des FDP-Bundesrats – er hatte seinen Rücktritt zwei Tage vor Doris Leuthard der Presse verkündet – als geplanter Mediencoup gewertet.

Spekulationen Rücktritt Bundesräte nach der Wahl von Cassis

Die Kampagne rund um die Selbstbestimmungsinitiative lief eigentlich schon seit der Lancierung des Begehrens Anfang 2015. Diverse Parteien und verschiedene Organisationen hatten sehr früh ihren Widerstand angekündigt. Schon im März 2015 hatte der Tages-Anzeiger getitelt «Alle gegen die Volkspartei»: Wirtschaftsverbände hatten Sorgen um Handelsverträge geäussert, Staatsrechtlerinnen und Staatsrechtler hatten einen Angriff auf die Menschenrechte befürchtet, Rechtshistorikerinnen und Rechtshistoriker hatten die Idee der «fremden Richter» bemüht, verschiedentlich war eine Instrumentalisierung des Initiativrechts moniert worden und vor den eidgenössischen Wahlen im Herbst 2015 hatte die Frage zur Beziehung von Völkerrecht und Landesrecht «unter Politikern für Polemiken und rote Köpfe» gesorgt (NZZ) – und das alles noch bevor die Initiative überhaupt zustande gekommen war. Die SVP wollte nach eigenem Ermessen Klarheit und Sicherheit hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Völkerrecht und Landesrecht herstellen, was freilich von den Gegnerinnen und Gegnern als «falsches Versprechen» (NZZ) oder «initiative simpliste» (Le Temps) bezeichnet und bestritten wurde. Rückenwind brachte die Initiative wohl auch ihrem Erfinder Hans-Ueli Vogt (svp, ZH), der während seines Ständeratswahlkampfes im Kanton Zürich für das Begehren geworben hatte.

Die Medienberichterstattung über die Selbstbestimmungsinitiative riss natürlich auch während ihrer parlamentarischen Behandlung 2017 und 2018 nicht ab. Diskutiert wurde dabei unter anderem auch schon früh über den Abstimmungstermin. Ob die SVP im Wahljahr 2019 von der Initiative profitieren könne oder nicht, hänge vor allem vom Arbeitstempo des Parlaments und davon ab, ob ein Gegenvorschlag ausgearbeitet würde oder nicht, berichtete die Presse. In den Medien wurden derweil auch verschiedentlich Fälle beschrieben, bei denen Gerichte internationalen Verträgen den Vorrang vor Verfassungsbeschlüssen gegeben hatten. Insbesondere die Ausnahmen, die in Einzelfällen bei der Anwendung des Ausführungsgesetzes zur Ausschaffungsinitiative gemacht wurden, waren ja auch Stein des Anstosses für die Selbstbestimmungsinitiative gewesen. Ob die Schweiz nun «Musterschülerin» sei (Tages-Anzeiger), die in vorauseilendem Gehorsam handle, oder sich als Vertragspartnerin an internationale Abkommen halten müsse, wie in der Presse ebenfalls argumentiert wurde, – die Diskussionen hielten die Selbstbestimmungsinitiative im Gespräch.

Bereits vor Abschluss der parlamentarischen Verhandlungen lancierten die Gegnerinnen und Gegner der Initiative Ende Mai 2018 mittels einer Medienkonferenz offiziell den Abstimmungskampf – obwohl dann noch nicht entschieden war, wann das Anliegen an die Urne kommen sollte. Unter dem Namen «Schutzfaktor M» – M stand bei der bereits 2013 ins Leben gerufenen Organisation für Menschenrechte – und der Bezeichnung «Allianz der Zivilgesellschaft» hatten sich laut Basler Zeitung über hundert Organisationen – darunter etwa der katholische Frauenbund, Pink Cross, Behinderten- und Jugendverbände oder Helvetas – und Tausende Einzelpersonen zusammengeschlossen. Vor der Presse bezeichneten verschiedene Vertreterinnen und Vertreter dieser Organisationen das SVP-Anliegen als «Selbstbeschneidungs-Initiative» oder «Anti-Menschenrechts-Initiative». Die ungewohnt frühe Organisation der Gegnerschaft sei mit der Bedeutung der Initiative zu erklären, aber auch damit, dass der «Abstimmungskampf kein Spaziergang» werde, so der Tages-Anzeiger. Darauf weise auch eine im März 2018 durchgeführte Umfrage hin, die zeige, dass 43 Prozent der Befragten die Initiative sicher oder eher annehmen würden und 48 Prozent dagegen oder eher dagegen seien.

Anfang Juli entschied der Bundesrat dann, die Abstimmung auf den frühest möglichen Zeitpunkt, den 25. November 2018, festzulegen. Anfang Oktober startete die SVP mit ihrem Abstimmungskampf, der zumindest hinsichtlich der verwendeten Bilder und verglichen mit früheren Kampagnen zur Minarett-, Ausschaffungs- oder Masseneinwanderungsinitiative etwa vom Sonntags-Blick als «völlig harmlos» bezeichnet wurden. Auf einem in orange gehaltenen Hintergrund hielten Personen ein Schild mit einem Ja «zur direkten Demokratie» und «zur Selbstbestimmung» in die Kamera. Das Logo der Partei war nicht sichtbar. Man habe die Botschaft bewusst simpel halten wollen. Eine aggressive Kampagne sei nicht nötig, weil die Botschaft klar sei, zudem wolle man einen sachlichen Abstimmungskampf führen, gab Kampagnenchef Thomas Matter (svp, ZH) zu Protokoll.

Die Gegnerschaft fuhr für ihre Kampagne schwereres Geschütz auf: So liess Economiesuisse 18 Frachtcontainer auf den Bundesplatz stellen mit dem Hinweis, dass darin 387 Tonnen Exportgüter Platz hätten, was der Menge entspreche, die von der Schweiz aus alle 10 Minuten in die Welt verkauft werde. Diese Ausfuhren seien aber bei einem Ja zur Selbstbestimmungsinitiative gefährdet. Nur dank zahlreicher internationaler Abkommen, die bei einem Ja alle auf der Kippe stünden, gehöre die Schweiz zu den 20 grössten Volkswirtschaften weltweit. Das «Gesicht der Operation Libero» (Blick), Flavia Kleiner, sprach von der «krassesten Initiative, über die wir je abgestimmt haben», mit ihr werde der Rechtsstaat fundamental angegriffen. Eine in den Medien häufig zu vernehmende Stimme gehörte Helen Keller, der Vertreterin der Schweiz am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Auch für sie entsprach die Initiative einem Angriff auf den Rechtsstaat und die Menschenrechte. Sie argumentierte, dass das Volksbegehren nicht hätte für gültig erklärt werden dürfen und fürchtete sich bei einer Annahme vor einer «Katastrophe», wie die Weltwoche ausführte. Plakate der Gegnerinnen und Gegner zeigten eine Kreissäge, die verschiedene Begriffe (z.B. Frauenrechte, Kinderrechte, Behindertenrechte) durchtrennte, verbunden mit dem Slogan «Nein zur Selbstbeschneidungsinitiative der SVP». In der Weltwoche wurden die Plakate als «krasser Ausdruck» von «Volksverachtung» bezeichnet, mit der die «antidemokratische Gesinnung der Selbstbestimmungsgegner» sichtbar werde. Volksentscheide würden mit «Kettensägenmassaker[n]» gleichgesetzt.
Auch auf Social Media hatten die Gegnerinnen und Gegner der Initiative «die Nase vorn» (Weltwoche). Mit einem Film zeigten sie als antike Soldaten verkleidete Mitglieder der SVP (Roger Köppel [ZH], Andreas Glarner [AG] und Magdalena Martullo-Blocher [GR]), die in einem Trojanischen Pferd versteckt das Bundesgericht entmachten wollten. Ein grosses Holzpferd wurde dann auch kurz vor dem Abstimmungstermin auf dem Berner Bahnhofsplatz präsentiert.

Die SVP – allen voran Christoph Blocher – verteidigte die Initiative mit dem Argument, dass die direkte Demokratie schleichend ausgehebelt werde. Bei der Abstimmung stünden nichts weniger als die Volksrechte auf dem Spiel. «Damit die Leute noch etwas zu sagen haben», müssten sie Ja stimmen, so der vom Blick als «SVP-Übervater» bezeichnete Blocher. Der alt-Bundesrat betrachtete die Selbstbestimmungsinitiative zudem als Vehikel, mit dem der EU-Rahmenvertrag verhindert werden könne. Sehr häufig trat auch Hans-Ueli Vogt vor die Medien, um «seine» Initiative zu verteidigen. Auch der «Architekt» des Begehrens, so die Aargauer Zeitung, argumentierte mit der Verteidigung der direkten Demokratie. Das Parlament setze angenommene Initiativen mit Verweis auf internationale Verpflichtungen nicht so um, wie dies von der Stimmbevölkerung verlangt werde. Mit der Initiative werde der Stellenwert der direkten Demokratie hingegen wieder gestärkt.

Für Wirbel sorgte ein Flyer, der von der SVP Mitte August 2018 an alle Schweizer Haushalte verteilt wurde. Darin trat alt-Bundesrätin Micheline Calmy-Rey als Kronzeugin für die Selbstbestimmungsinitiative auf: «Das Schweizer Recht schützt besser als das europäische. Ich bin entschieden dagegen, dass europäisches Recht sämtliche Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU regeln soll», wurde die ehemalige Magistratin zitiert. Diese Aussage hatte Calmy-Rey im Rahmen einer Diskussion um das EU-Rahmenabkommen gemacht. Von der SVP sei sie aber nicht angefragt worden, sie sei schockiert über dieses Vorgehen. SP-Parteipräsident Christian Levrat (sp, FR) sprach in diesem Zusammenhang von «Lügenpropaganda». Auch die «Buh-Rufe» und die «Schimpftiraden» (Aargauer Zeitung), die Bundesrätin Simonetta Sommaruga bei einem Podium in Suhr (AG) über sich ergehen lassen musste, zeugten von der immer aufgeheizteren Stimmung. Nicht nur die von der SVP immer wieder heftig attackierte Justizministerin, sondern auch die Bundesratsmitglieder Doris Leuthard, Alain Berset, Ignazio Cassis und Johann Schneider-Ammann engagierten sich mit verschiedenen Auftritten für die ablehnende Haltung des Bundesrates. Man habe Lehren aus dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative gezogen, bestätigte Simonetta Sommaruga der Aargauer Zeitung, und trete darum als Regierung stärker in Erscheinung.

Ende August zeigte eine Umfrage, dass zu diesem Zeitpunkt 53 Prozent der Befragten Nein zur Initiative gesagt hätten und 45 Prozent Ja. Als aussergewöhnlich wurde von den Befragenden der Umstand gewertet, dass das Ja-Lager über die Zeit nicht kleiner geworden sei; ein Muster, das sonst bei Initiativen im Verlauf einer Kampagne zu beobachten sei. Thomas Matter sprach bei seinem Kommentar zu diesen Zahlen in der Aargauer Zeitung von einem Kampf «David gegen Goliath». Er schätzte den finanziellen Aufwand der Gegnerschaft auf einen «zweistelligen Millionenbetrag». Die Gegnerinnen und Gegner führten eine «Märchenstundenkampagne mit unlimitierten Budgets», urteilte Matter. Die SVP selber habe weniger als CHF 3 Mio. ausgegeben. Eine Analyse von Media Focus ging hingegen aufgrund der gekauften Werbeflächen (Plakate, Inserate, Werbung auf Youtube) davon aus, dass das Befürworterlager mehr ausgegeben hatte als das Gegnerlager. Auch die APS-Inserateanalyse, mit der die Anzahl der in Printmedien geschalteten Inserate betrachtet wird, stellte ein grösseres Engagement der Befürwortenden- als der Gegnerseite fest. Zudem schalteten die Befürworterinnen und Befürworter deutlich mehr Inserate als noch bei der Masseneinwanderungs- oder der Durchsetzungsinitiative. Wer wie viel für den Abstimmungskampf ausgab, blieb zwar ein Geheimnis, die Kosten waren aber sicherlich überdurchschnittlich hoch.
Die Gegnerinnen und Gegner warnten aufgrund der Umfrageresultate davor, zu meinen, dass das Rennen bereits gelaufen sei. Demoskopen würden sich oft irren, so etwa der Blick. Als für das Nein-Lager nicht förderlich, wurde zudem die Absicht des Bundesrates bezeichnet, ausgerechnet kurz vor der Abstimmung eine Unterzeichnung des umstrittenen UNO-Migrationspaktes zu prüfen. Die Umfragen hatten zudem gezeigt, dass rund ein Drittel der FDP-Sympathisierenden die Initiative unterstützen würde. Auch die Ja-Parole der Jungfreisinnigen des Kantons Zürich zeige, dass durch den Freisinn ein Riss verlaufe, urteilte der Sonntags-Blick. Diesem wollte Parteipräsidentin Petra Gössi (fdp, SZ) auf Anfrage mit Aufklärung und Mobilisierung der eigenen Basis begegnen – so das Sonntagsblatt weiter.

Den «Rückenwind», den die Befürworterinnen und Befürworter durch die Debatte um den Migrationspakt noch einmal erhalten hatten, wie der Blick urteilte, versuchten sie kurz vor der Abstimmung dann noch mit «Brachial-Werbung» (Blick) zu verstärken. Auf der Titelseite der Pendlerzeitung «20 Minuten» warb das «Egerkinger Komitee» um Walter Wobmann (svp, AG) und Andreas Glarner (svp, AG) damit, dass mit der Annahme der Selbstbestimmungsinitiative der UNO-Migrationspakt verhindert werden könnte, dass hingegen bei einer Ablehnung die Minarett-Initiative wieder für ungültig erklärt werden würde. Eine Karikatur zeigte zudem Justizministerin Simonetta Sommaruga, die mit der Aussage «Hereinspaziert» an der Grenze Flüchtlinge in die Schweiz bittet.
Die heftige und ungewöhnliche lange Kampagne liess für den Abstimmungssonntag eine hohe Beteiligung erwarten.

Volksinitiative «Schweizer Recht statt fremde Richter (Selbstbestimmungsinitiative)» (BRG 17.046)

Das 100-jährige Jubiläum des Landesstreiks 1918 im Herbst 2018 löste – überwiegend in der Deutschschweiz – mehrere Debatten und damit verbunden über das ganze Jahr verteilt ein grosses mediales Echo aus. Das SRF etwa widmete dem Jubiläum die eigens dafür produzierte Doku-Fiktion «Generalstreik 1918 – Die Schweiz am Rande eines Bürgerkrieges». Im November analysierte die NZZ die Geschehnisse anhand der Haltungen und Handlungen des Bundesrats und der Armeeführung und die WOZ führte Gespräche mit den Gewerkschaftsleitenden Natascha Wey und Florian Keller sowie dem Historiker Stefan Keller. Die Aargauer Zeitung sowie die Weltwoche veröffentlichten bereits im Januar ein Porträt des damaligen Streikführers und Nationalrats Robert Grimm. Während in der Aargauer Zeitung Grimm vom Autor Pirmin Meier als einer der «bedeutendsten und besonnensten Sozialdemokraten» umschrieben wurde, der einen Platz in der «Geschichte der schweizerischen Freiheit» verdient habe, sah Christoph Blocher, dessen Neujahrsrede in der Weltwoche abgedruckt worden war, Grimm als «Bürgerkrieger» und «Revoluzzer», welcher mit dem Landesstreik die bürgerliche Schweiz auf ihre «schwerste Bewährungsprobe ihrer neueren Geschichte» gestellt habe – allerdings dann in seinen 44 Jahren Nationalrat doch noch zur Vernunft gekommen sei.
Gleich zu Jahresbeginn wurde damit eine Debatte darüber losgetreten, wie man den Landesstreik deuten und seinen Protagonisten gedenken solle, denn sowohl linke als auch rechte Parteien versuchten, das Jubiläum zu ihren Gunsten zu nutzen. Der Sonntagsblick meinte hierzu, die Linke suche nach Wegen, den Streik als «Grundstein des modernen Sozialstaats zu mystifizieren» und nun wolle auch die Rechte dem Streik «ihren Stempel aufdrücken». Christoph Blocher, so der Sonntagsblick weiter, plane zum Jubiläum im Herbst einen «Grossanlass mit Soldaten in Weltkriegsuniformen», um den Soldaten und dem «standhaften Bürgertum» zu gedenken. Dadurch, so Geschichtsprofessor Christian Koller im Sonntagsblick, beziehe die SVP eine klare Gegenposition zur Linken. Doch auch die «linke Mythenbildung» sei kritisch zu betrachten, erklärte Koller weiter, denn Forderungen wie das Frauenstimmrecht, die AHV aber auch das Proporzwahlrecht oder die 48-Stunden-Woche – letztere zwei wurden in den Folgejahren nach dem Streik vom Bundesrat umgesetzt – hätten bereits vor dem Streik bestanden.
Im November 2018, 100 Jahre nach Beendigung des Streiks, griff schliesslich Christoph Blocher in Uster (ZH) das Thema erneut auf, wenn auch weniger pompös als im Frühjahr angekündigt. Er störe sich daran, gab der Tagesanzeiger die Rede Blochers wieder, dass die heutigen Historiker «Geschichtsklitterung» betrieben, um mit einem «linken Jubiläumsjahr» den wahren Zweck des Landesstreiks zu verhüllen, nämlich die Errichtung «eine[r] Diktatur des Proletariats nach russischem Vorbild». Im Tagesanzeiger kommentierte Ruedi Baumann, Blocher danke in seiner Rede denn auch nicht den Arbeitenden, sondern den «Soldaten und repressiven Behörden», welche den Streik bekämpft hatten. Als Reaktion auf den angekündigten Anlass in Uster habe im Vorfeld ein anonymes Komitee über Facebook zu einer Demonstration mit dem Slogan «Blocher hau ab» aufgerufen, wie der Tagesanzeiger weiter festhält. Das Komitee wehre sich gegen die «rechte Hetze» und wolle Blocher nicht einfach so die «Geschichte» überlassen.
Ein regelrechter Schlagabtausch zum Landesstreik fand ferner im März 2018 in einer Kommentarserie der Basler Zeitung statt. Helmut Hubacher, der mit Robert Grimm im Nationalrat gesessen hatte, lobte hier das Frauenstimmrecht, die AHV und die 48-Stunden-Woche sowie das Proporzwahlrecht als direkte oder indirekte Errungenschaften des Streiks und der SP, da diese Forderungen im Streikkatalog aufgeführt waren. Wenige Tage später widerspach Chefredaktor Markus Somm Hubachers Aussagen. Somm sah im Streik vielmehr die «grösste Niederlage und grössten Irrtum» in der Geschichte der SP, da durch den Streik die Angst vor einem bolschewistischen Umsturz geschürt worden sei und die Bürgerlichen fortan Ideen der SP «dämonisieren und damit erledigen» haben können. Wiederum eine Woche später antwortete der Militärhistoriker Hans Rudolf Fuhrer auf Somm und Hubacher. Er hob hervor, dass nachträglich vieles oft vermeintlich einfacher zu beurteilen sei. So könne eben auch heute nicht abschliessend beurteilt werden, was der Streik bewirkt habe, wie viel etwa die durch den Ersten Weltkrieg verursachte Armut und der danach folgende Hunger zum Unmut beigetragen hätten und als wie entscheidend letztlich die bolschewistische Ideologie als Triebfeder des Streiks zu deuten sei. Richtig sei sicherlich, dass bis heute «schweizerische Ereignisse» in einem internationalen Kontext beurteilt werden müssten.
International wurde das Thema denn auch in der Museumslandschaft aufgegriffen: Insgesamt nahmen über 30 Museen in der Schweiz, Frankreich und Deutschland an der Ausstellungsreihe «Zeitenwende 1918/19» teil, welche auf diese Weise die turbulente Zeit anhand verschiedener Aspekte thematisierten. Die Ausstellung über den Landesstreik im Zeughaus Schaffhausen wurde von Bundesrat Schneider-Amman eröffnet.

100 Jahre Landesstreik 1918

In der Frühjahrssession 2018 behandelte der Ständerat die Volksinitiative «Schweizer Recht statt fremde Richter (Selbstbestimmungsinitiative)». Die Debatte wurde vom Schweizer Fernsehen direkt übertragen. Robert Cramer (gp, GE), Sprecher der RK-SR, erörterte zunächst die ablehnende Position der Kommission, die sich unter anderem auch auf die Anhörung verschiedener Rechtsprofessorinnen und Rechtsprofessoren stütze, welche einhellig der Meinung seien, dass die Initiative mehr Probleme verursache, als sie löst. Die momentane Situation lasse den obersten Gerichten den nötigen Spielraum für eine Abwägung zwischen Völkerrecht und Landesrecht. Es sei in den Augen der Experten nicht angebracht, die beiden Normen gegeneinander auszuspielen, da internationales Recht, das in der Schweiz angewendet werde, genauso legitim und demokratisch abgestützt sei wie das Landesrecht selbst. Cramer erklärte, dass die Kommission auch verschiedene Akteure aus der Wirtschaft angehört habe, wobei die Stellungnahmen auch hier einhellig gegen die Initiative ausgefallen seien. Die Kommission sei auch deshalb mit 12 zu 1 Stimmen zum Schluss gekommen, dem Rat die Ablehnung der Initiative zu empfehlen. Allerdings gebe es zwei Minderheitenanträge: Zum einen lege Andrea Caroni (fdp, AR) – unterstützt von vier Kommissionsmitgliedern – einen Gegenvorschlag vor, zum anderen empfehle Thomas Minder (parteilos, SH) die Initiative zur Annahme.

Andrea Caroni betonte in seinem Votum für seinen Gegenvorschlag, dass die Schweizer Rechtsordnung bei Konfliktfragen unterschiedlicher Normstufen sehr klar sei, mit Ausnahme eben des Verhältnisses zwischen Landes- und Völkerrecht. Dort herrsche «Improvisation» oder «Durchwursteln» vor, wobei in der Regel die Bundesgerichte «mit der Wurst betraut» seien. Dies sei aber «institutionell falsch» und es brauche deshalb eine klare Regelung. Eine solche müsse im Normalfall – hier wich der Gegenvorschlag deutlich von der Initiative ab – dem Völkerrecht den Vorrang geben, da man hier im Sinne von «Pacta sunt servanda» gegebene Versprechen einzuhalten habe. In begründeten Ausnahmefällen solle allerdings die Möglichkeit bestehen, durch ausdrücklichen und expliziten Beschluss durch den Verfassungs- oder Gesetzgeber vom Vorrang des Völkerrechts abzuweichen. Caroni exemplifizierte seine Idee an der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative, die ja nicht explizit eine Änderung von Völkerrecht vorgesehen habe. Wäre sein Vorschlag damals schon umgesetzt gewesen, dann hätte in der Initiative entweder explizit erwähnt werden müssen, dass ein internationaler Vertrag – konkret das Personenfreizügigkeitsabkommen – gekündigt werden solle, oder die Nichterwähnung hätte bedeutet, dass die Initianten das Völkerrecht implizit akzeptierten und bei der Umsetzung darauf Rücksicht genommen werden müsse. Caroni führte weiter aus, dass er seinen Vorschlag nicht aus taktischen Überlegungen einreiche, weil er Angst vor einer Annahme der Initiative an der Urne habe. Es gehe ihm vielmehr um das inhaltliche Anliegen, das er mit den Initianten teile: Die konkrete Regelung des Verhältnisses zwischen Landes- und Völkerrecht. Allerdings schlug er selber vor, auf den Gegenvorschlag zu verzichten – und diesen vorerst zu schubladisieren –, wenn die Initianten ihr Begehren nicht zu dessen Gunsten zurückziehen würden. Die Materie sei für sich genommen schon komplex genug. Wenn gleich zwei Vorlagen an die Urne kämen, sei dies dem Verständnis des Themas wohl eher abträglich.

Thomas Minder zählte in der Verteidigung seines Minderheitenantrags zur Annahme der Volksinitiative eine Reihe von aktuellen Vorstössen auf, in denen das Parlament Beschlüsse fasse, die im Widerspruch zu bestehendem internationalen Recht stünden: So verstosse etwa die Motion Grin (svp, VD), welche die Ausklammerung von Palmöl beim Freihandelsabkommen mit Malaysia verlange und soeben vom Nationalrat angenommen worden sei, gegen EFTA-Recht. Ebenso stünde eine Annahme der Fair-Food-Initiative im Widerspruch zu zahlreichen völkerrechtlichen Verträgen. Es gebe aber auch andere Beispiele, wo Vertragspartner der Schweiz Verträge nicht gänzlich einhielten. So habe etwa die EU bei Horizon 2020 oder Erasmus plus völkerrechtliche Verpflichtungen verletzt. Niemand habe damals nach einer Kündigung der Bilateralen Verträge gerufen, sondern man habe die Kröte geschluckt. Bei den über 5'000 völkerrechtlichen Verträgen, welche die Schweiz abgeschlossen habe – in ihrem Schlussvotum sprach Bundesrätin Simonetta Sommaruga von rund 4'000 Verträgen – bestünden zahlreiche potenzielle Normenkonflikte. Und hier setze die Initiative an, indem sie klar festlege, dass bei Normenkonflikten die Verfassung vorzugehen habe.

In der Folge äusserten sich 17 Ständerätinnen und -räte zur Vorlage, wobei sich die Argumente mehr oder weniger wiederholten: Die Initiative sei konfus und widersprüchlich; der SVP wurde vorgeworfen sich damit nicht gegen fremde Richter, sondern gegen das eigene Bundesgericht zu wenden. Betont wurde zudem die Gefährdung schweizerischer Wirtschaftsinteressen. Die Verlässlichkeit der Schweiz würde bei einer Annahme des Begehrens auf dem Spiel stehen. Völkerrecht helfe zudem insbesondere Kleinstaaten, die ohne rechtliche Absicherung dem Recht des Stärkeren ausgesetzt wären.

Die Ständeräte der SVP sprachen sich für eine Annahme der Initiative aus, weil laut Werner Hösli (svp, GL) die «Macht des Volkes» geschützt werden müsse; gemäss Peter Föhn (svp, SZ) der zunehmenden Aushöhlung der Bundesverfassung durch internationale Bestimmungen Einhalt geboten werden müsse; oder der Politikverdrossenheit begegnet werden müsse, die – so Alex Kuprecht (svp, SZ) – auch deshalb wachse, weil «die Menschen das Gefühl haben [...], dass die da oben in Bern sowieso machen, was sie wollen» – etwa bei der Umsetzung angenommener Volksinitiativen. Gefordert sei deshalb ein «bisschen mehr 'Switzerland first'».

Der Ständerat war sich also mehrheitlich einig darin, dass die Initiative abzulehnen sei. Weniger einig waren sich die Kantonsvertreterinnen und -vertreter hingegen darüber, ob die Normenkonflikte, die sich langfristig wohl noch häufen werden, gesondert geregelt werden müssten, oder ob die so genannte Schubert-Praxis genüge. Zur Frage stand folglich, ob man es wie bis anhin dem Bundesgericht überlassen wolle, zu regeln, wann Landesrecht ausnahmsweise Völkerrecht vorgehen solle. Nicht wenige Voten plädierten für den Gegenvorschlag Caroni. Letztlich setzte sich allerdings die Überzeugung durch, dass auch der Gegenvorschlag eine «fausse bonne idée» sei, wie sich Didier Berberat (sp, NE) ausdrückte.

In ihrem Schlussvotum wollte Justizministerin Simonetta Sommaruga klarstellen, dass es «grundfalsch» sei, das Völkerrecht mit Unterdrückung und Fremdbestimmung in Verbindung zu bringen. Sie wies auf verschiedene Geschäfte hin, mit denen die Problematik der Beziehung internationaler Verträge und innerstaatlichen Rechts angegangen werde – so etwa eine Erweiterung des obligatorischen Staatsvertragsreferendums oder die Anpassung der Symmetrie bei der Kündigung von Staatsverträgen. Die Bundesrätin hielt zudem Gericht über das Parlament: Man habe in der Debatte einige Male gehört, dass der Volkswille nicht richtig umgesetzt werde, diese Kritik richte sich aber eigentlich an die Volks- und Kantonsvertretung. Das Parlament habe ja bereits die Möglichkeit, im Einzelfall zu entscheiden, dass Landesrecht gegenüber internationalem Recht der Vorrang gegeben werden solle. Und wenn es dies nicht tue, dann habe es sicherlich gute Gründe dafür. Der Bundesrat empfehle die Initiative insbesondere deshalb zur Ablehnung, weil sie starre Regeln fordere und so die zahlreichen, heute bestehenden Möglichkeiten für pragmatische Einzelfalllösungen beschneide. Das Begehren verspreche zwar Klarheit im Verhältnis zwischen Landesrecht und internationalem Recht, schaffe aber grundsätzlich das Gegenteil, nämlich Rechtsunsicherheit. Dies wäre freilich – so die Magistratin abschliessend – auch beim diskutierten Gegenvorschlag der Fall.

Nach rund vierstündiger Debatte schritt die kleine Kammer zur Abstimmung. Das Stimmverhältnis von 27 zu 15 Stimmen für Nichteintreten auf den Gegenvorschlag Caroni widerspiegelte den doch recht grossen Wunsch nach Klärung, während die Initiative mit 36 zu 6 Stimmen letztlich recht deutlich zur Ablehnung empfohlen wurde.

Volksinitiative «Schweizer Recht statt fremde Richter (Selbstbestimmungsinitiative)» (BRG 17.046)

Mitte Dezember 2017 gab der Bundesrat den Medien bekannt, dass er die Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» ablehne, ihr aber mit einem indirekten Gegenvorschlag begegnen möchte. Die Initiative für ein nationales Verbot sei abzulehnen, weil die Kantone selber entscheiden können sollten, ob sie die Gesichtsverhüllung im öffentlichen Raum verbieten wollen oder nicht. So hätten die Kantone Tessin und St. Gallen ein solches Verbot befürwortet, während es in Zürich, Solothurn, Schwyz, Basel-Stadt und Glarus abgelehnt worden sei. Diesen unterschiedlichen Befindlichkeiten gelte es Rechnung zu tragen. Der Bundesrat anerkenne jedoch, dass die Gesichtsverhüllung problematisch sein könne, und zwar zum einen, wenn jemand zur Verhüllung gezwungen werde, und zum anderen im Kontakt mit den Behörden. Er wollte sich dieser Problematik daher mit einem indirekten Gegenvorschlag annehmen, der Regelungen auf Gesetzesebene vorsehe, ohne den Kompetenzbereich des Bundes zu überschreiten. Konkret solle es im Strafgesetzbuch ausdrücklich verboten werden, jemanden zur Verhüllung des Gesichts zu zwingen. Zudem solle der Kontakt mit Bundesbehörden und Bundesrecht vollziehenden Behörden unter Androhung von Strafe unverhüllt erfolgen müssen. Der Bundesrat beauftragte das EJPD mit der Ausarbeitung einer entsprechenden Vernehmlassungsvorlage bis Ende Juni 2018.
Bei den Initianten vermochte der Vorschlag des Bundesrats wenig Eindruck zu erwecken; er sei «schwammig» und entspreche nicht dem Anliegen der Initiative, so Walter Wobmann (svp, SO) gegenüber der Basler Zeitung. Das Komitee halte an der Initiative fest und blicke der Abstimmung nach wie vor zuversichtlich entgegen. Die SVP lehnte den bundesrätlichen Vorschlag ebenfalls als «wirkungslos» ab, wie in der Presse zu lesen war. Auf wenig Gegenliebe stiess der Vorschlag indes auch bei den Grünen. Nationalrat Balthasar Glättli (gp, ZH) bezeichnete ihn gegenüber der Basler Zeitung als «falsch und überflüssig», weil Nötigung ohnehin strafbar sei, und machte ihm in der Aargauer Zeitung den gleichen Vorwurf wie der Initiative selbst, nämlich zur «Stimmungsmache gegen Muslime in der Schweiz» beizutragen. Positiver äusserten sich die CVP und die SP zur Stossrichtung des Bundesrates, wenngleich sich die SP weiter auf ihren eigenen direkten Gegenentwurf zur Verbesserung der Gleichstellung der Frauen konzentrieren wollte. SP-Nationalrat Cédric Wermuth (sp, AG) bedauerte im Tages-Anzeiger, dass der Bundesrat sich nicht getraut habe, «die Debatte neu auszurichten», und dass der Gegenvorschlag «keine Antwort auf das Unbehagen» liefere, das hinter der Initiative stehe. Von verschiedenen Seiten wurde der bundesrätliche Vorschlag auch als nicht oder nur schwer umsetzbar kritisiert, da Frauen, die gezwungen werden, sich zu verschleiern, dies eher nicht bei der Polizei zur Anzeige bringen würden. Ständerat Andrea Caroni (fdp, AR), der bereits ein Gegenkomitee zur Initiative gegründet hatte, begrüsste dagegen den Vorschlag des Bundesrates. Er sei zwar nicht «das Ei des Kolumbus», eröffne aber die Möglichkeit für eine gezielte Debatte über die Probleme im Zusammenhang mit der Gesichtsverhüllung und über allfällige Lösungen, so Caroni gegenüber «Le Temps».

Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» und indirekter Gegenvorschlag (19.023)
Dossier: Nationales Burkaverbot

Im Nationalrat war der Gesprächsbedarf zum Geschäft „Förderung der internationalen Mobilität in der Bildung in den Jahren 2018 bis 2020“ deutlich grösser als im Ständerat. Das zeigte sich bereits in den Kommissionen: Neben der WBK-NR, die das Geschäft regulär vorberiet, äusserte sich auch die Finanzkommission (FK-NR) im Rahmen eines Mitberichts zum Geschäft. Knapp, mit 13 zu 11 Stimmen, beantragte die FK-NR der WBK-NR und dem Nationalrat, auf die Förderung der Kooperation zwischen schweizerischen und ausländischen Bildungsinstitutionen und -akteuren zu verzichten. Der Teilkredit von CHF 93,8 Mio., den der Bundesrat für internationale Mobilitäts- und Kooperationsaktivitäten vorsah, sollte gemäss diesem Antrag um CHF 9,3 Mio. auf CHF 84,5 Mio. gesenkt und der Gesamtkredit somit auf CHF 105,2 Mio. reduziert werden. Peter Keller (svp, NW), Mitglied der Finanzkommission, begründete im Nationalrat diesen Antrag: Die Förderung der Kooperation zwischen ausländischen und Schweizer Bildungsinstitutionen habe nichts mit dem Kernanliegen von Erasmus Plus, nämlich der Mobilität der Studierenden, zu tun, weshalb die CHF 9,3 Mio. aus dem Entwurf gestrichen werden müssten. Ein weiterer Antrag der FK-NR – nämlich das Geld für den Betrieb der Agentur Movetia zu streichen – wurde mit dem Stichentscheid der Kommissionspräsidentin Bulliard-Marbach (cvp, FR) abgelehnt, weshalb dieser Antrag lediglich von einer Kommissions-Minderheit an den Nationalrat herangetragen wurde. Der Vizepräsident der Finanzkommission, Hans-Ulrich Bigler (fdp, ZH), verteidigte diesen im Nationalrat. Movetia würde nicht nur den Bildungsaustausch von Studierenden abwickeln, sondern auch Ferien- und Klassenaustausche in andere Schweizer Sprachregionen von Schülern der Sekundarstufe I, also der Volksschule, organisieren. Die Volksschule sei aber Kompetenz der Kantone und nicht des Bundes, so Bigler. Er störte sich auch daran, dass Movetia Bildungsaustausche für Lehrlinge anbietet. „Die wenigsten Lehrbetriebe – und vor allem die KMU nicht – [haben] die Möglichkeit, ihre Lehrlinge für zwei oder drei Wochen ins Ausland zu schicken“, so Bigler, der gleichzeitig als SGV-Direktor amtet.
In der WBK-NR war man anderer Meinung: Eine Mehrheit sprach sich für die vom Bundesrat beschlossene und vom Ständerat angenommene Übergangslösung und für die Annahme des Gesamtkredits von CHF 114,5 Mio. aus. Eine Minderheit der WBK-NR beantragte dem Nationalrat jedoch, das Geschäft an den Bundesrat zurückzuweisen: Der Bundesrat solle eine neue Vorlage präsentieren, die den beiden Bedenken der Finanzkommission Rechnung trage.
Vor diesem Hintergrund wurde das Geschäft Ende November im Nationalrat beraten. Nicht weniger als 17 Nationalräte und Nationalrätinnen äusserten sich zur Vorlage. Zuletzt ging Bundesrat Schneider-Ammann nochmals auf die Movetia ein: Angesichts der Kritik an Movetia habe er die Agentur kürzlich besucht und sich deren Betrieb angeschaut. Dort werde effizient gearbeitet, erklärte der Bildungsminister und meinte gar, einen Kulturwandel gegenüber der ch Stiftung wahrgenommen zu haben. Allfällige Bedenken betreffend die Kompetenzbereiche zwischen Bund und Kantonen versuchte er damit auszuräumen, dass die EDK ebenfalls Trägerin von Movetia sei, wodurch Doppelspurigkeiten bei Bund und Kantonen verhindert würden. „Wichtig ist, dass wir die Movetia jetzt auffahren können“, so Schneider-Ammann.
Danach wurde abgestimmt. Der Rückweisungsantrag der Minderheit WBK-NR wurde mit 124 zu 62 Stimmen (3 Enthaltungen) abgelehnt. Die beiden Anträge der FK-NR, den Gesamtkredit um 9,3 Mio. zu kürzen und die 11,1 Mio. für den Betrieb der Agentur Movetia zu streichen, wurden mit 117 zu 73 Stimmen (0 Enthaltungen) respektive mit 112 zu 79 Stimmen (0 Enthaltungen) verworfen. In der Gesamtabstimmung folgte der Nationalrat dem Votum des Ständerates und nahm den Entwurf des Bundesrats mit 126 zu 65 Stimmen (0 Enthaltungen) an. Auffallend war das Abstimmungsverhalten der SVP: Alle 65 anwesenden Räte der SVP-Fraktion stimmten für die Anträge aus der Finanzkommission und für den Rückweisungsantrag. Auch die 65 Nein-Stimmen in der Gesamtabstimmung stammten ausschliesslich aus der Reihe der SVP.
Weil dieser Beschluss nicht dem Referendum unterstand, traten die Bestimmungen am 1. Januar 2018 in Kraft.

Förderung der internationalen Mobilität in der Bildung in den Jahren 2018-2020
Dossier: Erasmus und Horizon

Der Abstimmungskampf um die Initiative für Ernährungssicherheit gestaltete sich aufgrund einer fehlenden Opposition eher ungewöhnlich. In zwei Punkten herrschte weitläufige Einigkeit. So würde aus der Annahme der Initiative direkt keine neue Gesetzesänderung und kein neuer Subventionsbedarf resultieren. Folglich entschieden nahezu alle Parteien und Verbände, die Initiative zur Annahme zu empfehlen. Die einzigen Nein-Parolen von nationalen Akteuren kamen vom Gewerbeverband und der EDU. Beide betrieben aber keinen Abstimmungskampf und äusserten sich kaum zu ihrer Position. Somit bildete sich bis zum Abstimmungstag kein Nein-Komitee, dafür entstanden gleich zwei Komitees, welche für ein Ja an der Urne warben. Das Erste, angeführt vom Bauernverband, bestand vor allem aus bürgerlichen Politikerinnen und Politikern; dem Zweiten, gegründet von der Agrarallianz, gehörten linksgrüne Politiker und Politikerinnen sowie Mitglieder der FDP an. Letzteren ging es darum, dem Bauernverband die Deutungshoheit nicht alleine zu überlassen. Sie sahen den Text des Gegenvorschlags als Kampfansage gegen den Protektionismus. Der linksgrüne Teil der Agrarallianz hingegen interpretierte den Gegenentwurf als Grundlage für eine umwelt- und tierfreundlichere Landwirtschaft.

Der weitläufigen Befürwortung durch die verschiedenen politischen Akteure zum Trotz sorgte der Gegenentwurf bei der Bauernschaft für deutliche Auseinandersetzungen. Einzelne Personen aus ihren Reihen gaben sich unglücklich über den Verlauf, welcher die Initiative mit dem Gegenvorschlag genommen hatte. Heftig diskutiert wurde vor allem der neu im Gegenentwurf eingefügte Abschnitt d, welcher besagt, dass die Voraussetzungen für „grenzüberschreitende Handelsbeziehungen, die zur nachhaltigen Entwicklung der Land- und Ernährungswirtschaft beitragen“, geschaffen werden sollen. Dies stehe in starkem Kontrast zur ursprünglichen Initiative des Bauernverbandes, welche die einheimische Landwirtschaft stärken wollte. Dass FDP-Bundesrat Johann Scheider-Ammann an verschiedenen Anlässen andeutete, dass der Gegenvorschlag als Grundlage dafür dienen könnte, um Schutzzölle abzubauen, alarmierte die Bauernschaft zusätzlich. Der Bauernverband versuchte zu beschwichtigen und interpretierte diesen Passus so, dass nur der Import von nachhaltigen Produkten, die nicht in der Schweiz produziert werden können, gefördert werden solle, und deutete den Gegenentwurf im Gesamten als Konzept für „fairen Handel, statt Freihandel“, wie in einer Medienmitteilung zu lesen war.
Diesem Verständnis widersprach die Luzerner SVP, welche kurz vor der Abstimmung unter der Anführung von alt Nationalrat und Landwirt Josef Kunz deutlich die Nein-Parole erliess. Kunz kritisierte öffentlich den Bauernverband, die Initiative zu unrecht zurückgezogen zu haben, und nannte den Gegenvorschlag einen „Freipass für den Agrarfreihandel“. Diese Ansicht teilte die St. Galler SVP, welche sich ebenfalls entschieden hatte, die Initiative abzulehnen.
Erfreut über die Entwicklungen der Ernährungsinitiative zeigte sich hingegen die Präsidentin der schweizerischen Kleinbauern-Vereinigung, Regina Fuhrer. Die Vereinigung, welche sich dagegen einsetzt, dass die Bauernhöfe in der Schweiz immer grösser und industrieller werden, lehnte die ursprüngliche Initiative des Bauernverbandes ab. Diese sei zu stark auf die Produktion und zu wenig auf Vielfalt ausgerichtet gewesen, so die Kritik Fuhrers. Den neuen Vorschlag jedoch lobte sie dafür, dass er eine schonende Produktionsweise und faire Handelsbeziehungen fördere sowie die Nahrungsmittelverschwendung thematisiere.

Grund für die ungewöhnlich grosse Einigkeit zwischen Parteien und Verbänden schien zu sein, dass der Text von allen Akteuren unterschiedlich interpretiert wurde und verschiedene Aspekte in den Vordergrund gerückt wurden. So gefielen den linken Parteien die ökologischen Forderungen des Gegenentwurfs, wie etwa die standortangepasste und ressourceneffiziente Lebensmittelproduktion und der ressourcenschonende Umgang mit Lebensmitteln, die wirtschaftsliberalen Parteien begrüssten die „grenzüberschreitenden Handelsbeziehungen“ und die landwirtschaftsnahen Akteure befürworteten die Sicherung der landwirtschaftlichen Produktion und des Kulturlandes.
Aus dieser einseitigen Ausgangslage heraus erstaunten auch die Ergebnisse der ersten Befragung zu den Stimmabsichten von GFS Bern kaum. 65 Prozent wollten sich „eher“ oder „bestimmt“ für die Vorlage aussprechen, nur 18 Prozent entschieden sich „eher“ oder „bestimmt“ dagegen. Die grösste Unsicherheit, die noch blieb, war, ob sich irgendwelche Konsequenzen aus einer Annahme ergeben würden. Fast schon philosophisch stellte der Tagesanzeiger die Frage: „Soll man einen Artikel in die Verfassung schreiben, der weder Gutes noch Böses bewirkt, der nichts verlangt und nichts anstösst, der einfach nur – existiert?“

Am Abstimmungssonntag kam es dann zur Entscheidung: Mit einer Stimmbeteiligung von fast 50 Prozent stimmte das Stimmvolk mit sehr hohen 78,7 Prozent wenig überraschend für die Annahme des Gegenentwurfs zur Volksinitiative und für den neuen Abschnitt in der Schweizer Verfassung.


Abstimmung vom 24. September 2017

Beteiligung: 47,1%
Ja: 1'943'180 (78,7%) / Stände: 20 6/2
Nein: 524'919 (21,3%) / Stände: 0 0/2

Parolen:
- Ja: SVP (2)*, SP, FDP (3)*, CVP, GPS, GLP (1)*, BDP, EVP, Bauernverband, Pro Natura, WWF, Bäuerinnen- und Landfrauenverband, Bischofskonferenz, Caritas.
- Nein: EDU, Gewerbeverband.
*in Klammern: Anzahl abweichende Sektionen.

Volksinitiative "Für Ernährungssicherheit" (BRG 15.050)
Dossier: Volksinitiativen zur Förderung ökologischer Bedingungen in der Landwirtschaft

Le conseiller national Hansjörg Knecht (udc, AG) estime que les paysans sont de plus en plus incité à devenir des paysagistes, en lieu et place de leur fonction d'agriculteur productiviste. Au travers de sa motion intitulée Halte aux projets de qualité du paysage, ce membre argovien de l'UDC veut que la loi sur l'agriculture soit modifiée afin d'accorder les moyens mis à disposition pour les projets de qualité du paysage à l'agriculture productiviste uniquement. Il estime, en effet, que l'agriculture doit conserver comme tâche principale cette fonction productiviste, alors qu'avec la loi actuelle les agriculteurs sont forcés de recourir aux subventionnements liés aux projets de qualité du paysage (ceux-ci représentant un revenu non-négligeable). Il demande, de plus, à ce que les régulations non-nécessaires ainsi que les subventions liées à des aspects trop esthétiques et trop complexes soient supprimés pour, à la place, renforcer cette agriculture productiviste et entrepreneuriale qu'il appelle de ses voeux.
Au nom du Conseil fédéral, Johann Schneider-Ammann, admet être surpris que cette thématique des projets concernant la qualité du paysage ait pris autant d'ampleur dans les discussions. Précisant que deux tiers des exploitations suisses ont signé un accord d'exploitation de 8 ans relatif à ces incitations, le conseiller fédéral Schneider-Ammann attend les résultats d'un rapport d'évaluation des contributions pour la qualité du paysage, qu'il utilisera afin de déterminer comment développer ces outils à partir de 2022. C'est pour cette raison que le Conseil fédéral ne veut pas prendre de mesures maintenant. Toutefois, Johann Schneider-Ammann a dévoilé les premières résultats d'une évaluation portant sur les impacts de la politique agricole 2014-2017 et a fait remarquer que le niveau de production ne s'est pas affaissé, comme redouté. Au contraire, les agriculteurs suisses produisent plus que ce qui avait été projeté, même avec l'introduction des contributions pour ces projets de qualité de paysage, qui, comme rappelé par Hanjörg Walter (udc, TG) est un nouvel instrument de la politique agricole.
Au final, le Conseil national accepte de justesse la motion Knecht par 93 voix contre 89 et 3 abstentions. La motion passe donc aux mains du Conseil des Etats.

Halte aux projets de qualité du paysage

Rund neun Monate nachdem der Nationalrat nach ausführlicher Diskussion entschieden hatte, die Initiative für Ernährungssicherheit als Erstrat zur Annahme zu empfehlen, gelangte das Anliegen in den Ständerat. Die Mitglieder der WAK-SR erklärten zu Beginn der Sitzung, dass sie sich aufgrund der ausführlichen Diskussion im Nationalrat ein umfassendes Bild vom Initiativtext gemacht hätten und dabei auch die noch ausstehenden weiteren landwirtschaftlichen Volksinitiativen, namentlich die Fair-Food-Initiative, die Initiative für Ernährungssouveränität sowie die Hornkuh-Initiative mit einbezogen hätten. Aufgrund der so gewonnenen Erkenntnisse entschieden sie, der viel diskutierten Initiative für Ernährungssicherheit einen direkten Gegenentwurf gegenüberzustellen, welcher zwar die Grundforderung des originalen Initiativtextes nach dem Schutz des Kulturlandes übernimmt, jedoch klarer und marktorientierter formuliert ist. Unter anderem schliesst der Gegenentwurf im Gegensatz zum Initiativtext zum Schutz der Ernährungssicherheit die gesamte Kette der Lebensmittelproduktion von der Produktion über die Verarbeitung bis zum Konsum mit ein. Ein weiterer Unterschied zum Initiativtext besteht darin, dass der Gegenentwurf die Ernährungssicherheit der Schweiz in einen globalen Kontext setzt und so vom Bund fordert, dass Voraussetzungen geschaffen werden, um grenzüberschreitende Handelsbeziehungen, welche zu einer nachhaltigen Land- und Ernährungswirtschaft beitragen, zu pflegen. Weiter enthält der Gegenentwurf einen Absatz, welcher die Forderung nach einem ressourcenschonenden Umgang mit Lebensmitteln in der Verfassung verankert. Die Kommission empfahl ihrer Kammer den Gegenvorschlag mit 8 zu 4 Stimmen bei 1 Enthaltung zur Annahme. Dieser Entscheidung schloss sich auch Bundesrat Schneider-Ammann an.
Eine Minderheit der Kommission, angeführt durch Ruedi Noser (fdp, ZH), erläuterte, dass sowohl der Initiativtext als auch der Gegenvorschlag rein deklaratorischer Natur seien und dass aus keinem der Texte ein gesetzgeberischer Handlungsbedarf resultiere. Bei der Annahme einer der beiden Entwürfe würde es faktisch zu keiner Veränderung kommen. Aus diesem Grund schlug die Minderheit vor, sowohl die Initiative als auch den Gegenvorschlag Volk und Ständen zur Ablehnung zu empfehlen. Die Voten im Rat schlossen mehrheitlich an diese beiden Lager an, wobei der Gegenvorschlag schlussendlich mehr zu überzeugen vermochte und mit 38 zu 4 Stimmen klar angenommen wurde. Der Bauernverband äusserte sich gegenüber der Presse positiv zu den Entwicklungen und kündigte an, die Initiative zurückzuziehen, sollten sich beide Räte auf den Gegenvorschlag einigen.

Volksinitiative "Für Ernährungssicherheit" (BRG 15.050)
Dossier: Volksinitiativen zur Förderung ökologischer Bedingungen in der Landwirtschaft

In der Herbstsession 2016 befasste sich zuerst der Ständerat mit der Änderung des Entsendegesetzes, die über eine Erhöhung der maximalen Verwaltungssanktionen bei Verstössen gegen die minimalen Lohn- und Arbeitsbedingungen von CHF 5000 auf CHF 30‘000 eine Verschärfung der flankierenden Massnahmen vorsah. Wie bereits zuvor in der Frühjahrssession im Nationalrat kam es auch in der kleinen Kammer zu einer Abstimmung über einen Nichteintretensantrag, der von Seiten der SVP, namentlich Ständerat Föhn (svp, SZ) eingebracht worden war, der sich daran störte, dass auch Schweizer Unternehmen von der "massiven Bussgelderhöhung" betroffen wären. Mit 4 zu 40 Stimmen war der Antrag aber auch im Ständerat chancenlos. Umstrittener war hingegen der vom Nationalrat aufgenommene Passus, wonach Normalarbeitsverträge (NAV) bereits dann befristet verlängert werden können, wenn Hinweise dafür bestehen, dass der Wegfall zu erneuten Missbräuchen führen könnte. Der vorberatendenen WAK-SR war dies zu weit gegangen und sie hatte mit 8 zu 3 Stimmen beantragt, dass eine Verlängerung, so wie es der Bundesrat in seiner Botschaft zur Änderung des Obligationenrechts vorgesehen hatte, nur dann möglich sein soll, wenn sowohl frühere Verstösse vorliegen als auch Hinweise darauf bestehen, dass es auch künftig zu Verstössen kommen wird. Auch Wirtschaftsminister Schneider-Ammann empfahl dem Ständerat, in diesem Punkt nicht dem Nationalrat zu folgen, da man damit "unter anderem dauerhaft Mindestlöhne einführen" würde. Trotz des Kommissionsantrags und der bundesrätlichen Einwände sprach sich die kleine Kammer dann aber mit 29 zu 16 Stimmen für eine Minderheit Zanetti (sp, SO) aus und folgte gleichwohl dem Nationalrat. Der Ständerat schuf dann aber doch noch eine Differenz zum Nationalrat: Auf Antrag seiner Wirtschaftskommission beschloss er, dass schwerwiegende Verstösse nicht nur mit einer Geldstrafe, sondern zusätzlich auch mit einem auf maximal fünf Jahre befristeten Ausschluss vom Schweizer Arbeitsmarkt geahndet werden können. Der ständerätlichen Fassung stimmte die grosse Kammer zwei Tage später mit 102 zu 87 Stimmen zu – entgegen dem Antrag der WAK-NR. In der Schlussabstimmung, die aufgrund des Widerstands von SVP und FDP mit Spannung erwartet wurde, nahm der Nationalrat den Entwurf mit 110 zu 86 Stimmen bei 2 Enthaltungen und der Ständerat mit 30 zu 13 Stimmen bei 1 Enthaltung an.

Änderung des Entsendegesetzes (Art. 5, 7, 9, 12) (BRG 15.054)
Dossier: Vorschläge zur Änderung des Entsendegesetzes (EntsG)

Obwohl eigentlich gänzlich unverbindlich, gibt der Bericht des Bundesrates zur Legislaturplanung jeweils viel zu diskutieren. Mit dem 2002 reformierten Parlamentsgesetz hatten sich die Kantons- und Volksvertreterinnen und -vertreter die Möglichkeit gegeben, Legislaturziele des Bundesrats nicht einfach nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern sie auch abzuändern und formell zu beschliessen. Dies hatte allerdings bei den Beratungen zu den Regierungszielen 2003–2007, 2007–2011 und 2011–2015 jeweils zu tagelangen Debatten geführt, die mit Vorstössen gespickt waren, welche eher den unterschiedlichen Parteiprogrammen als einem kohärenten Planungsentwurf für die Regierungspolitik entsprachen. Dies, obwohl es sich bei der Legislaturplanung freilich weder um eine Wahlplattform noch um einen Koalitionsvertrag, sondern einfach um eine Diskussionsgrundlage handle, wie Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann während der Ratsdebatte zum Bericht für die Legislaturplanung 2015–2019 anmerkte. Weil die langen Debatten verschiedentlich als nicht sehr ergiebig betrachtet worden waren, hatte man die Möglichkeit zur inhaltlichen Änderung wieder in eine einfache Kenntnisnahme abschwächen wollen, wie dies vor 2002 der Fall gewesen war. Allein: Es blieb beim Versuch, da die entsprechende Reformvorlage 2015 in der Schlussabstimmung versenkt worden war.
Damit hatte man sich also auch für die Legislaturplanung 2015–2019 auf lange Debatten einzustellen. Das vorgelegte Programm der Regierung umfasste neben den Perspektiven für 2030 drei politische Leitlinien, denen 16 Ziele und rund 60 geplante Massnahmen zugeordnet waren, die der Bundesrat als Gesetzgebungsprogramm dem Parlament vorzulegen plante. Darüber hinaus wies die Regierung in einem Legislaturfinanzplan den Finanzbedarf für die nächsten vier Jahre aus. Die drei zentralen Leitlinien zielen auf eine nachhaltige Sicherung des Wohlstandes (1), die Förderung des nationalen Zusammenhaltes und die Stärkung internationaler Zusammenarbeit (2) sowie auf innere und äussere Sicherheit (3). Mit sieben Zielen (Haushaltsgleichgewicht wahren; Wettbewerbsfähigkeit dank optimaler wirtschaftlicher Rahmenbedingungen steigern; Beitrag zu tragfähiger Weltwirtschaftsordnung leisten; Erneuerung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zur EU anstreben; Führungsposition in Bildung, Forschung und Innovation halten; zuverlässige Verkehrs- und Kommunikationsinfrastrukturen schaffen; natürliche Ressourcen schonend und Energie nachhaltig nutzen) war die erste Leitlinie die gewichtigste. Die Leitlinie 2 umfasste drei Ziele (Zusammenhalt und Verständigung von Regionen, Kulturen und Sprachgruppen stärken; gesellschaftlichen Zusammenhalt und Geschlechtergleichberechtigung fördern; Engagement für internationale Zusammenarbeit stärken) und die Leitlinie 3 deren sechs (Sozialwerke reformieren; qualitativ hochstehende und finanziell tragbare Gesundheitsversorgung garantieren; Migration steuern und deren Potenzial nutzen; Gewalt, Kriminalität und Terrorismus bekämpfen; wirksam gegen innere und äussere Bedrohungen vorgehen; Engagement für internationale Stabilität zeigen).
Bei der während der Sondersession anberaumten Beratung des Berichts im Nationalrat zeigte sich der mit den eidgenössischen Wahlen 2015 akzentuierte Gegensatz zwischen Links und Rechts. Die Ratsrechte setzte sich erfolgreich dafür ein, dass sich der Bund im Bericht einer nachhaltigen Senkung der Ausgaben verpflichtet, einen Aufgabenüberprüfungsplan erstellt sowie bei Gesetzen mit grossen finanziellen Auswirkungen jeweils versucht, die Regulierungsfolgekosten abzuschätzen. Derweil scheiterte die Ratslinke mit ihren Forderungen nach Mehreinnahmen anstelle von Sparprogrammen. Chancenlos blieb auch der Antrag der SVP: Der Vorschlag zur Streichung der Massnahme, mit der EU ein institutionelles Abkommen auszuhandeln, wurde vom Nationalrat abgelehnt. Allerdings wird das Ziel zum Engagement für die internationale Stabilität auf Vorschlag der SVP mit dem Passus "unter Wahrung der Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz" ergänzt. Zusätzlich aufnehmen wollte die grosse Kammer Ziele zur Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Gestrichen wurde hingegen die Massnahme der Änderung des Gleichstellungsgesetzes. Dies kann als schönes Indiz dafür gelesen werden, wie schnell der politische Wind drehen kann. Noch vier Jahre zuvor hatte das Parlament der Regierung das Thema Gleichstellung nachträglich in die Legislaturplanung 2011–2015 diktiert.
Auch der Ständerat, der den Bericht in der Sommersession beriet, forderte, dass der Bundesrat die Sparschraube noch weiter anziehe. Er folgte hier dem Vorschlag des Nationalrates, dies als Ziel in der Legislaturplanung zu verankern. Zusätzlich wollte die kleine Kammer festgeschrieben haben, dass ein weiteres Wachstum der Personalkosten verhindert wird. Im Gegensatz zum Nationalrat wollte der Ständerat das Vorhaben des Bundesrates, die Abzockerinitiative auf Gesetzesstufe umzusetzen, nicht aus den Legislaturzielen streichen. Auch für die Revision des Gleichstellungsgesetzes setzten sich die Kantonsvertreterinnen und -vertreter ein und setzten sich bei der Einigungskonferenz denn auch mit beiden Vorhaben durch.
Der einfache Bundesbeschluss wurde schliesslich von beiden Kammern angenommen. Es blieb allerdings nach wie vor die Frage offen, ob sich der Zeitaufwand für eine einfache "Offerte an das Parlament für eine fruchtbare Zusammenarbeit", wie alt-Bundesrat Pascal Couchepin den Legislaturplanungsbericht einst bezeichnet hatte, tatsächlich lohnt. Neben den stundenlangen Debatten in den Räten muss, laut Schätzungen der Bundeskanzlei in einer Antwort auf eine Frage Céline Amaudruz (svp, GE) zu "Kosten und Nutzen der Legislaturplanung" (16.5005), ein Aufwand der Kommissionsmitglieder, der Parlamentsdienste und der Bundesräte zur Vorbereitung der Debatte von mindestens 240 Personentage addiert werden. Braucht es also die "unnötige Monsterdebatte" (NZZ) wirklich? Oder ist die "Strategiedebatte ohne Nutzen" (BaZ) vielleicht doch wichtige Grundlage für ein System, indem es eben keinen Koalitionsvertrag gibt und in dem sich die Regierungsparteien anderweitig einigen müssen? Auf jeden Fall wurden im Anschluss an die Beratungen erneut Vorstösse lanciert, mit denen ein Zurück zur einfachen Konsultation gefordert wird: So reichten die SPK-NR (Pa.Iv. 16.425 und Pa.Iv. 16.426) als auch die FDP-Liberale Fraktion (Pa.Iv.16.402) parlamentarische Initiativen ein, mit denen entsprechende Absichten formuliert werden.

Legislaturplanung 2015-2019 (BRG 16.016)
Dossier: Legislaturplanungsberichte

Rund eine Woche vor den Regierungswahlen begannen die Fraktionen mit den Hearings der drei SVP-Kandidaten. Lediglich die Grünen verzichteten auf die Anhörungen, weil sie die Wahl eines Vertreters der Volkspartei grundsätzlich ablehnten, da die SVP die Europäische Menschenrechtskonvention kündigen wolle – eine Anspielung auf die geplante Selbstbestimmungsinitiative der SVP. Die GP setzte nach wie vor auf einen Sprengkandidaten aus der Mitte und gab bekannt, zumindest im ersten Wahlgang keinen der SVP-Kandidierenden wählen zu wollen. Die SP entschied sich erst in letzter Minute, die Kandidaten einen Tag vor den Wahlen doch noch zu Bewerbungsgesprächen einzuladen. Die Genossen gaben im Anschluss bekannt, dass Norman Gobbi (TI, lega) für sie nicht wählbar sei. Die restlichen Fraktionen wollten sich nach den Anhörungen zwar nicht festlegen, gaben aber zu Protokoll, einen der drei offiziellen Kandidaten wählen zu wollen. Ein Sprengkandidat war nicht in Sicht – auch wenn Heinz Brand (svp, GR) erst nach einigem Hin und Her und viel Pressewirbel dementierte, eine Wahl annehmen zu wollen, und sich auch Thomas Hurter (svp, SH) noch einmal ins Gespräch brachte, weil er keine Stellung nehmen wollte zur Idee, bei einer allfälligen Wahl und Ausschluss durch die SVP bei der FDP Unterschlupf zu finden. Alle weiteren, in den Medien kolportierten, möglichen Überraschungskandidaten gaben aber jeweils kurz nach der Medienmeldung an, nicht zur Verfügung zu stehen. Zudem signalisierten die Mitteparteien im Verlaufe dieser Geplänkel immer deutlicher, für Spiele nicht zur Verfügung zu stehen. Aufgrund dieser Ausgangslage sahen die meisten Medien am Tag vor der Bundesratswahl Guy Parmelin (svp, VD) im Vorteil, da er von SP und GP wohl eher unterstützt würde als Norman Gobbi (TI, lega) und Thomas Aeschi (svp, ZG).
Dass der Anspruch der SVP auf einen zweiten Bundesratssitz allgemein akzeptiert und die Lust auf Experimente im Parlament in der Tat sehr gering war, zeigte sich am Wahltag auch in den Voten der einzelnen Fraktionen. Mit Ausnahme der SP und der GP sprachen sich alle Parteien für ein Ende der bisher nicht adäquaten mathematischen Konkordanz aus. Obwohl alle Parteien freilich auch die Ausschlussklausel der SVP kritisierten, die einer Regierungspartei nicht würdig sei, liessen sie den Worten bei der Ersatzwahl von Eveline Widmer-Schlumpf (bdp) Taten folgen. Zwar erhielten im ersten Wahlgang auch Thomas Hurter (svp, SH) und Viola Amherd (cvp, VS) 22 bzw. 16 Stimmen, auf den insgesamt 245 ausgeteilten Wahlzetteln fanden sich aber vorwiegend die drei SVP-Kandidierenden, wobei sich Guy Parmelin mit 90 Stimmen vor Thomas Aeschi (61 Stimmen) und Norman Gobbi (50 Stimmen) schon leicht absetzen konnte. Mit den vier Stimmen an Verschiedene und den zwei leeren Wahlzetteln hatten sich damit 44 Parlamentarier nicht am offiziellen Dreierticket orientiert – zu wenig für einen Coup. Im zweiten Wahlgang verpasste Parmelin das absolute Mehr nur knapp. Er erhielt 117 von 120 nötigen Stimmen; Aeschi wurde von 78 Mitgliedern der Vereinigten Bundesversammlung favorisiert und Gobbi erhielt lediglich noch 30 Voten. Auf Verschiedene entfielen 14 Stimmen und fünf der 244 ausgeteilten Wahlzettel waren leer. Im dritten Wahlgang – für viele überraschend schnell – konnte Guy Parmelin dann genügend Unterstützerinnen und Unterstützer hinter sich scharen. Mit 138 Stimmen wurde der Waadtländer erster französischsprachiger SVP-Bundesrat der Geschichte. Die 88 Stimmen für Aeschi hätten auch zusammen mit den elf noch auf Gobbi entfallenden Stimmen nicht für einen anderen Wahlausgang gereicht. Im dritten Wahlgang, in dem nur noch 243 Wahlzettel ausgeteilt wurden, waren noch deren sechs leer. Guy Parmelin erklärte die Annahme der Wahl und verwies in seiner kurzen Rede auf die Bedeutung und Symbolkraft seiner Wahl für die Westschweiz. Freilich werde er im Rahmen seiner Regierungstätigkeit auch die Ost- und Zentralschweiz, die diesmal leer ausgegangen seien, nicht vergessen.

Ob der mit Spannung erwarteten Ersatzwahl gingen die vorausgehenden Bestätigungswahlen der bisherigen sechs Regierungsmitglieder fast ein wenig unter. Zwar divergierten die Stimmen, welche die einzelnen Magistratinnen und Magistraten erhielten recht stark – insbesondere Ueli Maurer (svp) und Simonetta Sommaruga (sp) wurden wohl jeweils vom gegnerischen Lager abgestraft – aber insgesamt zeigte sich auch bei den Bestätigungswahlen, dass das Parlament in der Mehrheit ein Zurück zur Normalität anstrebte. Doris Leuthard (cvp) wurde mit 215 von 245 Stimmen erneut gewählt (Verschiedene: 19; leer: acht; ungültig: drei), Ueli Maurer (svp) erhielt 173 von 245 Stimmen (Thomas Hurter (svp, SH): zehn Stimmen, Verschiedene: 27; leer: 32; ungültig: drei), Didier Burkhalter (fdp) wurde mit 217 von 244 Wahlzetteln bestätigt (Verschiedene: 14; leer: 13; ungültig: Null), der Name Simonetta Sommaruga (sp) stand auf 182 von 245 ausgeteilten Wahlzetteln (Daniel Jositsch (sp, ZH): elf Stimmen; Verschiedene: 28; leer: 19; ungültig: fünf), Johann Schneider-Ammann machte 191 von 244 Stimmen (Verschiedene: 28; leer: 23; ungültig: zwei) und überraschend deutlich bestätigt wurde auch Alain Berset mit 210 von 244 möglichen Voten (Verschiedene: 23; leer: acht; ungültig: zwei). Alle sechs hatten damit mehr Stimmen als noch vor vier Jahren erhalten.
Die Reaktionen in den Medien waren geteilt. Auf der einen Seite wurde hervorgehoben, dass Parmelin als Nationalrat kaum aufgefallen sei, über keinerlei Führungserfahrung verfüge und auch nicht besonders sprachgewandt sei – wenig spektakulär wie der Chasselas, den er anbaue, so etwa die BaZ. Sein einziger Ausweis sei es, der SVP anzugehören. Es sei aber nachvollziehbar, dass das Parlament die parteipolitische Zusammensetzung der Regierung höher gewichtet habe als personelle Fragen. Zudem müsse man Parmelin eine Chance geben, im Amt zu wachsen. Weil er keine hohe Erwartungen wecke, könne er eigentlich nur positiv überraschen. Für viele, vor allem für Mitte-links sei er wohl auch das kleinere Übel gewesen. Parmelin sei ein SVP-Mitglied der alten Schule und sei wohl als leichter formbar vermutet worden als Thomas Aeschi, der als Blocher-Zögling gelte und die neue SVP-Linie vertrete. In der Westschweizer Presse wurde zudem hervorgehoben, dass sich Parmelin stets moderat und kompromissbereit gezeigt habe – eine nicht zu unterschätzende Fähigkeit im Regierungskollegium. Die Wahl Parmelins sei aber auch ein Zeichen dafür, dass das Parlament angesichts der Erfolge und der immer neuen Forderungen der SVP resigniere – so der Blick. Einig war man sich in der Presse, dass die SVP jetzt in der Verantwortung stehe. Sie müsse wieder in den Kompromiss-Modus zurückfinden – so die NZZ. In den Kommentarspalten wurde zudem darauf hingewiesen, dass die Volkspartei mit ihrem zweiten Regierungssitz nun auch definitiv in der Westschweiz verankert sei – männiglich prognostizierte gar einen weiteren Schub der SVP im französischsprachigen Landesteil.
Die Reaktionen der Parteien waren unterschiedlich. Die SVP feierte ihren neuen Bundesrat mit auffallender Zurückhaltung. Zwar wiesen die Parteispitzen darauf hin, dass man die Westschweiz jetzt noch besser vertreten könne; verschiedene Stimmen machten aber keinen Hehl daraus, dass Parmelin nicht der Wunschkandidat gewesen sei. Die Aufforderung, jetzt mehr Kompromissbereitschaft zu zeigen, prallte an der SVP ab. Man mache weiter eine SVP-Politik und erwarte vielmehr von der FDP, dass sich im Bundesrat jetzt eine bürgerliche Politik durchsetze. Als Siegerinnen sahen sich die SP- und die CVP-Spitzen. In der französischsprachigen Presse wurde kolportiert, dass Guy Parmelin ohne die von Christoph Darbellay (cvp, VS) und Christian Levrat (sp, FR) im Nationalratswahlkampf aufgestellte Forderung an die SVP, einen Westschweizer Kandidaten zu präsentieren, vielleicht jetzt gar nicht Bundesrat wäre. Prompt wurden die beiden Parteipräsidenten als Königsmacher gefeiert. In der FDP und der CVP machte man sich Gedanken über die nächsten Bundesratswahlen. Klar war, dass mit der Übervertretung der Romandie die Chancen für französischsprachige "Papabili" stark gesunken waren. Potenzielle Ostschweizer und Tessiner-Kandidaten konnten sich hingegen freuen.

Gesamterneuerungswahlen des Bundesrats 2015 – Nachfolge Eveline Widmer-Schlumpf
Dossier: Bundesratswahlen seit 2008

Das ganze Jahr über wurde in den Medien spekuliert, ob sich die FDP stärker mit der SVP verbünden sollte. Zur Diskussion standen dabei insbesondere Listenverbindungen für die eidgenössischen Wahlen 2015. Anfang Jahr drohte der Parteipräsident der SVP Toni Brunner (svp, SG) implizit damit, der FDP einen Bundesratssitz streitig zu machen, sollte sie sich nicht für flächendeckende Mitte-Rechts-Verbindungen einsetzen. Im Januar sah der FDP-Parteipräsident Philipp Müller noch keinen Grund, nicht mit der SVP zu paktieren. Allerdings müsse man die Frage von Listenverbindungen den Kantonen überlassen und die SVP könne nicht nur Forderungen stellen, sondern müsse die FDP auch unterstützen. Anders als sein Vorgänger Fulvio Pelli (TI) verschloss sich der neue FDP-Präsident Listenverbindungen nicht. Auch mit der CVP oder den neuen Mitteparteien könne man sich – je nach kantonaler Ausgangslage – verbünden. Das Verhältnis zwischen FDP und SVP kühlte sich dann jedoch nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative merklich ab. Auch die deutlichen Worte, die Parteipräsident Müller gegen die von der SVP angekündigte Initiative fand, welche Landesrecht über Völkerrecht stellen will, dienten der Abgrenzung gegen rechts. Anfang Oktober gab Müller dann allerdings auch bekannt, dass die FDP – falls die dannzumal erste Trendumfrage zu den Wahlen, die für die FDP einen leichten Zuwachs voraussah, sich bestätigen sollte – Bundesrätin Widmer-Schlumpf auf Kosten eines zweiten SVP-Bundesratssitzes abwählen würde, sofern die SVP einen valablen Kandidierenden aufstelle. Auch seitens der CVP wurden der FDP Avancen gemacht. Die FDP sei eingeladen, an einer kohärenten Mitte zu partizipieren. Müller reagierte prompt auf diese Einladung und forderte vielmehr die CVP und die anderen Mitteparteien auf, in einem Bürgerblock mitzuarbeiten. Von links wurde einer der beiden FDP-Bundesratssitze in Frage gestellt. Um eine rechte Mehrheit aus zwei FDP- und zwei SVP-Regierungsmitgliedern zu verhindern, und unter der Annahme, dass der SVP zwei Regierungssitze zustünden, müsste die FDP auf einen ihrer Sitze verzichten. Ins Visier der SP geriet dabei vor allem Bundesrat Johann Schneider-Ammann, der nicht nur aufgrund einer Steuergeschichte seiner ehemaligen Firma ins mediale Schlaglicht geriet, sondern der von der Linken auch für die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative mitverantwortlich gemacht wurde, weil er zu wenig dagegen angekämpft habe.

FDP mit der SVP verbünden

Ein weiteres wichtiges Ziel der SVP wurde im Wahljahr ebenfalls verpasst: Der Partei blieb ein zweiter Bundesratssitz, auf den sie aus einer arithmetisch begründeten Konkordanz Anspruch erhob, bei den Bundesratswahlen verwehrt. Dies war auf unterschiedliche Gründe zurückzuführen. Erstens nahm ihre Niederlage bei den National- und Ständeratswahlen der SVP einigen Wind aus den Segeln. Zweitens machte die Partei bei der Auswahl ihrer Bundesratsanwärter eine überaus schlechte Figur. Sie brauchte sehr lange, bis sie endlich ein Zweierticket bestehend aus Jean-François Rime (FR) und Bruno Zuppiger (ZH) bekannt gab. Zuvor war lange gerätselt worden, ob die Volkspartei ein politisches Schwergewicht (Amstutz, Baader, Brunner, Eberle, Spuhler) auf den Schild heben würde. Als unprofessionell wurde die Kandididatenkür dann schliesslich nicht nur aufgrund der langen Vorlaufzeit bezeichnet, sondern auch weil Zuppiger aufgrund eines Vorwurfs, bei einer Erbschaft unrechtmässig Geld abgezweigt zu haben, seine Kandidatur zurückziehen musste. Anscheinend hatte die SVP-Spitze davon gewusst, aber trotzdem an Zuppiger festgehalten. In einer Nacht- und Nebelaktion wurde Hansjörg Walter für Zuppiger nachnominiert. Der Partei wurde vorgeworfen, es versäumt zu haben, die nötigen Kandidaten für den eindringlich geforderten zweiten Bunderatssitz aufzubauen. Drittens erwies sich bei den Bundesratswahlen ein Umstand als zentral, der sich auch bei kantonalen Regierungswahlen und bei den Ständeratswahlen deutlich gezeigt hatte: Die Oppositionspartei hat keine verlässlichen Partner mehr. Für ihren Kandidaten stimmte ausser beim Angriff auf den Sitz von Bundesrätin Widmer-Schlumpf praktisch nur die geschlossene SVP-Fraktion. Bei der Wahl der BDP-Bundesrätin erhielt Rime 41 Stimmen und Walter, der schon vor den Wahlen angekündigte hatte, nur für dieses Manöver zur Verfügung zu stehen, 63 Stimmen. Bei der Bestätigung des Sitzes von Didier Burkhalter erhielt Jean-François Rime 24 Stimmen, bei Simonetta Sommaruga 61 Stimmen, bei Johann Schneider-Ammann 64 Stimmen. Bei der Ersatzwahl für Micheline Calmy-Rey entfielen noch 59 Voten auf den SVP-Kandidaten.

Wahlkampf und Resultate der SVP bei den eidgenössischen Wahlen 2011
Dossier: Resultate der wichtigsten Parteien bei nationalen Wahlen 2011

Viel zu reden gab die Departementsverteilung, die erstmals seit 1960 mit einer sogenannten grossen Rochade und vier neuen Departementsvorstehern endete. Die Presse mutmasste, dass die Verteilung nicht sehr konsensual vonstattengegangen war. Es wäre nur teilweise nach dem Anciennitätsprinzip vorgegangen worden: Bundesrätin Calmy-Rey wollte nicht wechseln; Doris Leuthard wünschte einen Wechsel ins Uvek und Eveline Widmer-Schlumpf wollte das Finanzdepartement übernehmen. Beide Wünsche wurden gewährt. Da weder Didier Burkhalter noch Ueli Maurer wechseln wollten, blieben das Justiz- und Polizeidepartement und das Volkswirtschaftsdepartement übrig. Obwohl Simonetta Sommaruga laut ungeschriebenem Anciennitätsprinzip zuerst ihre Wünsche hätte äussern dürfen, wurde schliesslich Johann Schneider-Ammann das Volkswirtschaftsdepartement übergeben, da die bürgerliche Regierungsmehrheit dieses Departement nicht der ehemaligen Konsumentenschützerin hätte überlassen wollen. Obwohl sie als Nichtjuristin eher nicht in das JPD passen würde, hätte die neu gewählte Magistratin dieses nun übernehmen müssen. Die SP – allen Voran ihr Präsident Christian Levrat (FR) – reagierte sehr verärgert auf die Verteilung und warf den anderen Parteien einen Coup und eine Strafaktion gegen Sommaruga vor. Auch die SVP und die Grünen äusserten Unmut über die Departementswechsel. Ein Jahr vor den nationalen Wahlen Wechsel vorzunehmen, sei eine Zwängerei und demokratisch fragwürdig. Nur die FDP, die CVP und die BDP zeigten sich zufrieden mit der neuen Verteilung.

Bundesratsersatzwahlen 2010 – Nachfolge Moritz Leuenberger und Hans-Rudolf Merz
Dossier: Bundesratswahlen seit 2008