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  • Lia Rumantscha – Dachorganisation rätoromanischer Organisationen

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Im Sommer 2019 lag das Augenmerk der sprachaffinen Schweizerinnen und Schweizer auf der Region Maloja im Kanton Graubünden. Zwischen dem 1. und 18. August fanden dort, in der Gemeinde Zuoz, im Rahmen des 100-Jahr-Jubiläums der Lia Rumantscha Kultur- und Sprachfestivitäten für Gross und Klein statt. Das rund dreiwöchige Grossereignis war mit gut CHF 1 Mio. budgetiert und durch den Kanton Graubünden, Bundesbeiträge, Sponsoren sowie Solidaritätsbeiträge diverser anderer Kantone finanziert worden. Zwischen der offiziellen Eröffnung am 2. August und dem Hauptfestakt am 17. August wurden an unterschiedlichen Daten Thementage gestaltet, die sich mit alltäglichen und politisch relevanten Belangen des Bergkantons und seiner Sprachvielfalt auseinandersetzten. So gab es abwechslungsreiche Anlässe zur Familie, zur Sprachpolitik, zu Minoritäten, zur Dreisprachigkeit des Kantons oder zum Romanisch in der Schule und der Literatur. Es sollte ein Fest für alle sein, war doch die ganze Schweiz mit dem Ziel eingeladen worden, aufzuzeigen, dass die Schweiz etwas verlieren würde, «wenn es das Romanische nicht mehr gäbe», wie Johannes Flury (fdp, GR), Präsident der Lia Rumantscha, zu bedenken gab. Das Highlight des Jubiläums stellte sicherlich das im vom Architekten Men Duro Arquint temporär konstruierten Theaterhaus mehrfach aufgeführte Theaterstück «Tredeschin Retg» dar, das aufgrund des Grossandrangs gar um zwei zusätzliche Vorführungen ergänzt werden musste. Des Bündners liebstes Märchen erzählt die Geschichte von Tredeschin, der als 13. Kind einer Bünder Familie das Licht der Welt erblickt und sich irgendwann aufmacht, die Welt zu entdecken und nach seinem Glück zu suchen. Dabei bewegt er sich stets im Spannungsfeld zwischen der kleinen Heimat und der grossen Welt, wodurch die Suche nach dem eigenen Glück zu einer Suche nach der eigenen Identität wird. Das speziell für die Bühne adaptiere Kindermärchen könnte als sinnbildlich für den vom Medienverantwortlichen der Lia Rumantscha, Andreas Gabriel, als «hochpolitisch» bezeichneten Charakter des Festivals betrachtet werden. Das Programm wurde grundsätzlich auf Romanisch durchgeführt, war jedoch auch in anderen Sprachen verfolgbar. So wurde das Theaterstück auf Deutsch und Italienisch übertitelt, also genau das, was Gabriel und andere «in umgekehrten Vorzeichen auch von den grösseren Sprachgemeinschaften erwarten würden, damit wir das Romanische im Alltag und in den politischen Diskussionen nicht aufgeben müssen.»

Gegründet wurde die Lia Rumantscha am 26. Oktober 1919 als Dachorganisation aller romanischen Sprach- und Kulturvereine. Sie hat ihren Hauptsitz in Chur. Die zentrale Figur der Entstehungsgeschichte war Giachen Conrad, ein Churer Postinspektor, der im April 1919 unter dem Titel «Kassandrastimmen vom Hinterrhein» einen Aufruf in der damaligen «Neuen Bündner Zeitung» startete. In seinem Kassandraruf verglich er das Romanische mit einem «Ertrinkenden», das durch den zunehmenden Tourismus Gefahr laufe zu «verdeutschen». Mit den Bahntunneln öffne man nun die «natürlichen Dämme gegen die fremde Flut» und grabe «alle Wälle ab, hinter welchen die kränkelnde Pflanze des Erbes unserer Väter noch etwas Schutz vor dem Nordwind fand.» Es gelte nun, eine «Phalanx» gegen diese Gefahr zu bilden, wie die «Südostschweiz am Wochenende» den Churer zitierte. Tatsächlich verfehlte der Weckruf seine Wirkung nicht, wurde doch auf Anregung der «Uniun rumantscha da Schons» die Bitte um eine Konferenz aller romanischen Sprachvereine von der «Societad Retorumantscha» gutgeheissen, sodass bereits im Juli 1919 eine Kommission mit der Ausarbeitung der Statuten und Satzungen der postulierten Dachorganisation beauftragt wurde. Am 26. Oktober 1919 fand schliesslich die Gründungsversammlung statt, an der Conrad zum ersten Präsidenten der Lia Rumantscha gewählt wurde. So kurzweilig sich die Entstehungsgeschichte auch lesen mag, so lässt sich dennoch nicht verleugnen, dass es sich hierbei um einen wahren Kraftakt handelte, wie der Romanist Rico Franc Valär zu berichten wusste: Es bestanden bedeutende idiomatische und konfessionelle Differenzen zwischen den verschiedenen Tälern, sodass ein gesamträtoromanisches Bewusstsein nie wirklich aufkommen konnte. Zudem musste die Dachorganisation bereits kurz nach ihrer Gründung eine bedeutende Bewährungsprobe überstehen: die Beschaffung der notwendigen finanziellen Mittel zur Existenzsicherung. Sowohl der Kanton Graubünden als auch der Bund zeigten sich zunächst nicht sonderlich begeistert von den «sprachpolitischen Unruhestiftern», hatten dann aber doch ein Einsehen.

Heute hat die Dachorganisation indes mit weitaus grösseren Problemen zu kämpfen: Der vor 100 Jahren ausgesandte Kassandraruf scheint in der Gegenwart angekommen zu sein. Das Romanische ist je länger, je mehr vom Aussterben bedroht; Erhebungen zufolge beherrschen zwischenzeitlich noch rund 60'000 bis 80'000 Personen die Sprache. Johannes Flury sieht das Hauptproblem in der Auswanderung aus den Tälern, zieht aber auch den Kanton Graubünden in die Verantwortung. Als Hauptverantwortlicher für die Erhaltung und Förderung der Sprache nehme dieser seine Verantwortung nur zögerlich wahr; Lehrmittel seien mangelhaft und es würden zu wenige romanischsprachige Lehrpersonen ausgebildet. Zudem sei in der Kantonsverwaltung ein zu geringes Bewusstsein für die Mehrsprachigkeit vorhanden. Der Kanton weist diese Vorwürfe von sich. Im Rahmen seiner dreitägigen Nationalfeiertagsreise fand sich auch Aussenminister Ignazio Cassis in Zuoz ein, wo er sich als offizieller Vertreter des Bundesrates in allen fünf Idiomen (Sursilvan, Sutsilvan, Surmiran, Puter, Vallader) für die Einladung bedankte und aufmunternde Worte an die Bevölkerung richtete: «Lassen Sie sich nicht entmutigen [...]. Die Schweiz braucht das Rumantsch.» Weiter kündigte er an, dass der Bund ab 2020 rätoromanische Sprachkurse für Kinder und Jugendliche ausserhalb des angestammten rätoromanischen Sprachgebiets unterstützen werde, und brachte auch die Idee einer rätoromanischen Woche, einer «emna da la lingua rumantscha» ein – in Anlehnung an die Anlässe, die die italienische und französische Sprache und Kultur in den Fokus setzen. Gemäss Johannes Flury wird es das Romanische auch in 100 Jahren noch geben, die Frage sei lediglich, in welchem Zustand es dann sein werde. Die Solidarität der übrigen Schweiz für die Sprache habe man aber bereits seit der Gründung immer gespürt: «Die Schweiz ist für uns im Jahr 1938 eingestanden, aber auch heute. Alle, wirklich alle Kantone haben sich an unserem Fest beteiligt.»

Was hingegen im Rahmen der Feierlichkeiten bewusst ausgespart wurde, war das «Rumantsch Grischun», da der Präsident der Dachorganisation um den «fragilen Sprachfrieden» fürchtete. Die Schriftsprache wurde 1982 auf Initiative der Lia Rumantscha vom Zürcher Linguisten Heinrich Schmid quasi ab dem Reissbrett entwickelt und war als Rettung des Rätoromanischen angedacht gewesen. Über die Jahre gesehen wurde die vielbesagte Rettung jedoch immer mehr zum Zankapfel und die Idee, eine Brücke von der Standardsprache zu den bestehenden fünf Idiomen zu schlagen, gilt bereits jetzt als gescheitert. Tatsächlich hat der Widerstand gegen das Rumantsch Grischun in den letzten Jahren stark zugenommen; dieses wird besonders im schulischen Kontext abgelehnt, weshalb es nicht verwundert, dass auch aktuell wieder in zwei Oberhalbsteiner Gemeinden (Lenz Albula und Surses) per Initiative dessen Abschaffung aus dem Schulunterricht gefordert wird. Sollte dies tatsächlich eintreten, würde das Rumantsch Grischun nur noch in den zweisprachigen Schulen in Chur, Trin und Domat/Ems unterrichtet werden.

100 Jahre Lia Rumantscha

Rund zwei Jahre nach der Ankündigung der Somedia AG, die rätoromanische Tageszeitung «La Quotidiana» nicht mehr mitfinanzieren zu wollen, und der damit aufgeworfenen Frage um die Zukunft der romanischen Medienlandschaft im Allgemeinen stellten Vertreterinnen und Vertreter der romanischen Medien im Frühjahr 2019 ein neues Medienkonzept vor, von dem sie sich eine Entlastung der Situation erhofften. Im Rahmen des Projektes «Medias rumantschas 2019» wollten öffentliche und private rätoromanische Medien ab Anfang 2020 zusammenspannen und täglich ein Medienangebot in der vierten Landessprache bereitstellen. Auf den Weg gebracht wurde das Konzept unter der Leitung der Lia Rumantscha. Mit von der Partie waren die Zeitungen «Engadiner Post/Posta Ladina», «La Quotidiana» und «La Pagina da Surmeir», die SRG-Tochter Radiotelevisiun Svizra Rumantscha (RTR), die Somedia AG sowie die ehemalige Agentura da Novitads Rumantscha (ANR). Letztere war im Rahmen der Neukonzeption in die unabhängige Stiftung «Fundaziun da medias rumantschas» (FMR) überführt worden, welche sich in einem wesentlichen Punkt von ihrer Vorgängerin unterschied: Vertreterinnen und Vertreter von Medienhäusern mit Leistungsvereinbarungen erhielten keinen Einsitz mehr in den FMR-Stiftungsrat, sondern sollten ihre Anliegen an einen der FMR beigeordneten Konsultationsrat richten. Während der Kernauftrag der FMR in der Sicherstellung der medialen Versorgung der rätoromanischen Bevölkerung in Textform lag, sollte RTR in erster Linie Nachrichten und Aktualitäten beisteuern. Derweil investiere Somedia in den Vertrieb, die Verbreitung und das Marketing, wie Somedia-Geschäftsführer Silvio Lebrument gegenüber den Medien erläuterte.
Das von der FMR und RTR in allen fünf Idiomen und auf Rumantsch Grischun produzierte Textangebot soll allen beteiligten Partnern kostenlos und zur gleichberechtigten Verwendung auf einer Plattform zur Verfügung gestellt werden. Damit dieser erweiterte Auftrag erfüllt werden kann, genehmigte die Bündner Regierung im Dezember 2019 die neue Leistungsvereinbarung mit der FMR, welche die bestehende Vereinbarung mit ANR für die Legislaturperiode 2017–2020 ersetzt. Neu werden ab 2020 die jährlichen Bundes- und Kantonsbeiträge an die Stiftung um je CHF 300'000 erhöht. Für das Jahr 2020 erhält die FMR folglich CHF 745'000 an Kantonsbeiträgen und rund CHF 1 Mio. an Bundesbeiträgen.

Quotidiana

Nicht nur in der Romandie sondern auch im rätoromanischen Sprachraum sorgte man sich 2017 stark um die Zukunft der eigenen Presse. So teilte das Somedia-Verlagshaus im März 2017 dem Bündner Regierungsrat Martin Jäger (GR, sp) sowie der rätoromanischen Nachrichtenagentur ANR mit, dass man das Defizit der Quotidiana nicht mehr länger tragen wolle. Die einzige rätoromanische Tageszeitung – mit Regionalteilen in den fünf Idiomen und einem Hauptteil in Rumantsch Grischun – solle in Zukunft in der Verantwortung der ANR liegen, diese solle also auch für die Personal- und Honorarkosten aufkommen. Bisher hatte die von Bund und Kanton finanzierte Nachrichtenagentur der Quotidiana Texte und Bilder geliefert, mehr sei aber gemäss Sprachengesetz nicht möglich, erklärte Jäger. Auch ein weiterer möglicher Lösungsvorschlag von Somedia-CEO Andrea Masüger, aus dem rätoromanischen Radio und Fernsehen sowie der Quotidiana ein gemeinsames Mediengefäss zu schaffen, fand kaum Anklang, auch wenn eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Radio, Fernsehen und Zeitung gemäss ANR-Stiftungsrat Martin Candinas (cvp, GR) Sinn machen könne. Gemäss Quotidiana-Chefredaktor Martin Cabalzar sei das Überleben der Zeitung nur schon für das Überleben der rätoromanischen Sprache zwingend. Sprachen müssten sich weiterentwickeln können, sprachliche Neuschöpfungen im Rahmen von Zeitungsartikeln seien dafür unerlässlich.
In der Sondersession 2017 reichte Candinas eine Interpellation (Ip. 17.3316) zur Frage ein, wie es mit der Quotidiana weitergehen solle. Bald wurde klar, dass die Zeitung alleine nicht würde überleben können. Dennoch könne ihr von Kanton oder Bund nicht direkt geholfen werden, da die Medien unabhängig bleiben müssten, erklärte zum Beispiel Martin Jäger. Schliesslich entschied der Bundesrat, sich an einer Übergangsfinanzierung für das Jahr 2018 zu beteiligen: Bund, Kanton und Lia Rumantscha, die romanische Sprachorganisation, bezahlen je CHF 50'000 und Somedia übernimmt vorerst weiter die Kosten für die Herausgabe. Fürs Jahr 2019 gab die Bündner Regierung bekannt, dass sie ein langfristiges Konzept mittragen und mitfinanzieren würde. Um abzuklären, wie ein solches aussehen könnte und welche Bedürfnisse die Bürger hätten, führte Lia Rumantscha im September 2017 im Rahmen des Projekts „Medias rumantschas 2019“ eine repräsentative Telefonumfrage durch. Bis Herbst 2018 sollen demnach konkret umsetzbare Ideen der Projektleitung vorliegen.

Quotidiana

Sport verbindet, und zwar im Jahr der Olympischen Winterspiele in Sotschi die Rätoromanen mit dem Rest der Welt. Die beachtlichen Leistungen der Athletinnen und Athleten rätoromanischer Muttersprache, allen voran Doppel-Goldmedalliengewinner Dario Cologna, gefolgt von Kombinationssieger Sandro Viletta und den beiden Silbermedaillengewinnern Selina Gasparin und Nevin Galmarini, fanden auf internationaler Plattform nicht nur die verdiente sportliche Anerkennung, sondern förderten darüber hinaus breites Interesse an der rätoromanischen Sprache und Kultur zu Tage. Urs Gadruvi, Generalsekretär der Lia Rumantscha, berichtete von Mitarbeitenden der Radiotelevisiun Svizra Rumantscha (RTR), die mehr damit beschäftigt waren, Interviews zu ihrer Herkunft zu geben als selber Interviews zu führen.

Athletinnen und Athleten rätoromanischer Muttersprache

Der Bündner Sprachenstreit zog sich auch im Berichtsjahr weiter. Der Ende 2011 gefällte wegweisende Entscheid der Bündner Regierung, wonach der Schulunterricht ausschliesslich für zukünftige Primarschüler ab dem Schuleintritt in den verschiedenen Idiomen abgehalten werden kann, wurde vom Bundesgericht gestützt. Die Beschwerde von betroffenen Eltern, deren Kinder im Rahmen eines Pilotversuchs mit der Unterrichtssprache Rumantsch Grischun eingeschult worden waren und die nun eine Rückkehr zu den Idiomen forderten, wurde somit abgelehnt. Um in Zukunft einen zeitgemässen Unterricht in Sursilvan, Sutsilvan, Puter und Vallander gewährleisten zu können, beschloss die Bündner Regierung im November, bis im Mai 2014 ein Konzept zur Erstellung neuer Lehrmittel in den Idiomen zu erarbeiten. Mit diesem Entscheid gaben sich die Lia Rumantscha und Pro Idioms Engiadina – wenn auch nicht ohne Vorbehalte – zufrieden. Die Bündner Elterngruppe kündigte indes an, ihre Beschwerde an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weiterzuziehen.

Neuauflage des Bündner Sprachenstreits

Das Berichtsjahr erlebte eine Neuauflage des Bündner Sprachenstreits. Die Befürworter der einheitlichen rätoromanischen Schrift- bzw. Standardsprache Rumantsch Grischun sahen sich mit einer durch Gemeindebehörden und Kulturschaffende unterstützten Bewegung konfrontiert, die das Rumantsch Grischun als Alphabetisierungssprache aus den Bündner Schulzimmern verbannt haben wollte. Zwar obliegt die Wahl der Unterrichtssprache kommunaler Kompetenz, die Lehrmittelgestaltung hingegen untersteht dem kantonalen Lehrmittelverlag. Gemäss Grossratsbeschluss von 2003 werden die kantonalen Schulbücher seit 2005 aus Spargründen und zur Stärkung des grundsätzlich gefährdeten Rätoromanischen neben Deutsch und Italienisch in der rätoromanischen Standardsprache verlegt. Insbesondere im Unterengadin, im Münstertal und im Bündner Oberland regte sich aus Angst vor einer Schwächung der lokalen Idiome Widerstand. Organisiert in sogenannten Pro-Idioms-Vereinen wehrten sich die Gegner der Standardsprache gegen die schulpolitische Bevorzugung einer Kunstsprache auf Kosten der lokalen Idiome. Ende März wurde im Münstertal eine Initiative gegen das Rumantsch Grischun als Alphabetisierungssprache eingereicht, das die Münstertaler nach Inkrafttreten des kantonalen Sprachengesetzes (2007) als eine Pioniergemeinde eingeführt hatten. Ähnliche Bestrebungen zurück zum lokalen Schriftidiom gab es auch im surselvischen Ilanz. Ende des Berichtsjahrs präsentierte die Dachorganisation Lia Rumantscha einen Kompromissvorschlag zum Sprachenstreit. Dabei sollen die Schulen zwischen einer Alphabetisierung im Idiom oder einer solchen in Rumantsch Grischun wählen können, müssen dabei aber passive Kenntnisse der jeweils anderen Sprache vermitteln. Nach dem Willen der Bündner Regierung und der vorbereitenden Grossratskommission sollen im revidierten Bündner Schulgesetz alle Idiome und Rumantsch Grischun einander künftig gleichgestellt sein.

Neuauflage des Bündner Sprachenstreits

Als das BFS Anfang Jahr die provisorischen Ergebnisse der Volkszählung 2000 bekannt gab, forderten die «Lia Rumantscha» (LR) sowie die im Vorjahr gegründete Gruppe der romanischsprachigen bündnerischen Grossrätinnen und Grossräte umgehend griffige Massnahmen, namentlich Weichenstellungen im Rahmen der Totalrevision der Kantonsverfassung und bei der Ausarbeitung des Bundessprachengesetzes. Ende März überreichte eine Initiantengruppe der Kantonsregierung ein «Manifest zur Lage des Rätoromanischen», das auch an Bundepräsident Villiger übermittelt wurde. Darin verlangten sie ein kantonales Kompetenzzentrum zur Förderung der romanischen Sprache sowie ein eigenes Sprachengesetz. Die romanischen Organisationen orteten in der Einführung des neuen Sprachenkonzeptes an den Bündner Schulen eine weitere Bedrohung des Rätoromanischen. Sie verlangten insbesondere einen obligatorischen romanischen Erstsprachenunterricht an der Oberschule für Schüler aus romanischen Primarschulen. Als Mittel zur Förderung der rätoromanischen Sensibilität sieht die LR die unverzügliche Einführung der Standardsprache Rumantsch Grischun (RG) an allen Schulen, die heute in einem der Bündner Idiome unterrichten. Zudem soll RG an Mittelschulen und an der Pädagogischen Hochschule die wichtigste romanische Sprache werden. Auch die Kantonsregierung sieht eine Privilegierung des RG vor, doch möchte sie dabei gemächlicher vorgehen als die LR.

Vorschläge zur Förderung der romanischen Sprache

Die Bündner Kantonsregierung schlug dem Grossen Rat ein neues Kulturförderungsgesetz vor, welches auch die Sprachenförderung explizit aufnimmt. Für die Beiträge an die Lia Rumantscha und die Pro Grigioni Italiani fehlte bisher eine eindeutige gesetzliche Grundlage. Diese ist umso notwendiger, als das im Vorjahr angenommene eidgenössische Finanzhilfegesetz die Bundesleistungen von kantonalen Eigenleistungen abhängig macht. Für die Sprachenförderung sind aus den ordentlichen Mitteln CHF 0.8 Mio. vorgesehen; den wesentlichen Beitrag leistet hier mit CHF 4.75 Mio. der Bund.

Kulturförderungsgesetz

Die alle drei Jahre stattfindende "Scuntrada rumantscha" stand ganz im Zeichen sprachpolitischer Fragen. Schwerpunkte der Veranstaltung waren die Themenbereiche "Schule und Sozialisation", "Formen und Normen" sowie "Kommunikation". Abschluss und Höhepunkt der diesjährigen "Scuntrada" bildete der Festakt zum 75-Jahr-Jubiläum der "Lia Rumantscha", an dem auch Nationalratspräsidentin Gret Haller und BAK-Direktor David Streiff teilnahmen.

"Scuntrada rumantscha" im Zeichen des 75-Jahr-Jubiläums der Lia Rumantscha

Um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, verlangte die mit der Vorberatung des Sprachenartikels betraute nationalrätliche Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur in einer als Postulat überwiesenen Motion, dass das Bundesgesetz über die Sprachförderung in den Kantonen Graubünden und Tessin unverzüglich in dem Sinn zu revidieren sei, dass zur Stärkung der bedrohten rätoromanischen Sprache erheblich höhere Mittel bereitzustellen sind. Dies nahm die Lia Rumantscha, das Dachorgan der Romanen, zum Anlass, einen acht Punkte umfassenden dringlichen Massnahmenkatalog zu verfassen, welcher von der Bündner Regierung ans EDI weitergeleitet wurde. Angeregt wurde unter anderem eine Stärkung der Schulen in Gemeinden mit vielen fremdsprachigen, d.h. nichtromanischen Schülerinnen und Schülern, die Schaffung eines Institutes für rätoromanische Linguistik und die Realisierung einer rätoromanischen Tageszeitung. Der Bundesrat anerkannte die Dringlichkeit von Massnahmen, vermisste in diesem Forderungskatalog aber den Grundsatz der Subsidiarität, weshalb er entsprechende Verhandlungen mit der Bündner Regierung aufnahm.

Dringlicher Massnahmenkatalog zur Erhaltung des Rätoromanischen

In Bern konnte Ende November nach längerem finanzierungsbedingtem Tauziehen die Gründung der "Maison latine" bekanntgegeben werden. Diese neue Begegnungsstätte zwischen deutscher und lateinischer Kultur wird getragen von einer Stiftung mit der Burgergemeinde Bern als Initiatorin, sowie von der Einwohnergemeinde Bern, den Kantonen Aargau, Freiburg, Graubünden, Solothurn, Tessin, Waadt und Wallis sowie den Organisationen Helvetia Latina, Pro Grigioni Italiani, Lia Rumantscha, Pro Ticino, Neue Helvetische Gesellschaft, Anciens Helvétiens Vaudois und der Vereinigung der Kader des Bundes als Mitstifter.

Eröffnung des "Maison latine" in Bern

In den letzten Jahren hatte sich die Kontroverse um das Rumantsch grischun in erster Linie am Vorhaben entzündet, eine primär in der Standardsprache verfasste romanische Tageszeitung zu lancieren. Am 1. Mai erschien die "Quotidiana" als Informationsnummer in einer Auflage von 25'000 Exemplaren erstmals an den Kiosken. Gleichzeitig übergab die Lia Rumantscha das Projekt dem Initiativverein Pro Svizra Rumantscha.

Romanische Tageszeitung "Quotidiana" erscheint erstmals

Gegen das vor allem von der Lia Rumantscha, dem Dachorgan der Rätoromanen, propagierte Rumantsch grischun regte sich weiterhin heftiger Widerstand. Anfangs Jahr reichte ein Komitee aus dem Bündner Oberland eine mit knapp 3000 Unterschriften versehene Petition gegen die Verwendung der Einheitssprache auf Bundesebene ein. Der Entscheid darüber, welches romanische Idiom als offiziell gelten solle, sei eine kantonale Angelegenheit Graubündens und falle nur der romanischsprechenden Bevölkerung zu, hiess es in der an Bundesrat Cotti gerichteten Bittschrift. Nach Auffassung der Petenten entspricht eine konsequente Förderung des Rumantsch grischun in keiner Weise dem Willen der romanischen Mehrheit.

Vehemente Gegner des Rumantsch grischun erwogen sogar, beim Europäischen Gerichtshof in Strassburg eine Klage wegen Verletzung der Menschenrechte einzureichen. Die Lia rumantscha beschloss hingegen, das Rumantsch grischun in den kommenden drei Jahren wie bisher anzuwenden.

Petition gegen das Rumantsch grischun

Mit einer Petition wollen Exponenten der Surselva die weitere Entwicklung und den Gebrauch des Rumantsch grischun stoppen. Die rund 60 Erstunterzeichner forderten Bundespräsident Cotti als Vorsteher des EDI auf, die in rätoromanischer Sprache verfassten Veröffentlichungen des Bundes nicht mehr auf Rumantsch grischun zu verbreiten. Sie gaben ihrer Auffassung Ausdruck, ohne minimste rechtliche Basis und gegen die Menschenrechte werde hier in Unkenntnis des Willens der Mehrheit der Rätoromanen eine Sprache entwickelt, welche die Substanz der in Jahrhunderten entwickelten und gewachsenen Idiome schmälere und den Niedergang des Rätoromanischen vorantreibe. Die Petition wurde anfangs Januar 1992 mit über 2600 Unterschriften eingereicht. In seiner Botschaft zum revidierten Sprachenartikel hat sich der Bundesrat dagegen klar für die Verwendung des Rumantsch grischun ausgesprochen. Zudem beschloss die Lia Rumantscha, weiterhin überzeugt am Rumantsch grischun und am Projekt einer in der Einheitssprache verfassten Tageszeitung ("Quotidiana") festzuhalten; in einer nahezu einstimmig verabschiedeten Resolution wurde der Bundesrat aufgefordert, mit den Übersetzungen ins Rumantsch grischun wie bisher weiterzufahren.

Zu den neu ins Rumantsch Grischun übersetzten offiziellen Texten gehört nun auch das Schweizerische Zivilgesetzbuch (ZGB).

Petition gegen das Rumantsch grischun

Zum drittenmal nach 1985 und 1988 fand die "Scuntrada rumantscha", die Woche der Begegnung von und mit den Rätoromanen statt. Das Programm unter der Leitung der Lia Rumantscha, dem Dachverband der Romanen, beleuchtete in Vorträgen, Podiumsdiskussionen und kulturellen Darbietungen sowie verschiedensten Kursen aktuelle Probleme der Rätoromanen. Die "Scuntrada 91" stand unter dem Motto "Begegnung auch mit andern"; Sprachpolitik aus gesamtheitlicher und internationaler Sicht war denn auch einer der Schwerpunkte der Begegnungs- und Arbeitswoche, aber auch das Verhältnis zwischen der nicht selten ausserhalb des Sprachgebiets lebenden "Elite" und dem daheimgebliebenen "Fussvolk". Hier stand einmal mehr das Problem des "Rumantsch grischun" zur Diskussion, einer den rätoromanischen Dialekten aufgesetzten Einheitssprache, deren Ausarbeitung und Verbreitung in erster Linie von — meist im Unterland lebenden — jüngeren Intellektuellen getragen wird.

Mit den Besonderheiten der Schaffung einer Kunstsprache hatte sich zudem bereits im April in Parpan und Chur ein internationales Kolloquium über Standardisierung von Sprachen befasst.

Scuntrada rumantscha

Aus rechtlichen Gründen und um den Sprachfrieden nicht zu gefährden, will die Bündner Regierung keine Konsultativabstimmung für oder gegen das Rumantsch grischun oder die "Quotidiana" durchführen, wie dies ein im Vorjahr eingereichter parlamentarischer Vorstoss gefordert hatte. Um aber den Volkswillen zu diesen beiden heiklen Themen zu erkunden, erachtet die Kantonsregierung die Durchführung einer nach wissenschaftlichen Methoden angelegten Meinungsumfrage als sinnvoll. Die Bündner Exekutive verhehlte allerdings nicht, dass sie dem Projekt einer romanischen Tageszeitung nach wie vor skeptisch gegenübersteht, umso mehr als die Bündner Zeitungsverleger sich nach einer Denkpause erneut vehement gegen eine Zusammenarbeit mit der Lia Rumantscha aussprachen.

Keine Konsultativabstimmung für oder gegen das Rumantsch grischun

Ohne grosse Aussicht auf Einigung wurden die Auseinandersetzungen im Kanton Graubünden geführt, wo sich die Verfechter des Rumantsch Grischun und dessen Gegner seit Jahren in den Haaren liegen. Im Berichtsjahr entzündete sich die Kontroverse vor allem an der Absicht der Lia Rumantscha (LR), mit der schon seit längerem zur Diskussion stehenden "Quotidiana", einer rätoromanischen Tageszeitung mit Beiträgen in den einzelnen Idiomen und einem 'Mantel' in Rumantsch Grischun, endlich konkret vorwärtszumachen. Die Absichten der LR stiessen bei den Bündner Zeitungsverlegern rasch auf Widerstand. Vor allem die älteste und grösste romanische Zeitung, die in Disentis erscheinende "Gasetta Romontscha" wehrte sich vehement dagegen, ein einheitliches romanisches Presseerzeugnis womöglich mit dem Preis der Selbstaufgabe bezahlen zu müssen. Dass es der LR gelang, den Chefredaktor der "Gasetta", Giusep Capaul, als Projektleiter für die neue Zeitung zu gewinnen, verhärtete die Fronten eher noch. Capaul steht nun vor der Aufgabe, eine Trägerschaft zu bilden sowie Personal und Finanzen zu beschaffen. Bei Letzterem hofft die LR aufs EDI, welches allerdings hatte durchblicken lassen, dass eine abschliessende Beurteilung erst nach Vorliegen eines spruchreifen Konzepts möglich sei. Die Kantonsregierung zeigte sich hingegen skeptisch und wies auf das Fehlen gesetzlicher Grundlagen für die Erteilung ständiger Subventionen hin. Im Bündner Parlament verlangte der SVP-Grossrat Jon Morell Ende Jahr in einer Interpellation, der Bündner Souverän solle mit einer Konsultativabstimmung zur romanischen Tageszeitung und zum Rumantsch Grischun Stellung nehmen können.
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"Quotidiana", rätoromanischen Tageszeitung