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Jahresrückblick 2023: Rechtsordnung

Das Jahr 2023 war im Bereich Rechtsordnung stark von straf- und zivilrechtlichen Fragen geprägt. Die in den vergangenen Jahren immer wieder virulent geführte Debatte über die terroristische, vor allem islamistisch motivierte, Gefährdung der Schweiz rückte angesichts des fortdauernden Kriegs in der Ukraine sowie des Kriegsausbruchs im Nahen Osten weiter in den Hintergrund. Stattdessen beschäftigten eher Cyberangriffe und die Angst vor russischer Spionage die Schweizer Sicherheitspolitik. (Für Cybersicherheit vgl. Jahresrückblick zur Landesverteidigung.)

Zudem nahm der Diskurs um Grund- und Menschenrechte in der Öffentlichkeit wieder mehr Raum ein, angetrieben unter anderem vom zunehmenden Augenmerk auf den Antisemitismus infolge des Nahostkonflikts (vgl. Jahresrückblick zu Kultur, Kirchen und religionspolitische Fragen sowie Jahresrückblick zur Aussenpolitik). Nach dem Angriff der Hamas Anfang Oktober kam es in den grossen Schweizer Städten zu Kundgebungen mit antiisraelischen Parolen, worauf in der Öffentlichkeit debattiert wurde, inwiefern an propalästinensischen Friedenskundgebungen antisemitisches und rechtsextremes Gedankengut verbreitet werde. Aus Sorge vor einer gewaltsamen Eskalation verhängte die Stadt Bern bis Weihnachten ein Demonstrationsverbot, was wiederum zu Protesten aufgrund der Grundrechtseinschränkung führte. In der Medienberichterstattung spiegelte sich diese Entwicklung in einem Anstieg in den Themenbereichen «Bürgerrechte» sowie «innere Konflikte und Krisen» gegen Ende Jahr wider (vgl. Abb. 1 der APS-Zeitungsanalyse). Auch über das ganze Jahr gesehen vereinnahmten diese beiden Themen einen höheren Anteil der Zeitungsberichterstattung als im Vorjahr (vgl. Abb. 2). Die gestiegene Sensibilität für die Antisemitismus-Thematik zeigte sich ebenso im Parlament, das im Laufe des Jahres eine Handvoll Vorstösse für ein Verbot von Nazisymbolen in der Öffentlichkeit behandelte und diese Forderung im Grundsatz unterstützte. Als «historischen Moment» bezeichnete der Bundesrat die Gründung der Nationalen Menschenrechtsinstitution im Mai 2023, das Resultat eines zwanzigjährigen Prozesses zur Förderung der Menschenrechte in der Schweiz.

Unter anderem von Menschenrechts- und Frauenorganisationen gefeiert wurde die Verabschiedung des revidierten Sexualstrafrechts durch die beiden Räte. Begleitet von einer lebhaften gesellschaftlichen Debatte rangen die Räte bei der Revision des Sexualstrafrechts insbesondere um eine neue, zeitgemässe Definition von Vergewaltigung, die sie letztlich in der sogenannten erweiterten Widerspruchslösung fanden. Damit sind sexuelle Handlungen künftig strafbar, wenn sie gegen den Willen – aber im Unterschied zur Zustimmungslösung nicht «ohne Einwilligung» – einer Person vorgenommen werden oder wenn ein Schockzustand für sexuelle Handlungen ausgenutzt wird. Dass das Opfer nachweisbar zur sexuellen Handlung genötigt wurde, ist mit der neuen Regelung indes nicht mehr erforderlich. Im Unterschied zum alten Recht, wonach nur Frauen Opfer einer Vergewaltigung sein konnten, spielt das Geschlecht des Opfers im revidierten Sexualstrafrecht keine Rolle mehr. Mit Verabschiedung der Sexualstrafrechtsrevision brachten die eidgenössischen Räte im Sommer 2023 eines der grössten Gesetzgebungsprojekte der 51. Legislatur zum Abschluss: die unter dem Titel «Harmonisierung der Strafrahmen» durchgeführte Revision des Besonderen Teils des Strafgesetzbuches (BT). Ziel der Strafrahmenharmonisierung war es, die aus den 1940er-Jahren stammenden Strafen mit den heutigen Werthaltungen in Einklang zu bringen und deren Verhältnis zueinander neu auszuloten. Noch während das Sexualstrafrecht zu Ende debattiert wurde, traten die ersten beiden Vorlagen des BT-Revisionsprojekts, die in erster Linie die Strafen für Gewaltdelikte erhöhten, am 1. Juli 2023 bereits in Kraft.

Als weiteres Grossprojekt schloss das Parlament im Frühling 2023 die Revision der Zivilprozessordnung ab. Mit einer Vielzahl punktueller Anpassungen sollten festgestellte Schwachstellen der 2011 in Kraft getretenen Zivilprozessordnung ausgebessert und insgesamt deren Praxistauglichkeit verbessert werden. Ein von der Einigungskonferenz vorgeschlagener Kompromissvorschlag wurde schliesslich in beiden Räten breit mitgetragen. Nachdem im Sommer auch die Referendumsfrist ungenutzt verstrichen ist, wird das revidierte Zivilprozessrecht planmässig am 1. Januar 2025 in Kraft treten können.

Weiter stand 2023 im Zivilrecht das Erbrecht auf der politischen Agenda. Mit der Überarbeitung des sechsten Kapitels des IPRG über das internationale Erbrecht sollten Kompetenzkonflikte mit ausländischen Behörden minimiert und sich widersprechende Entscheidungen in internationalen Erbrechtsfällen verhindert werden. Zwischen den Kammern entbrannte ein erbitterter Streit über einige Punkte, so etwa um die Frage, ob Schweizer Doppelbürgerinnen und -bürger wählen können sollen, dem Recht welches ihrer Heimatstaaten sie ihren Nachlass unterstellen wollen. Nach erfolgreicher Kompromissfindung konnte die Vorlage in der Wintersession 2023 schliesslich verabschiedet werden. Im Hinblick auf das innerstaatliche Erbrecht trat am 1. Januar 2023 die erste Etappe der laufenden Erbrechtsrevision in Kraft, die in erster Linie die Pflichtteile reduzierte und damit die Verfügungsfreiheit der Erblasserinnen und Erblasser erhöhte. Die zweite Etappe zur Erleichterung der Unternehmensnachfolge kam im Sommer 2023 ins Parlament, wobei der Ständerat im Unterschied zum Nationalrat nicht auf den Entwurf eintreten wollte.

Darüber hinaus trieben Bundesrat und Parlament 2023 die Digitalisierung in der Justiz voran. Mit der Verabschiedung des Bundesgesetzes über die Digitalisierung im Notariat ebneten die eidgenössischen Räte den Weg für die elektronische Ausfertigung von Urkunden und Beglaubigungen. Damit muss das Originaldokument künftig nicht mehr in Papierform erstellt werden. Zur sicheren Aufbewahrung der elektronischen Originaldokumente wird ein nationales Urkundenregister geschaffen. Um den elektronischen Rechtsverkehr generell zu ermöglichen, war im Parlament zudem das Bundesgesetz über die Plattformen für die elektronische Kommunikation in der Justiz hängig, wo es vom Erstrat positiv aufgenommen wurde.

Nach der grossen gesellschaftlichen Kontroverse um das Verbot zur Verhüllung des Gesichts, die rund um die 2021 angenommene Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» ausgefochten worden war, ging die Umsetzung der Initiative geradezu ereignisarm vonstatten. Beide Parlamentskammern verabschiedeten den Entwurf zum Bundesgesetz über das Gesichtsverhüllungsverbot unverändert und mit grossen Mehrheiten. Auch in der Gesellschaft war kein grösserer Widerstand mehr vernehmbar, sodass die im Januar 2024 endende Referendumsfrist wohl ungenutzt verstreichen wird.

Für neue Kontroversen sorgen dürfte hingegen die im Mai 2023 lancierte Volksinitiative «für ein modernes Bürgerrecht». Die sogenannte Demokratie-Initiative fordert, dass Ausländerinnen und Ausländer schweizweit Anspruch auf Einbürgerung haben, wenn sie sich seit fünf Jahren rechtmässig in der Schweiz aufhalten, zu keiner längeren Freiheitsstrafe verurteilt wurden und über Grundkenntnisse einer Landessprache verfügen. Die hinter der Initiative stehende «Aktion Vierviertel» sieht in der tiefen Einbürgerungsquote ein Demokratiedefizit, weil rund ein Viertel der zur Schweizer Gesellschaft gehörenden Menschen politisch nicht mitbestimmen darf.

Jahresrückblick 2023: Rechtsordnung
Dossier: Jahresrückblick 2023

Der Nationalrat nahm in der Wintersession 2023 stillschweigend eine Motion der SiK-NR für die Schaffung einer Verfassungsgrundlage für eine Bundesregelung des nationalen polizeilichen Datenaustausches an. Konkret sollte in der Bundesverfassung dem Bund die Kompetenz eingeräumt werden, die Abfrage polizeilicher Daten zwischen dem Bund und den Kantonen sowie unter den Kantonen zu regeln. Kommissionssprecherin Maja Riniker (fdp, AG) verwies im Ratsplenum auf die laufende Umsetzung der Motion Eichenberger (fdp, AG; Mo. 18.3592), die eine nationale Koordination und Rechtsgrundlage benötige. Bisher müssten sich die Kantone untereinander jeweils einzeln für die Herausgabe polizeilicher Daten anfragen. Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider befürwortete die Motion ebenfalls, denn sie ermögliche die Schliessung einer Gesetzeslücke und somit einen funktionierenden polizeilichen Datenaustausch in der Schweiz, falls der eingeschlagene Weg einer Konkordatslösung unter den Kantonen nicht zum Erfolg führen sollte.

Schaffung einer Verfassungsgrundlage für eine Bundesregelung des nationalen polizeilichen Datenaustausches (Mo. 23.4311)

Der Bundesrat veröffentlichte in Erfüllung der Postulate Feri (sp, AG) und Regazzi (mitte, TI; Po. 19.4105) einen Bericht über die Massnahmen zur Bekämpfung von sexueller Gewalt an Kindern im Internet und Kindsmissbrauch via Live-Streaming. Federführend beim Bericht war das Fedpol in Zusammenarbeit mit den betroffenen Bundesämtern, interkantonalen Konferenzen und Kantonspolizeien. Die Kompetenz für die Bekämpfung der Pädokriminalität liege in erster Linie bei den zuständigen Behörden in den Kantonen, welche zudem interkantonale Strukturen einsetzen würden, um die Koordination auf strategischer und operativer Ebene zu verbessern, erklärte der Bundesrat im Bericht. Zudem komme den Kantonspolizeien bei der Prävention eine wichtige Rolle zu, wobei sie von der Schweizerischen Kriminalprävention (SKP), von verschiedenen Initiativen des Bundes und von Nichtregierungsorganisationen unterstützt würden. Weiter überwachten die Kantonspolizeien pädokriminelle Netzwerke, und Polizistinnen und Polizisten würden auf Foren oder in Chats eingesetzt, um potenzielle Täter und Täterinnen zu entlarven. Das Fedpol übernehme hingegen Zentralstellenaufgaben wie die internationale Zusammenarbeit mit Europol und Interpol sowie die Voranalyse der Verdachtsmeldungen des Nationalen Zentrums für vermisste und ausgebeutete Kinder (NCMEC) aus den USA. Im internationalen Vergleich sei die Organisation mit einer Zentralstelle für die internationale Koordination einerseits und lokal ermittelnden Einheiten andererseits weit verbreitet, so die Regierung. Dabei stosse man auch auf ähnliche Herausforderungen wie andere Staaten, vor allem beim grenzüberschreitendem Zugang zu elektronischen Beweismitteln oder mangelnden personellen Ressourcen. Im Bereich der digitalen Pädokriminalität seien die internationale Zusammenarbeit und die Prävention die entscheidenden Faktoren. Der Bundesrat werde daher seine Anstrengungen im Rahmen seiner subsidiären Rolle, namentlich im Bereich der internationalen Koordination und Prävention, fortführen und die entsprechenden multilateralen Entwicklungen aufmerksam verfolgen, versprach er im Bericht. Ausserdem beteilige sich die Schweiz an den zurzeit laufenden Verhandlungen zu einem UNO-Übereinkommen über die Cyberkriminalität. Darüber hinaus sei das EJPD mit der Analyse beauftragt worden, welche Auswirkungen die künftige EU-Verordnung betreffend Vorschriften zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern für die Schweiz haben werde.

Sexuelle Gewalt an Kindern im Internet. Was macht das Bundesamt für Polizei? (Po. 19.4016)

Im Gegensatz zu ihrer Schwesterkommission sprach sich die SiK-SR im November 2023 gegen die Schaffung eines zentralen Waffenregisters aus. Sie gab der entsprechenden parlamentarischen Initiative Schlatter (gp, ZH) mit 9 zu 3 Stimmen keine Folge. Die Kommissionsmehrheit sah in der seit 2016 bestehenden Vernetzung der kantonalen Waffenregister, in deren Online-Abfragemöglichkeit und in der ARMADA-Datenbank des Bundes bereits wirksame Instrumente, weshalb eine nationales Register ihrer Ansicht nach lediglich den administrativen Aufwand, nicht aber die öffentliche Sicherheit erhöhen würde.

Zunahme der Gewaltbereitschaft und privater Waffenbesitz. Es braucht ein zentrales Waffenregister! (Pa.Iv. 22.440)

Mit einer parlamentarischen Initiative wollte SVP-Nationalrätin Barbara Steinemann (svp, ZH) die Polizei vor Racheanzeigen und rechtlichen Schikanen schützen. Sie wollte den Kantonen in der Strafprozessordnung die Möglichkeit geben, die Strafverfolgung von Polizistinnen und Polizisten von der Ermächtigung einer unabhängigen, nicht-richterlichen Behörde abhängig zu machen. Ein solches Ermächtigungserfordernis gebe es bereits für die Strafverfolgung von Bundesbeamten und von kantonalen Exekutiv- und Judikativmitgliedern. Es gingen immer mehr Anzeigen gegen Polizistinnen und Polizisten wegen Amtsmissbrauch ein, argumentierte die Initiantin. Eine unabhängige Instanz könnte «offensichtlich schikanöse Strafanzeigen» abweisen und damit sicherstellen, «dass Behörden nicht durch mutwillige Strafanzeigen lahmgelegt werden», so die Begründung. Die RK-NR gab der Initiative im Oktober 2023 mit 13 zu 12 Stimmen knapp Folge.

Die Polizei vor Racheanzeigen und rechtlichen Schikanen schützen (Pa.Iv. 22.478)

Zwanzig Jahre nach deren Einreichung beantragte die Mehrheit der RK-NR ihrem Rat, die parlamentarische Initiative Abate (fdp, TI) für ein höheres Strafmass bei sexuellen Handlungen mit Kindern abzuschreiben. Im Zuge der Revision des Sexualstrafrechts sei das Strafmass für sexuelle Handlungen mit Kindern erheblich angehoben und das Anliegen der Initiative damit erfüllt worden. Auch der inzwischen aus dem Parlament ausgeschiedene Urheber Fabio Abate sei mit der Abschreibung einverstanden, liess Kommissionssprecherin Christa Markwalder (fdp, BE) das Ratsplenum wissen. Eine Minderheit Tuena (svp, ZH) zeigte sich mit der Umsetzung jedoch nicht zufrieden, weil die Höchststrafe nicht auf zehn Jahre angehoben wurde, wie es die Initiative Abate forderte. Der Nationalrat schrieb die Initiative in der Herbstsession 2023 mit 99 zu 77 Stimmen bei einer Enthaltung ab.

Höheres Strafmass für sexuelle Handlungen mit Kindern (Pa.Iv. 03.424)
Dossier: Harmonisierung der Strafrahmen (Besonderer Teil des Strafgesetzbuches)

Die Mehrheit der RK-NR fand, sie habe die Möglichkeit, das Anliegen der parlamentarischen Initiative Rickli (svp, ZH) zur Verwahrung von rückfälligen Täterinnen und Tätern in die Vorlage «Massnahmenpaket Sanktionenvollzug» aufzunehmen. Sie beantragte ihrem Rat deshalb, die Initiative abzuschreiben. Eine Minderheit Steinemann (svp, ZH) wollte die Initiative noch nicht abschreiben, weil das Massnahmenpaket Sanktionenvollzug noch nicht beschlossen worden sei, fand damit im Rat aber keine Mehrheit. Der Nationalrat schrieb die Initiative Rickli in der Herbstsession 2023 mit 100 zu 74 Stimmen bei 2 Enthaltungen ab.

Verwahrung bei rückfälligen Tätern (Pa.Iv. 13.463)

Rückblick auf die 51. Legislatur: Rechtsordnung

Autorinnen: Karin Frick und Anja Heidelberger

Stand: 17.08.2023

Zu Beginn der Legislatur stand insbesondere die Stärkung der Terrorismusbekämpfung in der Schweiz im Zentrum des Themenbereichs «Rechtsordnung». Dabei setzte der Bundesrat die Strategie der Schweiz zur Terrorismusbekämpfung mittels drei Projekten um: Das Bundesgesetz über Vorläuferstoffe für explosionsfähige Stoffe soll den bisher im Vergleich zur EU einfacheren Kauf von chemischen Substanzen, die zur Herstellung von Sprengstoff verwendet werden können, erschweren. Durch die Verstärkung des strafrechtlichen Instrumentariums gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität in Umsetzung des Europarat-Übereinkommens zur Verhütung des Terrorismus sollen bereits Handlungen im Vorfeld eines geplanten terroristischen Aktes strafbar gemacht werden. Und das an der Urne angenommene Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus (PMT) soll der Polizei zusätzliche Instrumente gegen terroristische Gefährderinnen und Gefährder liefern, unter anderem indem verdächtige Personen in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden.

Während sicherheitspolitische Argumente gemäss Nachabstimmungsbefragung zum Terrorismusgesetz an der Volksabstimmung von zentraler Bedeutung waren, spielten sie bei der Annahme der Initiative «Ja zum Verhüllungsverbot» im März 2021 eine eher untergeordnete Rolle. Als Hauptargument zur Annahme der Initiative, die ein Verbot der Gesichtsverhüllung im öffentlichen Raum und an öffentlich zugänglichen Orten beinhaltete, wurde der Schutz der Schweizer Werte und Kultur genannt. Der bundesrätliche Gesetzesvorschlag zur Umsetzung der Initiative befand sich Ende der Legislatur noch in parlamentarischer Beratung.

Auch zu Beginn der Legislatur abgeschlossen werden konnte die Totalrevision des Datenschutzgesetzes, wobei vor allem die Voraussetzungen, unter denen das sogenannte Profiling, d.h. die Verknüpfung von Daten zur Erstellung von Persönlichkeitsprofilen, zulässig ist, umstritten waren. Im Juni 2021 lehnten die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger zudem die Einführung einer E-ID ab, wobei nicht in erster Linie die E-ID an sich, sondern deren Herausgabe durch private Anbieter anstelle des Staates kritisiert wurde.

Das grösste Gesetzgebungsprojekt im Themenbereich «Rechtsordnung» war die Strafrahmenharmonisierung und Anpassung des Nebenstrafrechts an das neue Sanktionenrecht – tatsächlich widmete das Parlament in dieser Legislatur keiner anderen Vorlage mehr Diskussionszeit (gemessen an der Anzahl Wörter). Damit sollten die aus den 1940er-Jahren stammenden Strafen mit den heutigen Werthaltungen in Einklang gebracht und deren Verhältnis zueinander neu ausgelotet werden. Diskutiert wurde dabei insbesondere über eine Verschärfung der Strafen für Gewalt gegen Behörden und Beamte sowie über die Revision des Sexualstrafrechts, welche aber aufgrund des grossen Besprechungsbedarfs in einen eigenen Entwurf ausgelagert wurde. Dabei entschied sich das Parlament nach langen Diskussionen, die auch in der Gesellschaft und den Medien widerhallten, gegen eine neue «Nur-Ja-heisst-Ja»-Regelung, die Vergewaltigung zukünftig als sexuelle Handlungen ohne Einwilligung des Opfers definiert hätte. Stattdessen ergänzte es die sogenannte «Nein-heisst-Nein»-Regelung dahingehend, dass auch ein allfälliger Schockzustand des Opfers erfasst wird. Nach der neuen Definition wird bei einer Vergewaltigung nicht mehr vorausgesetzt, dass das Opfer zur sexuellen Handlung genötigt wurde. Zudem können künftig nicht mehr nur Frauen als Opfer einer Vergewaltigung anerkannt werden.

Ausführlich debattiert wurde auch die Revision der Strafprozessordnung (StPO). Nachdem das Parlament – nach einem Urteil des EGMR – kurzfristig bereits eine Gesetzeslücke bei der Sicherheitshaft geschlossen hatte, befasste es sich mit problematischen Aspekten der Strafprozessordnung, um die Praxistauglichkeit bestimmter Bestimmungen zu verbessern. Im Hauptstreitpunkt, wonach Beschuldigte zukünftig nicht mehr bei allen Einvernahmen anderer Personen anwesend sein sollten, damit es nicht zu Absprachen kommt, lehnte das Parlament nach langen Diskussionen eine Änderung des Status quo ab.

Schliesslich stand neben dem Strafrecht auch das Zivilrecht im Mittelpunkt des Interesses, als in der Zivilprozessordnung der Zugang zum Gericht erleichtert und die Rechtssicherheit verbessert werden sollte. Die Aufmerksamkeit galt aber vielmehr einer vom Parlament verschärften Regelung, welche eine Verhinderung des Erscheinens von Medienartikeln durch eine superprovisorische Verfügung einfacher möglich machte (siehe auch Legislaturrückblick «Médias»).

Für mediale Aufmerksamkeit sorgten während der 51. Legislatur auch immer wieder Demonstrationen gegen im Zuge der Covid-19-Pandemie beschlossene Massnahmen. Diese verstärkten sich im Laufe des Jahres 2021 und erreichten nach Einführung der Zertifikatspflicht gegen Ende des Jahres 2021 ihren Höhepunkt. Die aufgeladene Stimmung gipfelte darin, dass das Bundeshaus aufgrund befürchteter Ausschreitungen am Abstimmungssonntag zur zweiten Revision des Covid-19-Gesetzes von der Polizei grossräumig abgeriegelt wurde – eine weitere Eskalation blieb jedoch aus.


Zu den Jahresrückblicken:
2020
2021
2022

Rückblick auf die 51. Legislatur: Rechtsordnung
Dossier: Rückblick auf die 51. Legislatur

Nachdem die Referendumsfrist ungenutzt verstrichen war, beschloss der Bundesrat, die im Zuge der Strafrahmenharmonisierung vorgenommenen Änderungen am Besonderen Teil des Strafgesetzbuches und am Nebenstrafrecht auf den 1. Juli 2023 in Kraft zu setzen. Insbesondere gelten ab dann für Gewaltdelikte strengere Strafen. Nicht in Kraft treten wird allerdings die Lockerung des sogenannten Rasertatbestands; seit der Verabschiedung der Strafrahmenharmonisierung im Dezember 2021 ist das Parlament auf diesen Entscheid zurückgekommen und hat im Rahmen der Revision des Strassenverkehrsgesetzes im Frühling 2023 beschlossen, die Mindeststrafe hier doch beizubehalten.

Harmonisierung der Strafrahmen (BRG 18.043)
Dossier: Revision des Strafgesetzbuches (2008– )
Dossier: Harmonisierung der Strafrahmen (Besonderer Teil des Strafgesetzbuches)

Im Juni 2023 sprach sich die SiK-NR für die Einführung eines zentralen Waffenregisters aus. Sie gab mit 13 zu 11 Stimmen einer entsprechenden parlamentarischen Initiative Schlatter (gp, ZH) Folge. Die Initiantin nahm in ihrer Begründung auf eine Warnung von Fedpol-Direktorin Nicoletta della Valle Bezug, wonach die Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft seit der Corona-Pandemie zunehme und sich unter den gewaltbereiten Personen auch Bewaffnete befänden – wie viele, lasse sich aufgrund eines fehlenden zentralen Registers jedoch nicht beziffern, folgerte Schlatter. Die Kommissionsmehrheit hoffte, dass mit der Registrierung und statistischen Erhebung aller Feuerwaffen ein präventiver Beitrag zur Sicherheit in der Schweiz geleistet werden könne, wie sie per Medienmitteilung bekannt gab. Die bessere Informationsgrundlage soll sowohl die kantonsübergreifende Kriminalitätsbekämpfung erleichtern als auch die Sicherheit von Polizistinnen und Polizisten stärken, die ihrerseits schon länger ein solches Register forderten. Die Minderheit sah indes keinen Bedarf für eine zentrale Waffendatenbank, da sich das bisherige System mit kantonalen Registern bewährt habe und die Polizeihoheit den Kantonen obliege. Als Nächstes wird sich die ständerätliche Kommission zum Anliegen äussern.

Zunahme der Gewaltbereitschaft und privater Waffenbesitz. Es braucht ein zentrales Waffenregister! (Pa.Iv. 22.440)

Der Ständerat hatte sich in der Sommersession 2023 noch mit zwei inhaltlichen Differenzen bei der Revision des Sexualstrafrechts zu beschäftigen. Mit der gleichen Argumentation wie seit Beginn der Beratungen erteilte dieser dem Tatbestand für Cybergrooming erneut eine Absage. Ebenso stillschweigend folgte er seiner Kommission in der Frage der Lernprogramme, die das Obligatorium nach wie vor ablehnte. Stattdessen schlug sie vor, dass die Richterinnen und Richter bei jeder Straftat gegen die sexuelle Integrität zwingend prüfen müssen, ob die Täterin oder der Täter zur Teilnahme an einem Lernprogramm verpflichtet werden soll. Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider unterstützte diese Lösung, da ein Lernprogramm nicht bei allen Täterinnen und Tätern erfolgversprechend sei; ohne ein «Minimum an Verständnis und Zusammenarbeit» bringe es schlicht nicht den gewünschten Nutzen. Zudem sollen Verfahren wegen sexueller Belästigung – nicht aber wegen schwererer Sexualdelikte – eingestellt werden, wenn der Täter oder die Täterin ein Lernprogramm vollständig absolviert hat. Eine der sexuellen Belästigung beschuldigte Person kann demnach also entscheiden, ob sie die Verpflichtung zu einem Lernprogramm akzeptiert – womit dann das Verfahren ohne Urteil eingestellt wird – oder ob sie ins Gerichtsverfahren geht, das mit einem Schuld- oder Freispruch endet. In diesem Zusammenhang kam die Frage auf, was mit allfälligen Zivilforderungen des Opfers – z.B. Kosten für psychologische oder psychiatrische Behandlung – geschehen sollte. Nach einem Urteil könnte das Opfer solche Entschädigungsforderungen auf dem Zivilweg geltend machen, nicht jedoch nach einer Verfahrenseinstellung, da eine solche juristisch gesehen kein verfahrenserledigender Entscheid sei, stellte Beat Rieder (mitte, VS) fest. Er beantragte deshalb, den einschlägigen Artikel dahingehend anzupassen, dass die Staatsanwaltschaft gleichzeitig mit dem Einstellungsverfahren auch über allfällig geltend gemachte Zivilforderungen entscheiden muss. Im darauffolgenden juristischen Schlagabtausch wandte die Gegenseite – darunter auch Justizministerin Baume-Schneider – ein, dass es bei einem eingestellten Verfahren eben keinen Schuldspruch gebe und es daher dem Schuldprinzip widerspreche, die nicht verurteilte beschuldigte Person zur Zahlung einer Entschädigung zu verpflichten. Rieder hielt dagegen, dass eine zu Unrecht beschuldigte Person das Lernprogramm ja ablehnen und im Gerichtsverfahren einen Entscheid verlangen könne. Werde die Person dann tatsächlich freigesprochen, müsse sie keinerlei Entschädigung zahlen. Durch diese Möglichkeit blieben die Verteidigungsrechte der beschuldigten Person aus seiner Sicht gewahrt. Die Ständekammer entschied mit 24 zu 16 Stimmen bei 2 Enthaltungen für den Antrag Rieder und schuf damit noch eine letzte neue Differenz.

Der Nationalrat stimmte diesen Beschlüssen seiner Schwesterkammer schliesslich stillschweigend zu. Die Lösung zu den Zivilforderungen sei zwar nicht ideal, betreffe aber voraussichtlich nur wenige Fälle, weshalb man nicht einzig wegen dieser Bestimmung eine Einigungskonferenz provozieren und die ganze Vorlage nochmals gefährden wolle, erläuterte Laurence Fehlmann Rielle (sp, GE) die Überlegungen der Kommission. Zum vom Nationalrat ursprünglich geforderten Grooming-Artikel sei indessen noch die parlamentarische Initiative 18.434 hängig, mit der man das Thema weiterverfolgen könne, ergänzte die deutschsprachige Berichterstatterin Patricia von Falkenstein (ldp, BS).

In der Schlussabstimmung nahm der Nationalrat den Entwurf zur Revision des Sexualstrafrechts mit 141 zu 52 Stimmen bei einer Enthaltung an. Die SVP-Fraktion opponierte geschlossen, nachdem ihre Hoffnungen auf deutliche Strafverschärfungen enttäuscht worden waren. Der Ständerat hiess das Geschäft einhellig gut.

Harmonisierung der Strafrahmen (BRG 18.043)
Dossier: Revision des Strafgesetzbuches (2008– )
Dossier: Harmonisierung der Strafrahmen (Besonderer Teil des Strafgesetzbuches)

Nachdem der Ständerat in der Frühjahrssession 2023 entgegen dem Antrag seiner Rechtskommission auf den Entwurf zur Änderung des Jugendstrafrechts eingetreten war, trat er in der darauffolgenden Sommersession auch auf den Entwurf zur Änderung des Strafgesetzbuches ein. Die beiden Vorlagen bilden zusammen das Massnahmenpaket Sanktionenvollzug, das der Ständerat als Erstrat behandelte. Am Entwurf zur Änderung des Strafgesetzbuches nahm die kleine Kammer eine inhaltliche Anpassung vor: Der Bundesrat wollte mit dem Entwurf unter anderem eine Motion Guhl (bdp, AG; Mo. 17.3572) umsetzen, die ein längeres Intervall zur Überprüfung der Verwahrung forderte. Konkret sollte die Verwahrung nach drei ablehnenden Entscheiden nicht mehr jährlich, sondern nur noch alle drei Jahre von Amtes wegen überprüft werden. Auf Antrag seiner Kommission – die diesen Entscheid mit 6 zu 6 Stimmen und Stichentscheid des Präsidenten Carlo Sommaruga (sp, GE) fällte – strich der Ständerat diese Neuerung stillschweigend und blieb stattdessen bei der jährlichen Überprüfung. In der Gesamtabstimmung hiess die Ständekammer diese Vorlage mit 27 zu 9 Stimmen gut. Den Entwurf zur Änderung des Jugendstrafrechts nahm der Ständerat unverändert mit 28 zu 11 Stimmen an. Die ablehnenden Stimmen stammten bei beiden Entwürfen hauptsächlich aus dem links-grünen Lager, das im Frühjahr schon gegen Eintreten auf das Jugendstrafrecht votiert hatte.

Massnahmenpaket Sanktionenvollzug (BRG 22.071)
Dossier: Massnahmenpaket Sanktionenvollzug

Um Internetbetrügerinnen und -betrügern Einhalt zu gebieten, kann der Staat Internet-Domains blockieren. Konkret können die Kantonspolizeien, das Fedpol, das Nationale Zentrum für Cybersicherheit und in bestimmten Fällen Swissmedic die Blockierung von Domains mit Schweizer Endung (.ch oder .swiss) durch die Registerbetreiberin verlangen. Nach der Ansicht von Nationalrat Stefan Müller-Altermatt (mitte, SO) seien damit jedoch zu viele verschiedene Stellen involviert, die mitunter eine unterschiedliche Handhabung hätten. Mittels eines Postulats forderte er daher, dass der Bundesrat eine nationale Koordination bei Internetbetrug prüft. Er verlangte Zahlen dazu, wie oft und wie lange betrügerische Websites mit einer Schweizer Domain-Endung durchschnittlich funktionierten, bevor sie gesperrt würden. Zudem wollte er wissen, von welchen Stellen diese betrügerischen Seiten gemeldet würden, wie viele Meldungen es brauche und wie viel Zeit vergehe, bis eine Domain blockiert werde. Der Bundesrat beantragte das Postulat zur Ablehnung. Er erachtete eine solche Analyse nicht als notwendig, weil alle Blockierungsanträge ohnehin zentral bei der Switch als einziger Registerbetreiberin zusammenliefen und die geforderten Zahlen von der Switch bereits erhoben würden. Der Nationalrat liess sich davon – mit Ausnahme der SVP- und der FDP-Fraktion – allerdings nicht überzeugen; er überwies das Postulat in der Sommersession 2023 mit 109 zu 77 Stimmen bei 4 Enthaltungen.

Abschaltung von betrügerischen Websites. Nationale Koordination bei Internetbetrug (Po. 22.3457)

Der Nationalrat genehmigte im Juni 2023 stillschweigend die Abschreibung eines Postulats seiner Rechtskommission. Der Bundesrat hatte in Erfüllung des Postulats einen Bericht zu möglichen Ergänzungen des Strafgesetzbuchs um Cybermobbing und digitale Gewalt vorgelegt, keinen dringenden Handlungsbedarf erkannt und die Abschreibung des Postulats beantragt.

Ergänzungen betreffend Cybermobbing im Strafgesetzbuch (Po. 21.3969)

In seinem Bericht zu den parlamentarischen Vorstössen im Jahre 2022 beantragte der Bundesrat erneut die Abschreibung der Motion Jositsch (sp, ZH) zum Schutz religiöser Gemeinschaften vor terroristischer und extremistischer Gewalt. Er betrachtete die Motion als erfüllt, da seit dem Bundesratsentscheid vom April 2022 die jährlichen Mittel für spezifische Schutzmassnahmen, insbesondere für bauliche und technische Massnahmen, erhöht worden seien. Nachdem sich der Nationalrat 2021 noch gegen die Abschreibung gewehrt hatte, folgte er in der Sommersession 2023 der kleinen Kammer sowie dem Bundesrat und schrieb die Motion stillschweigend ab.

Schutz religiöser Gemeinschaften vor terroristischer und extremistischer Gewalt (Mo. 16.3945)

In Erfüllung eines Postulats der SiK-SR hatte der Bundesrat im Juni 2022 einen Bericht zur Bekämpfung des Hooliganismus veröffentlicht. Daher beantragte er im Rahmen seines Berichtes über die Motionen und Postulate der eidgenössischen Räte 2022 die Abschreibung des Postulats. Der Ständerat folgte dieser Empfehlung im Sommer 2023 und schrieb das Postulat stillschweigend ab.

Bekämpfung des Hooliganismus (Po. 19.3533)

Zu Beginn der Sommersession 2023 lag der Ball in der Differenzbereinigung bei der Revision des Sexualstrafrechts beim Nationalrat. Die Volkskammer hatte sich noch mit vier grösseren Streitpunkten zu befassen. Erstens ging es um die Modellwahl (Zustimmungs- oder Widerspruchslösung) bei den Tatbeständen der sexuellen Nötigung und der Vergewaltigung. Es standen sich der Antrag der Kommissionsmehrheit, dem Kompromissvorschlag des Ständerates zuzustimmen, und ein Minderheitsantrag Bellaiche (glp, ZH), am «Nur-Ja-heisst-Ja»-Prinzip festzuhalten, gegenüber. Der Vorschlag des Ständerates beruhe auf der «Nein-heisst-Nein»-Lösung und damit auf der Vermutung, «dass jeder Mensch, jede Frau vornehmlich und jederzeit zu einer Sexualhandlung gewillt ist», kritisierte Bellaiche. Sie erachtete es als falsch, dass es an der Person liege, die gerade nicht zu Sex gewillt ist, dies kundzutun. Auch Tamara Funiciello (sp, BE), als eine der prominentesten Verfechterinnen der Zustimmungslösung, betonte einmal mehr, «dass der Körper von Menschen kein Selbstbedienungsladen ist – es sollte selbstverständlich sein, dass man fragt, bevor man ihn berührt». Gleichzeitig zeigte sie sich dessen bewusst, dass die Zustimmungslösung diesmal wohl keine Mehrheit mehr finden würde und lobte «den wichtigen und grossen Fortschritt», den auch die erweiterte «Nein-heisst-Nein»-Lösung des Ständerates bringe. Während sich die Fraktionen der SP, der GLP und der Grünen noch einmal für «Nur Ja heisst Ja» aussprachen, unterstützte die bürgerliche Ratsmehrheit die Kompromisslösung des Ständerates. Mit 105 zu 74 Stimmen bei 11 Enthaltungen wurde diese zentrale Frage entschieden. Somit sind sexuelle Handlungen künftig strafbar, wenn sie gegen den Willen einer Person vorgenommen werden – bzw. vorgenommen werden lassen – oder wenn zu diesem Zweck ein Schockzustand der betreffenden Person ausgenützt wird (neu Art. 189 Abs. 1 und Art. 190 Abs. 1 StGB). Wie Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider zusammenfasste, werde der Schockzustand damit «einer abwehrenden nonverbalen Willensäusserung gleichgestellt». Eine Vertreterin von Amnesty International Schweiz bezeichnete diesen Entscheid gegenüber «24 heures» als «Sieg für die Menschenrechte in der Schweiz».
Zweitens bestand beim Strafmass für Vergewaltigung mit Nötigung (neu Art. 190 Abs. 2 StGB) noch Diskussionsbedarf. Die Kommissionsmehrheit beantragte auch hier, dem Ständerat zu folgen. Dieser hatte sich in der letzten Beratung für eine Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe ausgesprochen. Eine Minderheit Bellaiche wollte hingegen am früheren Entscheid zu einer Mindeststrafe von mehr als zwei Jahren festhalten, womit bedingte Strafen ausgeschlossen wären. Es gehe hier «um die tiefsten Abgründe menschlicher Verachtung», so die GLP-Nationalrätin, die an den Rat appellierte: «Solche Gewaltverbrechen verdienen keine bedingten Strafen!» Kommissionssprecherin Patricia von Falkenstein (ldp, BS) warnte indes davor, dass sich bei einer solchen Verdopplung der Mindeststrafe – im geltenden Recht ist die Mindeststrafe für Vergewaltigung ebenfalls bei einem Jahr Freiheitsstrafe angesetzt – der Massstab der Gerichte bei der Beweiswürdigung verschieben und eine Nötigung an strengere Bedingungen als heute geknüpfen werden könnte. Der Nationalrat bestätigte mit 99 zu 89 Stimmen bei 3 Enthaltungen die einjährige Mindeststrafe und räumte damit auch diese Differenz aus. Für die unterlegene Minderheit Bellaiche votierten die geschlossen stimmenden Fraktionen der GLP und der SVP sowie die grosse Mehrheit der Mitte-Fraktion, während die Fraktionen der SP, der Grünen und der FDP den Mehrheitsantrag guthiessen.
Drittens legte die Volkskammer die Altersgrenze für die Unverjährbarkeit von sexuellen Handlungen mit Kindern fest. In der letzten Beratung hatte sie beschlossen, diese von aktuell 12 auf neu 16 Jahre anzuheben, was der Ständerat daraufhin aber abgelehnt hatte. Die Minderheit Bellaiche, die am Entscheid zur Erhöhung festhalten wollte, unterlag diesmal mit 97 zu 91 Stimmen bei 3 Enthaltungen, wobei sich die Fraktionen gleich positionierten wie bei der Erhöhung der Mindeststrafe. Damit bleiben Sexualstraftaten nur unverjährbar, wenn sie an Kindern unter 12 Jahren begangen wurden, wie es bei der Umsetzung der Unverjährbarkeitsinitiative beschlossen worden war.
Viertens debattierte der Nationalrat den neuen Tatbestand der Rachepornografie. Während Einigkeit darüber bestand, dass dieses Verhalten strafbar sein sollte, war umstritten, an welcher Stelle der Tatbestand ins Strafgesetzbuch integriert werden und was er genau erfassen sollte. Die Kommissionsmehrheit wollte an der Version, die der Nationalrat bei der letzten Beratung angenommen hatte, festhalten. Diese sah die Strafbarkeit des unbefugten Zugänglichmachens nicht nur für sexuelle, sondern auch für andere anstössige, peinliche oder in anderer Weise kompromittierende Inhalte vor und reihte den Tatbestand darum in die strafbaren Handlungen gegen die Ehre und den Geheim- oder Privatbereich ein. Demgegenüber beantragte eine Minderheit Mahaim (gp, VD) Zustimmung zum Beschluss des Ständerates, der die Strafbarkeit auf das unbefugte Weiterleiten von sexuellen Inhalten beschränken wollte und den Tatbestand deshalb den strafbaren Handlungen gegen die sexuelle Integrität zurechnete. Der Minderheitsvertreter bezeichnete die enger gefasste Formulierung des Ständerates als hinreichend klar und präzise, während er bei der allgemeineren Formulierung des Nationalrates zu bedenken gab, dass die Grenze des strafbaren Handelns nicht mehr klar sei. Die grosse Kammer folgte mit 148 zu 42 Stimmen bei 2 Enthaltungen der Minderheit Mahaim und räumte auch diese Differenz aus. Der breiter gefasste Tatbestand stiess nur bei der geschlossen stimmenden SP-Fraktion und einigen Ratsmitgliedern aus der Mitte-Fraktion auf Anklang.
Im Ständerat durchgefallen war überdies das Bestreben des Nationalrats, einen neuen Straftatbestand für Cybergrooming einzuführen. Auf Antrag seiner einstimmigen Kommission hielt der Nationalrat jedoch stillschweigend an seinem Entscheid fest, das Anbahnen von sexuellen Kontakten mit Kindern als eigenen Tatbestand ins Strafgesetzbuch aufzunehmen. Ebenso stillschweigend beharrte der Nationalrat auf dem Obligatorium für Lernprogramme für Sexualstraftäterinnen und -täter. Die Kantonskammer hatte hier eine Kann-Vorschrift bevorzugt. Mit diesen zwei verbleibenden inhaltlichen Differenzen ging die Vorlage wieder an den Ständerat.

Harmonisierung der Strafrahmen (BRG 18.043)
Dossier: Revision des Strafgesetzbuches (2008– )
Dossier: Harmonisierung der Strafrahmen (Besonderer Teil des Strafgesetzbuches)

In der Frühjahrssession 2023 erklärte Lisa Mazzone (gp, GE) als Berichterstatterin der vorberatenden RK-SR dem Ständeratsplenum, der Entwurf des Bundesrates zur Anpassung des Jugendstrafrechts sei nicht mit den Prinzipien und Zielen desselben vereinbar. Die Regierung hatte vorgesehen, dass Jugendliche, die zwischen 16 und 18 Jahren einen Mord begehen, künftig nach dem Ende der jugendstrafrechtlichen Massnahmen – letztere enden mit Vollendung des 25. Altersjahrs – verwahrt werden können, wenn sie immer noch als gefährlich für Dritte gelten. Im Unterschied zum Erwachsenenstrafrecht, das strafe, um den öffentlichen Frieden zu wahren, wolle das Jugendstrafrecht die Jugendlichen erziehen und schützen, um sie vom kriminellen Weg abzubringen. Für dieses Ziel und für die Jugendlichen selber sei es «verheerend», ihnen eine Verwahrung anzudrohen, so Mazzone. Erfahrungsgemäss sei es «für eine Person, wenn sie einmal verwahrt ist, äusserst schwierig [...], da wieder herauszukommen», fügte Kommissionskollege Beat Rieder (mitte, VS) an. Wenn ein Täter schon nach der jugendstrafrechtlichen Massnahme verwahrt werde, müsse überdies jemand auf seine Gefährlichkeit überprüft werden, «der nie die Gelegenheit hatte, zu ‹beweisen›, dass er nicht gefährlich ist». Zum Zeitpunkt der Verurteilung befänden sich die Jugendlichen noch in der Persönlichkeitsentwicklung, weshalb es gar nicht möglich sei, eine Gefährlichkeitsprognose zu erstellen, führte Mazzone weiter aus. Aus diesen Gründen beantragte die Kommissionsmehrheit (7 zu 4 Stimmen, 1 Enthaltung) Nichteintreten.
Eine Minderheit um Andrea Caroni (fdp, AR) – der mit seiner Motion «Sicherheitslücke im Jugendstrafrecht schliessen» (Mo. 16.3142) gewissermassen «Vater der Reform» war, wie ihn die Aargauer Zeitung betitelte – wollte dagegen auf die Vorlage eintreten. Der Antragssteller argumentierte, die betroffenen Personen seien zum Zeitpunkt, an dem sie allenfalls in die Verwahrung kämen, bereits erwachsen, auch wenn sie den Mord als Jugendliche begangen hätten. Die Verwahrung sei die ultima ratio und komme erst in Frage, nachdem man zuerst alle anderen Massnahmen greifen lassen habe. Irgendwann sei die betroffene Person aber 25 Jahre alt und man könne «nicht mehr bis zum Ende aller Tage mit Jugendschutzinstrumenten verfahren». Heute wisse ein junger Mörder, dass er mit 25 Jahren freikomme, wenn er sich «in der Therapie etwas blöd anstelle», sodass diese als wirkungslos wegfalle, so Caroni weiter. Sukkurs erhielt er etwa von Stefan Engler (mitte GR), der betonte: «Jeder Fall, in dem jemand zu Unrecht auf freien Fuss gesetzt wird, weil man die notwendigen Massnahmen nicht treffen konnte, und ein zweites Unglück geschieht, ist ein Fall zu viel.» Heidi Z'graggen (mitte, UR) fügte an, es handle sich um «ein Werkzeug [...] für absolute Einzelfälle, die wir leider, leider nicht ausschliessen können». Gemäss heute geltendem Recht müsse eine Massnahme aufgrund Erreichen der Altersgrenze abgebrochen werden und man müsse «quasi auf eine neue Straftat warten, um die Gesellschaft vor dem nun erwachsenen Straftäter schützen zu können». Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider bat den Rat ebenfalls, auf die Vorlage einzutreten, die sie als «bescheiden» und «sehr ausgewogen» bezeichnete. Man habe die Kritik aus der Vernehmlassung berücksichtigt, sodass der Anwendungsbereich der vorgeschlagenen Regelung eng begrenzt sei. Sie schliesse eine Lücke in Bezug auf sehr seltene, aber gleichzeitig sehr schwerwiegende Fälle.
Von diesen Überlegungen liess sich die Mehrheit der Ständekammer überzeugen. Sie trat mit 22 zu 17 Stimmen bei einer Enthaltung gegen den Willen ihrer Kommissionsmehrheit auf den Entwurf ein. Gegen Eintreten stimmten die Fraktionen der SP und der Grünen sowie einige Mitglieder aus der FDP- und der Mitte-Fraktion. Nachdem Eintreten beschlossen war, stimmte der Ständerat der Abschreibung der vier Motionen 11.3767, 16.3002, 16.3142 und 17.3572 stillschweigend zu.

Massnahmenpaket Sanktionenvollzug (BRG 22.071)
Dossier: Massnahmenpaket Sanktionenvollzug

Auf Antrag seiner Kommission für Rechtsfragen lehnte der Ständerat in der Frühjahrssession 2023 die Motion de Quattro (fdp, VD) stillschweigend ab, die verlangte, dass die terroristische Bedrohung, die von einer Person ausgeht, vor deren Freilassung besser beurteilt wird. Es bestehe kein Handlungsbedarf, da das geltende Recht bereits sicherstelle, dass die Gefährlichkeit einer Person vor deren Freilassung sorgfältig geprüft werde, argumentierte die Kommission. Ausserdem stünden mit den polizeilichen Massnahmen zur Terrorismusbekämpfung nun Instrumente zur Verfügung, um potenziell gefährliche Personen besser zu überwachen.

Die terroristische Bedrohung, die von einer Person ausgeht, vor deren Freilassung besser beurteilen (Mo. 20.4358)

Nachdem beide Parlamentskammern die Revision des Sexualstrafrechts je einmal beraten hatten, schienen die Differenzen maximal. Die Gretchenfrage war, wie sexuelle Nötigung und Vergewaltigung neu definiert werden sollen. Während der Ständerat als Erstrat beschlossen hatte, dass sexuelle Handlungen «gegen den Willen» der betroffenen Person strafbar sein sollen («Nein heisst Nein»), hatte sich der Nationalrat als Zweitrat für die Formulierung «ohne Einwilligung» und damit für das ebenso lautstark geforderte wie umstrittene «Nur-Ja-heisst-Ja»-Prinzip ausgesprochen.

In der Frühjahrssession 2023 begann der Ständerat also mit der Differenzbereinigung. Seine Kommission schlug ihm einstimmig vor, an der «Nein-heisst-Nein»-Lösung festzuhalten, sie aber um den Zusatz zu ergänzen, dass nicht nur bestraft wird, wer gegen den Willen einer Person eine sexuelle Handlung vornimmt oder vornehmen lässt, sondern auch, wer dazu einen Schockzustand der betroffenen Person, das sogenannte Freezing, ausnützt. Damit habe man der grossen Kontroverse um das «Nein-heisst-Nein»-Prinzip Rechnung getragen, ob davon auch jene Fälle erfasst würden, in denen das Opfer in einen Schockzustand falle und infolgedessen widerstandsunfähig sei, erklärte Kommissionssprecher Carlo Sommaruga (sp, GE). Selbst jene Mitglieder der Kommission, die den «Nur-Ja-heisst-Ja»-Grundsatz bevorzugt hätten, hätten sich pragmatisch hinter diesen Kompromissvorschlag gestellt, betonte er. So erklärte auch Lisa Mazzone (gp, GE), die bei der ersten Behandlung noch die Minderheit für «Nur Ja heisst Ja» vertreten hatte, ihre Unterstützung für den Kompromiss. Der Wert eines Gesetzesentwurfs messe sich nicht an der Symbolik, sondern an den Resultaten, sagte sie. Bezüglich der Resultate – sie nannte etwa die Anerkennung der Opfer und den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung – sei die vorgeschlagene Lösung ein wichtiger Fortschritt, gar «einer der grossen Erfolge dieser Legislatur». Lob erhielt der Vorschlag ebenso von Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider. Ohne jegliche Dissonanzen stimmte der Ständerat dem Kompromissvorschlag seiner Kommission stillschweigend zu.

Deutlich weniger harmonisch verlief die Festlegung der Strafrahmen für Vergewaltigung. Als Erstes stand hier zur Debatte, ob bei Vergewaltigung weiterhin Geldstrafen möglich sein sollen oder nicht. Carlo Sommaruga plädierte im Namen der Kommissionsmehrheit für die Beibehaltung der Geldstrafe. Da der Grundtatbestand der Vergewaltigung (Art. 190 Abs. 1 StGB) neu keine Nötigung mehr voraussetze, umfasse der Tatbestand der Vergewaltigung künftig auch weniger schwerwiegende Fälle als bisher. Eine Strafverschärfung sei daher nicht angezeigt, wenn nicht sogar schädlich: Die Gerichte könnten dadurch versucht sein, eher den Tatbestand der sexuellen Nötigung gemäss Art. 189 StGB anzuwenden, um keine unverhältnismässige Strafe verhängen zu müssen. Eine Minderheit Jositsch (sp, ZH) wollte dagegen dem Nationalrat folgen und die Geldstrafe streichen. Die «‹harmloseste› Form von Vergewaltigung» sei auch in der neuen Definition immer noch ein Eindringen in den Körper gegen den Willen einer Person, und dies könne nicht mit einer Geldstrafe abgegolten werden, so Jositsch. Justizministerin Elisabeth Baume-Schneider wandte ein, es sei «nicht nachvollziehbar», weshalb die Geldstrafe nur beim Grundtatbestand der Vergewaltigung, nicht aber bei der qualifizierten sexuellen Nötigung – d.h. unter Anwendung von Gewalt oder Drohung – gestrichen werden soll. Eine abgenötigte sexuelle Handlung müsste aus ihrer Sicht härter bestraft werden als eine Vergewaltigung ohne Nötigung. Diese «Verzerrung» laufe dem Ziel der Strafrahmenharmonisierung zuwider, mahnte sie. Der Ständerat folgte mit 26 zu 13 Stimmen dennoch der Minderheit Jositsch und schloss sich dem Beschluss des Nationalrats an. Damit wird Vergewaltigung in jedem Fall mit Freiheitsstrafe – allerdings ohne festgelegte Mindestdauer – sanktioniert.
Zweitens stand die Frage im Raum, ob bei qualifizierter Vergewaltigung (Art. 190 Abs. 2 StGB) – d.h. Vergewaltigung, bei der das Opfer genötigt wurde – bedingte Strafen möglich sein sollen oder nicht. Der Ständerat hatte als Erstrat in diesem Absatz eine Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren festgeschrieben und mit dieser Mindestdauer ausgeschlossen, dass die Strafe bedingt ausgesprochen werden kann. Der Nationalrat war diesem Beschluss gefolgt. Die knappe Mehrheit der RK-SR, die im Erstrat unterlegen war, stand nicht hinter diesem Entscheid und beantragte ihrem Rat mit Stichentscheid von Präsident Sommaruga, zum ursprünglichen Entwurf zurückzukehren. Dieser sah wie das geltende Recht eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr vor. Da der neue Tatbestand der qualifizierten Vergewaltigung im Wesentlichen dem heutigen Vergewaltigungstatbestand entspreche, sei die Verdopplung der Mindeststrafe nicht gerechtfertigt, so Sommaruga. Der Bundesrat unterstützte den Antrag der Kommissionsmehrheit. Verglichen mit anderen Tatbeständen mit ebenfalls einjähriger Mindeststrafe, etwa Totschlag oder schwerer Körperverletzung, sei diese auch bei Vergewaltigung als angemessen zu betrachten, erklärte Justizministerin Baume-Schneider. Ausserdem sei zu befürchten, dass sich mit der höheren Mindeststrafe «für die Gerichte auch der Massstab bei der Beweiswürdigung verschiebt», sodass sie eine Nötigung an strengere Bedingungen knüpfen würden als heute. Eine Minderheit um Beat Rieder (mitte, VS) wollte indes am Beschluss der zweijährigen Mindeststrafe festhalten. Er verwies darauf, dass eine unbedingt ausgefällte Gefängnisstrafe auch teilbedingt abgesessen werden könne, unterlag in der Abstimmung aber äusserst knapp. Die Kantonskammer vollzog die Kehrtwende zurück zur einjährigen Mindeststrafe für qualifizierte Vergewaltigung mit 20 zu 19 Stimmen.

Für Diskussionsbedarf sorgte ferner die im Nationalrat abgelehnte Forderung nach Präventionsprogrammen für Sexualstraftäterinnen und -täter. Im Gegensatz zum Obligatorium, das in der grossen Kammer zur Debatte gestanden hatte, schlug die RK-SR ihrem Rat nun aber eine Kann-Bestimmung vor: Das Gericht soll Sexualstraftäterinnen und -täter verpflichten können – aber nicht müssen –, ein Lernprogramm gegen sexualisierte Gewalt oder eine Gewaltberatung zu absolvieren. Ohne Gegenantrag stimmte die Kantonskammer diesem Vorschlag stillschweigend zu. Eine weitere Differenz hatte der Nationalrat geschaffen, indem er die Altersgrenze für die Unverjährbarkeit von Sexualstraftaten an Kindern von den geltenden 12 Jahren auf 16 Jahre anhob. Wie Berichterstatter Sommaruga erklärte, war die ständerätliche Rechtskommission aber der Ansicht, dass diese Änderung nicht dem Volkswillen entspreche, da die Unverjährbarkeitsinitiative, die am Ursprung dieser Bestimmung stand, explizit die Unverjährbarkeit von Sexualstraftaten an Kindern vor der Pubertät gefordert habe. Sie beantragte ihrem Rat deshalb, an der bestehenden Regelung festzuhalten, was dieser auch stillschweigend tat. Ebenso stillschweigend hielt die kleine Kammer an ihren Beschlüssen zum sogenannten Revenge Porn und zum Grooming fest. Die Rachepornografie wollten im Grundsatz beide Parlamentskammern unter Strafe stellen, wobei sie sich aber über die Formulierung und die Platzierung der Bestimmung innerhalb des Strafgesetzbuchs nicht einig waren. Einen Tatbestand zum Grooming lehnte der Ständerat nach wie vor ab, da man sich damit gefährlich nahe an die Strafbarkeit der Absicht – und nicht mehr einer Handlung oder Vorbereitungshandlung – heran bewege, wie der Kommissionssprecher ausführte. Das Geschäft geht damit zurück an den Nationalrat.

In der Presse wurde der Entscheid des Ständerates für die «Nein-heisst-Nein»-Lösung unter Berücksichtigung des sogenannten Freezings als nonverbales Nein als Befreiungsschlag und als Durchbruch in der Revision des Sexualstrafrechts interpretiert. «Der Nationalrat dürfte diesem Kompromiss im Juni zustimmen», orakelte der «Blick» und titelte: «Funiciello hat ihren grössten Kampf gewonnen». Die «Republik» verkündete, das Parlament habe «endlich eine Lösung für die Modernisierung des Sexualstrafrechts gefunden» und zog Bilanz zu dieser «feministischen Erfolgsgeschichte». «Was aussieht wie ein Kompromiss, ist eine kleine Revolution», proklamierte das Onlinemagazin.

Harmonisierung der Strafrahmen (BRG 18.043)
Dossier: Revision des Strafgesetzbuches (2008– )
Dossier: Harmonisierung der Strafrahmen (Besonderer Teil des Strafgesetzbuches)

Im Februar 2023 befasste sich die RK-SR als vorberatende Kommission des Erstrates mit den beiden Entwürfen des Massnahmenpakets Sanktionenvollzug. Auf den ersten Entwurf zur Änderung des Strafgesetzbuches trat die Kommission mit 7 zu 4 Stimmen bei einer Enthaltung ein. Dieser sieht vor, dass Straftäterinnen und Straftäter im geschlossenen Vollzug einer Freiheitsstrafe oder Verwahrung nicht mehr unbegleitet in Urlaube entlassen werden können. Mit dem zweiten Entwurf wollte der Bundesrat das Jugendstrafrecht dahingehend anpassen, dass für jugendliche Mörderinnen und Mörder künftig eine Verwahrung angeordnet werden kann. Auf dieses Vorhaben trat die Kommission mit 7 zu 5 Stimmen allerdings nicht ein. Der Kommissionsmehrheit erschien es ungerechtfertigt, aufgrund sehr weniger Fälle das bewährte Jugendstrafrecht umzukrempeln. Eine mittel- bis langfristige Prognosestellung bezüglich der Gefährlichkeit sei bei jugendlichen Straftäterinnen und -tätern ausserdem gar nicht möglich, weil deren Persönlichkeitsentwicklung noch nicht abgeschlossen sei. Eine Minderheit Caroni (fdp, AR) erachtete den bundesrätlichen Vorschlag indessen als ausgewogen und beantragte Eintreten.

Massnahmenpaket Sanktionenvollzug (BRG 22.071)
Dossier: Massnahmenpaket Sanktionenvollzug

Wie zuvor der Ständerat erachtete es in der Wintersession 2022 auch der Nationalrat als nicht angezeigt, die Genfer Standesinitiative für eine Revision der strafrechtlichen Bestimmungen über die Verletzung der sexuellen Integrität umzusetzen. Über das Anliegen werde im Zuge der Revision des Sexualstrafrechts materiell entschieden, erläuterte die RK-NR. Stillschweigend gab die grosse Kammer der Initiative keine Folge und erledigte sie damit.

Revision der strafrechtlichen Bestimmungen über die Verletzung der sexuellen Integrität (Kt.Iv. 20.339)

Polizeigewalt zu verhindern, sei ein berechtigtes Anliegen, man sei damit aber über das Ziel hinausgeschossen, konstatierte Nationalrätin Céline Amaudruz (svp, GE) in der Begründung ihrer Ende 2021 eingereichten parlamentarischen Initiative. «Wir haben ein System geschaffen, das die Polizeiangehörigen völlig demotiviert», so die Initiantin: Aufgrund der drohenden disziplinarischen und rechtlichen Probleme bei einem gewaltsamen Eingreifen sei es für Polizistinnen und Polizisten die einfachste Lösung, einfach nichts zu tun. Mit der parlamentarischen Initiative forderte sie daher, die Vermutung der Notwehr und des Notstands bei der Dienstausübung von Polizeiangehörigen rechtlich zu verankern. Amaudruz äusserte die Hoffnung, dass Angreiferinnen und Angreifer unter diesen neuen Voraussetzungen zurückhaltender agierten. Im Herbst 2022 prüfte die RK-NR die Initiative vor und kam mehrheitlich zum Schluss, dass diese weder die Zahl noch die Dauer der Strafverfahren gegen Polizeiangehörige vermindern würde. Ausserdem existiere das Konzept der Vermutung in der schweizerischen Strafprozessordnung nicht, weshalb die Initiative abzulehnen sei. Eine Minderheit Addor (svp, VS) unterstützte die Initiative, unterlag damit aber im Rat. Mit 118 zu 68 Stimmen bei 4 Enthaltungen gab der Nationalrat der Initiative in der Wintersession 2022 keine Folge. Das Anliegen war damit erledigt.

Die Vermutung der Notwehr und des Notstands bei der Dienstausübung von Polizeiangehörigen rechtlich verankern (Pa.Iv. 21.521)

Ebenso wie der Nationalrat erachtete die RK-SR das Anliegen der Standesinitiative des Kantons Genf für härtere Sanktionen bei Gewalt gegen Behörden und Beamte durch die Harmonisierung der Strafrahmen als erfüllt. Sie beantragte folglich im Oktober 2022, der Initiative keine Folge zu geben. In der Wintersession 2022 folgte der Ständerat diesem Antrag stillschweigend. Die Initiative ist damit erledigt.

Härtere Sanktionen bei Straftaten gegen Behörden und Beamte (Kt.Iv. 12.306)
Dossier: Stopp der Gewalt gegen die Polizei
Dossier: Vorstösse betreffend Gewalt gegen Behörden und Beamte
Dossier: Harmonisierung der Strafrahmen (Besonderer Teil des Strafgesetzbuches)

Die RK-NR hielt im Herbst 2022 mehrheitlich an ihrer Unterstützung der parlamentarischen Initiative Regazzi (mitte, TI) mit dem Ziel, Pädokriminalität im Internet wirksam zu bekämpfen, fest. Sie argumentierte, die Annahme der Initiative würde den Weg für weitergehende Abklärungen zum Thema ebnen, etwa bezüglich allfälliger Unvereinbarkeiten mit der Bundesverfassung oder der Notwendigkeit, weitere Rechtsbestimmungen neben der StPO zu ändern. Die starke Minderheit – der Entscheid fiel mit 11 zu 10 Stimmen bei 2 Enthaltungen – wollte dagegen nicht in die Zuständigkeit der Kantone eingreifen, die sich in diesem Bereich zwischenzeitlich Know-how und ein wertvolles Netzwerk angeeignet hätten. Mit 102 zu 90 Stimmen bei einer Enthaltung schloss sich der Nationalrat in der Wintersession 2022 der Kommissionsmehrheit an und gab der Initiative Folge. Während das Anliegen in den Fraktionen der Mitte, der GLP und der SVP auf Anklang stiess, stimmten die Fraktionen der Grünen und der SP (mit zwei Ausnahmen), die grosse Mehrheit der FDP-Fraktion sowie zwei SVP-Vertreter gegen die Initiative.

Pädokriminalität im Internet endlich wirksam bekämpfen (Pa.Iv. 19.486)