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Das Bundesstrafgericht geriet Ende 2019 stark in den Fokus der Medien. Mit einem Gerichtsentscheid gegen Bundesanwalt Michael Lauber wurde eine eigentliche Lawine ausgelöst. Im Anschluss an den Entscheid des Gerichts mit Sitz in Bellinzona, Bundesanwalt Michael Lauber wegen Befangenheit vom «Fifa-Fall» auszuschliessen, vermuteten die Medien Klüngelei und erhoben teilweise schwere Vorwürfe, die im Verlauf des Jahres 2020 schliesslich auch die Politik zum Reagieren zwangen.

Hinter dem Entscheid gegen Lauber Mitte Juni 2019 vermutete die Weltwoche auch personelle Verstrickungen. «Dass sich Anwälte, Strafverfolger und Richter in der kleinen Schweiz kennen und sich ihre Wege immer wieder mal kreuzen, lässt sich nicht verhindern. Umso wichtiger ist es, jeglichen Anschein von Befangenheit zu vermeiden» – so die Weltwoche. Der Ausschluss von Lauber vom Fifa-Fall zog weitere Kreise als bekannt wurde, dass der für das Befangenheitsurteil verantwortliche Richter – Giorgio Bomio (sp) – vom Kollegium (also allen Richterinnen und Richtern am Bundesstrafgericht) nicht wie üblich für eine zusätzliche Amtsperiode zum Präsidenten der Beschwerdekammer gewählt worden war. Statt Bomio war Roy Garré (sp) zum Vorsitzenden bestimmt worden. Die NZZ vermutete, dass Meinungsverschiedenheiten wegen der Kritik an Lauber zur Nichtwahl von Bomio geführt hätten. Da sowohl Bomio wie auch Garré der SP angehörten, könnten parteipolitische Überlegungen ausgeschlossen werden, so die Neue Zürcher Zeitung. Die Sonntagszeitung und die Tribune de Genève doppelten nach und sprachen von einem «Putsch». Neben Bomio sei auch Claudia Solcà (cvp) nicht mehr als Präsidentin der Berufungskammer bestätigt worden – stattdessen hatte das Gremium Olivier Thormann (fdp) zum Präsidenten der Berufungskammer gewählt. Auch Solcà galt als Kritikerin Laubers, so soll sie als Vorsitzende der Berufungskammer im Fall der Beschwerde Laubers gegen seine Befangenheit das für den Fall zuständige Richtergremium «sehr eigenwillig» zusammengestellt haben. Ihr seien aber auch grobe Führungsmängel vorgeworfen worden, berichteten die Medien.

Aufgrund dieser Ereignisse begannen Mitarbeitende der CH-Media-Gruppe die Vorkommnisse am Bundesstrafgericht eingehender zu recherchieren. Ende 2019 sprach die Aargauer Zeitung von einer «Art Sittenzerfall in Bellinzona» und untermauerte diese Behauptung mit einer Reihe von Argumenten: Das Bundesstrafgericht werde von der SVP und von Deutschschweizern dominiert. In der Tat bestand das Präsidium aus zwei SVP-Richtern – Stephan Blättler und Sylvia Frei als Präsident und Vizepräsidentin. Zwar wählte die Vereinigte Bundesversammlung in der Wintersession 2019 dann als drittes Mitglied in die Gerichtsleitung nicht wie vom Bundesstrafgericht vorgeschlagen Andrea Blum, auch sie eine Richterin der SVP, sondern Olivier Thormann (fdp), auch er allerdings Deutschschweizer. Diese dreiköpfige Verwaltungskommission habe gewichtige Kompetenzen, die laut internen Quellen auch zu Privilegien- und Günstlingswirtschaft geführt hätten, so die AZ weiter. Von rückwirkender Erhöhung von Pensen, Spesenexzessen, aber auch von Mobbing und Sexismus würden anonyme interne Quellen gemäss der Zeitung berichten. Kritikerinnen und Kritiker dieses Systems würden abgestraft – die Nichtbestätigung von Bomio und Solcà müsse auch in diesem Licht betrachtet werden. Als wesentliches Problem des Gerichts machte die AZ gestützt auf Beobachterinnen und Beobachter die Dominanz der SVP aus: Der Verdacht bestehe, «dass politischer Einfluss genommen wird, dass die Gewaltenteilung nicht mehr eingehalten wird, dass Entscheide plötzlich nicht mehr mit der nötigen Unabhängigkeit getroffen werden».

Die medialen Vorwürfe warfen Wellen bis ins Bundeshaus und führten zu zahlreichen Reaktionen. Verschiedene Mitglieder der GK gaben sich verblüfft über die Zustände und forderten eine Aufklärung durch die GPK. Der Präsident der GPK, Erich von Siebenthal (svp, BE), versprach laut Aargauer Zeitung, dass er sich der Sache annehmen werde.

Aktiv wurde in der Folge dann das Bundesgericht, dem die administrative Oberaufsicht über das Bundesstrafgericht obliegt. Eine bundesgerichtliche Verwaltungskommission – bestehend aus Bundesgerichtspräsident Ulrich Meyer (sp), Vizepräsidentin Martha Niquille (cvp) sowie Yves Donzallaz (svp) – leitete Ende Januar ein aufsichtsrechtliches Verfahren ein, um die in der Presse geäusserten Vorwürfe zu untersuchen.
In den Medien stiess die Untersuchung auf Interesse: Das Bundesgericht müsse nun beweisen, dass es seine Aufsichtsaufgabe ernst nehme und «nicht nur einmal im Jahr zum Kaffeetrinken in trauter Runde nach Bellinzona» fahre, forderte die NZZ. In der Untersuchung am «Bundesstreitgericht» – so der Tages-Anzeiger – müssten die «persönlichen Animositäten, Intrigen und Machtkämpfe» beleuchtet werden. Das Waschen dieser dreckigen Wäsche führe zwar dazu, dass die Schweizer Justiz an Glaubwürdigkeit verliere, es zeige sich aber auch, «dass Richter nicht Säulenheilige von Recht und Moral sind, sondern oft allzu menschlich und machtsüchtig agieren», erinnerte die Weltwoche.

Mitte April 2020 legte die bundesgerichtliche Verwaltungskommission ihren Aufsichtsbericht vor, in dem die Vorwürfe allesamt entkräftet wurden. Es gebe insbesondere keine Hinweise auf Spesenmissbrauch, sexuelle Übergriffen oder Mobbing. In den Medien war man sich jedoch einig, dass der Bericht die Vorwürfe nicht gänzlich hätte widerlegen können. Der Bericht zeige vielmehr auf, wie schlecht die Führungsarbeit am Bundesstrafgericht funktioniere, weil «Streit und Selbstherrlichkeit» herrschten, wie der Tages-Anzeiger kommentierte. Die Weltwoche vermutete freilich, dass die Kommission wohl nicht neutral geurteilt habe, um die «leidige Sache einfach möglichst schnell vom Tisch [zu] haben».

Auch die GPK, welcher die parlamentarische Oberaufsicht über die Bundesgerichte obliegt, äusserte harsche Kritik am Aufsichtsbericht und liess kein gutes Haar daran. Die bundesgerichtliche Verwaltungskommission habe gravierende Fehler begangen und angeschuldigten Personen das rechtliche Gehör verweigert. Die GPK veröffentlichte gar eine nur sehr selten angewendete oberaufsichtliche Feststellung, in der sie Richtigstellungen am Bericht anbrachte. Erschwerend kam hinzu, dass ein vertraulicher Vorentwurf ihrer Feststellung an die Öffentlichkeit gelangt war und die Untersuchung selber dadurch in den Medien viel Aufmerksamkeit erhalten hatte. Die GPK reichte deswegen Strafanzeige gegen Unbekannt wegen Verletzung des Amts- und Kommissionsgeheimnisses ein. In ihrer Feststellung äusserte die GPK «einen gewissen Handlungsbedarf», die Rechtsgrundlagen der bundesgerichtlichen Aufsicht zu prüfen, da diese nur «rudimentär geregelt» sei.

Im Juli 2020 gelangten dann einige Mitglieder des Bundesstrafgerichts mit einem an die Aufsichtskommission des Bundesgerichts gerichteten Brief an die Öffentlichkeit. Sie wollten sich gegen den Reputationsschaden durch die wiederholt negativen Schlagzeilen in den Medien wehren, die «weitgehend unbegründet und gegenstandslos» seien. Allerdings zeigte der Brief auch auf, dass in Bellinzona nach wie vor nicht Eitel Freude herrschte: Die Verfasserinnen und Verfasser des Briefs kritisierten die «Unterstellungen einiger weniger Personen», die diese extern gegenüber Medien und Parlamentsmitgliedern bewirtschaften würden. Damit wollten diese «wenigen Mitarbeitenden [...] dem Bundesstrafgericht, der Direktion und der grossen Mehrheit der Mitarbeitenden bewusst [...] schaden». Vorrangiges Interesse des gesamten Bundesstrafgerichts sei es nun, die gesetzlichen Aufgaben zu erfüllen und das Arbeitsklima wieder auf ein solides Fundament zu stellen. Dafür seien einige Prozesse eingeleitet worden, schloss der Brief. Zwar wurden im Brief keine Namen genannt, lediglich 15 der 20 Bundesstrafrichterinnen und -richter hatten den Brief aber unterzeichnet.
In den Medien löste das Schreiben Kopfschütteln aus. Es sei beschämend, dass «medienwirksam und anonym» Kolleginnen und Kollegen gegeisselt würden. Damit werde sich die Situation in Bellinzona kaum verbessern, kommentierte etwa die NZZ. Die Ereignisse rund um das Bundesstrafgericht würden zudem wohl auch die Diskussionen um die Justiz-Initiative anheizen, war man sich in den medialen Kommentarspalten einig.

Bundesstrafgericht - Kritik und deren Aufarbeitung
Dossier: Unabhängigkeit der Judikative

Ein «Super-Abstimmungsjahr» kündigte der Blick Ende 2019 für das Jahr 2020 an: Mit voraussichtlich bis zu 16 Abstimmungsvorlagen habe die Stimmbevölkerung so viel zu entscheiden, wie seit dem Jahr 2000 nicht mehr. Covid-19 machte dem «Jahrhundert-Rekord» dann wohl aufgrund der Verschiebung der Mai-Abstimmungen allerdings einen Strich durch die Rechnung. An den drei Abstimmungssonntagen standen insgesamt 9 Vorlagen an, darunter vier Volksbegehren (2019: 1; für einen Überblick zu den Referenden 2020 vgl. hier): Die Initiative «Mehr bezahlbare Wohnungen» im Februar und die «Begrenzungsinitiative» im September wurden ebenso abgelehnt wie die «Kriegsgeschäfte-Initiative» und die «Konzernverantwortungsinitiative» im November – die von Menschenrechts- und Umweltorganisationen eingereichte Konzernverantwortungsinitiative scheiterte freilich nur am Ständemehr und wusste eine knappe Mehrheit der Stimmenden von 50.7 Prozent hinter sich. Zum zweiten Mal nach der Mieter- und Konsumentenschutzinitiative (1955) erhielt damit ein Volksbegehren zwar das Bevölkerungs-, nicht aber das Ständemehr. In acht weiteren Fällen scheiterten obligatorische Referenden am Ständemehr. Umgekehrt gab es in vier Fällen (3 Volksinitiativen, 1 obligatorisches Referendum) zwar eine Mehrheit der Kantone, nicht aber eine Mehrheit der Stimmbevölkerung. Das aktuelle Resultat löste eine Diskussion über das Ständemehr aus.

Im Vergleich zum Vorjahr wuchs die Liste der hängigen Volksinitiativen leicht an: 14 Begehren harrten auf eine bundesrätliche oder parlamentarische Behandlung oder waren abstimmungsreif (2019: 10). Dies hatte freilich nichts mit Covid zu tun – im Gegensatz zu den Sammelfristen blieben die Behandlungsfristen für Volksbegehren unverändert –, sondern neben dem in den Vorjahren stärkeren Gebrauch der Volksinitiative vielmehr mit dem Umstand, dass das Parlament vermehrt Gegenvorschläge ausarbeitete. Bei sechs der elf im Jahr 2020 hängigen und bereits behandelten Begehren hatte das Parlament über mögliche Gegenvorschläge diskutiert oder diese ausgearbeitet und verabschiedet («Verhüllungsverbot», «Transparenz-Initiative», «Pflegeinitiative», «Fair-Preis-Initiative», «Organspende fördern», «Tabakwerbung»). Entsprechend verzögerte sich die normalerweise 30 Monate nach Einreichung dauernde Behandlungsfrist für diese Volksinitiativen um ein Jahr, was die Abstimmungspendenzenliste länger werden liess. Trotz dieser Gegenvorschläge wurde 2020 allerdings kein Volksbegehren zurückgezogen – was im Falle von Gegenvorschlägen eben nicht selten der Fall ist (2019: 1).

Die Behörden werden also trotz Corona auch künftig zahlreiche ausserparlamentarische Anstösse diskutieren müssen. 2020 kamen nämlich vier neue Volksinitiativen zustande (2019: 8), wobei gleich drei davon vom Fristenstillstand sowie von der Erleichterung hinsichtlich der Stimmrechtsbescheinigung betroffen waren, die aufgrund von Covid-19 gewährt worden war. Bei zwei Begehren geht es um Krankenkassenprämien («Prämien-Entlastungs-Initiative» und «Kostenbremse-Initiative»), bei den anderen beiden um Umweltschutz- bzw. Kulturlandschutzanliegen («Landschaftsinitiative» und «Biodiversitätsinitiative»).
Eine nicht unwesentliche Rolle dürfte die Pandemie vor allem bei den anderen beiden Kennzahlen zum jährlichen Überblick zu den Volksbegehren gespielt haben: Auf der einen Seite wurden 2020 lediglich vier neue Initiativen lanciert (2019: 15) – bezeichnenderweise zwei davon vor dem ersten Lockdown Mitte März 2020 und die anderen beiden erst nach Ende Oktober 2020. In den letzten rund 45 Jahren (seit 1978) waren im Schnitt jeweils 8.6 neue Begehren pro Jahr lanciert worden. Ende 2020 befanden sich noch elf Volksbegehren in der Sammelphase (2019: 16). Auf der anderen Seite scheiterten 2020 gleich fünf Initiativen, weil sie die nötigen Unterschriften nicht zusammenbrachten (2019: 3). Auch diese Zahl weicht vom langjährigen Schnitt ab, der seit 1978 pro Jahr 3.2 gescheiterte Volksbegehren aufweist. Glaubt man den Komitees der gescheiterten Initiativen (z.B. für ein «E-Voting-Moratorium», für eine «Abschaffung der Zeitumstellung») oder mit dem Titel «Berufliche Vorsorge – Arbeit statt Armut»), dürfte die Schwierigkeit, während der Pandemie Unterschriften zu sammeln, für das Scheitern mitverantwortlich sein – trotz einer um 72 Tagen verlängerten Sammelfrist, die aufgrund des Fristenstillstands, während dem das Sammeln von Unterschriften verboten war, gewährt worden war.

Volksbegehren 2020
Dossier: Lancierte Volksinitiativen von Jahr zu Jahr (ab 2007)

Das Bundesgericht geriet im Jahr 2020 in die Kritik. Dafür verantwortlich waren drei miteinander verknüpfte Ereignisse, die in den Fokus der Medien gerieten: Die Untersuchung des Bundesstrafgerichtes durch eine Kommission des Bundesgerichtes, das Verhalten verschiedener Personen bei dieser Untersuchung – insbesondere Gerichtspräsident Ulrich Meyer geriet stark in die Kritik – und die zunehmende Personalisierung und Politisierung der eidgenössischen Gerichte.

Das Bundesgericht fungiert als Oberaufsicht über das Bundesstrafgericht und hatte die dortigen Vorkommnisse zu untersuchen. Der Untersuchungskommission gehörten der Bundesgerichtspräsident Ulrich Meyer (sp), die Vizepräsidentin Martha Niquille (cvp) sowie Bundesrichter Yves Donzallaz (svp) an. Dieses Gremium sollte mit Hilfe von Befragungen abklären, ob die in einigen Medien erhobenen Vorwürfe gegen das Bundesstrafgericht (die Rede war von Spesenexzessen, Mobbing und Sexismus) zutreffen.

Weil während einer Einvernehmenspause das Aufnahmegerät nicht abgeschaltet war und die daraus resultierende Aufnahme der TV-Sendung «Rundschau» zugespielt wurde, wurde Mitte Juni publik, dass sich Ulrich Meyer beleidigend und sexistisch über eine Bundesstrafrichterin geäussert hatte. Meyer entschuldigte sich unverzüglich bei der betreffenden Richterin und räumte seinen Fehler öffentlich ein. Die Entgleisung wurde freilich zum gefundenen Fressen für die Medien, die einen «Sittenzerfall auch bei Bundesrichtern» (Aargauer Zeitung) konstatierten. Vor allem die CH Media-Gruppe schoss sich in der Folge auf den Bundesgerichtspräsidenten ein, der «entgleist» und «sexistisch gescheitert» sei. Die Aargauer Zeitung berichtete über Politikerinnen und Politiker, die den Rücktritt Meyers forderten, da er seine Glaubwürdigkeit verloren habe. Die Zeitung warf der SP, der Meyer angehört, vor, in Zeiten von «#MeToo» wohl dessen Rücktritt gefordert zu haben, wenn Meyer nicht in ihrer Partei wäre. Auch in der Sonntagszeitung wurde die «Richteraffäre» breit diskutiert. Verschiedene Parlamentsmitglieder distanzierten sich zwar von Meyers Aussagen, bezeichneten die Rücktrittsforderungen aber als übertrieben. Meyers Verhalten sei kein Grund für ein Amtsenthebungsverfahren, gab etwa GK-Präsident Andrea Caroni (fdp, AR) der Sonntagszeitung zu Protokoll. Die NZZ sprach von «atmosphärische Störungen» an den eidgenössischen Gerichten. Die Weltwoche hielt Meyer zugute, dass er während seiner Präsidentschaft versucht habe, das Betriebsklima zu verbessern. Zwischen «Kollegialität und Beziehungskorruption» liege aber nur ein schmaler Grat. «Vielleicht ist es heilsam, wenn man sich wieder einmal vor Augen führt, dass Richter nicht die Heiligen sind, als die sie sich gerne inszenieren, sondern Menschen mit Unzulänglichkeiten und gelegentlich auch niederen Instinkten», schloss die Weltwoche – ohne jedoch darauf zu verzichten, eine alte Geschichte auszugraben, bei der Meyer einer Geliebten angeblich bei einem Vermögensdelikt geholfen haben soll.

Im Sommer machte Meyer publik, dass er Ende 2020, also am Schluss seiner Amtszeit als Gerichtspräsident, zurücktreten werde. Bundesrichter dürfen bis zu ihrem 68 Lebensjahr im Amt bleiben. Meyer hätte also noch ein weiteres Jahr als Bundesrichter amten dürfen, entschied sich aber gegen diese Option. Die Aargauer Zeitung urteilte, dass er den Zeitpunkt für einen ehrenvollen Abgang verpasst habe, und brachte gleich ein neues «Problem» ins Rollen. Die Vizepräsidentin und designierte Präsidentin Martha Niquille (cvp) stehe nämlich vor einem Problem, weil sie den «problematischen Untersuchungsbericht» zum Bundesstrafgericht mitverfasst habe. In der Tat wurde dann die Wahl des Bundesgerichtspräsidiums in der Wintersession 2020 von unschönen Tönen begleitet. Dennoch wurde Martha Niquille zur ersten Bundesgerichtspräsidentin gewählt.

Im Herbst machte die Aargauer Zeitung schliesslich publik, dass die Bundesstrafrichterin, gegen die sich Meyer sexistisch geäussert hatte, eine Strafanzeige wegen Verleumdung gegen drei Bundesrichter eingereicht habe: gegen Ulrich Meyer, gegen den sie auch wegen Nötigung klagte, gegen Martha Niquille und gegen Yves Donzallaz, der im Rahmen der Bestätigungswahlen für das Bundesgericht ebenfalls in die Schlagzeilen geraten war, weil ihn die SVP nicht mehr wählen wollte.

Aufgrund dieser Ereignisse erwuchs der Judikative nicht nur medialer, sondern auch immer stärker politischer Druck. Die zunehmende Personalisierung der Gerichte verstärkte die Tendenz, die bisher eigentlich eher apolitischen Wahlen von Richterinnen und Richtern zu politisieren. Insbesondere die SVP gelangte mit Kritik an individuellen Richterinnen und Richtern im Vorfeld von Bestätigungswahlen vermehrt an die Medien. Allerdings trug sie damit auch dazu bei, dass breit über die Unabhängigkeit der Judikative diskutiert wurde. Vor allem die Frage, ob und wie stark die Parteizugehörigkeit von Richterinnen und Richtern eine Rolle spielt und spielen darf, wurde in zahlreichen Zeitungskommentaren virulent erörtert. Darüber hinaus und damit eng verbunden wird interessant sein zu beobachten, wie sich all diese Ereignisse auf die Justiz-Initiative auswirken werden. In der Aargauer Zeitung wurden die «Justizskandale» als «beste politische Steilpässe» für die Initiative bezeichnet. Auch aufgrund der Vorkommnisse in der Bundesanwaltschaft könnten in Zukunft also einige Justizreformen anstehen.

Bundesgericht Kritik 2020
Dossier: Unabhängigkeit der Judikative

Jahresrückblick 2020: Institutionen und Volksrechte

Der Bundesrat stand als Führungsgremium 2020 ganz besonders auf dem Prüfstand, musste er doch aufgrund der Corona-Pandemie mittels Notrechts regieren. Darüber, wie gut ihm dies gelang, gingen die Meinungen auseinander. Die Konjunktur der sich bunt ablösenden Vertrauensbekundungen und Kritiken schien sich dabei mit der Virulenz der Pandemiewellen zu decken. War das entgegengebrachte Vertrauen zu Beginn des Lockdowns im März sehr gross, nahm die Kritik am Führungsstil der Exekutive und an den föderalistischen Lösungen mit dem Rückgang der Fallzahlen und insbesondere auch in der zweiten Welle zu. Eine parlamentarische Aufarbeitung der Bewältigung der Pandemie durch die Bundesbehörden durch die GPK, aber auch verschiedene Vorstösse zum Umgang des Bundesrats mit Notrecht werden wohl noch einige Zeit zu reden geben. Für eine Weile ausser Rang und Traktanden fallen werden hingegen die alle vier Jahre nach den eidgenössischen Wahlen stattfindenden Diskussionen um die parlamentarische Behandlung der Legislaturplanung sowie die bereits fünfjährige Diskussion über ein Verordnungsveto, die vom Ständerat abrupt beendet wurde. Im Gegensatz dazu wird wohl die Regelung über das Ruhegehalt ehemaliger Magistratspersonen noch Anlass zu Diskussionen geben. Den Stein ins Rollen brachte 2020 die medial virulent kommentierte Rückzahlung der Ruhestandsrente an alt-Bundesrat Christoph Blocher.

Wie kann und soll das Parlament seine Aufsicht über die Verwaltung verbessern? Diese Frage stand auch aufgrund des Jahresberichts der GPK und der GPDel im Raum. Dieser machte auf einige Mängel aufmerksam, was unter anderem zur Forderung an den Bundesrat führte, eine Beratungs- und Anlaufstelle bei Administrativ- und Disziplinaruntersuchungen einzurichten. Der seit 2016 in den Räten debattierten Schaffung einer ausserordentlichen Aufsichtsdelegation, die mit den Rechten einer PUK ausgestattet wäre, aber wesentlich schneller eingesetzt werden könnte, blies hingegen vor allem aus dem Ständerat ein steifer Wind entgegen. Ein Dorn im Auge waren dem Parlament auch die Kader der bundesnahen Betriebe: 2021 wird das Parlament über einen Lohndeckel und ein Verbot von Abgangsentschädigungen diskutieren.

Das Parlament selber machte im Pandemie-Jahr eher negativ auf sich aufmerksam. Paul Rechsteiner (sp, SG) sprach mit Bezug auf den der Covid-19-Pandemie geschuldeten, jähen Abbruch der Frühjahrssession von einem «Tiefpunkt der Parlamentsgeschichte des Landes». Das Parlament nahm seine Arbeit jedoch bereits im Mai 2020 im Rahmen einer ausserordentlichen Session zur Bewältigung der Covid-19-Krise wieder auf; Teile davon, etwa die FinDel waren auch in der Zwischenzeit tätig geblieben. Dass die ausserordentliche Session aufgrund von Hygienevorschriften an einem alternativen Standort durchgeführt werden musste – man einigte sich für diese Session und für die ordentliche Sommersession auf den Standort BernExpo – machte eine Reihe von Anpassungen des Parlamentsrechts nötig. Diese evozierten im Falle der Abstimmungsmodalitäten im Ständerat einen medialen Sturm im Wasserglas. Die Pandemie vermochte damit ziemlich gut zu verdeutlichen, wie wenig krisenresistent die Parlamentsstrukturen sind, was zahlreiche Vorstösse für mögliche Verbesserungen nach sich zog. Kritisiert wurde das Parlament auch abgesehen von Covid-19 und zwar, weil der Nationalrat eine eher zahnlos gewordene, schon 2015 gestellte Forderung für transparenteres Lobbying versenkte und damit auch künftig wenig darüber bekannt sein wird, wer im Bundeshaus zur Vertretung welcher Interessen ein- und ausgeht.

Der Zufall will es, dass die SVP 2021 turnusgemäss gleichzeitig alle drei höchsten politischen Ämter besetzen wird. In der Wintersession wurden Andreas Aebi (svp, BE) zum Nationalratspräsidenten, Alex Kuprecht (svp, SZ) zum Ständeratspräsidenten und Guy Parmelin zum Bundespräsidenten gekürt. In den Medien wurde diskutiert, wie es Parmelin wohl gelingen werde, die Schweiz aus der Covid-19-Krise zu führen. 2020 standen Regierung und Parlament aber nur selten im Fokus der Medien – ganz im Gegensatz zu den Vorjahren als die Bundesratserneuerungs- und -ersatzwahlen für viel Medienrummel gesorgt hatten (vgl. Abb. 2: Anteil Zeitungsberichte pro Jahr).

Viel Druckerschwärze verbrauchten die Medien für verschiedene Ereignisse hinsichtlich der Organisation der Bundesrechtspflege. Zum einen gab die Causa Lauber viel zu reden. Gegen den Bundesanwalt wurde ein Amtsenthebungsverfahren angestrengt, dem Michael Lauber mit seinem Rücktritt allerdings zuvorkam. Die Wahl eines neuen Bundesanwalts wurde zwar auf die Wintersession 2020 angesetzt, mangels geeigneter Kandidierender freilich auf 2021 verschoben. Die zunehmend in die mediale Kritik geratenen eidgenössischen Gerichte, aber auch der Vorschlag der SVP, ihren eigenen Bundesrichter abzuwählen, waren Nahrung für die 2021 anstehenden Diskussionen um die Justizinitiative. Was Letztere anbelangt, beschlossen die beiden Rechtskommissionen Ende Jahr, einen indirekten Gegenvorschlag zur Initiative auszuarbeiten.

Auch die direkte Demokratie wurde von den Auswirkungen der Covid-Pandemie nicht verschont, mussten doch die Volksabstimmungen vom 20. Mai verschoben werden. Darüber hinaus verfügte der Bundesrat Ende März einen Fristenstillstand bei den Initiativen und fakultativen Referenden: Bis Ende Mai durften keine Unterschriften mehr gesammelt werden und die Sammelfristen wurden entsprechend verlängert. Auftrieb erhielten dadurch Forderungen nach Digitalisierung der Ausübung politischer Rechte (z.B. Mo. 20.3908 oder der Bericht zu Civic Tech). Viel Aufmerksamkeit erhielt dadurch auch der in den Medien so benannte «Supersonntag»: Beim Urnengang vom 27. September standen gleich fünf Vorlagen zur Entscheidung (Begrenzungsinitiative, Kampfjetbeschaffung, Jagdgesetz, Vaterschaftsurlaub, Kinderabzüge). Nachdem Covid-19 die direkte Demokratie eine Weile ausser Gefecht gesetzt hatte, wurde die Abstimmung sozusagen als «Frischzellenkur» betrachtet. In der Tat wurde – trotz Corona-bedingt schwierigerer Meinungsbildung – seit 1971 erst an vier anderen Wochenenden eine höhere Stimmbeteiligung gemessen, als die am Supersonntag erreichten 59.3 Prozent.
Das Parlament beschäftigte sich 2020 mit zwei weiteren Geschäften, die einen Einfluss auf die Volksrechte haben könnten: Mit der ständerätlichen Detailberatung in der Herbstsession übersprang die Idee, völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter dem obligatorischen Referendum zu unterstellen, eine erste Hürde. Auf der langen Bank befand sich hingegen die Transparenzinitiative, deren Aushandlung eines indirekten Gegenvorschlags die Räte 2020 in Beschlag genommen hatte; Letzterer wird aber wohl aufgrund des Widerstands im Nationalrat eher nicht zustandekommen.

Jahresrückblick 2020: Institutionen und Volksrechte
Dossier: Jahresrückblick 2020

Nach dem «Horrorjahr für das Abstimmen per Mausklick», wie die NZZ die Entwicklungen 2019 für E-Voting bezeichnete, kehrte 2020 zuerst ein wenig Ruhe ein. Hinter den Kulissen geschah allerdings einiges. Auf der einen Seite entwickelte die Post, deren ursprüngliches E-Voting-System 2019 an einem Intrusionstest gescheitert war, ein alternatives System weiter. Dies stiess vor allem beim Komitee der Initiative für ein E-Voting-Moratorium auf Kritik. Deren Sprecher Nicolas A. Rimoldi sprach davon, dass die Post «auf einem toten Pferd» reite. Für Schlagzeilen sorgte Ende Mai, dass die spanische Firma Scytl, von der die Post 2019 die Rechte am Programmcode des neuen Systems übernommen hatte, Konkurs anmelden musste.
Auf der anderen Seite erarbeitete die Bundeskanzlei zusammen mit Kantonen und Expertinnen und Experten eine Neuausrichtung des Versuchsbetriebs für E-Voting. Im Zentrum standen Sicherheitsanforderungen und Zertifizierung neuer Systeme und die Frage nach Kontrolle und Aufsicht durch den Bund. Der Bericht lag Ende November vor und wurde vom Bundesrat Ende Dezember zur Kenntnis genommen. Es soll den Kantonen nach wie vor frei gestellt bleiben, ob und mit welchen Systemen sie an Versuchen mit E-Voting teilnehmen wollen. Kantonal dürfen maximal 30 Prozent und national maximal 10 Prozent der Stimmberechtigten elektronisch abstimmen. Der Bund erteilt dann Bewilligungen, wenn strenge Sicherheitsanforderungen erfüllt sind, die einem kontinuierlichen Überprüfungsprozess unterliegen, was zu stetigen Verbesserungen der Systeme führen soll. Ziel seien Systeme mit Open-Source-Lizenzen, die ständig unabhängig überprüft werden könnten. Der Bundesrat kündigte an, 2021 eine Vernehmlassung zu den notwendigen Revisionen der Verordnung über die politischen Rechte bzw. über die elektronische Stimmabgabe durchführen zu wollen. Ziel sei, dass die Bürgerinnen und Bürger einem möglichen dritten Stimmkanal vertrauen könnten. Es gelte aber nach wie vor «Sicherheit vor Tempo», erklärte Bundeskanzler Walter Thurnherr Ende Jahr in den Medien.

Bereits Anfang Juli hatte zudem das überparteiliche Komitee der E-Voting-Moratoriums-Initiative die Unterschriftensammlung abgebrochen. Bis November hätte noch praktisch die Hälfte der Unterschriften gesammelt werden müssen. Die Covid-19-Pandemie habe die Sammlung erschwert, aber mit dem Marschhalt 2019 sei trotzdem ein wichtiger Zwischenerfolg gelungen, gaben die Initiantinnen und Initianten beim Rückzug zu Protokoll.

Freilich bedeutet Digitalisierung der Demokratie nicht bloss digitales Wählen und Abstimmen. In der vor rund 20 Jahren vom Bund angestossenen Entwicklung im Rahmen von «Vote électronique» waren explizit auch E-Collecting, also die Ermöglichung, eine lancierte Volksinitiative mittels digitaler Unterschrift zu unterstützen, elektronische Vernehmlassungen oder elektronische Behördeninformationen als mögliche Projekte genannt worden. Neben E-Voting fristeten diese Unternehmungen allerdings höchstens ein Mauerblümchendasein. Dies sollte sich mit Hilfe der Unterstützung des «Prototype Fund» ändern, der lanciert vom Verein Opendata.ch und der Mercator-Stiftung Projekte finanziell unterstützen wollte, die «demokratische Partizipation in der Schweiz durch digitale Lösungen stärken», so die Beschreibung in der WoZ. Gefragt waren Projekte im Sinne einer «Demokratie für die Generation Smartphone» oder einer «Gamefication» der Demokratie, also der Möglichkeit, demokratische Prozesse spielerisch zu erfahren. In den Medien wurde zudem diskutiert, dass die Pandemie wohl auch der Digitalisierung der Demokratie Vorschub leisten könnte.

Auch E-Collecting erhielt 2020 Aufwind. Zumindest beauftragte der Nationalrat den Bundesrat mittels Postulat, einen Bericht über mögliche Auswirkungen der Einführung von E-Collecting zu verfassen. Eine Motion von Franz Grüter (svp, LU), mit der E-Collecting eingeführt werden sollte, wurde allerdings wieder zurückgezogen. Er sei aufgrund der Diskussionen um eine notwendige Erhöhung der Unterschriftenzahlen, die sein Vorstoss ausgelöst habe, zum Schluss gekommen, dass seine Motion eher zu einem Abbau der direkten Demokratie führen könnte und nicht, wie von ihm eigentlich beabsichtigt, zu einer Förderung, so Grüter.

Für Schlagzeilen sorgten wie schon im Vorjahr die verschiedenen Internetplattformen, die Unterschriftensammlungen digital unterstützten. Berichtet wurde über das «Unterschriftensammlungs-Tool» WeCollect von Daniel Graf, auf dem Unterschriftenbogen «per Mausklick heruntergeladen werden» können, so die Aargauer Zeitung. Die Plattform verfüge über Mailadressen von 75'000 Personen, die potenziell solche Bogen runterladen und unterschreiben bzw. unterschreiben lassen würden und so Unterstützung multiplizierten. Damit sei WeCollect zu einem «politischen Machtfaktor» geworden, wobei allerdings «hauptsächlich Anliegen aus dem rot-grünen Lager» unterstützt würden, so die Aargauer Zeitung. Um politisch unabhängiger zu werden, wandelte Graf die Plattform in eine Stiftung um, deren Leitungsgremium künftig darüber entscheiden soll, welche Begehren unterstützt werden. Dieses Leitungsgremium bleibe aber «eng mit SP und Grünen verbandelt», stellte die Aargauer Zeitung weiter fest. Ebenfalls für Schlagzeilen sorgte die «Agentur Sammelplatz Schweiz GmbH», die von Alexander Segert, dem Verantwortlichen zahlreicher SVP-Abstimmungs- und Wahlwerbungen, gegründet wurde. Auf der Plattform werde ein «Rundumservice» von der Formulierung des Initiativtexts über das Sammeln von Unterschriften bis hin zum Lobbying bei einer allfälligen Abstimmungskampagne angeboten, berichtete die Aargauer Zeitung. Da die traditionellen Kanäle für Unterschriftensammlungen – z.B. Anlässe, Strassensammlungen, Versand über Zeitschriften – an Effektivität verlören, könnte die digitale Hilfe an Bedeutung zunehmen, so die Zeitung. Kritisiert wurde freilich, dass es hier nicht um einen Ausbau, sondern eher um eine «Kommerzialisierung der direkten Demokratie» gehe, wie sich Daniel Graf in der Aargauer Zeitung zur Konkurrenz äusserte.
Die NZZ schliesslich berichtete von einer Studie des Zentrums für Demokratie Aarau, die zeige, dass vier von fünf Volksbegehren von grossen Parteien und Verbänden getragen würden. Rund 35 Prozent aller zwischen 1973 und 2019 zustande gekommenen Volksbegehren stammten laut Studie direkt aus einer Parteizentrale. Eine wichtige Bedingung für das Zustandekommen einer Volksinitiative scheint entsprechend der Resultate zudem zu sein, dass mindestens eine Parlamentarierin oder ein Parlamentarier dem Initiativkomitee angehöre. Ist dies der Fall, liege die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns bei 23 Prozent; im Gegensatz zu einer Wahrscheinlichkeit von 36 Prozent, wenn dies nicht der Fall ist. Laut NZZ könnte die Digitalisierung der Unterschriftensammlung kleinen Gruppierungen entsprechend entgegenkommen und dabei helfen, die Relevanz von grossen Organisationen zu reduzieren.

«Vote électronique» – Kritik und gesellschaftliche Debatte von 2015 bis 2022
Dossier: Vote électronique

Auch im Jahr 2020 wurde der Begriff der «Vorstossflut» bemüht – er war bereits in früheren Jahren im Rahmen von jeweils erfolglosen parlamentarischen Bestrebungen, etwas gegen die wachsende Arbeitsbelastung für das Parlament aufgrund einer immer grösseren Zahl an Vorstössen, parlamentarischen Initiativen und Standesinitiativen zu unternehmen, verwendet worden.

In der Tat zeichnete sich 2020 durch die höchste Zahl an Vorstössen und parlamentarischen Initiativen seit Bestehen des Bundesstaates aus. Nicht weniger als 3'049 oder 12.4 Ideen pro Parlamentsmitglied wurden in diesem Jahr neu vorgebracht. Die Zahlen des bisherigen Rekordjahrs 2019 (2'527) wurden damit noch einmal um rund 20 Prozent überboten. Dabei wurden neue Höchstzahlen an Fragen für die Fragestunde (1'113; 2019: 704), an Interpellationen (878; 2019: 855) und an Postulaten (259; 2019: 235) erreicht. Aber auch die 601 eingereichten Motionen (2019: 552) und die 107 parlamentarischen Initiativen (2019: 111) waren in ihrer Zahl überdurchschnittlich (vgl. «Vorstösse und Arbeitsbelastung 2020»).
Die Aargauer Zeitung vermutete die Corona-Pandemie als Ursache für die rekordhohe parlamentarische Aktivität. Eine von der Zeitung während der Sommersession 2020 durchgeführte Auswertung zeigte, dass bis dahin rund 500 neue Vorstösse Schlüsselwörter zu Covid (z.B. Pandemie, Kurzarbeit) aufwiesen. Kaum ein Politikfeld sei von der Krise nicht betroffen, was entsprechend Möglichkeiten für unterschiedlichste Vorstösse biete, so die Aargauer Zeitung. Der Blick zählte in der Sondersession im Mai und der Sommersession eine rekordhohe Anzahl von 807 Vorstössen, was zumindest teilweise auch auf den Abbruch der Frühlingssession zurückzuführen sei, bei der keine Gelegenheit mehr bestanden habe, Vorstösse einzureichen. Der Blick stellte dabei insbesondere die Kostenfrage ins Zentrum, zumal sich zahlreiche Bundesangestellte dieser Vorstösse annehmen und sie etwa auch übersetzen müssten. Mit der Kostenfrage konfrontiert, gab Fabian Molina (sp, ZH), der laut Blick in den beiden Sessionen am meisten Vorstösse verfasst habe, zu Protokoll, dass Demokratie nicht gratis sei. Thomas Aeschi (svp, ZG), vom Blick auf den Widerspruch der hohen Zahl an SVP-Vorstössen und der Forderung der Partei, bei der Verwaltung zu sparen, hingewiesen, begründete die Vorstösse seiner Partei damit, dass parlamentarischer Druck nötig sei, weil die Verwaltung «Politik im Elfenbeinturm, weit weg vom Volk» betreibe.
Ein Blick auf das gesamte Jahr zeigt zudem, dass auch die Kantone in die nationale Gesetzgebung eingreifen wollten wie nie zuvor: So wurden im Jahr 2020 mehr als doppelt so viele Standesinitiativen (45, 2019: 22) eingereicht wie im Durchschnitt seit 2000 (22). Noch nie gab es in einem Jahr zudem so viele neue Wahlgeschäfte (34; 2019: 32). Die Zahl der 2020 neu eingereichten Geschäfte des Bundesrats (82; 2019: 75) und der Petitionen (29; 2019: 35) lagen hingegen im langjährigen Durchschnitt.

Trotz des Abbruchs der Frühjahrssession war das Parlament 2020 nicht untätig. Es erledigte 254 Postulate (2019: 278), 523 Motionen (2019: 451), 94 parlamentarische Initiativen (2019: 124), 21 Standesinitiativen (2019: 24), 30 Wahlgeschäfte (2019: 33) und 24 Petitionen (2019: 25). Die 101 darüber hinaus erledigten Bundesratsgeschäfte bedeuteten zudem einen neuen Allzeitrekord (2019: 77). Unter dieser Zahl befindet sich aber auch eine ganze Reihe dringlicher Covid-19-Geschäfte, deren Behandlung jeweils innerhalb einer Session abgeschlossen wird. Eine grosse Last hatte freilich auch die Verwaltung zu tragen: Nicht weniger als 77 Anfragen (2019: 90), 1'113 Fragen für die Fragestunde (2019: 704) und 692 Interpellationen (2019: 875) wurden beantwortet.

Von den 523 im Jahr 2020 erledigten Motionen wurde rund ein Fünftel angenommen. Die Erfolgsquote von 21.8 Prozent war damit leicht niedriger als im Vorjahr (24.8%), lag aber noch immer über dem Durchschnitt seit 2000 (20.6%). Die Erfolgsquote könnte freilich höher liegen, waren doch rund ein Viertel der 409 nicht angenommenen Motionen vom Erstrat noch gutgeheissen worden. Überdurchschnittlich hoch war 2020 auch der Anteil an abgeschriebenen Motionen: Mehr als ein Drittel der 523 erledigten Motionen wurden abgeschrieben (202; 38.6%). Bei den Postulaten war die Erfolgsrate im Jahre 2020 mit 55.1 Prozent nicht nur höher als im Vorjahr (53.2%), sondern lag auch deutlich über dem langjährigen Schnitt. Seit 2000 wurden nämlich weniger als die Hälfte der Postulate pro Jahr angenommen (47.5% Erfolgsquote). Von den 114 im Jahr 2020 nicht angenommenen Postulate, wurden mehr als die Hälfte (69) abgeschrieben.

Arbeitsbelastung 2020
Dossier: Geschäftsstatistik der Bundesversammlung

In der Regel führt die Regierung eine oder zwei ihrer Bundesratssitzungen pro Jahr extra muros durch, «um dadurch auch der Verbundenheit mit den Kantonen Ausdruck zu geben», wie es in einer entsprechenden Broschüre heisst. 2020 führte der Bundesrat zwar einen Teil seines traditionellen Sommerausflugs durch, auf eine Sitzung ausserhalb des Bundeshauses verzichtete er aufgrund der Covid-19-Pandemie allerdings. Das an die Sitzung anschliessende Treffen mit der ortsansässigen Bevölkerung wäre wohl aufgrund der Schutzmassnahmen kaum möglich gewesen.

Bundesratssitzungen ‚extra muros‘

Aufgrund des Disziplinarverfahrens gegen den ehemaligen Bundesanwalt Michael Lauber habe sich die Berichterstattung über die bereits 2018 durchgeführte Inspektion des Generalsekretariats der Bundesanwaltschaft verzögert, so die AB-BA in ihrem entsprechenden Inspektionsbericht. Ausgangslage für die von der GPK in Auftrag gegebene Untersuchung des Generalsekretariats seien «unterschiedliche Ansichten über dessen Aufgaben und Umfang» gewesen. Auf der Basis von Umfragen und Dokumentenstudium habe die AB-BA unter anderem festgestellt, dass Grundlagendokumente wie Organigramme, Organisationsreglemente und -handbücher entweder ganz fehlten oder veraltet waren. Eine der zehn auf der Basis der Befunde hergeleiteten Empfehlungen war denn auch die Erneuerung und Erstellung dieser Dokumente. Des Weiteren stiess sich die Aufsichtsbehörde laut Bericht an der personellen Dotierung des Generalsekretariats, in dem rund 30 Prozent aller Mitarbeitenden beschäftigt seien. Empfohlen wurde hier eine Analyse, mit der entschieden werden könne, ob Ressourcen in das operative Kerngeschäft der Bundesanwaltschaft verschoben werden könnten. Statt wie unter dem ehemaligen Bundesanwalt Kommunikation mit der Öffentlichkeit zu suchen, empfehle die AB-BA zudem, die Kommunikationskultur innerhalb der Behörde zu stärken. Teilweise habe durch die vernachlässigte Kommunikation die Akzeptanz der Geschäftsleitung gelitten. Die verschiedenen Empfehlungen seien bewusst an die noch zu wählende Person gerichtet, die die Bundesanwaltschaft in Zukunft führen werde. Der Bericht solle «einen Überblick bieten und eine vorteilhafte Ausgangslage für nötige Erneuerungsprozesse schaffen». Die Nachfolgerin oder der Nachfolger von Michael Lauber habe viel Arbeit vor sich, waren sich die Medien in der Folge einig.

Inspektionsbericht über das Generalsekretariat der Bundesanwaltschaft
Dossier: Aufsichtsbehörde über die Bundesanwaltschaft (AB-BA)

Es kommt nur sehr selten vor, das die GK Empfehlungen für Wahlen an eidgenössische Gerichte nicht einstimmig abgibt. Dies war allerdings der Fall bei den Wahlen des Präsidiums und des Vizepräsidiums für das Bundesgericht für die Jahre 2021-2022. Das Bundesgericht hatte die amtierende Vizepräsidentin Martha Niquille (cvp) als Präsidentin und Bundesrichter Yves Donzallaz (svp) als Vizepräsidenten vorgeschlagen. Die GK und das Parlament seien zwar nicht weisungsgebunden, aus «Respekt vor den Institutionen und der Gewaltentrennung» entspreche die Kommission aber dem Antrag des Bundesgerichts, war in der Wahlempfehlung der GK zu lesen. Die SVP-Minderheit in der GK beantragte allerdings, dass das Parlament den Wahlvorschlag zurückweist, damit die GK zwei neue Personen zur Wahl vorschlagen könne.
Als Grund dafür führte Pirmin Schwander (svp, SZ), der den Antrag der GK-Minderheit in der Wintersession 2020 in der Debatte der Vereinigten Bundesversammlung vertrat, die Rolle der beiden Kandidierenden in der Untersuchung der Vorkommnisse am Bundesstrafgericht an. Die Kandidierenden waren in die Schlagzeilen geraten, weil sie der Verwaltungskommission des Bundesgerichts angehörten, die die entsprechenden Ereignisse untersuchen sollten. Der aus dieser Untersuchung resultierende Bericht war bei der GPK auf einige Kritik gestossen und hatte gar eine Strafanzeige gegen die drei Berichterstatter – neben Niquille und Donzallaz hatte auch der zurückgetretene Ulrich Meyer (sp) der Kommission angehört – nach sich gezogen. Auch in den Medien war der Bericht als mangelhaft hinsichtlich dem Verfahren und inhaltlich problematisch bezeichnet worden. Pirmin Schwander nannte den Bericht eine «Missachtung des parlamentarischen Auftrages, ein[en] Aufsichtsbericht, der unter Missachtung rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien erstinstanzliche Richter mittels Publikation im Internet an den Pranger stellte.» Die «auch in den Medien aufgegriffene Unprofessionalität» habe das Vertrauen in die Judikative geschmälert. Vertrauen und Professionalität könnten nur wiederhergestellt werden, wenn Personen das Präsidium übernähmen, die von internen Querelen unbelastet seien, so Schwander. Von Schwander unerwähnt blieb hingegen, dass sich die SVP im Rahmen der Gesamterneuerungswahlen der Bundesrichterinnen und -richter bereits gegen die Wiederwahl ihres Richters Yves Donzallaz gestellt hatte, weil dieser die Grundhaltung «seiner Partei» nicht mehr teile, wie damals das Verdikt der SVP lautete. Donzallaz war damals trotzdem bestätigt worden.
Der Sprecher für die Mehrheit der GK, Andrea Caroni (fdp, AR) berichtete, dass der Untersuchungsbericht sehr wohl auch Gegenstand der Anhörung der beiden Kandidierenden gewesen sei. Beide hätten ihr Verhalten erklären können und hätten sich motiviert gezeigt, die Zusammenarbeit zwischen den betroffenen Institutionen – Bundesgericht, Bundesstrafgericht und GPK – zu befördern. Martha Niquille habe sich zudem für die Tonalität im Bericht entschuldigt. Caroni erinnerte auch daran, dass das Bundesgericht bei Annahme des Rückweisungsauftrags bis frühestens zur Frühjahrssession 2021 ohne Präsidium sein würde.
Dieser Rückweisungsantrag wurde unter Namensaufruf der Ständeratsmitglieder und mittels elektronischer Abstimmung der Nationalratsmitglieder mit 168 zu 54 Stimmen (ohne Enthaltungen) abgelehnt. Lediglich sämtliche Mitglieder der SVP-Fraktionen stimmten für eine Rückweisung. In der Folge interessierten dann die Wahlresultate: Martha Niquille erhielt 173 gültige Stimmen. Eingelangt waren 227 Wahlzettel, von denen 53 leer eingelegt wurden und einer einen anderen Namen enthielt. Für Yves Donzallaz gingen 223 Wahlzettel ein; auf 160 davon stand sein Name, 62 waren leer geblieben und einer enthielt einen anderen Namen.
Ob den unschönen Tönen ging etwas unter, dass mit Martha Niquille zum ersten Mal in der 162-jährigen Geschichte des Bundesgerichts eine Frau an die Spitze des obersten eidgenössischen Gerichts gewählt worden war.

Bundesgericht. Präsidium und Vizepräsidium 2021-2022
Dossier: Unabhängigkeit der Judikative

Am 16. Dezember 2020 verstarb alt-Bundesrat Flavio Cotti in Locarno im Alter von 81 Jahren an den Folgen einer Infektion mit dem Coronavirus.
Er sei ein pragmatischer und offener Vollblutpolitiker gewesen, der gegnerische Lager vereinen konnte, schrieb der Bundesrat in seinem Nachruf. So habe er an der Spitze der überparteilichen Jugendbewegung eine kantonale Initiative zur Einführung des Frauenstimmrechts im Tessin lanciert – im Jahr 1966. Cotti sei auch als Bundesrat ein «Bewahrer mit progressiven Ideen» und «eine verbindende Persönlichkeit» gewesen. Als Vorsteher des EDA habe er unter anderem den Mut gehabt, Licht in ein dunkles Kapitel der Schweiz zu bringen und die nachrichtenlosen Vermögen untersuchen zu lassen. Mit der Präsidentschaft der OSZE (1996) habe er unter anderem das Dayton-Abkommen unterzeichnet, das den Jugoslawienkrieg beendet hatte. Zudem habe er erfolgreich die Bilateralen I unter Dach und Fach gebracht.
Die NZZ beschrieb den Tessiner CVP-Bundesrat als ehrgeizig und machtbewusst, mit einem «autoritären und impulsiven Führungsstil». Sein Charme, seine Eloquenz und die Mehrsprachigkeit hätten ihn in der Bevölkerung sehr beliebt gemacht. Der Tages-Anzeiger betitelte seinen Nachruf mit «Der Europäer». Cotti habe sich für einen EU-Beitritt der Schweiz stark gemacht und mit dem Nein zum EWR 1992 eine grosse Niederlage eingefahren. Aussenminister sei er danach nur geworden, weil sich Adolf Ogi im uneinigen Kollegium für ihn und gegen Arnold Koller ausgesprochen habe. Als Aussenminister habe sich der Tessiner für eine «pragmatische Neutralität» starkgemacht. Die Aargauer Zeitung nannte Cotti den «Meister des Deals»: Trotz EWR-Niederlage sei er optimistisch geblieben und habe rasch begonnen, den bilateralen Weg aufzubauen. Auch der Sonntags-Blick fand einen Titel für den Verstorbenen: «Geniesser der Macht». Er habe «weit über die Landesgrenzen hinaus» gestrahlt und sei «einer der intelligentesten, einer der gebildetsten» im Bundeshaus, die «bella figura der Schweizer Aussenpolitik», gewesen.
Cotti beschritt eine grosse politische Laufbahn. Von 1962 bis 1967 präsidierte er die junge CVP des Kantons Tessin. Mit 25 Jahren war er Gemeinderat von Locarno, mit 28 sass er im kantonalen Parlament. 1975, also schon mit 36 Jahren, wurde er in die Tessiner Kantonsregierung gewählt, der er 1977 und 1981 als Präsident vorstand. 1981 leitete Cotti die Kantonaltessiner CVP und 1983 eroberte er mit dem besten Wahlresultat auf Anhieb einen der Tessiner Nationalratssitze und wurde 1984 CVP-Präsident. Nur zwei Jahre später wurde er in die Landesregierung gewählt, wo er zuerst das EDI und ab 1993 das EDA übernahm. 1991 und 1998 war Cotti Bundespräsident. 1999 trat er aus dem Bundesrat zurück – gleichzeitig mit seinem Parteikollegen Arnold Koller. Ein strategischer Akt, welcher der CVP damals ein letztes Mal beide Bundesratssitze sicherte. Nach seinem Rücktritt zog sich Cotti ganz aus der nationalen Politik zurück.

Tod von alt-Bundesrat Flavio Cotti

Das Präsidium des Bundesverwaltungsgerichts wird alle zwei Jahre neu bestellt. Der Vorschlag für die Besetzung wird dabei vom Gericht selber der GK unterbreitet, die den Antrag an die Fraktionen weiterleitet. Dass für die Jahre 2021/2022 Marianne Ryter (sp) zur Präsidentin und Vito Valenti (fdp) zum Vizepräsidenten gewählt werden sollen, war in keiner Fraktion umstritten. Entsprechend erlangte Marianne Ryter in der Wintersession 2020 208 von 227 eingelangten Stimmen (5 leer, 14 ungültig) und wurde damit an die Spitze des Gerichts mit Sitz in St. Gallen gewählt. Vito Valenti erhielt 218 Stimmen; von den 227 eingelangten Wahlzetteln waren bei ihm neun leer geblieben.

Bundesverwaltungsgericht - Wahl des Präsidiums

In der Wintersession 2020 wählte die Vereinigte Bundesversammlung einen neuen nebenamtlichen Richter ans Bundesgericht. Die aufgrund der Wahl von Christoph Hurni (glp) zum ordentlichen Bundesrichter vakant gewordene Stelle sollte von einer Person mit Hauptsprache Italienisch und Kenntnissen im Zivilrecht besetzt werden. Von den 14 Bewerbungen (davon 6 Frauen) entschied sich die GK für Mattia Pontarolo (cvp), der nicht nur alle Voraussetzungen erfülle, sondern dessen Wahl auch zu einer Korrektur der leichten Untervertretung der Mitte-Fraktion im Bundesgericht führen würde. Die Bundesversammlung folgte der Empfehlung der GK und wählte Pontarolo mit 219 von 227 eingelangten Stimmen. 8 Wahlzettel waren leer geblieben.

Wahl eines nebenamtlichen Richters am Bundesgericht

Aufgrund der Covid-19-Pandemie wurden im Parlament einige Vorstösse lanciert, mit denen das Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive in Notlagen neu geregelt werden sollte. Darunter war die parlamentarische Initiative von Alfred Heer (svp, ZH), die verlangte, dass der Bundesrat Notrecht nur mit dem Parlament sprechen dürfe. In der Tat sieht Artikel 185 BV vor, dass der Bundesrat selbst entscheidet, wie er von seiner Kompetenz Gebrauch macht, Notrecht zu sprechen, welches dann bis zu sechs Monaten Geltung haben kann. Mit seinem Vorstoss wollte der Zürcher SVP-Politiker eine Genehmigung von Notrecht durch eine 2/3-Mehrheit des Parlaments einführen. Mit einfacher Mehrheit sollte die Bundesversammlung zudem geltendes Notrecht innerhalb der 6-Monatsfrist aufheben können. Es gehe nicht, dass «auch in einer kleinen Krise vom Notrecht exzessiv Gebrauch gemacht wird», betonte Heer in der Parlamentsdebatte. Deshalb müssten das Parlament gestärkt und die «Vollmachten des Bundesrats» eingeschränkt werden.
Anders sah dies die SPK-NR, die mit einer 18 zu 6-Stimmenmehrheit beantragte, der Initiative keine Folge zu geben, da sie «nicht krisentauglich» sei. Die Bestätigung durch das Parlament würde viel Zeit in Anspruch nehmen. Dürfte Notrecht gar erst nach der Zustimmung durch das Parlament in Kraft treten – dazu sage der Vorstoss allerdings nichts –, könnte in einer Krise grosser Schaden und Rechtsunsicherheit entstehen. Das Parlament sei darüber hinaus ja nicht machtlos, so der Bericht. Es könne bundesrätliches Notrecht mit einer Verordnung der Bundesversammlung oder einem eigenen Gesetz zumindest teilweise wieder ausser Kraft setzen. Zudem bestehe ein Konsultationsrecht der Kommissionen.
Die Mehrheit der grossen Kammer folgte den Empfehlungen ihrer Kommission und gab der Initiative mit 135 zu 51 Stimmen bei 1 Enthaltung keine Folge. Der Vorstoss von Alfred Heer wurde lediglich von seiner Fraktion grossmehrheitlich unterstützt.

Notrecht nur mit Parlament (Pa.Iv. 20.452)
Dossier: Parlament in Krisensituationen

Kaum war das eiligst beschlossene Gesetz für die Möglichkeit einer Teilnahme an Abstimmungen in Abwesenheit für an Covid-19 erkrankte oder sich in Isolation oder Quarantäne befindende Nationalratsmitglieder in Kraft getreten, kam es auch schon zur Anwendung. Sophie Michaud Gigon (gp, VD) wurde zum ersten Nationalratsmitglied, das sich von ausserhalb des Ratssaales an einer Abstimmung beteiligte. Die Parlamentsdienste hatten in der Zwischenzeit eine entsprechende Infrastruktur aufgebaut: Wer am Bildschirm von zuhause aus abstimmen müsse, müsse sich am Vortag anmelden und sich am Computer authentifizieren.

Teilnahme an Abstimmungen in Abwesenheit - wenigstens für Nationalratsmitglieder (Pa.Iv. 20.483)
Dossier: Parlament in Krisensituationen

In ihrem Bericht vom 17. November 2020 beantragte die GPK-SR, an die das Postulat von Daniel Jositsch (sp, ZH) für eine Überprüfung von Struktur, Organisation, Zuständigkeit und Überwachung der Bundesanwaltschaft zur Vorprüfung überwiesen worden war, lediglich einen Teil des Postulats anzunehmen. Abzulehnen sei Ziffer 1 des Postulats, die eine Überprüfung der Zweckmässigkeit der Struktur und der Organisation der Bundesanwaltschaft forderte. Diese Überprüfung werde durch die laufende GPK-Untersuchung bereits vorgenommen. Aus dem gleichen Grund sei auch Ziffer 3 des Postulats abzulehnen: Auch die Überprüfung, ob die Aufsichtsbehörde über die Bundesanwaltschaft (AB-BA) den an sie gestellten Anforderungen genüge, sei Gegenstand der GPK-Untersuchung. Zur Annahme empfahl die GPK-SR allerdings Ziffer 2 des Postulats: Der Bundesrat solle klären, ob die Verteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Kantonen im Bereich der Strafverfolgung nach zahlreichen Partialrevisionen noch zweckmässig sei. Teilweise bestünde Rechtsunsicherheit, weil die Zuständigkeiten nicht immer klar seien, begründete die GPK-SR ihre Empfehlung.
In der Ratsdebatte während der Wintersession 2020 führte Daniel Jositsch aus, dass er sein Postulat «vor allem auch im Zusammenhang mit der Diskussion um die Person des Bundesanwalts eingereicht» habe. Das Problem sei aber nicht der mittlerweile zurückgetretene Michael Lauber, vielmehr gebe es in der Bundesanwaltschaft strukturelle Probleme, die nicht durch das Ersetzen von Köpfen gelöst werden könnten. Er unterstütze aber den Antrag der GPK-SR, weil die Ziffern 1 und 3 seines Postulats bereits in Abklärung seien. Zu Wort kam auch der Präsident der AB-BA, Hanspeter Uster. Er begrüsse eine Evaluation der Aufsichtsbehörde und unterstütze auch eine Evaluation der Kompetenzaufteilung gemäss Ziffer 2 des Postulats. Schliesslich äusserte sich auch Justizministerin Karin Keller-Sutter. Sie begrüsse es, dass in dieser Frage eng mit den Kantonen zusammengearbeitet werden könne. Sie plane zudem den Einsatz einer Arbeitsgruppe. In der Folge wurde Ziffer 2 des Postulats stillschweigend überwiesen.

Bundesanwaltschaft - Überprüfung von Struktur, Organisation, Zuständigkeit und Überwachung (Po. 19.3570)
Dossier: Aufsichtsbehörde über die Bundesanwaltschaft (AB-BA)

Wie gut hat das Krisenmanagement der Bundesverwaltung während der Covid-19-Pandemie funktioniert? Mit dieser Frage beschäftigte sich die BK in zwei Berichten, die zwei verschiedene Phasen «der grössten gesundheitlichen und wirtschaftlichen Krise seit dem Zweiten Weltkrieg» für die Schweiz beleuchteten, wie der erste Bericht der Bundeskanzlei zum Krisenmanagement in der Exekutive einleitete. Der erste Bericht behandelte die Monate Februar bis August 2020; der zweite Bericht die Monate August 2020 bis Oktober 2021.
Der erste Bericht lag am 11. Dezember 2020 vor und beschrieb folgende Ausgangslage: Am 28. Februar hatte der Bundesrat aufgrund der raschen Verbreitung des Coronavirus gestützt auf das Epidemiengesetz die besondere und am 16. März die ausserordentliche Lage verkündet. Das öffentliche Leben wurde in der Folge stark eingeschränkt und «das Krisenmanagement der Bundesverwaltung lief auf Hochtouren». Mehr als 20 Krisenstäbe und Task-Forces waren laut Bericht aktiv und Bundesrat, Departemente und Bundeskanzlei wurden sehr stark in Anspruch genommen. Ab dem 27. April 2020 wurden die verhängten Massnahmen wieder schrittweise gelockert und am 19. Juni 2020 kehrte die Schweiz in die besondere Lage gemäss Epidemiengesetz zurück, womit sich die Krisenbewältigung vermehrt wieder vom Bund auf die Kantone verlagerte. Bereits am 20. Mai 2020, also noch während der ausserordentlichen Lage, hatte der Bundesrat die BK beauftragt, einen Bericht zum Krisenmanagement zu verfassen und daraus bis Ende 2020 Empfehlungen herzuleiten.
Dieser Bericht stützte sich auf Befragungen von Mitarbeitenden in Bundes- und Kantonsverwaltungen, auf Interviews wichtiger Akteurinnen und Akteure aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft und auf Dokumentenanalysen. Im Grossen und Ganzen zogen die Verfasserinnen und Verfasser des Berichtes einen positiven Schluss bezüglich des Krisenmanagements in der Exekutive: Die Bundesverwaltung habe mehrheitlich «effektiv gearbeitet». Allerdings wurde auf Mängel in der Effizienz des Krisenmanagements hingewiesen. Konkret beleuchtete der Bericht fünf Themenbereiche, zu denen konkrete Empfehlungen formuliert wurden:
Das erste Themenfeld umfasste die Zusammenarbeit mit den Kantonen, die zwar gut funktioniert habe, bei der aber Unklarheit hinsichtlich Zuständigkeiten und Informationsaustausch bestehe. Hier brauche es klar definierte Kontaktstellen und geregelte Informationsprozesse. Die Kantone müssten zudem angehört und informiert werden, bevor der Bundesrat eine Entscheidung fälle und bevor die Medien die entsprechenden Informationen erhalten. Beim Übergang von der ausserordentlichen in die besondere Lage müsse zudem die Koordination zwischen Bund und Kantonen verstärkt werden.
Der zweite Themenbereich behandelte die Entscheidungsgrundlagen und Notverordnungen – im Bericht als «Produkte» bezeichnet. Diese seien von guter Qualität gewesen, allerdings hätten sich die Kantone präzisere Erläuterungen zu den Verordnungen gewünscht. Schlecht funktioniert habe das Daten- und Informationsmanagement, weil sich die verschiedenen Informationsübermittlungs- und -aufbereitungssysteme als wenig kompatibel erwiesen hätten.
Zwar seien die rechtlichen Grundlagen und Krisenpläne – Gegenstand des dritten Themenfeldes – vorhanden und klar gewesen und hätten eine «situationsgerechte Reaktion» erlaubt. Zu wenig vorbereitet sei man jedoch auf die Planung, Beschaffung, Finanzierung und Lagerhaltung kritischen Materials (z.B. medizinischer Güter) gewesen. Zudem habe es an Regeln für die Zusammensetzung und Koordination von Krisenstäben gefehlt. Das Bundespersonal müsse künftig besser auf Krisen vorbereitet und für einen flexibleren Kriseneinsatz geschult werden.
Im vierten Themenfeld sei der Einbezug von externen Akteurinnen und Akteuren – etwa aus Wissenschaft oder Wirtschaft – «in ausreichendem Masse» erfolgt, so der Bericht. Allerdings habe dieser wenig systematisch und teilweise zu spät stattgefunden. Die entsprechenden, bereits existierenden Netzwerke sollten deshalb ausgebaut werden, empfahl der Bericht.
Das fünfte Themenfeld war der Kommunikation gewidmet. Dank seiner «durchwegs als positiv und vertrauensbildend bewerteten» externen Kommunikation sei der Bundesrat «als kohärent agierendes Gremium wahrgenommen» worden, so der Bericht. Die verwaltungsinterne Kommunikation sei hingegen bei den Befragungen als nicht rechtzeitig und unpräzis kritisiert worden. Hier brauche es eine Verbesserung der Informationswege.

In einer Medienmitteilung wies der Bundesrat darauf hin, dass beim Verfassen des Berichts nicht absehbar gewesen sei, dass nach der ersten Pandemiewelle noch eine «schwierigere zweite» Welle folgen würde. Der Bericht werde entsprechend genutzt, um das aktuelle, dieser ersten Welle folgenden Krisenmanagement zu verbessern und um einige Empfehlungen rasch umzusetzen. Im zweiten Bericht sei dann zu untersuchen, weshalb das Krisenmanagement, das sich in der ersten Welle bewährt habe, «mit der zweiten Welle in viel grössere Schwierigkeiten geriet».

Bericht der Bundeskanzlei zum Krisenmanagement in der Exekutive

Gerade einmal 20 Tage vergingen zwischen der Einreichung der parlamentarischen Initiative der SPK-NR für die Ermöglichung der Teilnahme an Abstimmungen in Abwesenheit – wenigstens für Nationalratsmitglieder – und der Annahme ihrer Umsetzung in beiden Räten. Die SPK-SR hatte beim neuerlichen Vorstoss der Schwesterkommission (nach der gescheiterten Pa.Iv. 20.475) – wohl auch aufgrund der wieder ansteigenden Covid-19-Fallzahlen – ein Einsehen und gab dem Ansinnen Ende November mit 8 zu 4 Stimmen Folge.
Nur einen Tag später – am zweiten Tag der Wintersession 2020 – unterbreitete die SPK-NR dann ihrem Rat eine dringliche bis Ende der Herbstsession 2021 befristete Revision des Parlamentsgesetzes. Ziel sei es, die Vorlage rasch durch die Räte zu bringen und ein Differenzbereinigungsverfahren zu verhindern, damit die Möglichkeit einer Teilnahme bei Abstimmungen für von Covid-19 betroffene Nationalratsmitglieder von ausserhalb des Nationalratssaals zumindest für die dritte Sessionswoche gegeben sei. Die Mehrheit der Kommission begründete das Ansinnen damit, dass es zu einer Verzerrung der Abstimmungen kommen könnte, wenn zu viele Ratsmitglieder aufgrund von vorgeschriebener Isolation oder Quarantäne in Folge einer Covid-19-Erkrankung abwesend wären und dies etwas eine Fraktion stärker als eine andere betreffen würde. Ein erneuter Abbruch der Session müsse verhindert werden.
Das Gesetz gelte nur für den Nationalrat, weil dort Proportionalität wichtiger sei als im Ständerat, führte Kommissionssprecherin Marianne Binder-Keller (cvp, AG) in der Nationalratsdebatte aus. Sie betonte, dass lediglich von Covid-19 betroffene Nationalratsmitglieder das Recht erhalten sollen, ihre Stimme in Abwesenheit abgeben zu können. Dies gelte zudem lediglich für Abstimmungen, nicht aber für Voten im Rat, das Einreichen von Vorstössen oder die Teilnahme bei Wahlen. Gäbe es technische Schwierigkeiten, würden deshalb keine Abstimmungen wiederholt. Eine Kommissionsminderheit beantragte Nicht-Eintreten. Ihr Sprecher Gregor Rutz (svp, ZH) fragte sich, ob man auf dem Weg zum «Pyjama-Parlament» sei. Man müsse in der jetzigen Situation «ruhig Blut bewahren» und dürfe diese «unausgegorene, widersprüchliche und verfassungswidrige» Vorlage nicht «überschnell» einführen. Parlamentarische Arbeit sei nicht einfach Abstimmen, sondern beinhalte Willensbildung, die nur vor Ort geschehen könne. Man könnte ansonsten ja auch einfach Fragebogen an die Parlamentsmitglieder verschicken, was eine Menge an Kommissionsarbeit sparen würde. Zudem werde der Grundsatz des Zweikammersystems verletzt, wenn das Gesetz nur für die grosse Kammer gelte. Wenn nur an Covid-19 Erkrankte vom Recht Gebrauch machen dürften, sei darüber hinaus die Gleichbehandlung verletzt. Er sehe nicht ein, weshalb jemand mit einer «normalen Grippe» oder einem «Beinbruch» nicht auch von zu Hause aus abstimmen dürfe. Wenn es wirklich so weit kommen würde, dass eine erhebliche Anzahl an Nationalrätinnen und Nationalräten nicht mehr an der Session teilnehmen könnte – «was wir nicht glauben» –, dann müsste man die Session, wie von Verfassung und Gesetz vorgesehen, abbrechen. «Die Schweiz würde nicht untergehen, wenn wir mal eine Woche nicht tagen würden». Auf diese «Bastelarbeit» dürfe aber nicht eingetreten werden, so Rutz.
Nachdem alle anderen Fraktionen für Eintreten plädiert hatten – es herrschte Konsens, dass das Parlament seine Verantwortung auch in einer Krisensituation wahrnehmen können müsse, auch wenn es sich bei der Vorlage nicht um eine perfekte Lösung handle –, wurde mit 125 zu 61 Stimmen (3 Enthaltungen) Eintreten beschlossen. Zur geschlossen stimmenden SVP-Fraktion gesellten sich acht Mitglieder der FDP- und zwei Mitglieder der Mitte-Fraktion, die ebenfalls gegen Eintreten stimmten. Ohne weitere Diskussion nahm dann eine Mehrheit von 123 gegen 62 Stimmen (5 Enthaltungen) den Entwurf an, der damit an den Ständerat ging.

Dort sprach Kommissionssprecher Andrea Caroni (fdp, AR) zwei Tage später von einem «historischen» Projekt, da zum ersten Mal seit 1848 die Grundlage für Abstimmungen ohne Anwesenheit im Parlamentsgebäude geschaffen werde. Die Vorlage sehe allerdings einzig vor, den Abstimmungsknopf zuhause am Computer über einen gesicherten Link statt vor Ort zu drücken. Eine Kommissionsminderheit brachte zahlreiche staatspolitische und institutionelle Bedenken vor, wie sie zuvor bereits im Nationalrat zu vernehmen gewesen waren. Lisa Mazzone (gp, GE) argumentierte hingegen mit «respect institutionnel». Sie sei ebenfalls unzufrieden mit der Vorlage, wolle aber dem Nationalrat nicht im Wege stehen und die Vorlage in Anbetracht ihrer Befristung gutheissen. Man könne sich ja auch der Stimme enthalten und den Nationalrat machen lassen, ergänzte Philippe Bauer (fdp, NE). In der Folge entbrannte in der kleinen Kammer eine lebhafte und recht ausführliche Diskussion darüber, ob man dem Schwesterrat eine Sonderregelung zugestehen solle, wie sich Daniel Jositsch (sp, ZH) ausdrückte, oder ob mit einer solchen Regelung leichtfertig oder gar fast fahrlässig Gesetze beschlossen werden könnten, wie dies Hannes Germann (svp, SH) befürchtete. Schliesslich schien die Meinung zu überwiegen, dass der Nationalrat das Recht haben soll, die Möglichkeit für Abstimmen in Abwesenheit in dieser aussergewöhnlichen Situation für sich selbst zu schaffen. Mit 27 zu 13 Stimmen bei 4 Enthaltungen hiess entsprechend auch der Ständerat die Vorlage gut.

Damit konnten in einem nächsten Schritt beide Kammern über die Dringlichkeitsklausel abstimmen. Im Nationalrat wurde diese mit 130 zu 35 Stimmen (4 Enthaltungen) und im Ständerat mit 29 zu 11 Stimmen (3 Enthaltungen) angenommen. Damit stand den Schlussabstimmungen, die Mitte der Wintersession durchgeführt wurden, nichts mehr im Wege. Mit 125 zu 65 Stimmen (4 Enthaltungen) nahm die grosse Kammer die Teilnahme in Abwesenheit für an Covid-19 erkrankte Nationalratsmitglieder an. Die kleine Kammer hiess die Vorlage mit 25 zu 7 Stimmen (3 Enthaltungen) gut.

Teilnahme an Abstimmungen in Abwesenheit - wenigstens für Nationalratsmitglieder (Pa.Iv. 20.483)
Dossier: Parlament in Krisensituationen

Anfang Dezember 2020 beschloss die Aufsichtsbehörde über die Bundesanwaltschaft die Wiederwahl von Hanspeter Uster als Präsident der AB-BA. Die sieben von der Vereinigten Bundesversammlung jeweils für vier Jahre gewählten Mitglieder der Behörde bestimmen das Präsidium aus ihren Reihen selber, wobei eine einmalige Wiederwahl für die zweijährige Amtsperiode möglich ist. Neben Hanspeter Uster, der einstimmig für seine zweite präsidiale Amtsperiode von 2021-2022 gewählt wurde, beschloss das Gremium ebenfalls ohne Gegenstimmen, Isabelle Augsburger-Bucheli, die bereits vier Jahre im Vizepräsidium gesessen hatte, durch Alexia Heine zu ersetzen.

Wiederwahl von Hanspeter Uster als Präsident der AB-BA für die Amtsperiode 2021-2022
Dossier: Aufsichtsbehörde über die Bundesanwaltschaft (AB-BA)

Anfang November 2020 reichte die RK-NR eine parlamentarische Initiative ein, mit der eine Grundlage für einen indirekten Gegenvorschlag zur Justizinitiative geschaffen werden soll. Der Vorschlag sah vor, dass die Richterinnen und Richter für alle Gerichte der Schweizerischen Eidgenossenschaft (Bundesgericht, Bundesstrafgericht, Bundesverwaltungsgericht, Bundespatentgericht) nach wie vor von der Vereinigten Bundesversammlung gewählt werden sollen. Allerdings soll die Wahl nicht mehr nur auf einem Antrag der Gerichtskommission (GK) beruhen, sondern zusätzlich auf einer Vorselektion, die durch eine zu bestimmende Fachkommission getroffen wird, welche die fachliche und persönliche Eignung der Kandidierenden evaluiert. Die Amtsdauer aller nationalen Richterinnen und -richter soll auf sechs Jahre festgelegt werden, wobei die Wiederwahl automatisch geschehen soll – allenfalls durch die GK auf Empfehlung der genannten Fachkommission. Dies stellte eine Konzession an die Initianten dar, da im aktuellen Verfahren das Parlament die Wiederwahl vornimmt. Auch zukünftig soll Abberufung jedoch bei schwerer Pflichtverletzung möglich sein, wobei die Fachkommission den Sachverhalt zu klären hätte. Die Parteien selber müssten gemäss Vorschlag der RK-NR die Unabhängigkeit ihrer Richterinnen und Richter gewährleisten, wobei explizit Alternativen zu Mandatsabgaben gefordert werden. Letzteres wurde auch von einer noch nicht behandelten parlamentarischen Initiative Walti (fdp, ZH; Pa.Iv. 20.468) vorgeschlagen.
Anfang Dezember stimmte die RK-SR dem Begehren ihrer Schwesterkommission knapp mit 6 zu 6 Stimmen bei einer Enthaltung und Stichentscheid des Präsidenten Beat Rieder zu. Die Kommission sei der Ansicht, dass sich das aktuelle Wahlsystem für Bundesrichterinnen und -richter bewährt habe, dass es aber prüfenswerte Fragen gebe. Die RK-NR solle aber nur «die für absolut notwendig erachteten Verbesserungen» ausarbeiten.

Unabhängige und kompetente Richterinnen und Richter des Bundes. Indirekter Gegenvorschlag zur Justizinitiative (Pa.Iv. 20.480)
Dossier: Unabhängigkeit der Judikative
Dossier: Justizinitiative

Am 1. Dezember 2020 feierte Ueli Maurer seinen 70. Geburtstag, was in den Medien unterschiedliches Echo auslöste. Er sei zwar mit Abstand das älteste Regierungsmitglied, müsse aber – ziehe man den Vergleich mit dem amerikanischen Präsidenten Jo Biden (78 Jahre) – noch lange nicht an Rücktritt denken, gratulierte etwa die Aargauer Zeitung. In der Tat war verschiedentlich spekuliert worden, dass der Finanzminister wohl bald demissionieren werde. In den Medien wurde zudem die Historie bemüht: Maurer ist seit 1848 erst der zehnte Magistrat, der im Amt 70 Jahre oder älter wird. Seit Einführung der Zauberformel 1959 wurde mit Ausnahme Maurers gar kein Bundesratsmitglied im Amt älter als 70 Jahre. Dies war im 19. Jahrhundert deshalb noch häufiger der Fall, weil die meisten Bundesräte lange in ihrem Amt geblieben waren. Den Altersrekord hält Adolf Deucher (fdp), der 1912 mit 81 im Amt verstorben war.
In den Medien zu schreiben gab auch die Gratulationsaktion im Nationalrat: Parlamentarierinnen und Parlamentarier aus allen Fraktionen sangen mit Ballonen in der Hand «Happy Birthday». Dies löste in den sozialen Medien einen Sturm der Entrüstung aus, weil die Singenden und einige der Gratulantinnen und Gratulanten nicht wie vorgeschrieben Masken trugen und das BAG als Massnahme zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie kurz zuvor empfohlen hatte, sogar in der Familie keine Weihnachtslieder zu singen, weil Aerosole den Virus verbreiten würden. Der Blick appellierte – wie der Bundesrat seit Monaten schon – an die Eigenverantwortung, die er hier allerdings vermisste: «Die parlamentarische Immunität schützt vor vielem, nicht aber vor einer Ansteckung.» Auch der Tages-Anzeiger forderte, dass «sich ein bisschen zusammenreissen» insbesondere von Parlamentsmitgliedern nicht zu viel verlangt sei.

Ueli Maurer wird 70 - Alter von Bundesräten

Das erste Geschäft der Wintersession im Ständerat ist jeweils die Wahl des Büros, die mit der Rede des scheidenden Präsidenten eingeläutet wird. Der im Jahr 2020 amtierende Präsident Hans Stöckli (sp, BE) sagte, er sei froh, dass lediglich ein Mitglied der kleinen Kammer wegen Covid-19 die Sessionsarbeit nicht habe aufnehmen können. Tatsächlich sei sein Präsidialjahr unter dem Einfluss der Pandemie gestanden, die Leid gebracht und zahlreiche Opfer gefordert habe. Sie werde Spuren hinterlassen, die in wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und politischer Hinsicht noch lange spürbar bleiben werden. Auch der Ratsbetrieb sei nicht verschont geblieben; der Tiefpunkt seines Präsidialjahres sei der Abbruch der Frühjahrssession gewesen – so Stöckli. Freilich habe die Organisation der ausserordentlichen Session und der Sommersession in der BernExpo auch gezeigt, dass das Parlament in Krisensituationen reagieren könne. In Erinnerung werde ihm bleiben, in welch kurzer Zeit die Arbeiten während dieser schwierigen Phase immer wieder hatten erledigt werden müssen.
Stöckli erhielt grossen Applaus und schritt dann zur Wahl seines Nachfolgers. Alex Kuprecht (svp, SZ), der seit 17 Jahren Mitglied der kleinen Kammer ist, wurde mit 43 von 44 eingelangten Wahlzetteln gewählt; ein Zettel war leer geblieben. Der Gewählte dankte für die Wahl, die der Höhepunkt seiner politischen Laufbahn darstelle. Er interpretiere die Wahl als Vertrauen und als Verpflichtung, die kleine Kammer «unaufgeregt, aber mit Umsicht und Effizienz über die Partei-, Sprach-, regionalen und ideologischen Grenzen hinweg» zu führen – ganz im Sinne der Tradition des Ständerats als «Chambre de Réflexion». Er gehe davon aus, dass die Welt nicht mehr so sein werde wie vor der Pandemie. Krisenmanagement sei nun gefragt, das sich auf nüchterne Analysen von Expertinnen und Experten stützen müsse und rasches Handeln durch die Politik verlange. In Zeiten der Krise müsse man auf zu umfassende partizipative und föderalistische Prozesse auch mal verzichten und mit einer Stimme sprechen. Es brauche – im Gegensatz zu immer neuen Vorschriften – pragmatische Lösungen. Der Ständerat müsse einen Kontrapunkt zum parteipolitisch geprägten Nationalrat setzen. Entsprechend müssten in der kleinen Kammer vielmehr Sachlichkeit, Augenmass, Weitblick und Kollegialität vorherrschen. «Lassen Sie uns mehr reflektieren und weniger auf die flüchtigen medialen Befindlichkeiten und die Kapriolen der sozialen Medien achten!», forderte er die Ständerätinnen und Ständeräte auf.
Nachdem die Originalkapelle Carlo Brunner mit zwei Musikstücken für ein Intermezzo gesorgt hatte, schritt Kuprecht als erste Amtshandlung zur Wahl des Büros. Zum ersten Vizepräsidenten wurde Thomas Hefti (fdp, GL) bestimmt. Auch er erhielt 43 Stimmen aus 44 eingelangten Wahlzetteln und auch bei ihm blieb ein Wahlzettel leer. Das genau gleiche Resultat erzielte auch Brigitte Häberli-Koller (cvp, TG), die als amtierende Stimmenzählerin zur zweiten Vizepräsidentin des Ständerats gekürt wurde. Zur Stimmenzählerin wiederum avancierte Elisabeth Baume-Schneider (sp, JU), die mit 40 Stimmen (von 43 eingelangten Wahlzetteln blieben 3 leer) gewählt wurde. Und schliesslich wurde das Büro mit der Neo-Ständerätin und Ersatzstimmenzählerin Lisa Mazzone (gp, GE) vervollständigt, die 36 Stimmen (von 43 eingelangten Wahlzetteln) erhielt. 3 Wahlzettel blieben leer und vier Bulletins entfielen auf Diverse. Mazzone war ein Jahr zuvor als erste grüne Ständerätin überhaupt ins Büro-SR gewählt worden und wird – eine Wiederwahl bei den eidgenössischen Wahlen 2023 vorausgesetzt – ab Winter 2024 die kleine Kammer als erstes grünes Parteimitglied präsidieren.

Wahl ins Ständeratspräsidium 2020/21
Dossier: Nationalrat und Ständerat. Wahl des Präsidiums und des Büros

Ende November 2020 fanden Lohngespräche zwischen den Personalverbänden und dem Finanzminister Ueli Maurer statt. Aufgrund der Corona-Krise, die ein Loch in den Bundeshaushalt zu reissen drohte, und weil man von einer negativen Teuerung ausging, wurde beschlossen, für das kommende Jahr keine Lohnmassnahmen für die Bundesangestellten zu treffen. Die Forderung der Personalverbände, statt Lohnerhöhungen den Vaterschaftsurlaub von 10 auf 20 Tage zu verlängern, wolle Ueli Maurer dem Bundesrat unterbreiten, war der entsprechenden Medienmitteilung zu entnehmen. Bei den Gesprächen wurde zudem die Absichtserklärung 2020–2023 zwischen Bund und den Sozialpartnern unterzeichnet, mit der die Sozialpartnerschaft umrissen wird und die wichtigsten Probleme und Lösungen in der Personalpolitik festgelegt werden.

Lohnmassnahmen Bundesverwaltung für das Jahr 2021

Am 25. November 2020 nahm die GK die Resultate des externen Assessments für die beiden Kandidaturen für die Stelle einer neuen Bundesanwältin oder eines neuen Bundesanwalts zur Grundlage, das Verfahren neu aufzurollen und das Amt noch einmal auszuschreiben. Keiner der beiden Kandidierenden – noch im Rennen wären Olivier Jornot und Andreas Müller gewesen – bringe die nötigen Fähigkeiten mit, die es für das Amt der Bundesanwaltschaft brauche. Es müsse eine Person mit langjähriger Erfahrung sein, die Führungskompetenzen habe und geeignet sei, «Ruhe in eine Behörde zu bringen, um die es in den letzten Jahren viel Wirbel gab», wie sich die Kommission in ihrer Medienmitteilung äusserte. Neues Ziel sei es, dem Parlament in der Frühjahrssession 2021 eine neue Kandidatur zu präsentieren. Zudem schlage man zuhanden der Rechtskommission vor, das Rücktrittsalter für die Bundesanwaltschaftsstelle auf 68 Jahre (von heute 65 bzw. 64) anzuheben.
In der Presse wurde vermutet, dass eine Kombination aus beiden Personen «den idealen Kandidaten ergeben» hätte (NZZ). Ob eine zweite Runde geeignetere Kandidaturen bringen würde, stehe allerdings in den Sternen, vor allem auch dann, wenn Details aus den Bewerbungen an die Öffentlichkeit gelangten, so die NZZ weiter. Dies habe wohl auch damit zu tun, dass das Parlament selber die Wahlbehörde sei, kritisierte die Aargauer Zeitung. Auch der Tages-Anzeiger bemängelte das Verfahren: Die GK schreibe die Stelle lediglich aus, suche aber nicht aktiv nach geeigneten Personen. Die mit dem Verfahren verknüpften Unsicherheiten würden dieses wohl noch weiter verlängern, augurte die Westschweizer Zeitung Le Temps. Sie bezeichnete den Entscheid überdies als Überraschung, da Olivier Jornot ein nahezu perfekt passendes Profil mitgebracht habe. Und auch die Tribune de Genève ärgerte sich über die negative Presse, die Jornot erhalten habe: Man regle alte Fehden in der Öffentlichkeit, bevor die Verantwortlichen überhaupt entschieden hätten.
Andrea Caroni (fdp, AR), Präsident der GK, gab der Aargauer Zeitung zu Protokoll, dass eine Wahlempfehlung einer der beiden Kandidierenden unverantwortlich gewesen wäre. Christian Lüscher (fdp, GE) kritisierte allerdings, dass die Kommission ihre Verantwortung nicht wahrgenommen habe: Die Deutschschweizer Presse habe sich – unterstützt durch Indiskretionen der deutschsprachigen Mitglieder der Kommission – gegen den Kandidierenden aus der Romandie eingeschossen. Lüscher dachte laut darüber nach, die Wahl des Bundesanwaltes wieder dem Bundesrat zu überlassen, wie dies bis 2010 der Fall gewesen war.

Wahl eines neuen Bundesanwalts
Dossier: Wahlen des Bundesanwalts
Dossier: Michael Lauber - Bundesanwalt

Man sehe sich nicht im Stande, in den verbleibenden fünf Monaten die noch nötigen Unterschriften zu sammeln – in den Medien war die Rede davon, dass erst rund 50'000 Signaturen vorlagen –, gaben Franz Grüter (svp, LU) und Balthasar Glättli (gp, ZH) vom überparteilichen Komitee der eidgenössischen Volksinitiative «Für eine sichere und vertrauenswürdige Demokratie (E-Voting-Moratorium)» Ende Juni 2020 bekannt. Aufgrund des Fristenstillstands war das Sammeln von Unterschriften zwischen 21. März und 31. Mai 2020 verboten worden. Auch wenn die Frist für die Unterschriftensammlung um diese 72 Tage verlängert worden sei, würden es die momentan geltenden Massnahmen – Abstandregeln, Veranstaltungsverbote, Hygienevorschriften – praktisch verunmöglichen, die fehlenden Unterschriften noch rechtzeitig zusammenzubringen, argumentierte das Komitee. Man habe aber trotz des Scheiterns wichtige Ziele erreicht. So war in der Zwischenzeit die eigentlich geplante Einführung der digitalen Stimmabgabe als ordentlichem dritten Stimmkanal aufgrund von gravierenden Sicherheitsmängeln des Betriebssystems der Post gestoppt worden. Die Initiative, die einen Stopp der Nutzung von E-Voting verlangt hätte, bis zentrale Sicherheitsstandards eingehalten werden können, habe zu einer Sensibilisierung beigetragen, urteilte auch die WoZ. Zudem zeigten die gesammelten 50'000 Unterschriften, dass ein Referendum durchaus möglich sei, sollte E-Voting in den nächsten Jahren trotzdem eingeführt werden.
Am 23. November 2020 teilte die Bundeskanzlei offiziell mit, dass die Frist für die Initiative «unbenützt abgelaufen» sei.

Eidgenössische Volksinitiative «Für eine sichere und vertrauenswürdige Demokratie (E-Voting-Moratorium)»
Dossier: Vote électronique

Nachdem die SPK-SR den ersten Vorschlag ihrer Schwesterkommission abgelehnt hatte, doppelte die SPK-NR nur wenige Tage später nach und reichte neuerlich eine parlamentarische Initiative ein, die Basis für ein dringliches Bundesgesetz sein soll, mit dem die Teilnahme an Abstimmungen in Abwesenheit – wenigstens für Nationalratsmitglieder – ermöglicht werden soll. Angehörigen der grossen Kammer, die aufgrund einer Covid-19-Erkrankung (Isolation oder Quarantäne) nicht an Ratssitzungen und Abstimmungen teilnehmen können, soll mittels «Fernabstimmungssystem» ermöglicht werden, gleichzeitig wie die vor Ort anwesenden Parlamentarierinnen und Parlamentarier von zu Hause aus ihre Stimme abgeben zu können. Das auszuarbeitende Gesetz soll ausdrücklich nur für den Nationalrat gelten, maximal ein Jahr Gültigkeit haben und Wahlgeschäfte oder geheime Abstimmungen ausschliessen. Die knappe Mehrheit der Kommission – der Entscheid für das Vorhaben fiel mit 9 zu 8 Stimmen (7 Enthaltungen) – hoffte, dass mit der Beschränkung auf den Nationalrat auch die SPK-SR ihr Plazet geben werde, damit die Regelung allenfalls wenigstens gegen Ende der anstehenden Wintersession 2020 angewendet werden könnte. Die ständerätliche Kommission hatte gegen die erste Forderung, die sowohl für den Ständerat als auch für den Nationalrat hätte gelten sollen, staatspolitische Bedenken angebracht: Beratungen bräuchten nicht nur passives Zuhören – im Home-Office via Livestream ermöglicht – und Abstimmen, sondern auch persönlichen Austausch, was aber physische Präsenz vor Ort voraussetze.

Teilnahme an Abstimmungen in Abwesenheit - wenigstens für Nationalratsmitglieder (Pa.Iv. 20.483)
Dossier: Parlament in Krisensituationen