Nach dem mit Spannung erwarteten Treffen zwischen Bundespräsident Parmelin und der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula Von der Leyen, am 23. April 2021 schien die Lage mehr oder weniger unverändert. Die Verhandlungen zu einem Rahmenabkommen wurden nicht abgebrochen, angenähert hatte man sich aber auch nicht und darüber hinaus seien auch keine weiteren Treffen vereinbart worden, berichtete die NZZ am Folgetag. «Wir haben festgestellt, dass wir in unseren Positionen weiterhin erhebliche Differenzen haben», fasste Bundespräsident Parmelin die Ergebnisse des eineinhalbstündigen Gesprächs vor der Presse lapidar zusammen. Der Chefsprecher der EU-Kommission erklärte im Nachgang des Treffens, dass die Schweiz die drei umstrittenen Bereiche gänzlich aus dem Abkommen herauslösen wolle, was aus Sicht der EU «nicht akzeptabel» sei. Dennoch zeigte sich die EU für weitere Verhandlungen offen und forderte die Schweiz auf, Kompromisse einzugehen. Bundesrat Parmelin liess verlauten, dass der Gesamtbundesrat die Situation analysieren werde und dafür auch die zuständigen Parlamentskommissionen, die Kantone und die Sozialpartner konsultieren wolle. Im Interview mit dem Sonntagsblick meinte Guy Parmelin, dass eine Verhandlung «immer das Risiko eines Scheiterns» beinhalte, wobei die Verhandlungen mit der EU aber noch nicht vorbei seien. Er deutete dabei an, dass der Bundesrat «immer in Alternativen denkt», relativierte aber zugleich, dass eine Diskussion über Alternativen zum Rahmenabkommen noch verfrüht sei. Die Stimmbevölkerung solle aber nur dann über das Abkommen entscheiden dürfen, wenn der Bundesrat von dessen Inhalt überzeugt sei.
Die Reaktionen der Schweizer Parteien verdeutlichten die Ungewissheit über den Zustand des Rahmenabkommens. Während die SVP offiziell die Beerdigung des Rahmenvertrags forderte, begrüsste die FDP die Weiterführung der Gespräche. Jürg Grossen (glp, BE) kritisierte, dass der Bundesrat Maximalforderungen eingebracht habe, womit er mutwillig das Scheitern des Abkommens riskiert habe. Economiesuisse und Swissmem bedauerten die ausbleibenden Fortschritte, wohingegen die Mitte und die SP bekräftigten, den Vertrag in der vorliegenden Form ablehnen zu wollen. Die Gewerkschaften zeigten sich weiterhin unerbittlich und hielten daran fest, das Abkommen zu blockieren, solange der Lohnschutz nicht davon ausgenommen werde. Ausgerechnet in der SP – die sich lange auf diesen Standpunkt gestellt hatte – regte sich nach dem Treffen jedoch vereinzelt Widerstand gegen diese Haltung. Eine Gruppe prominenter Parteimitglieder – darunter Alt-Bundesrat Moritz Leuenberger und Nationalrat Molina (sp, ZH) – setzten sich hingegen dafür ein, dass der Lohnschutz zwar ins Abkommen aufgenommen wird, dort aber garantiert wird. Diesem Vorgehen diametral entgegen stand SGB-Präsident Maillard, der den EuGH nicht an der Auslegung der Schweizer Lohnschutzmassnahmen teilhaben lassen wollte. Die APK-NR gab in einer Stellungnahme bekannt, dass sie den Bundesrat dazu auffordere, erneut Kompromissvorschläge auszuarbeiten, um die drei offenen Punkte zu lösen – flankierende Massnahmen, Unionsbürgerrichtlinie und staatliche Beihilfen – und das Abkommen zeitnah abzuschliessen. Die APK-SR machte sich hingegen bereits auf ein Scheitern des Rahmenabkommens gefasst und nahm einen Antrag an, der vom Bundesrat ein aussenpolitisches Konzept forderte, in dem dieser aufzeigen solle, wie die Beziehungen mit der EU im Sinne eines «Modus Vivendi» für die kommenden Jahre konstruktiv und stabil gestaltet werden könnten.
Die EU schien nach dem ergebnislosen Spitzentreffen auf Nebenschauplätzen zusätzlichen Druck auf die Schweiz aufbauen zu wollen. Am 26. April berichtete die NZZ über Aussagen einer EU-Beamtin, dergemäss die Gespräche über die Teilnahme am Forschungsprogramm Horizon Europe erst dann beginnen würden, wenn die Schweiz den zweiten Kohäsionsbeitrag freigegeben habe. Dieser war von der Schweiz blockiert worden, nachdem die EU der Schweiz die Börsenäquivalenz entzogen hatte. Wegen der fehlenden Assoziierung der Schweiz an Horizon Europe wurde zudem Anfang Mai der Aufnahmeantrag der SBB für ein paneuropäisches Bahnprojekt sistiert und der Tages-Anzeiger vermutete auch hinter der Aufhebung der Exportkontrolle für Corona-Impfstoffe der EU für Liechtenstein eine Ungleichbehandlung gegenüber der Schweiz.
Für Aufsehen sorgte wenige Tage nach dem Treffen in Brüssel die Veröffentlichung des Schweizer Verhandlungsmandats, welches gegen den Willen des Bundesrats an die Medien gelangt war. Die NZZ stellte fest, dass die Schweiz in den drei strittigen Punkten zwar weitreichende Eingeständnisse gefordert habe, diese jedoch nicht so weit gingen, wie es die EU dargestellt hatte. So habe die Schweiz zwar den expliziten Ausschluss gewisser Aspekte, aber keinen vollständigen Ausschluss der Unionsbürgerrichtlinie gefordert. Als Knackpunkt erwies sich offensichtlich vor allem das «Recht auf Daueraufenthalt», da das EJPD Fürsorgeabhängigkeit und erschwerte Ausschaffungsbedingungen befürchtete.
In der Zwischenzeit blieb auch das Parlament nicht untätig. Die FDP-Fraktion sowie Aussenpolitikerinnen und Aussenpolitiker verschiedener Parteien verlangten vom Bundesrat eine Stellungnahme zu den potenziellen Risiken im Falle eines Scheiterns des Rahmenabkommens. Hervorgehoben wurden in der Interpellation (Ip. 21.3516) vor allem die auslaufenden Marktzugangsabkommen sowie die Nachteile bei Forschungs- und Bildungsprogrammen. Auch die APK-NR wurde aktiv und forderte vom Bundesrat die Herausgabe eines als geheim deklarierten Dokuments, welches die negativen Folgen eines Scheiterns im Detail darstellte. Nationalrätin Schneider-Schneiter (mitte, BL) liess verlauten, dass der Inhalt dieser Studie zentral für die Meinungsbildung sei, und ihr Ratskollege Nussbaumer (sp, BL) befand es für «unsäglich», wie der Bundesrat in diesem Dossier die «Rechte des Parlaments beschnitten» habe.
Während die Meinungsbildung der Aussenpolitikerinnen und Aussenpolitiker noch im Gange war, verlangten die Kantone vom Bundesrat die Fortführung der Verhandlungen. Auch aufseiten der EU fand sich weiterhin Unterstützung für das Rahmenabkommen. Am 11. Mai trafen sich die Europa-Minister der 27 EU-Mitgliedstaaten und ermutigten die Kommission dazu, die Verhandlungen mit der Schweiz nicht abzubrechen, sondern eine einvernehmliche Lösung zu erarbeiten. Weiterhin blieb jedoch unklar, welche Form eine derartige Lösung annehmen könnte, da beide Seiten keine weiteren Kompromisse einzugehen bereit waren. Die NZZ und der Tages-Anzeiger zeigten sich am 14. Mai in ihrer Berichterstattung etwas überrascht davon, dass Verteidigungsministerin Amherd dem Gesamtbundesrat einen «Plan B» vorgelegt habe. In einer Phase, in der viele Politiker das Abkommen bereits für tot erklärt hätten, setzte sich Amherd für ein Entgegenkommen der Schweiz ein. Ihr Vorschlag sah vor, dass die Schweiz die Unionsbürgerrichtlinie übernähme und im Gegenzug eine Schutzklausel eingeführt würde, mithilfe derer man die neuen Regeln in den ersten Jahren widerrufen könne, falls gewisse Grenzwerte überschritten würden. Damit wolle Amherd den Ergebnissen einer ersten bundesrätlichen Aussprache entgegenwirken, bei der eine Mehrheit der Ratsmitglieder zum Abbruch der Verhandlungen tendiert habe, wie der Tages-Anzeiger berichtete. Amherds Vorschlag fand Zuspruch bei der APK-NR, die wenige Tage darauf den Bundesrat zur Anpassung des Verhandlungsmandats aufforderte, um doch noch einen Kompromiss zu ermöglichen. Zudem machte sie wie zuvor schon ihre Schwesterkommission deutlich, dass der Verhandlungsabbruch ohne Konzept für die Weiterführung der bilateralen Verträge keine Möglichkeit darstelle. Schliesslich manifestierte sich auch in der Zivilbevölkerung Widerstand gegen das drohende Verhandlungsende. Eine «Allianz von Europafreunden», wie der Tages-Anzeiger sie bezeichnete, erarbeitete einen Initiativtext, um das Rahmenabkommen notfalls vor das Stimmvolk zu bringen. Diese Allianz setzte sich auf unterschiedlichen Interessensgruppen zusammen, darunter die Operation Libero, das Komitee «Progresuisse», aber auch die Alt-Bundesräte Arnold Koller (cvp) und Doris Leuthard (cvp).

Abbruch der Verhandlungen über das Rahmenabkommen mit der EU
Dossier: Institutionelles Rahmenabkommen