Nachdem sich der Ständerat im Vorjahr lediglich für eine formale Revision der Bundesverfassung ausgesprochen hatte, gelangte das Geschäft im Sommer an den Nationalrat. Hier setzte sich eine Minderheit aus FDP und NA für den Abbruch des vor über zwanzig Jahren begonnenen Unterfangens ein, da eine tragende Idee im Volk nicht zu erkennen sei. Auch die Kommissionsmehrheit war der Ansicht, die gegenwärtige Zeit der Wende und der Neubesinnung hätte der Totalrevision den Stellenwert genommen, den sie in den sechziger Jahren noch gehabt hätte. Wegen der offensichtlichen formaljuristischen Mängel, die die bereits 127mal teilrevidierte Verfassung aufweist, beantragte die Kommissionsmehrheit aber doch, dem Beschluss des Ständerates zu folgen. Nur die Ratslinke setzte sich, zusammen mit der LdU/EVP-Fraktion, für eine materielle Totalrevision ein, die den geänderten gesellschaftlichen Verhältnissen Rechnung tragen sollte, indem sie zum Beispiel die Sozialrechte – etwa im Bereich des Ausländerrechts – und ökologische Notwendigkeiten neu definiere. Die Ratsmehrheit wandte sich jedoch gegen den Versuch, chancenlose Partialrevisionen im Schutz einer Totalrevision zu verwirklichen. Bundesrätin Kopp, die sich für den Beschluss des Ständerates einsetzte, erhielt schliesslich den gewünschten Auftrag, die bestehende Verfassung formal zu revidieren und mit dem bestehenden ungeschriebenen Verfassungsrecht (etwa dem System des Vernehmlassungsverfahrens) zu ergänzen. Sie behielt sich aber vor, auch sich aufdrängende Neuerungen, wie etwa die Gesetzes- oder die Einheitsinitiative, als Varianten vorzuschlagen.

Fünf Monate nach diesem Beschluss des Nationalrates wurde als Pionierwerk die erste Teillieferung eines umfangreichen, von bekannten Staatsrechtlern verfassten Kommentars zur geltenden Bundesverfassung vorgestellt. Als Ziele ihrer Anstrengung nannten die Herausgeber das Ausmerzen bestehender Rechtsunsicherheiten und das Erreichen einer höheren normativen Lenkungskraft der Verfassung. Der Kommentar bezieht sich nicht nur auf das geschriebene, sondern auch auf das durch die Verwaltungspraxis oder durch Bundesgerichtsentscheide entstandene ungeschriebene Verfassungsrecht. Da die letzte Teillieferung ungefähr zu jenem Zeitpunkt erscheinen sollte, zu dem auch der Entwurf einer totalrevidierten Verfassung diskussionsreif sein dürfte, wurde der Verdacht geäussert, das gross angelegte Werk sei zur Unterstützung der bestehenden Grundordnung gedacht. Die Autoren bekannten sich jedoch zur anstehenden Totalrevision und betonten, dass auch die künftige Verfassung zu vielleicht zwei Dritteln auf der bestehenden aufbauen werde. Ausserdem könne der Kommentar die Diskussion um die neue Verfassung befruchten, da er die dazu unabdingbare Kenntnis der alten erhöhe.

Bericht über die Totalrevision der Bundesverfassung (BRG 85.065)
Dossier: Totalrevision der Bundesverfassung 1/2: Vorgeschichte (1966 bis 1996)