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Die in der Regel als relativ unbestritten geltenden Gesamterneuerungswahlen des Bundesgerichts wurden 2020 zur Vorlage für eine fast epische Diskussion um die Gewaltenteilung. Den Wahlen für die Amtsperiode 2021-2026 war nämlich die medial virulent diskutierte Ankündigung der SVP vorausgegangen, Yves Donzallaz, einen der SVP angehörenden Bundesrichter, nicht wiederzuwählen.
Ursprung der Weigerung der SVP war unter anderem ein Entscheid des Bundesgerichtes im Sommer 2019, einem Amtshilfegesuch Frankreichs zuzustimmen, das die Auslieferung von Bankkundendaten verlangte. In diesem Urteil hatte besagter Donzallaz laut Blick «das Zünglein an der Waage» gespielt, zum Unverständnis seiner Partei. In der Folge stellten SVP-Politiker in den Medien offen die Frage, «ob wir Bundesrichter unserer Partei wiederwählen wollen, wenn sie in keiner Weise unser Gedankengut vertreten» – so etwa Fraktionschef Thomas Aeschi (svp, ZG) in der Sonntagszeitung. Pirmin Schwander (svp, SZ) forderte in der gleichen Zeitung gar ein Amtsenthebungsverfahren gegen den eigenen Bundesrichter. Thomas Matter (svp, ZH) wiederum kündigte in der Liberté an, dass er den Namen dieses Richters bei dessen Wiederwahl sicher nicht vergessen werde. Donzallaz war laut der Basler Zeitung bereits 2015 von der Weltwoche als «Abweichler» bezeichnet worden, weil er mitentschieden hatte, dass das Freizügigkeitsabkommen mit der EU Vorrang vor der Masseneinwanderungsinitiative der SVP habe.
Gegen die Reaktion der SVP wurde in den Medien rasch Kritik laut. Sie wurde von vielen Kommentatorinnen und Kommentatoren als Angriff auf die Unabhängigkeit der Judikative oder als Respektlosigkeit gegenüber der Gewaltenteilung verurteilt. Diskutiert wurde in der Folge auch, ob Parteipolitik überhaupt einen Einfluss auf die Rechtsprechung haben dürfe – eine Frage, die auch mit der Justizinitiative einer Antwort harrt, die im Tages-Anzeiger als «grösste Profiteurin der Querelen» bezeichnet wurde. Auch die Weltwoche kritisierte einen Angriff auf die Gewaltenteilung, allerdings aus alternativer Perspektive: Die Judikative setze sich beim Urteil über die Herausgabe der Bankkundendaten im Verbund mit der Exekutive über die Legislative und den Souverän hinweg. Zu reden gab schliesslich auch der unmittelbar nach der SVP-Kritik gefällte Entscheid des SVP-Fraktionschefs Thomas Aeschi, in der Gerichtskommission Einsitz zu nehmen. Die SVP mache «die Richterwahlen zur Chefsache», urteilte die Aargauer Zeitung.

Kurz nach der Entscheidung des Bundesgerichtes im Herbst 2019 ebbte die entsprechende Diksussion zwar wieder ab, allerdings nur um rund ein Jahr später bei der Vorbereitung der Wiederwahl der Richterinnen und Richter des Bundesgerichts wieder sehr laut zu werden. Der Sonntagsblick berichtete rund drei Wochen vor der für die Herbstsession 2020 angesetzten Wahl von mehreren Quellen, die bestätigten, dass die SVP in der vorberatenden GK beantragt habe, Yves Donzallaz nicht mehr als Vertreter der SVP zu behandeln und ihn nicht mehr zur Wiederwahl zu empfehlen. Die Kommissionsmehrheit habe jedoch nicht auf die Forderungen eingehen wollen. In der NZZ gab Donzallaz zu Protokoll, dass die SVP seit Jahren versuche, die Justiz zu instrumentalisieren. Den Versuchen, das Recht einer politischen Ideologie zu unterwerfen, müsse aber entschieden entgegengetreten werden. Er sei nicht verpflichtet, gegenüber einer Partei Entscheidungen zu rechtfertigen. Zwar sei es legitim, die Rechtsprechung zu kritisieren, nicht aber Richterinnen und Richter persönlich anzugreifen. Donzallaz berichtete auch, dass er von keinen Druckversuchen durch andere Parteien wisse. «Ganz ehrlich glaube ich, es handelt sich dabei um ein spezifisches Problem der SVP», betonte er. In der Aargauer Zeitung bestätigte ein ehemaliger SVP-Bundesrichter, der jedoch nicht namentlich genannt werden wollte, dass Druckversuche der Volkspartei schon in den 1990er Jahren vorgekommen seien. Man habe sich aber stets auf den Standpunkt gestellt, dass man nicht auf das Parteibuch vereidigt worden sei.

Einige Wellen warf auch, dass Donzallaz von seiner eigenen Partei vor dem Wahlgeschäft zu einem Hearing eingeladen wurde. Der Bundesrichter selber sprach von einer «Gewissensprüfung». Er habe während der Diskussion vor der Fraktion ausgeschlossen, dass er beim Urteilen ein Parteiprogramm anwenden könne, da er nur Verfassung und Gesetz verpflichtet sei. Für die SVP-Fraktion argumentierte hingegen Gregor Rutz (svp, ZH), dass jede Richterin und jeder Richter eine politische Grundhaltung habe, die das eigene Urteil beeinflussen würde. Der Parteienproporz sei dazu da, dies zu berücksichtigen und auszugleichen. Wenn nun aber ein Richter die Grundhaltung «seiner Partei» nicht mehr teile, dann müsse Letztere korrigierend eingreifen. Laut Tages-Anzeiger machte die SVP ihrem Richter das Angebot, aus der Partei auszutreten. Als Parteiloser würde er auch von der SVP wiedergewählt, sei ihm beschieden worden.

Die politische Kritik am Verhalten der SVP wurde in der Folge lauter. Dass die Volkspartei die Institutionen nicht mehr respektiere, müsse Konsequenzen haben, forderte CVP-Präsident Gerhard Pfister (cvp, ZG) im Tages-Anzeiger. SP-Präsident Christian Levrat (sp, FR) forderte ein Nachdenken über ein neues Wahlsystem, wenn sich die SVP aus dem Konsens über einen freiwilligen Parteienproporz und die Unabhängigkeit der eigenen Richterinnen und Richter verabschiede. Diskutiert wurde etwa eine Wahl auf Lebenszeit, um Unabhängigkeit nach einer gewissen pluralistisch garantierten Wahl zu garantieren. Kritisiert wurden auch die Mandatssteuern, mit denen Richter zu stark an die eigene Partei gebunden würden. Zudem müsste auch eine Anzahl parteiloser Richter gewählt werden, vorgeschlagen etwa von einer unabhängigen Fachkommission. Freilich gab CVP-Bundesrichterin Julia Hänni im Blick zu bedenken, dass die Unabhängigkeit der Judikative in jedem System vor allem auch vom Respekt der Politik vor dieser Unabhängigkeit abhänge.

Am 9. September 2020 entschied die GK, alle wieder antretenden Bundesrichterinnen und Bundesrichter zur Wiederwahl zu empfehlen. Tags darauf gaben die Parteispitzen der CVP, FDP und SP bekannt, den eigentlich für die anstehende Herbstsession geplanten «Konkordanzgipfel», bei dem das Verfahren für die Besetzung des Bundesrats beziehungsweise die Suche nach einer neuen Zauberformel hätten diskutiert werden sollen, nicht durchführen zu wollen. Man könne mit einer Partei, welche die Institutionen geringschätze, nicht über Konkordanz diskutieren – so die Begründung. Die NZZ schlussfolgerte daraus, dass die SVP nicht nur die Unabhängigkeit der Justiz gefährde, sondern auch ihre eigene Position – auf dem Spiel stünden gar die eigenen Bundesratssitze. SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi wehrte sich gegen den Vorwurf, die Partei halte nichts von der Gewaltentrennung. Bei den Gesprächen mit Donzallaz habe sich gezeigt, dass dieser die Werte der SVP nicht mehr vertrete. Die Partei könne deshalb die Verantwortung für dessen Wahl nicht mittragen. Seine Weigerung, aus der Partei auszutreten, zeuge zudem von «Charakterschwäche». Über Konkordanz werde man so oder so wieder reden; die Absage des Gipfels sei wohl eher dem Umstand geschuldet, dass man dafür keinen geeigneten Termin gefunden habe.

Noch mehr Öl ins Feuer goss dann die SP mit der Forderung, die Richterwahlen zu verschieben. Fraktionschef Roger Nordmann (sp, VD) wollte einen entsprechenden Ordnungsantrag einreichen. Es sei vor der Wahl abzuklären, wie unabhängig die Richterinnen und Richter der SVP seien. Sollte dieser Antrag nicht durchkommen, drohte Christian Levrat im Sonntagsblick, würde er gegen die Wiederwahl aller SVP-Richterinnen und -Richter stimmen. Auch dies provozierte Kritik: So äusserte sich etwa der Grüne Ständerat Matthias Zopfi (gp, GL) im Tages-Anzeiger, dass die anderen Parteien die Richterwahlen nicht noch mehr «verpolitisieren» sollten. Für GLP-Präsident Jürg Grossen (glp, BE) wäre eine kollektive Nichtwahl eine weitere Schwächung der Institution. Man habe ja kein Problem mit dem Gericht, sondern mit der SVP.

Wie so vieles in der Schweizer Politik wurde dann auch die Wahl der Bundesrichterinnen und Bundesrichter parlamentarisch wesentlich weniger heiss gegessen als es im Vorfeld medial aufgekocht wurde. Freilich wurden am 23. September 2020 in der Vereinigten Bundesversammlung im Rahmen des Ordnungsantrags der SP-Fraktion nochmals die parteipolitischen Klingen gekreuzt. Daniel Jositsch (sp, ZH) führte für seine Partei aus, dass die SVP «den politischen Kampf aus dem Parlament hinaus ins Bundesgericht tragen» wolle. Die Abwahlempfehlung eines eigenen Bundesrichters werfe die Frage auf, ob andere SVP-Richterinnen und -Richter noch unabhängig urteilen würden, wenn sie eine Abwahl befürchten müssten. Die Frage nach der Unabhängigkeit der SVP-Richterinnen und -Richter müsse die GK ab sofort vor jeder Wiederwahl prüfen, weshalb die Wahlen auf die Wintersession verschoben werden sollten. Andrea Caroni (fdp, AR) fasste als Sprecher der GK das Prozedere zusammen: Weil bei keiner der 37 wieder kandidierenden Personen Hinweise auf Amtspflichtverletzung gefunden worden seien, würden auch alle zur Wiederwahl empfohlen – diese Überprüfung sei nota bene die einzige Aufgabe der GK. Alle Fraktionen hätten den Entscheid, alle Richterinnen und Richter zur Wiederwahl zu empfehlen, unterstützt – mit Ausnahme der SVP, die die Wiederwahl von Bundesrichter Yves Donzallaz nicht unterstütze. Man habe in der GK auch über eine Verschiebung der Wahl und eine Art Gewissensprüfung diskutiert, dies aber verworfen, eben gerade weil die Unabhängigkeit der Judikative geschützt werden müsse. Mit einer Verschiebung würden alle 37 Kandidierenden dem Generalverdacht ausgesetzt, «Parteisoldaten» zu sein. Andererseits sei kaum zu erwarten, dass sich aufgrund einer Gewissensprüfung jemand als «fremdgesteuerten Parteisoldat» bezeichnen werde.
In der Folge legte Thomas Aeschi für die SVP auch im Parlament noch einmal dar, weshalb sie ihren Bundesrichter nicht zur Wiederwahl empfehlen könne. «Nicht die SVP politisiert die Justiz; die Justiz hat begonnen zu politisieren», führte der Fraktionschef aus. Da dürfe es nicht verwundern, dass die Zusammensetzung des Bundesgerichtes zum Thema werde. Man befürchte insbesondere, dass EU-Recht über Schweizer Recht gestellt werde, wogegen sich die SVP vehement wehre. Wenn nun aber ein eigener Richter die Werthaltungen seiner Partei nicht mehr teile, dann könne die SVP die Verantwortung für ihn nicht mehr tragen. «Wenn Sie, die anderen Fraktionen, Yves Donzallaz wiederwählen, sind Sie verantwortlich für sein künftiges richterliches Wirken: Dann ist er Ihr Richter, dann ist es Ihre Verantwortung», so Aeschi zum Schluss.

In der Folge wurde der Ordnungsantrag der SP-Fraktion mit 42 zu 190 Stimmen (6 Enthaltungen) abgelehnt – Zustimmung fand er ausschliesslich bei den Mitgliedern der SP-Fraktion. Anschliessend wurden alle 37 Kandidierenden wiedergewählt. Da auf den Wahlzetteln alle 37 Namen standen und lediglich gestrichen werden konnten, interessierten natürlich die individuellen Resultate. Am wenigsten von den 239 möglichen Stimmen erhielt wie erwartet Yves Donzallaz. Seine 177 Stimmen lagen aber klar über den nötigen 120 (absolutes Mehr). Die restlichen Kandidierenden erhielten zwischen 197 (Andreas Zünd, SP) und 236 Stimmen (Luca Marazzi, FDP; Thomas Stadelmann, CVP).
Auch die zur Wiederwahl stehenden 12 nebenamtlichen Bundesrichterinnen und -richter schafften die erneute Wahl problemlos (mit zwischen 220 und 236 von 240 möglichen Stimmen). Für den zurücktretenden Ulrich Meyer (SP) wurde Christoph Hurni (GLP) zum ordentlichen Richter gewählt (mit 232 von 241 Stimmen; 9 Wahlzettel blieben leer). Und schliesslich barg auch die Ergänzungswahl von sechs nebenamtlichen Richterinnen und Richtern keine Überraschungen mehr. Auch hier erhielten alle mehr als 200 von 239 möglichen Stimmen.

Freilich – so schloss die NZZ bereits am Tag vor der Wahl – stand das Schweizer Justizsystem bei diesen Wiederwahlen auf dem Prüfstand, auch wenn der Wahltag selbst ohne Überraschung endete. Eine Justizreform sei unumgänglich, folgerte auch der Tages-Anzeiger. Der Angriff der SVP sei zwar gescheitert und ein «Psychodrama» sei verhindert worden – so auch Le Temps, Tribune de Genève und Liberté –, die Justiz stehe nun aber unter Spannung. Dafür, dass die Diskussionen um die Wahl von Richterinnen und Richtern nicht versandet, wird auf jeden Fall die Justiz-Initiative sorgen.

Bundesgericht. Gesamterneuerungswahlen für die Amtsperiode 2021-2026
Dossier: Unabhängigkeit der Judikative

Weil der Bundesrat dem Parlament die dringlichen Notkredite zur nachträglichen Genehmigung unterbreiten wollte, beraumte die Regierung im Frühling 2020 eine ausserordentliche Session zur «Bewältigung der Corona-Krise» ein. Am 25. März beantragte dann auch die dafür nötige Mehrheit des Ständerats eine ausserordentliche Session, damit nicht nur alleine über die Notkredite, sondern auch über weitere Fragen beraten werden konnte. Die Einberufung der ausserordentlichen Session behagte laut Presse nicht allen Parlamentarierinnen und Parlamentariern – vor allem aus den Reihen der SVP wurde die Entscheidung kritisiert, da ja bis zum 19. April eigentlich ein Versammlungsverbot gelte. Der Bundesrat war allerdings der Meinung, dass eine Session unter Einhaltung der Hygienemassnahmen möglich sein müsse. Da die Frühjahrssession am 15. März 2020 vor allem auch deshalb abgebrochen worden war, weil Social Distancing im Parlamentsgebäude und den Ratssälen praktisch nicht möglich ist, musste für die Durchführung der ausserordentlichen Session und – wie bald einmal klar wurde – auch für diejenige der ordentlichen Sommersession geeignetere Räume gefunden werden.

Hauptanforderung an die alternativen Räumlichkeiten war vor allem eine genügende Grösse. Das von einigen Seiten geforderte digitale Parlament war zwar nicht undenkbar, das Parlamentsgesetz sieht aber eine physische Präsenz vor. Eine Änderung dieser Regel wäre zwar grundsätzlich möglich, bräuchte aber zuvor einen Beschluss nach altem Reglement. Reglementarisch festgelegt ist auch, dass eine Parlamentssitzung in Bern stattfinden muss, wobei bei der Suche nach grösseren Räumlichkeiten vorerst nicht ganz klar war, ob mit Bern die Stadt inklusive Agglomeration oder sogar der gesamte Kanton gemeint sei. Der Vorschlag von Damian Müller (fdp, LU), die Session extra muros in Luzern abzuhalten, hätte also ebenfalls einen vorgängigen Ratsbeschluss benötigt. Rasch kam dann als naheliegende Option die BernExpo ins Spiel, da die Messehallen im Osten der Stadt Bern aufgrund der Absagen aller Kongresse und Messen leer standen.

Ende März entschied sich die Koordinationskonferenz, die sich aus den Büros der beiden Räte zusammensetzt, die ausserordentliche Session vom 4. bis zum 7. Mai dort abzuhalten, wo an diesem Datum in der Regel die Frühlingsmesse BEA stattfindet. «Statt Tiershows, Riesenrad und Gewerbestände gibt es nun Parlamentsdebatten», fasste die NZZ zusammen. In der Zwischenzeit hatten auch jene Kommissionen ihre Arbeit wieder aufgenommen, die seit dem Sessionsabbruch nicht mehr getagt hatten; dies war auch im Hinblick auf die ordentliche Sommersession nötig, an welcher die im Frühjahr aufgrund des Sessionsabbruchs nicht mehr behandelten Geschäfte möglichst rasch abgeschlossen werden sollten. Während die hinsichtlich Anzahl Mitglieder kleineren Ständeratskommissionen im grössten Sitzungszimmer im Bundeshaus tagten, trafen sich die grösseren Nationalratskommissionen im Hotel Bellevue in Bern. Erlaubt wurden auch Kommissionssitzungen per Videokonferenz, wenn sichergestellt wurde, dass keine Dritten die Beratungen mitverfolgen konnten. Die Verwaltungsdelegation – ein aus je drei Mitgliedern der beiden Büros bestehendes Gremium – hatte in der Zwischenzeit die Frage der Entschädigung der Parlamentarier hinsichtlich der Teilnahme an diesen Sitzungen geregelt.

In der 5'200 Quadratmeter grossen Expo-Halle, in welcher der Nationalrat tagen sollte, gab es genug Raum, damit die Abstandsregeln eingehalten werden konnten. Für die Ständerätinnen und Ständeräte war ein Raum im Dachgeschoss der BernExpo vorgesehen. Die Kosten für die Einrichtung der Infrastruktur (CHF 375'000 für Abstimmungsanlagen, Aufzeichnung der Debatte, Video-Conferencing etc.) – für Kopfzerbrechen sorgte insbesondere die elektronische Abstimmungsanlage –, die Miete (BernExpo: CHF 2.074 Mio.; Hotel Bellevue: CHF 43'200), die Gewährleistung der Sicherheit und die Hygienemassnahmen (CHF 430'000 für Fedpol, Securitas und Sanität) sowie für weitere Ausgaben (CHF 200'000 für Personalkosten, Verpflegung) wurden mit CHF 3.125 Mio. veranschlagt. Diese Summe gab in den Medien zu reden. Der Tages-Anzeiger kritisierte insbesondere die Miete für die vier Sitzungssäle, die für die Kommissionssitzungen während der Sessionen in der BernExpo zusätzlich gemietet werden sollten, da diese rund CHF 90'000 pro Tag kosten würden – wesentlich mehr als die Bellevue-Säle, die aber für die Session nicht mehr benutzt werden sollten.

Für die Sitzungen in den Expohallen mussten die Geschäftsreglemente für National- und Ständerat angepasst werden. Entschieden wurde zudem, dass möglichst auf Papier verzichtet werden und das Tragen von Masken erlaubt werden sollte. Nicht weiter verfolgt wurde laut einer Medienmitteilung der Verwaltungsdelegation hingegen die Idee einer separaten Infrastruktur für vulnerable Personen. Keinen Zutritt sollten Besucherinnen und Besucher, persönliche Mitarbeitende und Lobbyistinnen und Lobbyisten erhalten. Medienschaffende erhielten lediglich eingeschränkten Zugang, wobei bei Interviews die Distanzregel eingehalten werden musste. Im Gegensatz zur Frühjahrssession wurde diesmal Kritik von Lobbyverbänden laut.
In den Medien wurde vermutet, dass der Ratsbetrieb wohl vor allem leiser werden würde – die Distanz von 2 Metern verunmögliche Gespräche zwischen Sitznachbarinnen und -nachbarn sowie Gespräche von Gruppen – und angesichts der schlichten Betonräume unter Neonlicht mit weniger Pathos auskommen müsse als im prunkvollen Bundeshaus.

In der Tat wurden die mit einer von Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga vorgetragenen Erklärung des Bundesrates zur Corona-Pandemie eröffneten Beratungen von einigen Medien als «gewöhnungsbedürftig» bezeichnet. Als «Mischung aus Kaserne und Einkaufszentrum» beschrieb Corina Gredig (glp, ZH) die Räumlichkeiten. Christian Levrat (sp, FR) sprach angesichts des fehlenden Tageslichts gar von «DDR-Stimmung». Um den Überblick zu behalten, griff Sandra Sollberger (svp, BL) gar zum Feldstecher. Masken wurden hingegen kaum benutzt – auch von Magdalena Martullo-Blocher (svp, GR) nur sporadisch, nachdem die SVP-Politikerin in der Frühjahrssession 2020 mit dem Tragen einer Maske von sich reden gemacht hatte. Die drei Rednerpulte wurden nach jedem Votum gereinigt.
Zu schreiben gab in den Medien vor allem, dass sich einige Parlamentsmitglieder an einem Abend im Restaurant im Messekomplex getroffen hätten. Dass dabei die Zwei-Meter-Regel eingehalten worden sei, «darf mit Fug und Recht bezweifelt werden», berichtete der Blick. Die «illegale Party» (Tages-Anzeiger) zeige aber vor allem auch auf, wie schwierig es sei, Abstandsregeln im politischen Alltag einzuhalten, wenn etwa alle Parlamentsmitglieder nach einer Sitzung aus dem Messegelände strömten, beschwichtigten einige Parlamentarierinnen und Parlamentarier in den Medien.

Bereits am 1. Mai hatte die Verwaltungsdelegation entschieden, dass auch die ordentliche Sommersession in den Räumen der BernExpo durchgeführt werden solle. Ein Vergleich der Kosten mit anderen möglichen Standorten hatte gezeigt, dass in Bern vor allem die Aufwendungen für Sicherheit und Logistik weniger stark ins Gewicht fielen: Die Kosten für die ordentliche Sommersession in der BernExpo wurden auf CHF 3.84 Mio veranschlagt. Zudem könne man in der ausserordentlichen Session im Mai Abläufe testen, die dann in der Sommersession weitergeführt werden könnten. Für die Herbstsession erhoffe man sich aber dann eine Rückkehr ins Bundeshaus.

Ausserordentliche Session in der Bernexpo

Eigentlich hätte die Stimmbevölkerung am 17. Mai 2020 über drei Vorlagen abstimmen sollen. Allerdings beschloss der Bundesrat am 18. März angesichts der Covid-Pandemie, die Abstimmungen über die Begrenzungsinitiative, das Jagdgesetz und die Erhöhung der Kinderabzüge zu verschieben. In ihrer Medienmitteilung begründete die Regierung ihren Entscheid mit der erschwerten Meinungsbildung und der nicht sicher zu gewährleistenden Abstimmungsorganisation. Aufgrund des Versammlungsverbots könnten ferner auch keine Informations- und Publikumsveranstaltungen stattfinden. Neben der Absage der Urnengänge empfahl der Bundesrat den Kantonen, Gemeindeversammlungen zu verbieten. Zudem kündigte er eine Verordnung für einen Fristenstillstand an.
In den Medien wurde der Entscheid mehrheitlich begrüsst. Auch die SVP, die mit der Kampagne für ihre Begrenzungsinitiative bereits begonnen hatte, stand hinter dem Entscheid des Bundesrats. Die Menschen hätten jetzt andere Probleme, gab Thomas Aeschi (svp, ZG) der Aargauer Zeitung zu Protokoll. Für den Entscheid habe man Verständnis, gab Eric Nussbaumer (sp, BL) die Befindlichkeiten in der SP zum Ausdruck, es sei allerdings demokratiepolitisch heikel, wenn neben dem Parlament nun auch die Stimmbevölkerung keine politischen Rechte mehr ausübe. Man hätte sich auch angesichts der schleppenden Verhandlungen mit der EU eine raschere Klärung bei der Begrenzungsinitiative gewünscht, präzisierte Christian Levrat (sp, FR) in Le Temps.
In den Medien wurden zudem vergleichbare Situationen gesucht. Selbst während der beiden Weltkriege und der spanischen Grippe 1918 sei es nicht zu Verschiebungen von Urnengängen gekommen, wohl aber 1951, als es die Maul- und Klauenseuche an vielen Orten verunmöglicht habe, den Urnengang durchzuführen.
Verschiedene Kantone gingen derweil unterschiedlich mit der Corona-Situation um. Im Kanton Schwyz wurden kantonale und im Kanton Luzern Ende März noch lokale Wahlen durchgeführt. Rund 90 Prozent der Bevölkerung würde sowieso brieflich abstimmen; einzig die Auszählung würde wohl länger dauern – so die Behörden. Eine Verschiebung sei angesichts der weit fortgeschrittenen Meinungsbildung aber nicht angebracht. Im Kanton Tessin hingegen, der stark unter der Pandemie litt, wurden die kommunalen Wahlen von Anfang April verschoben. Die zweiten Wahlgänge der lokalen Wahlen in Genf wiederum fanden statt – allerdings ohne Urne. Wer nicht brieflich stimmen konnte, durfte seinen Wahlzettel Dorfpolizisten übergeben, die diese auf Anfrage abholten.

Ende April entschied der Bundesrat dann, die drei Vorlagen auf den Abstimmungstermin vom 27. September 2020 zu verlegen, an dem auch über die Beschaffung der neuen Kampfjets und über den Vaterschaftsurlaub abgestimmt werden sollte. Die Medien sprachen in der Folge aufgrund der fünf nationalen Abstimmungen von einem «Supersonntag».

Volksabstimmungen vom Mai 2020 verschoben

Die Disziplinaruntersuchung gegen Michael Lauber war verzögert worden, weil das Bundesverwaltungsgericht im Sommer 2019 entschieden hatte, dass kein externes Untersuchungsmandat vergeben werden darf, sondern dass jemand aus der AB-BA selber die Untersuchung leiten müsse. Gegen dieses Urteil hatte die AB-BA Beschwerde eingereicht, es wurde aber Anfang 2020 vom Bundesgericht bestätigt. Die AB-BA habe generell kein Beschwerderecht, urteilte das Bundesgericht, was im Tages-Anzeiger als «Etappensieg für Michael Lauber» bewertet wurde.
In der Folge übernahm AB-BA-Mitglied Alexia Heine die Leitung der Disziplinaruntersuchung. Konkret ging es darum, herauszufinden, ob eine Amtspflichtverletzung vorlag, weil sich Lauber bei nicht protokollierten Geheimtreffen mit Fifa-Präsident Gianni Infantino abgesprochen und diesbezüglich gelogen haben soll. Heine galt als «sehr effiziente Person», wie die Aargauer Zeitung zu berichten wusste. Die gleiche Zeitung vermeldete freilich auch, dass Lauber nicht kooperiere, Informationen verweigere und die «gleiche Verteidigungstaktik wie US-Präsident Donald Trump in seinem Amtsenthebungsverfahren» wähle: «Stonewalling».

Anfang März 2020 legte die AB-BA dann die Resultate der Disziplinaruntersuchung vor und hielt darin schwerwiegende Amtspflichtverletzungen fest. Neben der Verletzung der Protokollierungspflicht fanden sich in der Liste der Vorwürfe etwa auch eine «Verweigerungshaltung gegenüber den Auskunfts- und Editionsaufforderungen der AB-BA», «Übernahme der eigenen Anwaltskosten durch die Bundesanwaltschaft» – ein Punkt der im Blick besondere Empörung hervorrief –, «Verletzung der Treuepflicht», «Erstattung unwahrer Angaben gegenüber der AB-BA», «Illoyales Handeln» oder «Behinderung der Untersuchung». Als Sanktion verfügte die AB-BA eine einjährige Lohnkürzung von 8 Prozent, was insgesamt einer Reduktion des Jahreslohns um rund CHF 24'000 entsprach. Damit wählte die Aufsichtsbehörde allerdings nicht das schärfste Mittel, das ihr zur Verfügung stand, wären doch eine maximale Lohnkürzung von 10 Prozent oder aber ein Antrag auf Amtsenthebung möglich gewesen. Man habe keine Hinweise darauf gefunden, dass Lauber unrechtmässige Leistungen empfangen habe, was das mildere Urteil rechtfertige, so die AB-BA in ihrem Bericht.

Die Reaktionen auf den Untersuchungsbericht waren unterschiedlich. Verschiedene Parlamentsmitglieder äusserten sich konsterniert. Lorenz Hess (bdp, BE), Mitglied der Gerichtskommission (GK), sprach in der Aargauer Zeitung von einer «untragbaren Situation» und Matthias Aebischer (sp, BE) befürchtete einen «Reputationsschaden für die Schweiz». Es wurde allerdings auch darauf hingewiesen, dass Lauber die Möglichkeit habe, die Verfügung vor Bundesverwaltungsgericht anzufechten. Es sei deshalb zu früh für ein politisches Urteil über die Amtsführung des Bundesanwalts, gab Christian Lüscher (fdp, GE) zu Protokoll.
Die NZZ zeigte sich über die eher zurückhaltenden Stellungnahmen verwundert: Die «Schelte» gegen den Bundesanwalt verhalle im Parlament wohl auch deswegen, weil man Lauber ja erst kürzlich im Amt bestätigt habe. Die Aargauer Zeitung forderte den Rücktritt Laubers. Damit könne er «eine Art Grösse zeigen». Die NZZ wies darauf hin, dass die Politik eigentlich nur die Möglichkeit der Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens habe, weshalb Lauber als einziger mit einem Rücktritt dafür sorgen könne, dass die Bundesanwaltschaft wieder zur Ruhe komme. Der Tages-Anzeiger sah hingegen neben dem Rücktritt Laubers eine andere Möglichkeit: Würde nämlich das Bundesverwaltungsgericht als Berufungsinstanz zum Schluss kommen, dass die Aufsichtsbehörde übertrieben habe, dann müsste die Berechtigung derselben und vor allem ihres Präsidenten, Hanspeter Uster, in Frage gestellt werden. Christian Levrat schlug in der Tribune de Genève gar vor, dass am besten beide Protagonisten zurücktreten sollten. Er beurteilte die Arbeit von AB-BA-Präsident Uster als zu «brutal». Dieser unwürdigen Auseinandersetzung («match assez indigne») an der Spitze einer so wichtigen Institution müsse ein Ende bereitet werden, so Levrat. Diese Ansicht wurde auch in der Weltwoche vertreten. Man gewinne beim Lesen des Disziplinarberichts den Eindruck, dass sich die AB-BA – «Hanspeter Uster und seine sechs Kollegen» – nicht an den Pflichtverletzungen Laubers störten, sondern «am unbotmässigen Verhalten des Bundesanwalts ihnen gegenüber». Die AB-BA habe sich in den ersten Jahren zu grosszügig gezeigt, der «furiore Uster» überschiesse nun aber in die andere Richtung, so das Wochenblatt.

Michael Lauber selber behielt sich rechtliche Schritte vor. In einer Ende März im Rahmen des «Fifa-Falls» ans Bundesstrafgericht gerichteten Stellungnahme, die der Aargauer Zeitung vorlag, wehrte sich der Bundesanwalt gegen die «unrechtmässig erstellte wie publizierte» Verfügung, die «einen persönlichkeitsverletzenden Inhalt» aufweise. Die Vorwürfe seien «konstruiert» und die Verfügung habe keine Rechtsgrundlage. Er werde sie deshalb anfechten und eine Beschwerde ans Bundesverwaltungsgericht einreichen. Dafür hatte Lauber aufgrund des im Rahmen der Covid-19-Massnahmen getroffenen Fristenstillstands bis Ende April 2020 Zeit.

Disziplinaruntersuchung gegen Michael Lauber (2019-2020)
Dossier: Michael Lauber - Bundesanwalt

Eine Folge der eidgenössischen Wahlen 2019, die einen massiven Wahlgewinn der Grünen und eine Niederlage der Polparteien mit sich gebracht hatten, waren die virulenten Diskussionen um die Zusammensetzung und die Bestellung des Bundesrats. Auf der einen Seite wurde eine neue Zauberformel gefordert. Das Parlament müsse bei der Bestellung der Regierung rascher auf Veränderungen reagieren können. Auf der anderen Seite wurden Reformen gefordert, die eine Erhöhung der Zahl der Regierungsmitglieder, Koalitionsverhandlungen oder einen eigentlichen Systemwechsel weg von der Konkordanzidee vorsahen.

Die Zauberformel, die 1959 mit der Idee eingeführt worden war, dass die drei grössten Parteien je zwei und die viertgrösste Partei einen Sitz erhalten soll, wurde durch die aktuellen Wahlresultate gleich mehrfach in Frage gestellt. Jahrzehntelang passte die Formel gut zu den Kräfteverhältnissen, weil die FDP, die CVP und die SP bei den Nationalratswahlen jeweils mehr als 20 Prozent Wähleranteile hinter sich wussten und die SVP auf jeweils etwas mehr als zehn Prozent zählen konnte. Eine erste Verschiebung der Kräfteverhältnisse führte 2003 zu einem Sitzwechsel von der CVP zur SVP. Nach einer durch die Nichtbestätigung von Christoph Blocher 2007 beginnenden Übergangsphase, während der CVP, SVP und BDP je einen Sitz hatten, kehrte man mit der Wahl von Guy Parmelin im Jahr 2015 wieder zu dieser 2-2-2-1-Verteilung zurück – neu mit der CVP als Juniorpartner. War diese Verteilung freilich schon 2015 hinterfragbar, geriet sie 2019 vollends in die Kritik, weil mit der SVP nur noch eine Partei über 20 Prozent Wähleranteil verfügte (25.6%), aber vier Parteien neu über 10 Prozent lagen: Die SP mit 16.8 Prozent, die FDP mit 15.1 Prozent, die Grünen mit 13.2 Prozent und die CVP mit 11.4 Prozent. Diese Verteilung liess Raum für zahlreiche Rechenspiele, die in den Medien für viel Gesprächsstoff sorgten und die Diskussionen im Vorfeld der Bundesratswahlen anheizten.

Eine neue Zauberformel wurde natürlich insbesondere von den Gewinnerinnen und Gewinnern der eidgenössischen Wahlen 2019 gefordert. Die Frage war freilich, auf wessen Kosten die Grünen einen Bundesratssitz erhalten sollten. Wahlweise vorgeschlagen wurde, dass die CVP als neu kleinste Partei verzichten müsse. Aber auch die FDP und die SP hätten eigentlich – je nach Berechnung – keinen Anspruch auf zwei Sitze. Die GP selber forderte – unterstützt von der SP – den Sitz von FDP-Bundesrat Ignazio Cassis. Mediale Aufmerksamkeit erhielt ein Vorschlag von Christoph Blocher, der eine Proporz-Zusammensetzung vorschlug, die der SVP zwei Sitze und allen anderen Parteien inklusive der GLP (die bei den Wahlen auf 7.8% Wähleranteil gewachsen war) je einen Sitz zugestand. Freilich wurde in der Diskussion auch die Frage laut, ob für die Berechnung der Zusammensetzung lediglich die Wählerprozente, also nur die Zusammensetzung des Nationalrats, oder nicht vielmehr die Sitzverteilung in National- und Ständerat herangezogen werden müssten. Auf der Basis der totalen Anzahl Sitze aus beiden Kammern wäre die CVP (total 38 Sitze) wiederum stärker als die GP (total 33 Sitze), was für den Status Quo sprechen würde.
Eine Erweiterung der Diskussion wurde durch die Überlegung geschaffen, nicht Parteien, sondern Blöcke zu betrachten. Die NZZ schlug vor, den Polen – bestehend aus SVP auf der einen und SP zusammen mit den Grünen auf der anderen Seite – je zwei Sitze und den Parteien in der Mitte (FDP, CVP und allenfalls GLP) drei Sitze zuzusprechen. Wenn die Grünen einen Sitz erhielten und die SP ihre beiden Sitze behalten würde, dann wäre das linke Lager, das kumuliert auf rund 30 Prozent Wählerstärke komme, stark übervertreten, so die Argumentation der NZZ.

Als Problem für eine flexiblere Gestaltung der Regierungszusammensetzung wurde zudem die variable Amtszeit der Bundesrätinnen und Bundesräte ausgemacht. Würde die Amtszeit eines Regierungsmitglieds auf acht Jahre fixiert – inklusive der Verpflichtung, nicht freiwillig vor Ablauf dieser Zeit zurückzutreten – ergäben sich bei jeder Gesamterneuerungswahl Vakanzen, die eine Neuausrichtung der parteipolitischen Zusammensetzung des Bundesrats vereinfachen würden, schlug CVP-Parteipräsident Gerhard Pfister (cvp, ZG) als weitere – schon etwas ältere – Idee vor.

Ein weiteres, medial diskutiertes Problem der starren 2-2-2-1-Zauberformel war die Repräsentativität des Bundesrats. Wurden 1959 durch die vier Regierungsparteien noch 85 Prozent der Wählerschaft (gemessen anhand der Wählerprozente bei den Nationalratswahlen) repräsentiert, sank dieser Wert aufgrund der zunehmenden Volatilität, aber auch aufgrund der Ausdifferenzierung des Parteiensystems 2019 erstmals unter 70 Prozent (68.9%). Die «formule magique» verliere ihre Magie, urteilte die Zeitung Le Temps auf Basis dieser Zahlen. In der Regierung müsse sich der Wille der Wählenden unmittelbar niederschlagen; wer fordere, dass die Grünen ihren Wahlerfolg in vier Jahren noch einmal bestätigen müssten, um einen Anspruch auf Einbindung in die Regierung zu haben, sei deshalb «ein schlechter Demokrat», urteilte der Tages-Anzeiger. Letztlich seien es «nicht die Wahlprozente, sondern die Mandatsträger im National- und im Ständerat», welche über die Regierungszusammensetzung entschieden. Dies sei «die eigentliche Machtarithmetik der Bundesratswahlen», kommentierte der emeritierte Historiker Urs Altermatt in der NZZ.

Als Alternative zu einer neuen Zauberformel und als Möglichkeit einer besseren Repräsentation wurde eine weitere alte Idee hervorgekramt: die Erhöhung der Zahl der Regierungsmitglieder auf neun. Zwar waren in der Vergangenheit zahlreiche Vorstösse für eine Umsetzung dieser Idee gescheitert – etwa im Rahmen der Staatsleitungs- und Regierungsreform zu Beginn des Jahrtausends, aber auch bei Debatten zu einzelnen Reformvorschlägen –, die elf Prozent Wähleranteil, die rein arithmetisch bei neun Sitzen für einen Bundesratssitz reichen würden, würden aber ermöglichen, dass die Grünen einen Sitz erhielten, ohne dass die CVP einen Sitz abgeben müsste, so ein Argument in der Aargauer Zeitung. Insbesondere Christian Levrat (sp, FR) machte sich in den Medien für die Erhöhung der Anzahl Regierungsmitglieder stark. Damit könne nicht nur dem Anspruch der Grünen genüge getan werden, so der SP-Parteipräsident, sondern es sei auch nicht mehr zeitgemäss, lediglich sieben Minister zu haben. Dies sei weltweit fast einmalig wenig.

Weitere Vorschläge stellten die Idee der Konkordanz grundsätzlich in Frage. Nicht die wichtigsten Kräfte sollten in der Regierung vertreten sein, stattdessen müsse man ein Oppositionssystem einführen, in welchem wahlweise eine Mitte-Rechts- oder eine Mitte-Links-Regierung einer linken oder rechten Opposition gegenüberstehe, so ein Vorschlag im Tages-Anzeiger. Auch die Idee, dass Parteien mit programmatischen Koalitionsvorschlägen für die Regierung kandidieren könnten, würde das bestehende Konkordanzsystem verändern. Man müsse aber in der Tat mehr über politische Inhalte als bloss über Formeln sprechen, forderte die Aargauer Zeitung.

Man komme wohl in Zukunft nicht darum herum, die Regierungszusammensetzung nach jeden Gesamterneuerungswahlen neu zu diskutieren, folgerte der Tages-Anzeiger. Freilich steht die Konkordanz und die Zusammensetzung der Regierung schon seit einigen Jahren und stets bei Bundesratswahlen zur Diskussion, nur um dann für die nächsten vier Jahre wieder aus dem Fokus der Medien zu verschwinden. Um ebendies nach den Bundesratswahlen 2019, die hinsichtlich Regierungszusammensetzung trotz aller Reformdiskussionen den Status Quo zementierten, zu verhindern, schlug Gerhard Pfister einen «Konkordanzgipfel» vor, wie ihn die Medien betitelten: «Wir müssen die Zauberformel im Bundesrat, die Konkordanz in der Landesregierung, neu erfinden», gab Pfister im Sonntags-Blick zu Protokoll. Es gehöre zum Schweizer System, dass man gemeinsam nach Lösungen suche, begrüsste GLP-Parteipräsident Jürg Grossen (glp, BE) die Initiative der CVP. Alle Parteien waren sich einig, dass die Regeln den zunehmend volatiler werdenden Wahlresultaten angepasst werden müssen. Wie diese Anpassung auszusehen hat, blieb hingegen naturgemäss umstritten.

Reformideen im Nachgang der Bundesratswahlen 2019

Die Digitalisierung bringt es mit sich, dass auch der Parlamentsbetrieb mit verschiedenen Ratings und Rankings vermessen werden kann, welche die Arbeit, den Einfluss oder die ideologische Positionierung der Parlamentsmitglieder zu bestimmen versuchen. Der Versuch, anschauliche Ranglisten zu erstellen und so auch durch Personalisierung die Komplexität von Politik zu reduzieren, dient vor allem den Medien, die sich auch 2019 den verschiedenen Analysen widmeten.

Den Beginn machte Anfang Juli eine neue Plattform namens «politik.ch» mit einer Auswertung der Präsenz während der ganzen bisherigen 50. Legislatur. «Präsenz» wurde dabei mit der Teilnahme an den total 4'076 Abstimmungen, die im Nationalrat bis zur vorletzten Session durchgeführt wurden, gemessen. Zum «Absenzenkönig von Bern» – so die Aargauer Zeitung, die über die Studie berichtete – wurde Roger Köppel (svp, ZH) gekürt. Er habe 22.4 Prozent aller Abstimmungen «geschwänzt», gefolgt von Martin Bäumle (glp, ZH; 21.9%) und Hans Grunder (bdp, BE; 21.7%). Frauen stimmten tendenziell disziplinierter ab, schloss die Zeitung, weil sich am anderen Ende der Skala Andrea Geissbühler (svp, BE), Barbara Keller-Inhelder (svp, SG) und Sandra Sollberger (svp, BL) fanden, die alle weniger als sechs der über 4'000 Abstimmungen verpasst hatten. Die Aargauer Zeitung liess die Protagonisten zu Wort kommen. Bei wichtigen Abstimmungen sei er vor Ort, nicht aber, wenn «das ausufernde Berufsparlament mit sich selbst beschäftigt» sei, verteidigte sich Roger Köppel. «Das Volk» habe sie ins Parlament gewählt und erwarte, dass sie an den Abstimmungen teilnehme, befand hingegen Andrea Geissbühler. Im Schnitt hatten die Nationalrätinnen und Nationalräte drei Prozent der Abstimmungen verpasst. Im Tages-Anzeiger wurde daran erinnert, dass «immer brav auf dem ehrwürdigen Nationalratssessel zu sitzen» nicht mit politischem Einfluss gleichzusetzen sei. Die wichtigsten Entscheidungen fielen nicht im Ratssaal, sondern «in den Kommissionen, in den Hinterzimmern des Bundeshauses und den Salons des Bellevue-Hotels».

Einen Versuch, diese Art von Einfluss zu messen, unternahm die Sonntagszeitung mit ihrem alle zwei Jahre publizierten «Parlamentarier-Rating». Hier erhält Punkte, wer viele Reden hält, in wichtigen Kommissionen sitzt und erfolgreich Vorstösse einreicht; wer innerhalb der eigenen Partei wichtige Funktionen innehat, einer starken Fraktion angehört, hohe Medienpräsenz hat und ausserhalb des Parlaments gut vernetzt ist. Wie schon zwei Jahre zuvor wies die Zeitung SP-Parteipräsident Christian Levrat (sp, FR) als «mächtigsten» Parlamentarier aus, gefolgt von Pirmin Bischof (cvp, SO) und Thomas Aeschi (svp, ZG). Levrat sei «immer dabei, wenn es in der Schweizer Politik etwas anzuschieben oder zu blockieren» gelte. Allerdings falle die SP-interne grosse Lücke hinter Levrat auf. In den Top Ten gebe es kein weiteres SP-Mitglied, was darauf hindeute, dass die parteiinterne Erneuerung wohl noch nicht geschafft sei. Ausgerechnet bei den Frauen schneide die SP schlecht ab. Unter den 15 höchst bewerteten Frauen – diese Liste wurde von Tiana Angelina Moser (glp, ZH; total Rang 6) und Lisa Mazzone (gp, GE; Rang 13) angeführt – fänden sich lediglich zwei Genossinen: Maria Carobbio Guscetti (sp, TI; Rang 23) und Barbara Gysi (sp, SG; Rang 34). Für das Rating berücksichtigt wurden nur jene Parlamentsmitglieder, die seit Beginn der Legislatur in den Räten gesessen hatten und bei den eidgenössischen Wahlen 2019 wieder antreten wollten. Entsprechend war der 173. Rang auch der letzte. Dort befand sich Bruno Walliser (svp, ZH). Indem die Sonntagszeitung die Rangierung hinsichtlich Medienpräsenz mit der Gesamtrangierung verglich, machte sie auch «die grössten Blender» aus. Die drei Zürcher Abgeordneten Claudio Zanetti (svp), Roger Köppel (svp) und Regine Sauter (fdp) seien zwar «Lieblinge der Medien», spielten im Parlament aber «eine bescheidene Rolle».

Auf der Basis der Abstimmungen im Nationalrat berechnete die Sonntagszeitung in einer weiteren Analyse, wie häufig alle Volksvertreterinnen und -vertreter bei Gesamtabstimmungen in der 50. Legislatur zur Mehrheit gehört hatten. Wenig überraschend fanden sich auf den vorderen Rängen – die Sonntagszeitung nannte sie «die Erfolgreichsten» – Mitglieder der CVP- und der BDP-Fraktion, die jeweils mit links oder rechts oder innerhalb einer grossen Koalition Mehrheiten schaffen. Angeführt wurde die Liste von Elisabeth Schneider-Schneiter (cvp, BL), die bei 98.5 Prozent aller Gesamtabstimmungen gleich wie die Mehrheit gestimmt hatte, was ihr in der Weltwoche den Titel «[d]ie mit dem Strom schwimmt» einbrachte. Auf Platz zwei und drei folgten Viola Amherd (cvp, VS; 98.3%) und Géraldine Marchand-Balet (cvp, VS; 98.2%). Bei den 68 «Erfolglosesten» handelte es sich durchgängig um SVP-Fraktionsmitglieder, angeführt von Erich Hess (svp, BE; 46.8%), Toni Brunner (svp, SG; 48.8)%) und Pirmin Schwander (svp, SZ; 49.8%).

Mitte Oktober warteten dann schliesslich die NZZ und Le Temps mit ihrem alljährlich erscheinenden «Parlamentarier-Rating» auf. Erneut wiesen die auf der Basis des Abstimmungsverhaltens vorgenommenen Positionierungen der Parlamentsmitglieder auf einer Skala von -10 (ganz links) bis +10 (ganz rechts) auf eine zunehmende Homogenisierung innerhalb der Parteien hin. Insbesondere an den Polen habe die Fraktionsdisziplin ein noch nie gekanntes Ausmass erreicht, so die NZZ. So hätten sich die Mitglieder der SP-Fraktion vor den Wahlen 2015 auf einer Skalen-Spannweite von 3.4 Punkten verteilt, im aktuellen Rating betrage dieser Wert lediglich noch 1.2 Punkte. Die Extrempositionen in der SP besetzten im aktuellen Rating Silvia Schenker (sp, BS; -10.0) und Adrian Wüthrich (sp, BE; -8.8). Eine im Vergleich zu 2015 wesentlich grössere Fraktionsdisziplin wiesen bei dieser Berechnung auch die Grünen auf. Lagen das am meisten linke und am meisten rechte grüne Fraktionsmitglied 2015 noch um 2.7 Skalenpunkte auseinander, trennten Maya Graf (gp, BL; -9.2) und die drei ganz am linken Rand politisierenden Michael Töngi (gp, LU; -10.0), Irène Kälin (gp, AG; -10.0) und Regula Rytz (gp, BE; -10.0) im Jahr 2019 lediglich noch 0.8 Skalenpunkte. Damit waren die Grünen im Durchschnitt erstmals seit 2011 wieder weiter links positioniert als die SP: «Les Verts n'ont jamais été aussi à gauche», war dies Le Temps gar die Überschrift der Analyse wert. Am anderen Ende der Skala, bei der SVP, verringerte sich der Wert der Spannweite von 3.7 auf 1.2 Punkte – ohne Berücksichtigung von Roberta Pantani (lega, TI), die zwar der SVP-Fraktion angehört, aber die Lega vertritt und mit einem Wert von 8.2 die am weitesten «linke» Position in der SVP-Fraktion im Nationalrat vertrat. Gleich drei SVP-Nationalräte politisierten ganz rechts aussen und wiesen einen Skalenwert von 10.0 aus: Toni Brunner, Luzi Stamm (svp, AG) und Adrian Amstutz (svp, BE). Jean-Pierre Grin (svp, VD) fand sich bei Position 8.8 und war damit das am weitesten links positionierte Mitglied der SVP im Nationalrat. Selbst bei der CVP war eine Disziplinierung festzustellen: Es zeigte sich im Vergleich zu 2015 ein Rückgang der Spannweite von 3.6 auf 2.6 Punkte, wobei die Fraktion im Vergleich zum Vorjahr zahlreiche Mitglieder leicht rechts von der Mitte aufwies und sich von -1.0 (Dominique de Buman; cvp, FR) bis 1.6 (Philipp-Matthias Bregy; cvp, VS) erstreckte. Die der CVP-Fraktion angehörenden EVP-Mitglieder waren wesentlich weiter links als ihre Fraktion: Niklaus Gugger (ZH) wurde auf der Skala bei -4.2 und Marianne Streiff-Feller (BE) bei -4.3 eingestuft. Die restlichen drei Fraktionen hingegen waren im Vergleich zu 2015 heterogener geworden. Bei der FDP war die Zunahme von 2.5 auf 2.6 Skalenpunkte freilich minim. Die Fraktionsgrenzen wurden bei den Freisinnigen von Walter Müller (fdp, SG; 4.5) und Christa Markwalder (fdp, BE; 1.9) eingenommen. Grössere Sprünge machten die BDP und die GLP. Während sich bei der BDP die Spannweite im Vergleich zu 2015 von 1.2 auf 2.0 fast verdoppelte – wie schon 2015 deckte Rosmarie Quadranti (bdp, ZH; -1.7) die linke Flanke ab, während sich Hans Grunder (bdp, BE; 0.3) am rechten Rand der BDP positionierte – wuchs die Heterogenität innerhalb der traditionell eigentlich sehr homogenen GLP von 0.5 auf 2.7 Skalenpunkte an. Hauptgrund dafür war Daniel Frei (glp, ZH), der von der SP in die GLP gewechselt hatte und mit seiner Position von -5.7 zwar weit weg vom rechten Rand der SP (-8.8), aber auch weit weg vom linken Rand der bisherigen GLP-Mitglieder war. Dieser wurde von Kathrin Bertschy (glp, BE; -3.5) eingenommen, die in der Tat lediglich 0.5 Skalenpunkte von Martin Bäumle (-3.0), also dem rechten GLP-Rand, positioniert war. Die politische Landschaft verarme, schloss die NZZ aus diesen Zahlen. Vor allem zwischen den Mitte- und den Polparteien klaffe eine Lücke. Dort hätten früher moderate SVP- und SP-Vertreter als Brückenbauer gewirkt. Schuld für die zunehmende Fraktionsdisziplin seien aber nicht nur die Parteizentralen, sondern auch die wachsende Zahl an zu behandelnden Geschäften, bei denen Parlamentsmitglieder keine fundierte eigene Meinung mehr bilden könnten und deshalb gemäss der Empfehlung der Parteileitung stimmten.
Die zahlreichen auf die neue Legislatur 2019 bis 2023 hin angekündigten Rücktritte im Ständerat veranlasste die Verfasser des Ratings zur Spekulation eines Rechtsrutschs der kleinen Kammer nach den Wahlen 2019. Die politische Mitte des Ständerats befinde sich bei Pirmin Bischof, also bei -2.8. Da elf zurücktretende Kantonsvertreterinnen und -vertreter links und lediglich sieben rechts von Bischof seien und alle zurücktretenden im Schnitt deutlich linker (-5.3) positioniert seien als die wieder antretenden (-2.3), stellten die Ständeratswahlen vor allem für Mitte-Links eine Herausforderung dar, so die NZZ. Eindrücklich liess sich dies anhand von Raphaël Comte (fdp, NE) nachzeichnen. Der Neuenburger Freisinnige positionierte sich mit -5.7 näher bei Daniel Jositsch (sp, ZH), der mit -6.8 den rechten Rand der SP in der kleinen Kammer besetzte, als bei seinem am weitesten rechts positionierten Fraktionskollegen Philipp Müller (fdp, AG; 4.5) und dem Schnitt der FDP (2.3). Da Comte nicht mehr antrete, sei wohl auch in der FDP mit einem Rechtsrutsch in der kleinen Kammer zu rechnen.

Nationalratsrating

In der Wintersession 2019 beriet der Ständerat den indirekten Gegenvorschlag seiner SPK-SR für mehr Transparenz bei der Politikfinanzierung, der in Folge der erfolgreich zustande gekommenen Transparenz-Initiative als parlamentarische Initiative ausgearbeitet worden und sowohl in der Vernehmlassung wie auch im Bundesrat auf mehrheitliche Zustimmung gestossen war.
Andrea Caroni (fdp, AR) beantragte Nichteintreten. Er sei zwar ein «grosser Freund der Transparenz in der Politik», hier handle es sich aber um eine schlecht ausbalancierte Vorlage, die zudem eher zu «Scheintransparenz» führe. Die Forderungen seien erstens ein Eingriff in die Privatsphäre, weil sie politische Präferenzen und finanzielle Möglichkeiten von Spenderinnen und Spendern offenlegten. Zweitens würden die Regelungen mit viel Bürokratie einhergehen und könnten wohl, drittens, sehr einfach umgangen werden, da zwangsläufig grosse Lücken bestehen blieben. In Ländern, die scharfe Regeln kennen, sei das Vertrauen in die Politik nicht grösser als in der Schweiz, betonte er. Viel Geld und Demokratie stünden in einem heiklen Verhältnis, zitierte in der Folge Paul Rechsteiner (sp, SG) Gottfried Keller. Demokratische Entscheide dürfe man nicht kaufen können. Die Transparenz-Initiative verbiete zwar den Einsatz grosser Geldmittel nicht, sie verlange aber Transparenz. Wer viel investiere, der solle auch dazu stehen. Dass die Sensibilität in der Bevölkerung wachse, zeigten die Volksabstimmungen in den Kantonen Schwyz und Freiburg, wo die Forderung nach Transparenzregeln an der Urne Erfolg hatte. Das Argument, dass Regeln umgangen werden könnten, dürfe nicht gelten, weil man ansonsten überhaupt keine Regeln mehr aufstellen dürfe; man denke dabei etwa an den Strassenverkehr. Christian Levrat (sp, FR) schliesslich erörterte den in seinen Augen erfolgreichen Fall Freiburg und zitierte den aktuellen Sorgenbarometer, der einen Rückgang des politischen Vertrauens zeige. Dem könne vor allem mit vermehrter Transparenz begegnet werden. Beide SP-Vertreter forderten nicht nur Eintreten, sondern auch ein Ja zur Volksinitiative. Justizministerin Karin Keller-Sutter erörterte die Position der Regierung. Der Bundesrat habe in der ursprünglichen Botschaft für die zur Ablehnung empfohlene Initiative keinen Gegenentwurf vorgesehen, weil er Regelungen der Politikfinanzierung kritisch gegenüberstehe, da sie administrativ aufwändig und schwierig umsetzbar seien. Zudem sei der Bundesrat der Meinung, dass sich das Volk nicht kaufen lasse. Es gebe mehrere Beispiele von Abstimmungskampagnen, bei denen grosse Geldmittel eingesetzt worden seien, bei denen sich die Stimmbevölkerung aber auf die finanziell weniger gut bemittelte Seite geschlagen habe. Der jetzt durch die SPK-SR vorgelegte indirekte Gegenvorschlag habe gegenüber der Initiative Vorzüge und es sei sicherlich besser, Finanzierungsregeln auf Gesetzesstufe und nicht auf Verfassungsstufe einzuführen. Aus diesem Grund unterstütze der Bundesrat – nach wie vor mit einer gehörigen Portion Skepsis – den Gegenvorschlag, bei dem er allerdings einige Änderungswünsche anbringe.
Bevor über diese Änderungen debattiert wurde, wurde der Minderheitsantrag Caroni auf Nichteintreten mit 29 zu 14 Stimmen bei einer Enthaltung abgelehnt. Eine Minderheit Stöckli (sp, BE), die von Christian Levrat übernommen worden war, weil Hans Stöckli als Präsident amtete, wollte den Katalog der Offenlegungspflichten für politische Parteien erweitern. Neben den Einnahmen hätten auch Ausgaben und Vermögenslage ausgewiesen werden sollen. Dieser Antrag scheiterte aber genauso wie ein Antrag, die Obergrenze für Zuwendungen nicht bei CHF 25'000, sondern schon bei CHF 10'000 festzulegen. Angenommen wurde ein Antrag des Bundesrats, auf eine Offenlegungspflicht bei Unterschriftensammlungen zu verzichten. Die SPK-SR war hier auf die Linie des Bundesrats umgeschwenkt, weil das öffentliche Interesse an Transparenz in diesem frühen Stadium weniger gross sei, wie Daniel Fässler (cvp, AI) für die Kommission ausführte. Zu diskutieren gab die Frage nach einem Verbot von Zuwendungen aus dem Ausland. Der Bundesrat hatte beantragt, dieses Verbot zu streichen und lediglich den Passus für ein Verbot von anonymen Zuwendungen zu belassen. Die SPK-SR hatte nach längerer Diskussion mit 7 zu 5 Stimmen entschieden, dem Antrag des Bundesrats zu folgen. Eine Minderheit Bischof (svp, SZ) wollte allerdings – auch gestützt auf eine parlamentarische Initiative Fournier (cvp, VS;Pa.Iv. 18.423) – am ursprünglichen Verbot festhalten. Pirmin Bischof warnte davor, dass Wahlen und Abstimmungen in verschiedenen Ländern durch ausländische Geldgeberinnen und Geldgeber finanziert worden seien. Dies sei beim Geldspielgesetz nachweislich auch in der Schweiz der Fall gewesen. Es stehe wohl nächstens eine Abstimmung über den Kauf von Kampfflugzeugen an, wo es um Milliardenbeträge gehe, an denen auch ausländische Player ein Interesse hätten. Im Inland müsse man für Transparenz sorgen, aber die direkte Demokratie werde gegen ausländische Gelder nur durch ein Verbot geschützt. Karin Keller-Sutter entgegnete, dass nicht auszuschliessen sei, dass ausländisches Geld in Abstimmungskampagnen fliesse. Dies werde aber in der Regel bekannt und es werde darüber diskutiert. Ein Verbot sei hingegen mittels Geldkurieren sehr leicht zu umgehen. Das magistrale Votum verhallte jedoch ungehört; der Antrag der Minderheit wurde mit 25 zu 18 Stimmen gutgeheissen.
In der Gesamtabstimmung wurde der Entwurf mit 29 zu 13 Stimmen (2 Enthaltungen) angenommen.

Transparenz in der Politikfinanzierung (Pa. Iv. 19.400)
Dossier: Finanzierung der Politik
Dossier: Transparenzinitiative und Gegenvorschlag - Änderung des Bundesgesetzes über die politischen Rechte

Lange Zeit waren die Gesamterneuerungswahlen des Bundesrats fast eine Pflichtübung. Das hatte vor allem damit zu tun, dass die eidgenössischen Wahlen lange Jahre kaum politische Verschiebungen nach sich zogen. Zwar war die alte Zauberformel (2 CVP, 2 FDP, 2 SP, 1 SVP) mit dem Wahlerfolg der SVP stark hinterfragt und schliesslich nach einigen Jahren der Transition mit mehr oder weniger gehässigen und aufreibenden Regierungswahlen, der Nichtwiederwahl von Ruth Metzler (2003) sowie Christoph Blocher (2007) und einem Intermezzo der BDP in der Regierung gesprengt worden. Nach den eidgenössischen Wahlen 2015, dem Rücktritt von Eveline Widmer-Schlumpf aus der nationalen Exekutive und dem Einzug eines zweiten SVP-Regierungsmitglieds schien dann aber eine neue Formel gefunden: 2 FDP, 2 SP, 2 SVP, 1 CVP.

Schon im Vorfeld der eidgenössischen Wahlen 2019 war freilich spekuliert worden, dass die Grüne Partei die CVP hinsichtlich des Wähleranteils überflügeln könnte und damit einen Anspruch auf einen Sitz in der nationalen Regierung hätte – umso mehr, wenn sich die Grünen mit der GLP quasi zu einem gemeinsamen Sitz für die «Öko-Parteien» zusammenraufen könnten, wie die Aargauer Zeitung spekulierte. Falls sich die CVP halten könnte, wäre auch der Angriff auf einen der beiden FDP-Sitze denkbar, so die Hypothese zahlreicher Medien. Die angegriffenen Parteien wehrten sich mit dem Argument, dass eine Partei ihren Wahlerfolg zuerst bestätigen müsse, bevor sie einen Anspruch auf eine Regierungsbeteiligung erhalten könne. Dies sei auch bei der SVP der Fall gewesen – so etwa FDP-Parteipräsidentin Petra Gössi (fdp, SZ) bereits Mitte August 2019 in der Zeitung Blick. Zudem dürfe nicht nur der Wähleranteil bei den Nationalratswahlen in die Berechnung einfliessen, sondern man müsse auch die Vertretung im Ständerat berücksichtigen. Martin Bäumle (glp, ZH), Ex-Präsident der GLP, gab zudem zu verstehen, dass ein Öko-Lager aus GP und GLP kaum denkbar sei; zu unterschiedlich sei man in diversen Sachfragen. Ebenfalls früh wurde in den Medien über einen möglichen Rücktritt von Ueli Maurer spekuliert, was aus der vermeintlichen Pflichtübung eine spannende Wahl gemacht hätte. Maurer gab dann allerdings Anfang November bekannt, noch eine weitere Legislatur anzuhängen.

Die aussergewöhnlichen Erfolge der Grünen Partei bei den eidgenössischen Wahlen 2019 gaben dann den Diskussionen über die parteipolitische Zusammensetzung des Bundesrats sehr rasch wieder ganz viel Nahrung und schafften Raum für allerlei Reformvorschläge zur Bestimmung der Landesregierung. In der Tat hatten die Grünen mit 13 Prozent Wähleranteil die CVP (11.4%) deutlich überflügelt und als viertstärkste Partei abgelöst. Die GLP kam neu auf 7.8 Prozent. Die NZZ rechnete vor, dass die aktuelle Regierung so wenig Wählerinnen und Wähler vertrete wie zuletzt vor 60 Jahren. Die Grünen und die Grünliberalen hätten rein rechnerisch ein Anrecht auf je einen Bundesratssitz.
Neben den medial zahlreich vorgetragenen Berechnungen wurde allerdings auch inhaltlich und historisch argumentiert. Der Einbezug in die Regierung sei immer auch an den Umstand geknüpft gewesen, dass eine Oppositionspartei auch in verschiedenen Sachthemen glaubhaft ihre Referendumsmacht ausspielen könne, wurde etwa argumentiert. Zwar sei das Klimathema wichtig und würde wohl auch nachhaltig bleiben, die Grünen und die GLP müssten aber – wie auch die SVP mit ihren gewonnenen Volksbegehren – mit Abstimmungserfolgen ihren Anspruch noch untermauern, so ein Kommentar in der NZZ. Die Grünen würden trotz Wahlgewinnen keinen Regierungssitz erhalten, weil «niemand Angst vor ihnen hat», wie die Aargauer Zeitung diesen Umstand verdeutlichte. Argumentiert wurde zudem, dass eine «Abwahl» – eigentlich handelt es sich um eine Nichtwiederwahl – nicht dem politischen System der Schweiz entspreche. Es brauche mehrere Wahlen, bei denen sich eine Partei konsolidieren müsse, um die Stabilität in der Regierung auch über längere Zeit zu gewährleisten, kommentierte dazu der Blick.

Der Tages-Anzeiger führte gar eine Umfrage durch, die aufzeigte, dass eine Mehrheit der Befragten die Zeit für einen grünen Bundesrat noch nicht für gekommen hielt. Wer ein grünes Bundesratsmitglied jedoch befürwortete (rund 40% der Befragten), wünschte sich, dass dies auf Kosten eines Sitzes der SVP (50%) oder der FDP (21%), aber eher nicht auf Kosten der CVP (10%) oder der SP (6%) gehen solle.
Für die WoZ war allerdings klar: «Cassis muss weg!» In der Tat forderte auch Regula Rytz (gp, BE) via Medien, dass die FDP freiwillig auf einen Sitz verzichte, da sie als lediglich drittgrösste Partei keinen Anspruch auf zwei Sitze habe. In der Folge schienen sich die Medien dann in der Tat vor allem auf den zweiten Sitz der FDP einzuschiessen. Freilich wurden auch andere Modelle diskutiert – so etwa ein von Christoph Blocher in der Sonntagszeitung skizziertes Modell mit der SVP, die zwei Sitze behalten würde, und allen anderen grösseren Parteien (SP, FDP, CVP, GP, GLP) mit je einem Sitz –, «sämtliche Planspiele» drehten sich aber «um einen Namen: Aussenminister Ignazio Cassis», fasste die Aargauer Zeitung die allgemeine Stimmung zusammen. Er sei «der perfekte Feind», «visionslos und führungsschwach». Der Aussenminister befinde sich im «Trommelfeuer» befand die Weltwoche. Häufig wurde seine Haltung im Europadossier kritisiert und entweder ein Rücktritt oder wenigstens ein Departementswechsel gefordert. Mit Ersterem müsste allerdings die Minderheitenfrage neu gestellt werden, war doch die Vertretung des Tessins mit ein Hauptgrund für die Wahl Cassis im Jahr 2017. Der amtierende Aussenminister selber gab im Sonntags-Blick zu Protokoll, dass er sich als Tessiner häufig benachteiligt fühle und spielte so geschickt die Minderheitenkarte, wie verschiedene Medien tags darauf kommentierten. Die Sonntags-Zeitung wusste dann noch ein anderes Szenario zu präsentieren: Einige SVP-Parlamentarier – das Sonntagsblatt zitierte Andreas Glarner (svp, AG) und Mike Egger (svp, SG) – griffen Simonetta Sommaruga an und forderten, dass die SP zugunsten der Grünen auf einen Sitz verzichten müsse. Die CVP sei in «Versuchung», wagte sich dann auch die NZZ in die Debatte einzuschalten. Würde sie Hand bieten für einen grünen Sitz auf Kosten der FDP, dann könnte sie im Bundesrat «das Zünglein an der Waage» spielen und Mehrheiten nach links oder nach rechts schaffen. Die NZZ rechnete freilich auch vor, dass grün-links mit zusammen rund 30 Prozent Wähleranteil mit drei von sieben Regierungssitzen klar übervertreten wäre, denn die GLP dürfe man nicht zu den Grünen zählen. Dies hatten vor allem die Grünen selbst implizit immer wieder gemacht, indem sie vorrechneten, dass die GLP und die GP zusammen auf 21 Prozent Wähleranteile kämen.

Neben Kommentaren und Planspielen warteten die Medien auch mit möglichen grünen Bundesratsanwärterinnen und -anwärtern auf. Häufig gehandelte Namen waren die scheidende Parteipräsidentin Regula Rytz, die Waatländer Staatsrätin Béatrice Métraux (VD, gp), die Neo-Ständerätin Maya Graf (gp, BL), der Berner alt-Regierungsrat Bernhard Pulver (BE, gp), der amtierende Fraktionschef der Grünen, Balthasar Glättli (gp, ZH) oder der Zürcher Nationalrat Bastien Girod (gp, ZH). Ins Gespräch brachte sich zudem der Genfer Staatsrat Antonio Hodgers (GE, gp).

Die Grünen selber gaben sich lange Zeit bedeckt und waren sich wohl auch bewusst, dass eine Kampfkandidatur nur geringe Chancen hätte. Sie entschieden sich zwar an ihrer Delegiertenversammlung Anfang November in Bern für eine forschere Gangart und forderten einen grünen Bundesratssitz – Regula Rytz sprach davon, dass vorzeitige Rücktritte aus dem Bundesrat ein Ärgernis seien, weil sie Anpassungen nach Wahlverschiebungen erschweren würden. Mit der Forderung war einstweilen aber noch kein Name verknüpft, was der Partei prompt als «Lavieren» ausgelegt wurde (Blick). «Der grüne Favorit», wie der Tages-Anzeiger Bernhard Pulver betitelte, sagte Mitte November, dass er nicht zur Verfügung stehe. Auch der Berner Stadtpräsident Alec von Graffenried (BE, gp) und die Aargauer alt-Regierungsrätin Susanne Hochuli (AG, gp), die ebenfalls als Kandidierende gehandelt worden waren, sagten via Medien, dass sie nicht zur Verfügung stünden.
Die «Kronfavoritin» (Tages-Anzeiger) Regula Rytz ihrerseits stand im zweiten Umgang der Ständeratswahlen im Kanton Bern. Ihr wurden intakte Chancen eingeräumt und wohl auch um diese nicht zu gefährden, versicherte sie, dass sie auf eine Bundesratskandidatur verzichten würde, sollte sie für den Kanton Bern in die kleine Kammer gewählt werden. Da sie dies allerdings verpasste, kündigte die Bernerin rund 20 Tage vor den Bundesratswahlen ihre Kandidatur an – noch bevor die Fraktion offiziell beschlossen hatte, eine Kandidatur einzureichen. Nach einer solchen Richtungswahl, wie es die eidgenössischen Wahlen gewesen seien, könne man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, erklärte sie gegenüber der Presse. Sie wolle für die Menschen und die Natur Verantwortung übernehmen. Ihr Angriff gelte aber nur dem FDP-Sitz von Ignazio Cassis. Würde sie für ein anderes Regierungsmitglied gewählt, würde sie die Wahl nicht annehmen – so die Bernerin. Die Fraktion der Grünen gab dann allerdings tags darauf bekannt, dass es nicht um die Person, sondern um die Übervertretung der FDP gehe. Ein Angriff auf Karin Keller-Sutter schien damit nicht wirklich ausgeschlossen. Die nach aussen als wenig abgesprochen erscheinende Strategie für die Ansage der Kampfwahl brachte der GP Kritik ein. Die Partei zeige sich «unbeholfen» und der Start sei «misslungen», urteilte etwa die NZZ. Auch die Weltwoche redete von einem «verpatzten Start» und die Sonntagszeitung sprach gar von dilettantischem Vorgehen. Es sei, als wären die Grünen ein Sprinter, der kurz vor dem Ziel auf die Uhr schaue und sich hinknie, um die Schuhe zu binden, so die Zeitung weiter.

Eine medial oft diskutierte Frage im Vorfeld der Wahlen war, welche Parteien die Grünen in ihrem Anliegen unterstützen würden. Klar schien, dass die FDP nicht Hand bieten würde. Auch die SVP würde – wenn überhaupt – die GP nur auf Kosten der SP unterstützen. Die CVP bzw. die neue Mitte-Fraktion (CVP zusammen mit BDP und EVP) entschied, Rytz nicht einmal zu einem Hearing einzuladen. Man sei nicht gegen eine grüne Vertretung in der Regierung, es sei aber «etwas zu früh», liess sich CVP-Parteipräsident Gerhard Pfister (cvp, ZG) in der Sonntagszeitung zitieren. Die GLP und die SP gaben bekannt, Rytz vor den Wahlen anhören zu wollen. Für Schlagzeilen sorgte dabei SP-Parteipräsident Christian Levrat (sp, FR), der die CVP aufforderte, mitzuhelfen, die Grünen in die Regierung zu hieven. Die Schweiz wäre sonst die einzige Demokratie, in der Wahlen keine Auswirkungen auf die Regierungszusammensetzung hätten. Zudem würde sich die Weigerung der CVP wohl über kurz oder lang rächen. Bei der GLP zeigte sich das Dilemma zwischen ökologischem und liberalem Gedankengut. Insbesondere in der Europafrage fanden sich die GLP und der amtierende Aussenminister eher auf der gleichen Linie. Für Rytz spreche das ökologische Anliegen, gegen sie ihre eher linke Ausrichtung, erklärte Tiana Moser (glp, ZH) dann den Entscheid für Stimmfreigabe der GLP. Zudem würde Rytz ohne Absprache mit den Grünliberalen den «Sitz der Ökokräfte» für sich beanspruchen. Letztlich stellte sich einzig die SP-Fraktion offiziell hinter Rytz. Die eher laue Unterstützung und der Versuch der amtierenden Regierungsparteien, die eigene Macht zu zementieren, mache das Unterfangen «grüne Bundesrätin» für Regula Rytz zu einer «mission impossible», fasste die Zeitung Le Temps die Situation dann kurz vor den Wahlen zusammen.

Nicht die Medien, nicht Umfragen und «nicht die Wahlprozente» (NZZ), sondern die Vereinigte Bundesversammlung bestimmt freilich letztlich, welche Parteien in der Regierung vertreten sein sollen. Und diese Entscheidung brachte das Resultat, das viele im Vorfeld aufgrund der Aussagen der verschiedenen Parteien auch erwartet hatten: die Wiederwahl aller Amtierenden und das Scheitern des Angriffs der Grünen. Auch die Ansprachen der Fraktionschefinnen und -chefs im Vorfeld der einzelnen Wahlen – die Erneuerungswahlen finden in der Reihenfolge der Amtszeit der Bundesratsmitglieder statt – machten dies bereits deutlich. Die CVP plädierte für Konkordanz und Stabilität und die SVP betonte, dass zum Erfolgsmodell Schweiz die angemessene Vertretung der Landesteile in der Regierung gehöre – die Diskriminierung der kleinsten Sprachregion durch die Grüne Partei sei abzulehnen. Die GLP erklärte, dass die Stärkung der ökologischen Anliegen und der Wähleranteil der Grünen zum Vorteil für Rytz gereiche, ihre Positionierung am linken Rand und der fehlende Anspruch von links-grün auf drei Sitze aber gegen sie spreche. Die SP erklärte, die Zauberformel sei keine exakte Wissenschaft, aber die beiden stärksten Parteien sollten zwei Sitze und die restlichen jeweils einen Sitz erhalten, was für Regula Rytz spreche. Die Fraktion der Grünen geisselte den Umstand, dass die Regierungsparteien während der Legislatur Sitze «austauschten» und so bewusst verunmöglichten, dass das Parlament die Resultate nach eidgenössischen Wahlen berücksichtigen könne. Die FDP schliesslich wollte sich einer künftigen Diskussion um eine Anpassung der Zusammensetzung des Bundesrats nicht verschliessen, amtierende Regierungsmitglieder dürften aber nicht abgewählt werden.

Der Angriff der Grünen folgte bei der fünften Wahl, auch wenn der Name Regula Rytz schon bei der Bestätigungswahl von Simonetta Sommaruga auftauchte. Gegen die 145 Stimmen, die Ignazio Cassis erhielt, war Regula Rytz jedoch chancenlos. Sie erhielt 82 Stimmen, was in den Medien als schlechtes Abschneiden kommentiert wurde, hätten doch die Grünen (35 Stimmen) und die SP (48 Stimmen) in der Vereinigten Bundesversammlung gemeinsam über 83 Stimmen verfügt. Weil darunter sicherlich auch ein paar CVP- und GLP-Stimmen seien, müsse dies wohl so interpretiert werden, dass einige SP-Parlamentarierinnen und -Parlamentarier die grüne Konkurrenz fürchteten; Ignazio Cassis könne hingegen zufrieden sein. Von den 244 Wahlzetteln waren 6 leer geblieben und 11 enthielten andere Namen als «Rytz» oder «Cassis».
Schon zuvor hatten die meisten Parlamentsmitglieder auf Experimente verzichtet. Bei der ersten Wahl wurde der amtsälteste Bundesrat, Ueli Maurer, mit 213 von 221 gültigen Wahlzetteln gewählt. 23 der 244 ausgeteilten Bulletins waren leer geblieben und acht auf Diverse entfallen. Beim Wahlgang für Simonetta Sommaruga entfielen 13 Stimmen auf Regula Rytz und 13 Stimmen auf Diverse. Da ein Wahlzettel ungültig war und 25 leer blieben, durfte sich die künftige Bundespräsidentin über 192 Stimmen freuen. Alain Berset erhielt 214 Stimmen. Bei ihm waren 14 Wahlzettel leer geblieben und 16 auf Diverse entfallen. Die Anzahl ungültige (1) und Leerstimmen (39) wuchs dann bei Guy Parmelin wieder an, so dass der Wirtschaftsminister noch 191 Stimmen erhielt – 13 Stimmen entfielen auf Diverse. Einen eigentlichen «Exploit» (Tages-Anzeiger) erzielte Viola Amherd bei der sechsten Wahl. Mit 218 Stimmen erhielt sie die zweitmeisten Stimmen der Geschichte; nur Hans-Peter Tschudi hatte 1971 mehr Stimmen erhalten, nämlich 220. Elf Stimmen blieben leer und 14 entfielen auf Diverse. Eingelangt waren nur noch 243 Wahlzettel. Ein etwas seltsames Gebaren zeigt sich bei der letzten Wahl. Karin Keller-Sutter wurde zwar auch hier im Amt bestätigt, sie erhielt aber lediglich 169 Stimmen, da von den 244 ausgeteilten Wahlzetteln 37 leer und einer ungültig eingelegt wurden und 21 Stimmen auf Marcel Dobler (fdp, SG) sowie 16 auf Diverse entfielen. In den Medien wurde spekuliert, dass dies wohl eine Retourkutsche vor allem von Ostschweizer SVP-Mitgliedern gewesen sei, weil Keller-Sutter sich im St. Galler Ständeratswahlkampf zugunsten von Paul Rechsteiner (sp, SG) ausgesprochen habe.

Der Angriff der Grünen sei zwar gescheitert, dies könne für die Partei aber auch befreiend sein, könne sie nun doch Oppositionspolitik betreiben und mit Hilfe der direkten Demokratie den Druck auf die anderen Parteien erhöhen, urteilte Le Temps nach den Wahlen. Ihr Anspruch auf einen Bundesratssitz sei nach diesen Bundesratswahlen nicht einfach vom Tisch, kommentierte Balthasar Glättli. In zahlreichen Medien wurde zudem die Stabilität des politischen Systems betont – auch der Umstand, dass es zu keinem Departementswechsel kam, obwohl kurz über einen Wechsel zwischen Alain Berset und Ignazio Cassis spekuliert worden war, wurde als Indiz dafür gewertet. Doch Stabilität bedeute nicht Stillstand; die neuen Mehrheiten im Nationalrat müssten sich auch auf die Diskussionen um eine neue Zauberformel auswirken – so die einhellige Meinung der Kommentatoren. An einem vor allem von der CVP geforderten «Konkordanzgipfel» sollten Ideen für die künftige Zusammensetzung der Landesregierung beraten werden. Entsprechende Gespräche wurden auf Frühling 2020 terminiert.

Gesamterneuerungswahlen des Bundesrats 2019
Dossier: Bundesratswahlen seit 2008

Die ständigen Kommissionen, die mit der Parlamentsreform Anfang der 1990er Jahre eingeführt wurden, spielen eine herausragende Rolle im schweizerischen Gesetzgebungsprozess. In den Kommissionen werden zahlreiche Entscheide vorgespurt und wichtige Änderungen an Gesetzesvorlagen angebracht. Kommissionen geben Empfehlungen zu vielen Vorstössen ab, sie entscheiden, ob via parlamentarische Initiativen angestossene Ideen in neue Gesetze fliessen sollen und arbeiten entsprechende Gesetzesentwürfe auch aus. Freilich ist es das Gesamtparlament, das letztlich entscheidet, ob es die Empfehlungen und Vorlagen seiner Kommissionen annehmen möchte oder nicht. Eine Studie der Universität Bern zeigte allerdings auf, dass das Parlament im langjährigen Schnitt rund 75 Prozent aller Kommissionsempfehlungen (bei parlamentarischen Initiativen und Standesinitiativen) befolgt. Es ist somit nicht verwunderlich, dass die parteipolitische und individuelle Besetzung der verschiedenen Kommissionen politisch von einiger Bedeutung ist.
Institutionell sind die Vorgaben dafür klar: Die Fraktionen – nicht die Parteien – erhalten entsprechend ihrer Mandatszahl in den jeweiligen Räten eine Anzahl Kommissionssitze, die sie dann mittels Verhandlungen mit den anderen Fraktionen auf die verschiedenen Kommissionen und mit fraktionsinternen Verfahren zwischen ihren Mitgliedern verteilen. Im Nationalrat setzen sich die zwölf ständigen Kommissionen (neun Sachbereichs- und zwei Aufsichtskommissionen sowie die Immunitätskommission) in der Regel aus 25 Mitgliedern zusammen, die Immunitätskommission aus neun. Im Ständerat umfassen die elf ständigen Kommissionen – der Ständerat kennt keine Immunitätskommission – jeweils 13 Mitglieder. Neben den ständigen Kommissionen können auch Spezialkommissionen eingesetzt werden, für die entsprechend ihrer Grösse ebenfalls ein Verteilschlüssel errechnet wird.
Entsprechend der Ergebnisse der eidgenössischen Wahlen 2019 entfielen von den total 284 Kommissionssitzen im Nationalrat 79 auf die SVP-Fraktion, 56 auf die SP-Fraktion, 43 auf die Mitte-Fraktion, 42 auf die Fraktion der Grünen, 41 auf die FDP-Fraktion und 23 auf die Fraktion der Grünliberalen. Abzüglich der neun Sitze in der Immunitätskommission (SVP: 3; SP: 2; alle anderen Fraktionen je 1) hatte damit also die SVP einen Anspruch auf je sieben Sitze in zehn Kommissionen und sechs Sitze in einer Kommission. Die SP konnte in zehn Kommissionen jeweils fünf Mitglieder platzieren und in einer vier. Jeweils vier Mitglieder schickten die Mitte-Fraktion in neun Kommissionen (und je 3 in 2 Kommissionen), die Fraktion der Grünen in acht Kommissionen (und je 3 in 3 Kommissionen) und die FDP-Fraktion in sieben Kommissionen (und je 3 in 4 Kommissionen). Die Fraktion der GLP hatte entsprechend dieser Aufteilung Anspruch auf je zwei Sitze in den elf Kommissionen. Der Verteilschlüssel im Ständerat brachte der Mitte- und der FDP-Fraktion je drei Mitglieder in jeder Kommission, der SP- und der SVP-Fraktion je zwei und der Fraktion der Grünen eines pro Kommission. Darüber hinaus konnte die Mitte-Fraktion in sieben Kommissionen einen zusätzlichen Sitz beanspruchen, die FDP in vier, die SP in sechs und die GP in fünf. Da mehr Kommissionssitze als Fraktionssitze zu besetzen sind, bedeutet dies also auch, dass einzelne Mitglieder in zwei oder mehr Kommissionen Einsitz nehmen.
Wesentlich interessanter als die zahlenmässige Verteilung und medial besonders verfolgt waren die personellen Entscheidungen in den einzelnen Fraktionen. Wer sollte Einsitz in welche Kommission haben? Wichtig war diese Entscheidung nicht nur deshalb, weil es mehr oder weniger interessante Kommissionen gebe – die Medien betonten hier immer wieder die Wichtigkeit der Wirtschafts- und Abgabekommission (WAK) –, sondern weil der Einsitz in eine Kommission mit individuellen inhaltlichen aber auch handfesten Interessen verknüpft sein konnte. So dürfte sich eine Juristin in der Gerichtskommission (GK) vielleicht wohler fühlen als ein Arzt, der sich wiederum eher für einen Sitz in der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK) interessieren dürfte. Freilich dürften es aber vor allem auch die Interessenbindungen sein, die von Bedeutung sind. So hatten in den letzten Jahren die Diskussionen um die Problematik der inhaltlichen Verknüpfung von Interessengruppen mit der Kommissionsarbeit stark zugenommen (vgl. auch Dossier «Lobbyismus im Bundeshaus»). Dabei stand die Frage im Raum, ob und inwiefern Lobbying immer unmittelbarer bereits in den Kommissionen stattfinde.

Die Fraktionen hatten nach Bekanntgabe der Verteilschlüssel durch die Parlamentsdienste Ende November bis zum 10. Dezember Zeit, die Kommissionsmitglieder zu bestimmen. Die Zeitung Blick wusste dabei von SVP-internen Streitigkeiten bei der Verteilung zu berichten. Lukas Reimann (svp, SG) hatte sich öffentlich beklagt, dass er seinen Sitz in der SPK-NR nicht behalten durfte; er werde abgestraft, weil er sich gegen Lobbyismus einsetze und zu wenig parteikonform stimme. Auch die NZZ vermutete: «Die SVP setzt Abweichler unter Druck und straft sie ab». Die Zeitung aus Zürich berichtete über Diana Gutjahr (svp, TG), die vom Fraktionsvorstand der SVP in der WBK-NR belassen wurde, obwohl ihre Kandidatur für die Präsidentschaft des Schweizerischen Gewerbeverbands mit einer Einsitznahme in der WAK-NR wohl chancenreicher gewesen wären. An ihrer statt würde die neu gewählte Esther Friedli (svp, SG) in der «einflussreichen» WAK Einsitz nehmen, obwohl «Neulinge [...] sehr selten auf Anhieb in eine zentrale Kommission wie die WAK entsandt» würden, so die NZZ weiter. Friedli habe diesen «Senkrechtstart ihrem Beziehungsnetz zu verdanken, primär ihrem Lebenspartner, dem früheren Parteichef Toni Brunner (svp, SG).» Gutjahr sei wohl ein «europapolitischer Denkzettel» verpasst worden, weil sie sich weigere, die Begrenzungsinitiative der SVP zu unterstützen, interpretierte die NZZ. Der angefragte Fraktionschef Thomas Aeschi (svp, ZG) betonte auf Anfrage, dass bei der Vergabe der Kommissionssitze nicht alle Wünsche erfüllt werden könnten.
Mediale Erwähnung fand auch die Besetzung der Gesundheitskommission durch die SP. In der Regel müssten Neugewählte mit ihren Wünschen hinten anstehen, berichtete dazu auch die Aargauer Zeitung. Dies gelte nicht für Pierre-Yves Maillard (sp, VD), der als früherer Gesundheitsdirektor des Kantons Waadt «auf Anhieb den Sprung in die prestigeträchtige Gesundheitskommission» geschafft habe, obwohl der bisherige Angelo Barrile (sp, ZH) als Arzt dafür prädestiniert gewesen wäre. Die NZZ berichtete ferner von einer SP-internen Regel. Da die Zahl der Kommissionssitze grösser ist als die Zahl der Fraktionsmitglieder haben rund ein Drittel der SP-Mitglieder zwei Kommissionssitze inne. Besagte Regel schreibe vor, dass dies für maximal vier Jahre möglich sei. Dann habe man sich auf einen Sitz zu konzentrieren. Laut der NZZ habe sich deshalb Eric Nussbaumer (sp, BL) zwischen der UREK-NR und der APK-NR zugunsten Letzterer entscheiden müssen. Auch Beat Jans (sp, BS) habe wegen dieser Regel seinen Sitz in der WAK-NR abgegeben und werde sich nun auf die UREK-NR alleine konzentrieren müssen. «Weitsichtige Planung» attestierte die NZZ der SP hingegen für die Besetzung der Kommissionssitze im Ständerat. Mit Christian Levrat (sp, FR) und Paul Rechsteiner (sp, SG) würden zwei «Schwergewichte» der Partei das Kommissionspräsidium der «wichtigsten und einflussreichsten» Kommissionen übernehmen, der SGK-SR und der WAK-SR. Beliebt sei neben der WAK und der SGK aber auch die UREK, weil sie «viel Aufmerksamkeit» generiere, so die Aargauer Zeitung mit Blick auf die Verteilung in der FDP-Fraktion. Weil er der Klimaoffensive seiner Parteipräsidentin Petra Gössi (fdp, SZ) skeptisch begegnet war, sei der bisherige Christian Wasserfallen (fdp, BE) von seiner Fraktion aus der UREK-NR in die KVF-NR versetzt worden. Wasserfallen selber sprach in der Aargauer Zeitung und auch in der NZZ allerdings von einem lange gehegten Wunsch. Einen zusätzlichen Aspekt brachte die St. Galler Zeitung in die Diskussion: die regionale Vertretung in den Kommissionen. «St. Gallerinnen starten durch», titelte die Zeitung und freute sich, dass die Ostschweiz «mehr Gewicht in der Wirtschaftskommission» erhalte. Aber auch eine regionale Vertretung in der Verkehrskommission wäre wichtig gewesen; dort sei die Vertretung der Ostschweiz aber nur noch «dünn», klagte das St. Galler Tagblatt.
Schliesslich beleuchtete die Sonntagszeitung die Verteilung der Kommissionssitze aus der Perspektive der Gleichstellung. «Die Frauenrevolution bleibt unvollendet», titelte das Blatt. Zwar hätten die Frauen im Parlament nach den Wahlen 2019 einen Anteil von 39 Prozent (in National- und Ständerat zusammen), seien aber in den parlamentarischen Kommissionen lediglich zu 36 Prozent vertreten, weil es eher Männer seien, die mehrere Kommissionssitze besetzten. Zudem sei in den «wichtigen oder prestigeträchtigen Ausschüssen» die Untervertretung der Frauen noch deutlicher. In der FK sind lediglich 26 Prozent der Mitglieder Frauen (statt 39%), in der WAK und der UREK sind es 32 Prozent und in der APK 34 Prozent. In der WBK (53% Frauen) und der SGK (die Sonntagszeitung nannte sie die «Sozialkommission»; 47%) seien die Frauen hingegen übervertreten. Auch die Kommissionspräsidien seien nur zu 23 Prozent von Frauen besetzt. Das sei «undemokratisch», kommentierte die Sonntagszeitung: «[W]o es politisch um etwas geht, sind die Politikerinnen unterrepräsentiert und haben wenig zu sagen.»

Kommissionssitze

Eine «schöne Schweizer Politgeschichte» erzählte im September 2019 die NZZ. Diese zeige, dass Bundesbern nicht einfach zerstritten sei, sondern dass sich «Politikerinnen und Politiker unterschiedlicher Lager auch menschlich gut verstünden» – so dann das Urteil der Aargauer Zeitung im Jahresrückblick. Die Episode verrate viel über den Betrieb in Bern, begann die NZZ ihre Geschichte: Bei einem Nachtessen nach einer WAK-Sitzung in Solothurn erzählte Christian Levrat (sp, FR), dass er am nächsten Tag nicht zur Maturafeier seiner Tochter fahre, da er in der Kommission die Position der SP im Versicherungsvertragsgesetz vertreten müsse. Dass der politische Kampf vorgehe, sei mit der Tochter abgesprochen. Konrad Graber (cvp, LU), der in der Nähe von Christian Levrat sass, redete dem Sozialdemokraten ins Gewissen: So einen wichtigen Anlass dürfe er nicht verpassen. Weil der SP-Präsident aber so kurzfristig keinen Ersatz fand, schlug ihm der CVP-Politiker vor, in der Kommission sozusagen für Levrat und immer gleich zu stimmen, wie das zweite SP-Mitglied in der WAK, Roberto Zanetti (sp, SO). Levrat nahm das Angebot an, fand dann aber seinen Autoschlüssel nicht, was Finanzminister Ueli Maurer auf den Plan rief, der ebenfalls anwesend war, um über die Vorlage zu diskutieren. Flugs bot der SVP-Magistrat seine Bundesratslimousine samt Chauffeur an: «Und so kommt es, dass der oberste Sozialdemokrat in der Limousine des einstigen SVP-Präsidenten nach Bulle chauffiert wird und dort pünktlich eintrifft», bilanzierte die NZZ. In der Zwischenzeit war der Autoschlüssel Levrats gefunden worden, worauf sich erneut Ueli Maurer anbot, tags darauf seiner Limousine hinterherzufahren und das Auto von Levrat nach Bern zu fahren. Laut NZZ habe Roberto Zanetti seinem Parteikollegen in der Folge eine SMS geschickt: Graber habe stets korrekt gestimmt, Levrat solle aber in Zukunft sein Auto aufräumen. Man wisse nie, ob nicht der Bundespräsident damit im Land herumfahren müsse.

Bundesrat Maurer bietet SP-Präsident Levrat Bundesratslimousine an

Von einem «Vorstossrekord» schrieb das St. Galler Tagblatt rückblickend auf das Jahr 2018. In der Tat wurden in diesem Jahr total 2'352 Vorstösse eingereicht, was 9.6 Vorstössen pro Ratsmitglied entsprach (2017: 9.0). Im Vergleich zum Vorjahr stark zugenommen haben erneut die Interpellationen (764; 2017: 718) und die Fragen in der nationalrätlichen Fragestunde (750; 2017: 663). Aber auch Motionen wurden wesentlich häufiger eingereicht als noch ein Jahr zuvor (463; 2017: 403). Auch wenn dieser Wert der bisher höchste in der 50. Legislatur war, war man bei den Motionen noch weit vom Spitzenwert von 2009 entfernt, als ganze 614 Motionen eingereicht worden waren. Im Vergleich zum Vorjahr abgenommen hatten die eingereichten Anfragen (99; 2017: 102), die Postulate (183; 2017: 204) und insbesondere die parlamentarischen Initiativen (93; 2017: 129), deren Zahl gar unter das langjährige Mittel von 98 fiel.
In den Medien wurde die grössere Betriebsamkeit mit den nahenden Wahlen erklärt. Die Parlamentsmitglieder wollten sich vor den anstehenden Wahlen bemerkbar machen, meinte etwa Fabio Abate (fdp, TI), dessen Postulat gegen die «Vorstossflut» 2016 abgelehnt worden war. Zum «Vorstosskönig», wie ihn die Aargauer Zeitung (AZ) bezeichnete, wurde Carlo Sommaruga (sp, GE) mit 47 Vorstössen gekrönt. Es handle sich vor allem um Fragen in der Fragestunde, da er und die Bürgerinnen und Bürger mit diesen «schnell und unkompliziert die Haltung des Bundesrates zu aktuellen Themen» erfahren, erklärte der Genfer SP-Nationalrat. Bei höhere Kosten verursachenden Motionen und Postulaten sei er zurückhaltender. Weniger sei manchmal mehr, gab der ebenfalls in der AZ befragte Markus Ritter (cvp, SG) zu Protokoll, der 2018 keinen einzigen Vorstoss eingereicht hatte. Er frage den Bundesrat und die Verwaltung lieber direkt an. Davon erfahre die Öffentlichkeit zwar nichts, man erhalte aber sehr schnell eine präzise Antwort. Zudem habe er als Bauernpräsident genug Medienpräsenz. Dass es Schwergewichte nicht nötig hätten, mit Vorstössen Medienaufmerksamkeit zu erheischen, zeigten gemäss AZ auch FDP-Präsidentin Petra Gössi (fdp, SZ) und SP-Präsident Christian Levrat (sp, FR) sowie Gewerkschaftschef Paul Rechsteiner (sp, SG) und Gewerbeverbandspräsident Jean-François Rime (svp, FR), die 2018 ebenfalls keinen einzigen Vorstoss eingereicht hatten. Freilich ist es verkürzt, Parlamentsmitgliedern zu unterstellen, dass sie Vorstösse lediglich als Aufmerksamkeitsinstrument nutzen. Vielmehr handelt es sich bei Motionen, Postulaten und parlamentarischen Initiativen um zentrale Instrumente der Legislative. Eine Zunahme an Vorstössen kann deshalb auch als Zeichen für ein aktives Parlament, das seine Aufgabe wahrnimmt, interpretiert werden.

Im Vergleich zu 2017 hatten auch die Aufgaben, die dem Parlament von aussen aufgegeben worden waren, zugenommen: So wurden den Parlamentsmitgliedern 2018 87 Bundesratsgeschäfte (2017: 67), 26 Standesinitiativen (2017: 22), 34 Wahlgeschäfte (2017: 23) und 30 Petitionen (2017: 22) neu vorgelegt.

Den Räten wurde aber 2018 nicht nur mehr Arbeit auferlegt; sie erledigten in diesem Jahr mit total 2'428 auch überdurchschnittlich viele Vorstösse und Geschäfte (2017: 2'396; Schnitt 2000 bis 2018: 2'403). Allerdings war die Arbeitslast dabei relativ ungleich verteilt. Die Zunahme an erledigten Vorlagen war nämlich praktisch ausschliesslich den im Vergleich zu den Vorjahren wesentlich häufiger beantworteten Interpellationen (725; 2017: 628) und Fragen in der Fragestunde (750; 2017: 663) geschuldet. Hier liegt die Arbeitslast aber insbesondere bei der Verwaltung und weniger beim Parlament. Dieses erledigte 2018 hingegen weniger Postulate (273; 2017: 303), weniger Motionen (360; 2017: 458) und auch weniger parlamentarische Initiativen (101; 2017: 104) als im Vorjahr. Zudem nahm auch die Zahl der erledigten Bundesratsgeschäfte (62; 2017: 74), Standesinitiativen (28; 2017: 26) und Petitionen (20; 2017: 26) im Vergleich zu 2017 ab. Einzig bei den Wahlgeschäften gab es 2018 (28) für das Parlament etwas mehr zu tun als 2017 (26).

Einen Einblick in den Arbeitsaufwand eines Parlamentariers gab Konrad Graber (cvp, LU) in einer Kolumne in der Luzerner Zeitung. Für die Sommersession seien 120 Geschäfte traktandiert, für die er rund drei Wochen vor Beginn der Session Unterlagen erhalte: Botschaften für Bundesratsgeschäfte, Berichte und Anträge der Kommissionen; «schätzungsweise ein Kilo Papier», das neben den zahlreichen Ratschlägen und Empfehlungen verschiedener Lobbyorganisationen bearbeitet werden müsse.

Von den 360 im Jahr 2018 erledigten Motionen wurden 110 angenommen (30.6%), was im langjährigen Schnitt (2000-2018: 21.7%) eine hohe Erfolgsquote darstellte. Je 43 Motionen wurden zurückgezogen (11.9%; 2017: 20.7%) bzw. unbehandelt abgeschrieben (11.9%; 2017: 10.7%) und ein Viertel (88, 24.4%; 2017: 18.3%) schaffte immerhin die Hürde des Erstrats. Auch die Erfolgsquote der Postulate war mit 68.9 Prozent im Jahr 2018 ausserordentlich hoch (2017: 54.1%; Schnitt: 49.3%): Von den 273 erledigten Postulaten wurden 188 angenommen. Von den 85 nicht erfolgreichen Postulaten lehnte das Parlament 40 (14.7%; 2017: 25.7%) ab; 18 (6.6%; 2017: 12.9%) wurden zurückgezogen und 27 (9.9%; 2017: 7.3) wegen Verjährung abgeschrieben.

Arbeitsbelastung 2018
Dossier: Geschäftsstatistik der Bundesversammlung

Die Kampagne rund um die Selbstbestimmungsinitiative lief eigentlich schon seit der Lancierung des Begehrens Anfang 2015. Diverse Parteien und verschiedene Organisationen hatten sehr früh ihren Widerstand angekündigt. Schon im März 2015 hatte der Tages-Anzeiger getitelt «Alle gegen die Volkspartei»: Wirtschaftsverbände hatten Sorgen um Handelsverträge geäussert, Staatsrechtlerinnen und Staatsrechtler hatten einen Angriff auf die Menschenrechte befürchtet, Rechtshistorikerinnen und Rechtshistoriker hatten die Idee der «fremden Richter» bemüht, verschiedentlich war eine Instrumentalisierung des Initiativrechts moniert worden und vor den eidgenössischen Wahlen im Herbst 2015 hatte die Frage zur Beziehung von Völkerrecht und Landesrecht «unter Politikern für Polemiken und rote Köpfe» gesorgt (NZZ) – und das alles noch bevor die Initiative überhaupt zustande gekommen war. Die SVP wollte nach eigenem Ermessen Klarheit und Sicherheit hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Völkerrecht und Landesrecht herstellen, was freilich von den Gegnerinnen und Gegnern als «falsches Versprechen» (NZZ) oder «initiative simpliste» (Le Temps) bezeichnet und bestritten wurde. Rückenwind brachte die Initiative wohl auch ihrem Erfinder Hans-Ueli Vogt (svp, ZH), der während seines Ständeratswahlkampfes im Kanton Zürich für das Begehren geworben hatte.

Die Medienberichterstattung über die Selbstbestimmungsinitiative riss natürlich auch während ihrer parlamentarischen Behandlung 2017 und 2018 nicht ab. Diskutiert wurde dabei unter anderem auch schon früh über den Abstimmungstermin. Ob die SVP im Wahljahr 2019 von der Initiative profitieren könne oder nicht, hänge vor allem vom Arbeitstempo des Parlaments und davon ab, ob ein Gegenvorschlag ausgearbeitet würde oder nicht, berichtete die Presse. In den Medien wurden derweil auch verschiedentlich Fälle beschrieben, bei denen Gerichte internationalen Verträgen den Vorrang vor Verfassungsbeschlüssen gegeben hatten. Insbesondere die Ausnahmen, die in Einzelfällen bei der Anwendung des Ausführungsgesetzes zur Ausschaffungsinitiative gemacht wurden, waren ja auch Stein des Anstosses für die Selbstbestimmungsinitiative gewesen. Ob die Schweiz nun «Musterschülerin» sei (Tages-Anzeiger), die in vorauseilendem Gehorsam handle, oder sich als Vertragspartnerin an internationale Abkommen halten müsse, wie in der Presse ebenfalls argumentiert wurde, – die Diskussionen hielten die Selbstbestimmungsinitiative im Gespräch.

Bereits vor Abschluss der parlamentarischen Verhandlungen lancierten die Gegnerinnen und Gegner der Initiative Ende Mai 2018 mittels einer Medienkonferenz offiziell den Abstimmungskampf – obwohl dann noch nicht entschieden war, wann das Anliegen an die Urne kommen sollte. Unter dem Namen «Schutzfaktor M» – M stand bei der bereits 2013 ins Leben gerufenen Organisation für Menschenrechte – und der Bezeichnung «Allianz der Zivilgesellschaft» hatten sich laut Basler Zeitung über hundert Organisationen – darunter etwa der katholische Frauenbund, Pink Cross, Behinderten- und Jugendverbände oder Helvetas – und Tausende Einzelpersonen zusammengeschlossen. Vor der Presse bezeichneten verschiedene Vertreterinnen und Vertreter dieser Organisationen das SVP-Anliegen als «Selbstbeschneidungs-Initiative» oder «Anti-Menschenrechts-Initiative». Die ungewohnt frühe Organisation der Gegnerschaft sei mit der Bedeutung der Initiative zu erklären, aber auch damit, dass der «Abstimmungskampf kein Spaziergang» werde, so der Tages-Anzeiger. Darauf weise auch eine im März 2018 durchgeführte Umfrage hin, die zeige, dass 43 Prozent der Befragten die Initiative sicher oder eher annehmen würden und 48 Prozent dagegen oder eher dagegen seien.

Anfang Juli entschied der Bundesrat dann, die Abstimmung auf den frühest möglichen Zeitpunkt, den 25. November 2018, festzulegen. Anfang Oktober startete die SVP mit ihrem Abstimmungskampf, der zumindest hinsichtlich der verwendeten Bilder und verglichen mit früheren Kampagnen zur Minarett-, Ausschaffungs- oder Masseneinwanderungsinitiative etwa vom Sonntags-Blick als «völlig harmlos» bezeichnet wurden. Auf einem in orange gehaltenen Hintergrund hielten Personen ein Schild mit einem Ja «zur direkten Demokratie» und «zur Selbstbestimmung» in die Kamera. Das Logo der Partei war nicht sichtbar. Man habe die Botschaft bewusst simpel halten wollen. Eine aggressive Kampagne sei nicht nötig, weil die Botschaft klar sei, zudem wolle man einen sachlichen Abstimmungskampf führen, gab Kampagnenchef Thomas Matter (svp, ZH) zu Protokoll.

Die Gegnerschaft fuhr für ihre Kampagne schwereres Geschütz auf: So liess Economiesuisse 18 Frachtcontainer auf den Bundesplatz stellen mit dem Hinweis, dass darin 387 Tonnen Exportgüter Platz hätten, was der Menge entspreche, die von der Schweiz aus alle 10 Minuten in die Welt verkauft werde. Diese Ausfuhren seien aber bei einem Ja zur Selbstbestimmungsinitiative gefährdet. Nur dank zahlreicher internationaler Abkommen, die bei einem Ja alle auf der Kippe stünden, gehöre die Schweiz zu den 20 grössten Volkswirtschaften weltweit. Das «Gesicht der Operation Libero» (Blick), Flavia Kleiner, sprach von der «krassesten Initiative, über die wir je abgestimmt haben», mit ihr werde der Rechtsstaat fundamental angegriffen. Eine in den Medien häufig zu vernehmende Stimme gehörte Helen Keller, der Vertreterin der Schweiz am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Auch für sie entsprach die Initiative einem Angriff auf den Rechtsstaat und die Menschenrechte. Sie argumentierte, dass das Volksbegehren nicht hätte für gültig erklärt werden dürfen und fürchtete sich bei einer Annahme vor einer «Katastrophe», wie die Weltwoche ausführte. Plakate der Gegnerinnen und Gegner zeigten eine Kreissäge, die verschiedene Begriffe (z.B. Frauenrechte, Kinderrechte, Behindertenrechte) durchtrennte, verbunden mit dem Slogan «Nein zur Selbstbeschneidungsinitiative der SVP». In der Weltwoche wurden die Plakate als «krasser Ausdruck» von «Volksverachtung» bezeichnet, mit der die «antidemokratische Gesinnung der Selbstbestimmungsgegner» sichtbar werde. Volksentscheide würden mit «Kettensägenmassaker[n]» gleichgesetzt.
Auch auf Social Media hatten die Gegnerinnen und Gegner der Initiative «die Nase vorn» (Weltwoche). Mit einem Film zeigten sie als antike Soldaten verkleidete Mitglieder der SVP (Roger Köppel [ZH], Andreas Glarner [AG] und Magdalena Martullo-Blocher [GR]), die in einem Trojanischen Pferd versteckt das Bundesgericht entmachten wollten. Ein grosses Holzpferd wurde dann auch kurz vor dem Abstimmungstermin auf dem Berner Bahnhofsplatz präsentiert.

Die SVP – allen voran Christoph Blocher – verteidigte die Initiative mit dem Argument, dass die direkte Demokratie schleichend ausgehebelt werde. Bei der Abstimmung stünden nichts weniger als die Volksrechte auf dem Spiel. «Damit die Leute noch etwas zu sagen haben», müssten sie Ja stimmen, so der vom Blick als «SVP-Übervater» bezeichnete Blocher. Der alt-Bundesrat betrachtete die Selbstbestimmungsinitiative zudem als Vehikel, mit dem der EU-Rahmenvertrag verhindert werden könne. Sehr häufig trat auch Hans-Ueli Vogt vor die Medien, um «seine» Initiative zu verteidigen. Auch der «Architekt» des Begehrens, so die Aargauer Zeitung, argumentierte mit der Verteidigung der direkten Demokratie. Das Parlament setze angenommene Initiativen mit Verweis auf internationale Verpflichtungen nicht so um, wie dies von der Stimmbevölkerung verlangt werde. Mit der Initiative werde der Stellenwert der direkten Demokratie hingegen wieder gestärkt.

Für Wirbel sorgte ein Flyer, der von der SVP Mitte August 2018 an alle Schweizer Haushalte verteilt wurde. Darin trat alt-Bundesrätin Micheline Calmy-Rey als Kronzeugin für die Selbstbestimmungsinitiative auf: «Das Schweizer Recht schützt besser als das europäische. Ich bin entschieden dagegen, dass europäisches Recht sämtliche Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU regeln soll», wurde die ehemalige Magistratin zitiert. Diese Aussage hatte Calmy-Rey im Rahmen einer Diskussion um das EU-Rahmenabkommen gemacht. Von der SVP sei sie aber nicht angefragt worden, sie sei schockiert über dieses Vorgehen. SP-Parteipräsident Christian Levrat (sp, FR) sprach in diesem Zusammenhang von «Lügenpropaganda». Auch die «Buh-Rufe» und die «Schimpftiraden» (Aargauer Zeitung), die Bundesrätin Simonetta Sommaruga bei einem Podium in Suhr (AG) über sich ergehen lassen musste, zeugten von der immer aufgeheizteren Stimmung. Nicht nur die von der SVP immer wieder heftig attackierte Justizministerin, sondern auch die Bundesratsmitglieder Doris Leuthard, Alain Berset, Ignazio Cassis und Johann Schneider-Ammann engagierten sich mit verschiedenen Auftritten für die ablehnende Haltung des Bundesrates. Man habe Lehren aus dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative gezogen, bestätigte Simonetta Sommaruga der Aargauer Zeitung, und trete darum als Regierung stärker in Erscheinung.

Ende August zeigte eine Umfrage, dass zu diesem Zeitpunkt 53 Prozent der Befragten Nein zur Initiative gesagt hätten und 45 Prozent Ja. Als aussergewöhnlich wurde von den Befragenden der Umstand gewertet, dass das Ja-Lager über die Zeit nicht kleiner geworden sei; ein Muster, das sonst bei Initiativen im Verlauf einer Kampagne zu beobachten sei. Thomas Matter sprach bei seinem Kommentar zu diesen Zahlen in der Aargauer Zeitung von einem Kampf «David gegen Goliath». Er schätzte den finanziellen Aufwand der Gegnerschaft auf einen «zweistelligen Millionenbetrag». Die Gegnerinnen und Gegner führten eine «Märchenstundenkampagne mit unlimitierten Budgets», urteilte Matter. Die SVP selber habe weniger als CHF 3 Mio. ausgegeben. Eine Analyse von Media Focus ging hingegen aufgrund der gekauften Werbeflächen (Plakate, Inserate, Werbung auf Youtube) davon aus, dass das Befürworterlager mehr ausgegeben hatte als das Gegnerlager. Auch die APS-Inserateanalyse, mit der die Anzahl der in Printmedien geschalteten Inserate betrachtet wird, stellte ein grösseres Engagement der Befürwortenden- als der Gegnerseite fest. Zudem schalteten die Befürworterinnen und Befürworter deutlich mehr Inserate als noch bei der Masseneinwanderungs- oder der Durchsetzungsinitiative. Wer wie viel für den Abstimmungskampf ausgab, blieb zwar ein Geheimnis, die Kosten waren aber sicherlich überdurchschnittlich hoch.
Die Gegnerinnen und Gegner warnten aufgrund der Umfrageresultate davor, zu meinen, dass das Rennen bereits gelaufen sei. Demoskopen würden sich oft irren, so etwa der Blick. Als für das Nein-Lager nicht förderlich, wurde zudem die Absicht des Bundesrates bezeichnet, ausgerechnet kurz vor der Abstimmung eine Unterzeichnung des umstrittenen UNO-Migrationspaktes zu prüfen. Die Umfragen hatten zudem gezeigt, dass rund ein Drittel der FDP-Sympathisierenden die Initiative unterstützen würde. Auch die Ja-Parole der Jungfreisinnigen des Kantons Zürich zeige, dass durch den Freisinn ein Riss verlaufe, urteilte der Sonntags-Blick. Diesem wollte Parteipräsidentin Petra Gössi (fdp, SZ) auf Anfrage mit Aufklärung und Mobilisierung der eigenen Basis begegnen – so das Sonntagsblatt weiter.

Den «Rückenwind», den die Befürworterinnen und Befürworter durch die Debatte um den Migrationspakt noch einmal erhalten hatten, wie der Blick urteilte, versuchten sie kurz vor der Abstimmung dann noch mit «Brachial-Werbung» (Blick) zu verstärken. Auf der Titelseite der Pendlerzeitung «20 Minuten» warb das «Egerkinger Komitee» um Walter Wobmann (svp, AG) und Andreas Glarner (svp, AG) damit, dass mit der Annahme der Selbstbestimmungsinitiative der UNO-Migrationspakt verhindert werden könnte, dass hingegen bei einer Ablehnung die Minarett-Initiative wieder für ungültig erklärt werden würde. Eine Karikatur zeigte zudem Justizministerin Simonetta Sommaruga, die mit der Aussage «Hereinspaziert» an der Grenze Flüchtlinge in die Schweiz bittet.
Die heftige und ungewöhnliche lange Kampagne liess für den Abstimmungssonntag eine hohe Beteiligung erwarten.

Volksinitiative «Schweizer Recht statt fremde Richter (Selbstbestimmungsinitiative)» (BRG 17.046)

Ranglisten haben etwas Eingängiges: Mit ihrer Hilfe lassen sich vermeintliche Unterschiede fest- und darstellen. So versuchen öfters auch die Medien Parlamentarierinnen und Parlamentarier einzuordnen und zu vergleichen. 2017 präsentierte die Sonntagszeitung ein Parlamentarierrating, mit welchem der Einfluss aller Parlamentsmitglieder gemessen werden sollte, und die NZZ wartete mit ihrem jährlichen Links-Rechts-Rating auf.
Der Einfluss wurde in der Sonntagszeitung anhand der Kommissionszugehörigkeit, der in den Räten vorgebrachten Voten, der Anzahl erfolgreicher politischer Vorstösse, der Ämter im Rat und in der Partei, der Medienpräsenz und dem ausserparlamentarischen Beziehungsnetz gemessen. Zwar wies die Zeitung nicht aus, wie sie diese Elemente miteinander verknüpfte und gewichtete, die Rangliste diente ihr aber als Grundlage für immerhin drei ganze Zeitungsseiten. Laut den Berechnungen war SP-Parteipräsident Christian Levrat (FR) in den Jahren 2015–2017 der einflussreichste Parlamentarier, gefolgt von Pirmin Bischof (svp, SO) und Gerhard Pfister (cvp, ZG). Die «Flop 15» – so die Sonntagszeitung – wurden angeführt von Géraldine Marchand-Balet (cvp, VS), Hermann Hess (fdp, TG) und David Zuberbühler (svp, AR). Die Rangierungen verleiteten die Zeitung zu weiteren Analysen: So sei der Einfluss der SVP und der FDP, gemessen am Anteil Fraktionsangehöriger unter den Top 50, verglichen mit dem Rating 2014 gestiegen und der Einfluss des Kantons Zürich gesunken. Mit einem Vergleich der Rangliste hinsichtlich Medienpräsenz und dem Gesamtrang konnte die Zeitung zudem «die grössten Blender» ausmachen. Zwar häufig in den Medien, aber sonst nur wenig einflussreich waren laut dieser Berechnung etwa Tim Guldimann (sp, ZH), Andreas Glarner (svp, AG) oder Benoît Genecand (fdp, GE). Einzelne Regionalzeitungen diskutierten in der Folge «ihre» kantonalen Vertreterinnen und Vertreter. Solche Ratings seien nicht entscheidend, aber es fühle sich immer gut an, wenn man vorne sei, beurteilte Christian Levrat die Auswertung.

Wichtigste Erkenntnis der von der NZZ präsentierten Links-Rechts-Positionierung, die seit 1999 jährlich auf der Basis von in den Räten durchgeführten Abstimmungen von der Forschungsstelle Sotomo durchgeführt wird – auch in der NZZ wurde die Methode zur Messung von Links und Rechts lediglich sehr kryptisch mit den Begriffen «D-Nominate» und «Alpha-Nominate» angedeutet und dem Hinweis versehen, dass diese Methode für den amerikanischen Kongress entwickelt worden seien und die ideologische Position der Abgeordneten messe –, war die zunehmende Fraktionsdisziplin. Der Druck, auf Fraktionslinie zu stimmen, habe dazu geführt, dass es kaum noch Überlappungen in der ideologischen Positionierung zwischen den einzelnen Parteien gebe. Vor allem die CVP – sie variiert auf der Gesamtskala von -10 (links) bis +10 (rechts) zwischen 0.2 (Gerhard Pfister) und -1.7 (Barbara Schmid-Federer, ZH) – sei wesentlich geschlossener als früher, als sie noch Fraktionsmitglieder gehabt habe, die sich am rechten Rand bei der Position von (linken) FDP- und SVP-Mitgliedern befunden und am linken Rand die «rechten Ausläufer der SP» berührt hätten. Die FDP-Mitglieder, die Positionen zwischen 0.3 (Christa Markwalder, BE) und 2.4 (Bruno Pezzatti, ZG) einnahmen, sowie die SVP-Mitglieder (Jean-Pierre Grin, VD: 6.1 bis Erich Hess, BE: 10.0) lagen ziemlich weit auseinander. Der Median des gesamten Nationalrats verlief genau zwischen der CVP und der FDP. Auf der Ratslinken gab es mehr ideologische Gemeinsamkeiten: Zwar war die SP insgesamt etwas linker als die Grünen – die Werte variierten bei den Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten zwischen -8.2 (Chantal Galladé, ZH) und -9.9 (Silvia Schenker, BS) und bei den Grünen zwischen -9.4 (Lisa Mazzone, GE) und -7.8 (Bastien Girod, ZH) –, aber die Durchmischung war wesentlich stärker als im Block der Bürgerlichen. Die grösste Geschlossenheit wies die GLP auf, bei der sich Kathrin Bertschy (BE) und Tiana Angelina Moser (ZH) mit einem Wert von -3.0 ideologisch nur marginal von Martin Bäumle (ZH, -2.7) entfernt positionierten. Die BDP wies mehr Varianz auf: Sowohl Rosmarie Quadranti (ZH, -1.6) als auch Hans Grunder (BE, -0.2) fanden sich ideologisch leicht links der Mitte. Interessant war, dass sich die Kleinstparteien am Rand ihrer Fraktionen ansiedelten. Sowohl die Lega und das MCG bei der SVP-Fraktion, als auch die EVP bei der CVP-Fraktion wiesen im Rating ideologische Differenzen zu ihrer Fraktion auf.
Im Ständerat waren zwar die verschiedenen Parteien ebenfalls voneinander getrennt, es kam aber zwischen CVP und FDP zu Überlappungen und die Gesamtvarianz der Positionen in der kleinen Kammer war geringer. Sie reichte von Liliane Maury Pasquier (sp, GE; -8.3) bis Peter Föhn (svp, SZ; 9.8), wobei sich Letzterer am rechten Rand ziemlich alleine auf weiter Flur befand, gefolgt von Werner Hösli (svp, GL; 7.6). Bei der FDP gesellten sich Fabio Abate (TI, -0.2) und vor allem Raphaël Comte (NE; -1.6) zum Lager der CVP, das von -2.4 (Anne Seydoux-Christe, JU) bis 0 (Isidor Baumann, UR) reichte. Am rechten Rand der FDP politisierte Philipp Müller (AG, 3.4) und lag damit nahe bei Thomas Minder (SH, 4.8), der als Parteiloser der SVP-Fraktion angehört. Von der SP sassen mit Pascale Bruderer (AG, -5.2) , Claude Janiak (BL, -5.5), Hans Stöckli (BE, -5.6) und Daniel Jositsch (ZH, -5.6) vier im Vergleich zum Nationalrat ziemlich gemässigte Genossinnen und Genossen in der kleinen Kammer.

Nationalratsrating

Ziemlich überraschend – sogar für seine eigene Partei – gab Didier Burkhalter Mitte Juni 2017 seinen Rücktritt bekannt. Nach acht Jahren im Bundesrat – zwei Jahre als Innen- und sechs Jahre als Aussenminister – und vorher sechs Jahren im Nationalrat habe er das Bedürfnis, etwas anderes zu machen: „J'ai ressenti le besoin de changer de vie”. In den Medien war Burkhalter seit einiger Zeit zwar als etwas amtsmüde dargestellt worden – insbesondere seine häufige Absenz in Bundesbern und der Umstand, dass er lieber von Neuenburg aus arbeite, wurden moniert –, zudem habe er zunehmend den Rückhalt für das Europadossier verloren, der Rücktritt war aber doch nicht erwartet worden. Insbesondere auch, weil er wenige Tage vor einer EU-Standortbestimmung im Bundesrat erfolgte. Der Zeitpunkt des Rücktritts wurde denn auch als äusserst ungünstig bezeichnet, weil die Regierung dadurch aussenpolitisch während Monaten gelähmt sei, so etwa die Reaktion von CVP-Präsident Gerhard Pfister.
Die Bilanz zu Burkhalters Wirken, die in den Medien im Anschluss an die Rücktrittserklärung gezogen wurde, war gemischt. Burkhalter sei ein guter Bundesrat gewesen, „weltoffen und weltfremd zugleich” so etwa die BaZ. Zwar habe Burkhalter auf dem internationalen Parkett brilliert – von praktisch allen Medienbeiträgen erwähnt wurde immer wieder seine Rolle als Vorsitzender der OSZE in der Ukraine-Krise –, in der Innen- bzw. Europapolitik habe er sich aber immer wieder selbst ins Abseits gestellt. Die Erwartungen, die man in ihn gesetzt habe, etwa als Gegenspieler von Christoph Blocher das Rahmenabkommen mit der EU abzuschliessen, habe er nicht erfüllt. Dass das EU-Dossier an einem toten Punkt angelangt sei, sei „le gros point noir de son bilan”, schlussfolgerte die Tribune de Genève. Darüber hinaus habe er sich von seiner Partei immer mehr distanziert. Als Westschweizer Liberaler habe er eine Mitte-Links-Politik priorisiert, was ihm in der Partei angekreidet worden sei, so die NZZ. Als Indiz für das schlechte Verhältnis zwischen Partei und Magistrat wurde der Umstand gedeutet, dass die FDP erst rund zwei Stunden vor der Ankündigung vom Rücktritt in Kenntnis gesetzt worden sei. Vor allem von rechtsbürgerlicher Seite wurde der Vorwurf immer lauter, dass Burkhalter daran schuld sei, dass sich die SVP-FDP-Mehrheit in der Exekutive nicht deutlicher zeige.

Bereits am Tag der Rücktrittsmeldung stellten die Medien Spekulationen bezüglich potenzieller Nachfolger an. Gute Karten habe vor allem Ignazio Cassis, der aktuelle Fraktionspräsident der FDP, da der Anspruch des Kantons Tessin, nach 1999 wieder einen Sitz in der Regierung zu haben, kaum mehr umgangen werden könne und die Westschweiz auch mit nur noch zwei Magistraten adäquat vertreten sei. Werde der Sitz jetzt nicht dem Tessin zugesprochen, würden wohl weitere 10 Jahre vergehen, bis es eine neue Chance gäbe, rechnete Ex-FDP-Präsident Fulvio Pelli vor. Neben Cassis wurden auch dem Tessiner Staatsrat Christian Vitta und der ehemaligen National- und Staatsrätin Laura Sadis sowie Karin Keller-Sutter und Martin Schmid als Vertreterin oder Vertreter der Ostschweiz, die ebenfalls seit längerem Anspruch auf einen Bundesratssitz erhebt, gute Chancen eingeräumt. Die Romandie sei aber nicht zum Vornherein auszuschliessen, weil die Freisinnig-Liberalen in der Westschweiz deutlich auf dem Vormarsch seien. Den verlorenen Sitz werde die französische Schweiz wohl nicht kampflos preisgeben, war in den Medien zu lesen. Aus der Westschweiz fielen denn auch rasch die Namen des Genfer Regierungsrats Pierre Maudet und des Nationalrats Christian Lüscher. Die beiden Waadtländer Staatsräte Jacqueline de Quattro und Pascal Broulis, aber auch Nationalrätin Isabelle Moret und Ständerat Olivier Français wurden trotz ihres Handicaps, wie bereits Guy Parmelin aus dem Kanton Waadt zu stammen, ebenfalls als valable Kandidatinnen und Kandidaten auf das sich drehende Karussell gesetzt. Auch der Name Raphaël Comte wurde für den Kanton Neuenburg ins Spiel gebracht.

Dass die FDP einen Anspruch auf einen zweiten Bundesratssitz hat, war kaum umstritten. Die Parteileitung machte rasch klar, dass es sich beim Nachfolger von Burkhalter um einen „Lateiner” handeln soll – ob Tessiner oder Romand liess man bewusst offen. Die FDP-Frauen, die seit 1989 keine Vertretung mehr in der Landesregierung gehabt hatten, forderten per Kommuniqué bei dieser oder spätestens der nächsten Vakanz eine Bundesrätin. Auch die Grünen verlangten, dass die FDP eine Frau portiere. Die SVP forderte einen Kandidaten mit klar bürgerlichem Profil. Die Mitte-Rechts-Mehrheit müsse jetzt endlich auch im Bundesrat durchgesetzt werden. Die FDP machte früh deutlich, dass man sicher kein Einerticket präsentieren wolle. Bis Mitte August hatten die Kantonalsektionen Zeit, Vorschläge zu machen. Die Fraktion wollte sich dann Anfang September entscheiden.

Die Tessiner Kantonalsektion portierte – nach langer Diskussion, ob man ein Einer- oder ein Zweierticket präsentieren wolle – am 1. August einzig Ignazio Cassis. Sowohl Sadis als auch Vitta sagten Cassis ihre Unterstützung zu. Obwohl Sadis sowohl die Ansprüche aus dem Tessin, als auch der Frauenvertretung hätte erfüllen können, wurde sie nicht berücksichtigt. Vor allem ihre (zu) lange Absenz von der (nationalen) Politik dürfte hierfür mitentscheidend gewesen sein. Mit nur einem Kandidaten aus dem Tessin würde zudem das Risiko von Stimmenaufteilung minimiert, so die kantonale Parteileitung. Das Einerticket wurde auch als Referenz an die Romandie interpretiert; der Weg sei jetzt offen, um eine Frau aus der Romandie zu portieren. Die Frauenfrage wurde auch deshalb noch virulenter, weil Doris Leuthard ebenfalls am 1. August ihren Rücktritt ankündigte. Als Kandidatinnen aus der Romandie gerieten insbesondere Isabelle Moret und Jacqueline de Quattro in den Fokus. Der zweite offizielle Kandidat war dann allerdings doch wieder ein Mann: Am 8. August wurde Pierre Maudet von der Genfer Kantonalsektion einstimmig auf den Schild gehoben. Der Genfer Regierungsrat rechnete sich zwar nur geringe Chancen aus, wollte aber mit Jugend, Modernität und Urbanität punkten. Der zweite, lange ebenfalls als Kandidat gehandelte Genfer, Christian Lüscher, hatte sich kurz zuvor aus persönlichen Gründen selber aus dem Rennen genommen und eine Lanze für seinen jüngeren Genfer Parteikollegen gebrochen. Komplizierter gestaltete sich die offizielle Nominierung der dritten potenziellen Kandidatin. In der Presse wurde ein parteiinterner Zwist über und zwischen den drei Papabili der FDP-Sektion Waadt vermutet. Jacqueline de Quattro und Olivier Français zogen sich dann allerdings zurück, um den Platz für Isabelle Moret frei zu machen, die sich zwar erst spät – und später als die beide anderen – für eine Kandidatur entschieden hatte, am 10. August von ihrer Kantonalsektion aber als einzige Kandidatin aufgestellt wurde.

Nach Ablauf der Meldefrist standen also drei Kandidierende aus drei Kantonen fest. Sofort gingen die Spekulationen los, ob die FDP ein Zweierticket oder ein Dreierticket aufstellen würde. Dabei schien klar, dass Cassis gesetzt war, folglich entweder nur gegen Moret oder aber gegen Moret und Maudet antreten würde. Der Umstand, dass Moret zwar aus dem Kanton Waadt kommt, die FDP aber nicht auf eine mögliche Frauenvertretung verzichten konnte, sowie der umtriebige „Wahlkampf” von Maudet – der Blick sprach von schlechten Karten, die der Genfer aber brillant spiele – waren wohl die Hauptgründe für das Dreierticket, das die FDP-Fraktion offiziell am 1. September aufstellte. Das „tricket” (LT), das in der Fraktion knapp mit 22 zu 19 Stimmen beschlossen worden sei, stosse niemanden vor den Kopf, sei aber auch der Weg des geringsten Widerstands (NZZ) und ein klarer Etappensieg für Maudet (BaZ). Das Dreierticket wurde auch als gute Kunde für den Favoriten Cassis gewertet, dessen Chancen sich dadurch noch weiter erhöhten, weil sich die Stimmen seiner Gegner aufteilen dürften.

Die Kandidatin und die beiden Kandidaten wurden in der Presse unterschiedlich porträtiert. Cassis galt von Anfang an als eigentlicher Kronfavorit. Einziges Manko des in Bundesbern bestens vernetzten Tessiner Arztes sei seine mit der Präsidentschaft beim Krankenkassenverband Curafutura verbundene Nähe zu den Krankenkassen. Insbesondere der Lega, aber auch der SP, war dieses Amt von „Krankencassis” (SGT, So-Bli, TA, WW) ein Dorn im Auge. Ausführlich diskutiert wurde zudem die politische Position des Tessiners. Das Parlamentarierrating der NZZ zeigte, dass er seit seinem Amtsantritt als Fraktionspräsident der FDP vom linken Rand der Partei leicht in die Mitte gerückt war. Insbesondere die SVP betrachtete Cassis freilich als den ihr am nächsten stehenden der drei Kandidierenden. Letztlich gab es aber kaum etwas, was die „occasione d'oro per il Ticino” (CdT) behindert hätte. Die zahlreichen giftigen Angriffe auf die Gesundheitspolitik von Cassis konnten ihm scheinbar nichts anhaben. Auch seine doppelte Nationalität bzw. der Umstand, dass er seinen italienischen Pass abgab und damit zwar Applaus von rechts, aber auch Kritik von links erhielt und eher unfreiwillig eine Debatte um die doppelte Nationalität von Mitgliedern von Bundesbehörden lancierte – diskutiert wurde sogar die Frage, ob man als Doppelbürger loyal sein könne –, schadete dem Südschweizer nicht.
Der grosse Trumpf von Isabelle Moret sei, dass sie eine Frau sei, war den Medien zu vernehmen. Die dezidiert bürgerlich politisierende 46-Jährige spreche drei Landessprachen fliessend, sei gut vernetzt, in den über 10 Jahren im Nationalrat aber kaum aufgefallen. Dies beinhalte immerhin auch, dass sie bisher keine Fehler gemacht habe (TA). Moret selber betonte von Anfang an, dass „Frausein” kein politisches Argument sei. Sie wolle lieber mit ihrer Dynamik punkten und frischen Wind ins Europadossier bringen. Sie betonte allerdings auch, dass sie die erste Mutter mit Schulkindern in der Exekutive wäre. Allerdings hinterliess die Anwältin laut verschiedenen Medien in ihrem Wahlkampf keinen überzeugenden Eindruck (WW), wurde von vielen Seiten angegriffen und wirkte ab und zu nicht wirklich souverän (NZZ). Ihr Wahlkampf sei „ungenügend” (SGT) und „harzig” (AZ) und wurde gar als chaotisch bezeichnet (24 Heures).
Pierre Maudet, 39 Jahre alt, wurde als politisches Naturtalent beschrieben. Der forsche und ambitionierte Regierungsrat habe sich innert kurzer Zeit vom Stadtpräsidenten zum Aushängeschild der Kantonsregierung entwickelt, was ihm auch Vergleiche mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron einbringe (AZ). Sein Nachteil sei allerdings die schwache Vernetzung in Bundesbern. In der Regel würden die Bundesparlamentarierinnen und -parlamentarier einen Bundesrat oder eine Bundesrätin aus den eigenen Reihen vorziehen. Sein Wahlkampf wurde hingegen als exzellent bezeichnet (Blick). Maudet sei vor allem in der Deutschschweiz unterschätzt worden, was das Beste sei, was einem Politiker passieren könne (TA). Vor allem inhaltlich konnte Maudet mit verschiedenen originellen Positionen überzeugen: Er spreche als einziger wirklich „Klartext” (BaZ), gelte in der Europafrage aber als EU-Turbo (WW), was ihn bei der Ratsrechten wohl Stimmen kosten werde.

Die „Kampagne” vor den Bundesratswahlen – eigentlich ein Unding, wenn man bedenkt, dass der Bundesrat von der Vereinigten Bundesversammlung und nicht von der Bevölkerung gewählt wird – nahm ein Ausmass an, das angesichts der Ausgangslage erstaunte. Da die Bundesratswahlen eine in der Schweizer Politik eher seltene Chance für eine Personalisierung der Politik bieten, liefen die Medien auf Hochtouren. In der APS-Zeitungsdokumentation finden sich von Burkhalters Rücktrittsankündigung Mitte Juni bis Ende September mehr als 800 Zeitungsartikel zum Thema Bundesratswahlen. Die FDP selber trug freilich mit geschicktem Politmarketing das Ihre dazu bei, dass die Berichterstattung am Kochen blieb. Mit einer FDP-Roadshow tingelten die Kandidierenden durch die Schweiz. Zahlreiche Homestories, Lifechats, Bevölkerungsbefragungen und gar graphologische Gutachten fanden den Weg in die Presse. Inhaltlich ging es letztlich primär um die Frage, ob die Vertretung der Sprachregion oder die Vertretung der Frauen höher gewichtet werden soll. Oder mit anderen Worten: ob die 20 Jahre Bundesrat ohne Tessiner oder die 30 Jahre ohne FDP-Frau beendet werden sollten. Wirklich inhaltliche Diskussionen wurden hingegen kaum geführt, auch wenn die Aussen- bzw. Europapolitik bzw. der Reset-Knopf, den Cassis in den Verhandlungen mit der EU zu drücken angekündigt hatte, sich angeboten hätten.

Nach der offiziellen Bekanntgabe des Dreiertickets standen am 12. und am 19. September die Hearings auf dem Programm, womit auch die anderen Parteien wieder stärker in den medialen Fokus gerieten. Den Auftakt machte die SVP, deren Parteipräsident Albert Rösti die beiden Romand.e.s stark kritisierte und sich früh für Cassis aussprach. Wichtigstes Kriterium für die Volkspartei sei die Haltung zum Rahmenabkommen mit der EU. Allerdings wurde gemutmasst, dass die Bauern in der SVP-Fraktion wohl eher auf Moret setzen würden, da diese mehr Sympathien für die Anliegen der Landwirtschaft gezeigt habe. Unzufrieden mit dem Dreierticket zeigte sich die SP: „Zwei Super-Lobbyisten und ein Hardliner in der Aussenpolitik” weckten keine Begeisterung (SP-Fraktionspräsident Roger Nordmann in der BZ). Inhaltliche Kriterien stellten die Genossen aber – wie auch die CVP und die GP – nicht auf. Der CVP-Parteipräsident Gerhard Pfister hatte sich allerdings ebenfalls schon früh für die Ansprüche des Tessins, also für Cassis, ausgesprochen. Dieser sei allerdings für einige CVP-Mitglieder zu weit rechts, mutmasste die Zeitung LeTemps. Nach den Hearings zeigten sich die Parteien zwar noch bedeckt – mit Ausnahme der SVP, die demonstrativ für Cassis Stellung bezog –, die Favoritenrolle des Tessiner Kandidaten schien sich allerdings noch einmal verstärkt zu haben. Maudet schien hingegen eher nicht auf Wohlwollen gestossen zu sein. Die SP und die CVP konnten sich nicht auf einen der drei Kandidierenden einigen und gaben entsprechend keine Wahlempfehlung ab – anders als die FDP- und die GLP-Fraktion, die alle drei Kandidierenden empfahlen, die SVP-Fraktion, die sich für Cassis aussprach, die GP-Fraktion, die Moret empfahl, und die BDP-Fraktion, die Maudet auf den Schild hob.

Kurz vor der Ersatzwahl bilanzierte die WOZ die vorherrschende Meinung, dass sich grundsätzlich keine Überraschung abzeichne: Die Bundesratswahlen hätten bisher viel Tamtam, aber nur wenig Spannung verheissen. Mit der Diskussion verschiedener Szenarios versuchten die Medien dieser Spannungslosigkeit entgegenzuwirken. Drei Möglichkeiten, Cassis zu verhindern, seien denkbar: Isabelle Moret könne dank ihrem Frauenbonus und der Unterstützung aller Bauernvertreter sowie mit Hilfe der Stimmen all jener Parlamentarierinnen und Parlamentarier, welche die Frauenfrage möglichst rasch klären wollten, gewinnen; ein Sieg von Pierre Maudet wäre dann möglich, wenn sich die Mehrheit der Bundesversammlung von seinen Fähigkeiten überzeugen liesse. Dies sei durchaus möglich, wenn es ab dem dritten Wahlgang zu einem Zweikampf zwischen Cassis und Maudet kommen würde. Ins Spiel gebracht wurde mit Laura Sadis auch eine Sprengkandidatin, die vor allem bei der Linken auf Unterstützung zählen könnte. Roger Nordmann gab zu Protokoll, dass die Tessinerin in der Tat die Synthese der drei aktuell Kandidierenden gewesen wäre: „Elle a une expérience d’exécutif, elle est italophone et elle a la capacité d’être une femme” (LT). Die Lust der SP auf Experimente halte sich allerdings in Grenzen.

Die Ersatzwahl am 20. September war schliesslich noch weniger spannend, als von den zahlreichen Medien vor Ort befürchtet worden war. Schon im zweiten Wahlgang wurde Ignazio Cassis zum 87. Bundesrat gewählt und zum Nachfolger von Didier Burkhalter gekürt. Der achte Bundesrat aus dem Kanton Tessin hatte bereits im ersten Wahlgang 109 Stimmen erhalten, damit allerdings das absolute mehr von 122 Stimmen verfehlt. Weil die Basler Nationalrätin Sibel Arslan (basta, BS) im ersten Durchgang fehlte, waren lediglich 245 Wahlzettel eingegangen. Die Baslerin erklärte ihr Fernbleiben als stillen Protest gegen den Rücktritt von Bundesrat Burkhalter, dessen Abschiedsrede sie bewegt habe. Wie erwartet splitteten sich die Stimmen für Maudet (62 Stimmen) und Moret (55 Stimmen) auf. Diverse erhielten 16 Stimmen und drei Stimmzettel waren leer geblieben. Weil von den Diversen niemand zehn Stimmen erreicht hatte, wurden keine Namen genannt. Ob also beispielsweise Laura Sadis im Rennen war oder nicht, wird das Geheimnis des Stimmbüros bleiben. Im zweiten Umgang fielen zahlreiche Stimmen für Moret auf Cassis. Die 125 Stimmen reichten dem Tessiner knapp für die absolute Mehrheit. Maudet konnte zwar noch einmal zulegen und erhielt 90 Stimmen, dies reichte allerdings nicht für einen dritten Wahlgang. Moret ihrerseits erhielt lediglich noch 28 Stimmen. Eine Stimme entfiel auf Diverse und zwei Stimmzettel blieben erneut leer – wahrscheinlich stammten sie von den beiden Lega-Parlamentariern, die zwar für eine Tessiner Vertretung waren, nicht aber für Cassis stimmen wollten.
In den Medien wurde gemutmasst, dass vor allem die Stimmen der SVP entscheidend gewesen seien, von denen im ersten Durchgang vereinzelte noch an Moret gegangen, dann aber geschlossen für Cassis eingelegt worden seien. Weil Moret im ersten Wahlgang auch von ihrer eigenen Partei zu wenig Unterstützung erhalten habe, hätte die SP im zweiten Wahlgang umgeschwenkt und ziemlich geschlossen für Maudet gestimmt, um die Wahl von Cassis zu verhindern. Den Namen Moret hätten lediglich noch die Grünen sowie einige Ratsmitglieder aus der BDP, der CVP, der GLP und der SVP auf den Wahlzettel geschrieben.

Cassis erklärte die Annahme der Wahl und bedankte sich bei allen Ratsmitgliedern, auch bei denen, die ihm die Stimme verwehrt hätten. Man könne anderer Meinung sein, letztlich würden aber alle die gleichen übergeordneten Ziele für die Schweiz anstreben. Freiheit sei auch immer die Freiheit der anders Denkenden, zitierte er Rosa Luxemburg, womit er vor allem die Ratslinke überraschte und sichtlich erfreute. Er verspreche vor allem seiner Frau, der Gleiche zu bleiben wie vor der Wahl. Er fühle sich vor allem der Kollegialität verpflichtet und werde als Brückenbauer die ganze Schweiz vertreten. Bereits um 9.30 nahm die Sitzung mit der Vereidigung des neuen Bundesratsmitglieds ihr Ende.

Die Regionen- und Sprachenfrage sei letztlich stärker gewichtet worden als die Frauenfrage, so die Bilanz in den Medien am Tag nach der Wahl. „E la Svizzera è più svizzera”, die Schweiz sei wieder ein bisschen mehr Schweiz, titelte der Corriere del Ticino. Die Wahl von Cassis sei keine Überraschung und Maudet habe eine ehrenvolle Niederlage eingefahren, so die ziemlich einhellige Meinung in den Deutsch- und Westschweizer Medien. Vor wenigen Wochen hätte niemand in Bundesbern den Genfer gekannt und jetzt habe er 90 Stimmen erhalten. Allerdings zeige seine Nichtwahl auch die Schwierigkeiten für einen Kandidierenden, der nicht der Bundesversammlung angehört. Für Moret hingegen, sowie für die Vertretung der Frauen im Bundesrat im Allgemeinen, sei der Ausgang der Wahlen eine Schmach. Verschiedene Politikerinnen kritisierten, dass das Beispiel Moret gezeigt habe, dass an Frauen wesentlich höhere Massstäbe gesetzt würden als an Männer. Die SP habe Cassis nicht verhindern können und müsse sich nun Vorwürfe gefallen lassen, weshalb sie auf Maudet gesetzt und so die Vertretung der Frauen hintergangen habe. Die SP wies die Kritik allerdings an die FDP zurück: Wäre Laura Sadis portiert worden, hätte die SP sie unterstützt. Während sich die Rechte auf einen Mitte-Rechts-Bundesrat freute – Cassis wisse, wem er seine Wahl zu verdanken habe, liess sich SVP-Präsident Rösti nach der Wahl zitieren –, winkte die Linke ab: Es müssten auch im neuen Gremium nach wie vor unterschiedliche Koalitionen geschmiedet werden, so etwa SP-Parteipräsident Christian Levrat. Die WOZ befürchtete allerdings eine Zunahme der Polarisierung. Mit der Wahl von Cassis sei die Kirche aber wieder im Dorf und die Sprachenfrage für eine Weile geregelt. Jetzt müssten die Regionen wieder besser vertreten werden – so der Tenor vor allem aus der Ostschweiz. Verschiedene Politikerinnen forderten zudem eine adäquatere Vertretung von Frauen. Die Idee einer parlamentarischen Initiative, mit der eine angemessene Frauenvertretung in der Verfassung festgeschrieben werden soll, verdichtete sich. Die FDP-Frauen forderten zudem bei der nächsten FDP-Vakanz ein Frauen-Zweierticket.

Über die nach der Ersatzwahl anstehende Departementsverteilung war bereits früh spekuliert worden. Insbesondere Alain Berset waren Ambitionen auf das frei gewordene EDA nachgesagt worden. Allerdings hätte der Departementswechsel von Berset einen unangenehmen Beigeschmack gehabt, weil kurz nach der Departementsverteilung die Abstimmung zur Altersreform 2020 anstand, für die Berset mit Herzblut geworben hatte. Der Wechsel ins Aussendepartement hätte von der Stimmbevölkerung als Flucht interpretiert werden können. Der Bundesrat solle deshalb mit der Departementsverteilung warten, forderte der ehemalige SVP-Präsident Toni Brunner (svp, SG) kurz vor den Bundesratswahlen in der Presse. Wenn nämlich die AHV-Vorlage verloren ginge, wäre Berset nicht mehr der richtige Innenminister. Ende September kam es dann aber schliesslich zur mehrheitlich erwarteten Departementsverteilung. Das freie EDA wurde vom neuen Kollegiumsmitglied Ignazio Cassis übernommen. Er setzte damit eine eigentliche Tradition fort, da Tessiner Bundesräte sehr häufig als Aussenminister amteten. Die Italianità und seine Vielsprachigkeit dürften Vorteile des neuen EDA-Chefs sein. Mit ein Grund dafür, dass sonst alles beim Alten blieb, dürfte auch die im Vorfeld der Bundesratswahl gemachte Aussage von Cassis gewesen sein, dass es vielleicht nicht gut sei, wenn er mit seinen Verbindungen das Innendepartement übernehmen würde. Cassis werde als Aussenminister „der bessere Burkhalter” sein, weil er mehr Verständnis für die Deutschschweiz habe, besser kommuniziere und mehr Kampfgeist habe, urteilte der Tages-Anzeiger. Auf ihn wartet nun das komplexe Europadossier – und zahlreiche Erwartungen von links bis rechts.

Bundesratsersatzwahl 2017 – Nachfolge Didier Burkhalter
Dossier: Bundesratswahlen seit 2008

Der Ersatz von Jean-François Steiert (sp, FR) durch Ursula Schneider Schüttel (sp, FR) war die zweite Mutation in der 50. Legislaturperiode. Steiert war zurückgetreten, weil er Anfang November 2016 in den Staatsrat von Fribourg gewählt worden war. Schneider Schüttel war im Bundeshaus keine Unbekannte. Sie sass bereits von Mai 2012 bis zum Ende der 49. Legislatur im Nationalrat, war aber bei den eidgenössischen Wahlen 2015 knapp nicht wiedergewählt worden und rutschte nun bereits zum zweiten Mal nach: Bereits 2012 durfte die Sozialdemokratin aus Murten vom ersten Ersatzplatz aus im Parlament Einsitz nehmen; damals für den SP-Parteipräsidenten Christian Levrat, der vom Nationalrat in den Ständerat gewählt worden war.

Mutationen 2017
Dossier: Mutationen im nationalen Parlament

Ende November erschien das NZZ-Parlamentarierrating 2016 und bildete das erste Jahr nach den Wahlen 2015 ab. Der Rechtsrutsch der Wahlen zeichnete sich im Rating deutlich ab. Der Median der Positionen aller Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die aufgrund paarweiser Vergleiche des Abstimmungsverhaltens während der vier vergangenen Sessionen errechnet werden, rückte auf der Skala von -10 (absolut links) bis + 10 (absolut rechts) von 0.8 (2015) auf 1.7. Gleich drei SVP-Fraktionsmitglieder nahmen die rechte Extremposition (10) ein: Marcel Dettling (SZ), Erich Hess (BE) und, wie bereits 2015, Pirmin Schwander (SZ). Lisa Mazzone (gp, GE) positionierte sich mit einem Wert von -9.6 am linken Extrempol.
Vom Rechtsrutsch habe – gemessen an der Anzahl gewonnener Abstimmungen im Rat – vor allem die FDP, kaum aber die SVP profitiert, so die Studie. Bei den Parteien zeigten sich insgesamt nur leichte Verschiebungen. So hatte sich die SVP noch einmal nach rechts verschoben und nahm insgesamt den Wert 8.0 ein (2015: 7.7.). Jean-Pierre Grin (VD) besetzte mit 6.3 die moderateste Position in der Volkspartei. Damit war er dennoch ziemlich weit vom am meisten rechts stehenden FDP-Fraktionsmitglied entfernt: Bruno Pezzatti (ZG) erreichte einen Wert von 3.4. Den linken Rand der FDP, die sich im Vergleich zu 2015 nicht verändert hatte und fraktionsübergreifend konstant bei 2.2 blieb, nahm erneut Christa Markwalder mit 1.4 ein. Damit war die Bernerin leicht linker positioniert als Daniel Fässler (AI), der mit 1.9 den rechten Rand der CVP besetzte. Den Gegenpol bei den Christlichdemokraten nahm Barbara Schmid-Federer (ZH) mit -0.9 ein. Auch die CVP blieb im Vergleich zu 2015 konstant bei 0.6. Innerhalb des Spektrums der CVP-EVP-Fraktion fand sich die BDP (0.9: Hans Grunder, BE bis -0.5: Rosmarie Quadranti, ZH), die leicht nach links gerutscht war (0.2). Deutlich am linken Rand der CVP-Fraktion positionierte sich die EVP mit Maja Ingold (ZH, -2.8) und Marianne Streiff-Feller (BE, -3.1). Einen Linksrutsch verzeichnete auch die GLP, die sich bei -2.7 positionierte und sich wie schon 2015 sehr geschlossen zeigte. Nur gerade 0.5 Skalenpunkte trennten Kathrin Bertschy (BE, -2.8) von Martin Bäumle (ZH, -2.3). Etwas geschlossener als 2015 zeigte sich auch die SP, die fraktionsübergreifend bei -8.3 zu liegen kam. Chantal Galladé (ZH, -6.6) fuhr dabei den sozialliberalsten Kurs. Gleich drei Fraktionsmitglieder positionierten sich beim linken Extremwert der SP, bei -9.1: Bea Heim (SO), Susanne Leutenegger Oberholzer (BL) und Silvia Schenker (BS). Die Grünen schliesslich positionierten sich insgesamt bei -9.0 und die Fraktionsmitglieder überlappten sich stark mit der SP: Daniel Brélaz (VD, -7.9) zeigte sich dabei sogar noch etwas rechter als die gesamte SP.
Die Forschungsstelle Sotomo, welche das Rating durchführte, wertete auch 2016 den Ständerat aus. Erneut zeigte sich eine geringere Polarisierung als in der grossen Kammer. Zwar lagen auch in der kleinen Kammer die Extremwerte weit auseinander, Lilian Maury Pasquier (sp, GE, -9.5) und Peter Föhn (svp, SZ, 9.8) fanden sich aber ziemlich alleine auf weiter Flur. Alle anderen Ständeratsmitglieder befanden sich zwischen -6.2 (Christian Levrat, sp, FR) und 7.3 (Hannes Germann, svp, SH).

Nationalratsrating

Rund eine Woche vor den Regierungswahlen begannen die Fraktionen mit den Hearings der drei SVP-Kandidaten. Lediglich die Grünen verzichteten auf die Anhörungen, weil sie die Wahl eines Vertreters der Volkspartei grundsätzlich ablehnten, da die SVP die Europäische Menschenrechtskonvention kündigen wolle – eine Anspielung auf die geplante Selbstbestimmungsinitiative der SVP. Die GP setzte nach wie vor auf einen Sprengkandidaten aus der Mitte und gab bekannt, zumindest im ersten Wahlgang keinen der SVP-Kandidierenden wählen zu wollen. Die SP entschied sich erst in letzter Minute, die Kandidaten einen Tag vor den Wahlen doch noch zu Bewerbungsgesprächen einzuladen. Die Genossen gaben im Anschluss bekannt, dass Norman Gobbi (TI, lega) für sie nicht wählbar sei. Die restlichen Fraktionen wollten sich nach den Anhörungen zwar nicht festlegen, gaben aber zu Protokoll, einen der drei offiziellen Kandidaten wählen zu wollen. Ein Sprengkandidat war nicht in Sicht – auch wenn Heinz Brand (svp, GR) erst nach einigem Hin und Her und viel Pressewirbel dementierte, eine Wahl annehmen zu wollen, und sich auch Thomas Hurter (svp, SH) noch einmal ins Gespräch brachte, weil er keine Stellung nehmen wollte zur Idee, bei einer allfälligen Wahl und Ausschluss durch die SVP bei der FDP Unterschlupf zu finden. Alle weiteren, in den Medien kolportierten, möglichen Überraschungskandidaten gaben aber jeweils kurz nach der Medienmeldung an, nicht zur Verfügung zu stehen. Zudem signalisierten die Mitteparteien im Verlaufe dieser Geplänkel immer deutlicher, für Spiele nicht zur Verfügung zu stehen. Aufgrund dieser Ausgangslage sahen die meisten Medien am Tag vor der Bundesratswahl Guy Parmelin (svp, VD) im Vorteil, da er von SP und GP wohl eher unterstützt würde als Norman Gobbi (TI, lega) und Thomas Aeschi (svp, ZG).
Dass der Anspruch der SVP auf einen zweiten Bundesratssitz allgemein akzeptiert und die Lust auf Experimente im Parlament in der Tat sehr gering war, zeigte sich am Wahltag auch in den Voten der einzelnen Fraktionen. Mit Ausnahme der SP und der GP sprachen sich alle Parteien für ein Ende der bisher nicht adäquaten mathematischen Konkordanz aus. Obwohl alle Parteien freilich auch die Ausschlussklausel der SVP kritisierten, die einer Regierungspartei nicht würdig sei, liessen sie den Worten bei der Ersatzwahl von Eveline Widmer-Schlumpf (bdp) Taten folgen. Zwar erhielten im ersten Wahlgang auch Thomas Hurter (svp, SH) und Viola Amherd (cvp, VS) 22 bzw. 16 Stimmen, auf den insgesamt 245 ausgeteilten Wahlzetteln fanden sich aber vorwiegend die drei SVP-Kandidierenden, wobei sich Guy Parmelin mit 90 Stimmen vor Thomas Aeschi (61 Stimmen) und Norman Gobbi (50 Stimmen) schon leicht absetzen konnte. Mit den vier Stimmen an Verschiedene und den zwei leeren Wahlzetteln hatten sich damit 44 Parlamentarier nicht am offiziellen Dreierticket orientiert – zu wenig für einen Coup. Im zweiten Wahlgang verpasste Parmelin das absolute Mehr nur knapp. Er erhielt 117 von 120 nötigen Stimmen; Aeschi wurde von 78 Mitgliedern der Vereinigten Bundesversammlung favorisiert und Gobbi erhielt lediglich noch 30 Voten. Auf Verschiedene entfielen 14 Stimmen und fünf der 244 ausgeteilten Wahlzettel waren leer. Im dritten Wahlgang – für viele überraschend schnell – konnte Guy Parmelin dann genügend Unterstützerinnen und Unterstützer hinter sich scharen. Mit 138 Stimmen wurde der Waadtländer erster französischsprachiger SVP-Bundesrat der Geschichte. Die 88 Stimmen für Aeschi hätten auch zusammen mit den elf noch auf Gobbi entfallenden Stimmen nicht für einen anderen Wahlausgang gereicht. Im dritten Wahlgang, in dem nur noch 243 Wahlzettel ausgeteilt wurden, waren noch deren sechs leer. Guy Parmelin erklärte die Annahme der Wahl und verwies in seiner kurzen Rede auf die Bedeutung und Symbolkraft seiner Wahl für die Westschweiz. Freilich werde er im Rahmen seiner Regierungstätigkeit auch die Ost- und Zentralschweiz, die diesmal leer ausgegangen seien, nicht vergessen.

Ob der mit Spannung erwarteten Ersatzwahl gingen die vorausgehenden Bestätigungswahlen der bisherigen sechs Regierungsmitglieder fast ein wenig unter. Zwar divergierten die Stimmen, welche die einzelnen Magistratinnen und Magistraten erhielten recht stark – insbesondere Ueli Maurer (svp) und Simonetta Sommaruga (sp) wurden wohl jeweils vom gegnerischen Lager abgestraft – aber insgesamt zeigte sich auch bei den Bestätigungswahlen, dass das Parlament in der Mehrheit ein Zurück zur Normalität anstrebte. Doris Leuthard (cvp) wurde mit 215 von 245 Stimmen erneut gewählt (Verschiedene: 19; leer: acht; ungültig: drei), Ueli Maurer (svp) erhielt 173 von 245 Stimmen (Thomas Hurter (svp, SH): zehn Stimmen, Verschiedene: 27; leer: 32; ungültig: drei), Didier Burkhalter (fdp) wurde mit 217 von 244 Wahlzetteln bestätigt (Verschiedene: 14; leer: 13; ungültig: Null), der Name Simonetta Sommaruga (sp) stand auf 182 von 245 ausgeteilten Wahlzetteln (Daniel Jositsch (sp, ZH): elf Stimmen; Verschiedene: 28; leer: 19; ungültig: fünf), Johann Schneider-Ammann machte 191 von 244 Stimmen (Verschiedene: 28; leer: 23; ungültig: zwei) und überraschend deutlich bestätigt wurde auch Alain Berset mit 210 von 244 möglichen Voten (Verschiedene: 23; leer: acht; ungültig: zwei). Alle sechs hatten damit mehr Stimmen als noch vor vier Jahren erhalten.
Die Reaktionen in den Medien waren geteilt. Auf der einen Seite wurde hervorgehoben, dass Parmelin als Nationalrat kaum aufgefallen sei, über keinerlei Führungserfahrung verfüge und auch nicht besonders sprachgewandt sei – wenig spektakulär wie der Chasselas, den er anbaue, so etwa die BaZ. Sein einziger Ausweis sei es, der SVP anzugehören. Es sei aber nachvollziehbar, dass das Parlament die parteipolitische Zusammensetzung der Regierung höher gewichtet habe als personelle Fragen. Zudem müsse man Parmelin eine Chance geben, im Amt zu wachsen. Weil er keine hohe Erwartungen wecke, könne er eigentlich nur positiv überraschen. Für viele, vor allem für Mitte-links sei er wohl auch das kleinere Übel gewesen. Parmelin sei ein SVP-Mitglied der alten Schule und sei wohl als leichter formbar vermutet worden als Thomas Aeschi, der als Blocher-Zögling gelte und die neue SVP-Linie vertrete. In der Westschweizer Presse wurde zudem hervorgehoben, dass sich Parmelin stets moderat und kompromissbereit gezeigt habe – eine nicht zu unterschätzende Fähigkeit im Regierungskollegium. Die Wahl Parmelins sei aber auch ein Zeichen dafür, dass das Parlament angesichts der Erfolge und der immer neuen Forderungen der SVP resigniere – so der Blick. Einig war man sich in der Presse, dass die SVP jetzt in der Verantwortung stehe. Sie müsse wieder in den Kompromiss-Modus zurückfinden – so die NZZ. In den Kommentarspalten wurde zudem darauf hingewiesen, dass die Volkspartei mit ihrem zweiten Regierungssitz nun auch definitiv in der Westschweiz verankert sei – männiglich prognostizierte gar einen weiteren Schub der SVP im französischsprachigen Landesteil.
Die Reaktionen der Parteien waren unterschiedlich. Die SVP feierte ihren neuen Bundesrat mit auffallender Zurückhaltung. Zwar wiesen die Parteispitzen darauf hin, dass man die Westschweiz jetzt noch besser vertreten könne; verschiedene Stimmen machten aber keinen Hehl daraus, dass Parmelin nicht der Wunschkandidat gewesen sei. Die Aufforderung, jetzt mehr Kompromissbereitschaft zu zeigen, prallte an der SVP ab. Man mache weiter eine SVP-Politik und erwarte vielmehr von der FDP, dass sich im Bundesrat jetzt eine bürgerliche Politik durchsetze. Als Siegerinnen sahen sich die SP- und die CVP-Spitzen. In der französischsprachigen Presse wurde kolportiert, dass Guy Parmelin ohne die von Christoph Darbellay (cvp, VS) und Christian Levrat (sp, FR) im Nationalratswahlkampf aufgestellte Forderung an die SVP, einen Westschweizer Kandidaten zu präsentieren, vielleicht jetzt gar nicht Bundesrat wäre. Prompt wurden die beiden Parteipräsidenten als Königsmacher gefeiert. In der FDP und der CVP machte man sich Gedanken über die nächsten Bundesratswahlen. Klar war, dass mit der Übervertretung der Romandie die Chancen für französischsprachige "Papabili" stark gesunken waren. Potenzielle Ostschweizer und Tessiner-Kandidaten konnten sich hingegen freuen.

Gesamterneuerungswahlen des Bundesrats 2015 – Nachfolge Eveline Widmer-Schlumpf
Dossier: Bundesratswahlen seit 2008

Weil die Software der rund 50'000 Arbeitsplätze in der Bundesversammlung bis 2019 erneuert werden muss, beantragte der Bundesrat einen Verpflichtungskredit von CHF 70 Mio., wobei für die Gesamtinvestition von CHF 89 Mio. auch CHF 19 Mio. Eigenleistungen eingeplant waren. Seit 2012 basierten die Computer auf Windows 7, dessen Lebenszyklus mit dem Jahr 2019 endet. Microsoft wird dann den Produktesupport und die Sicherheitsaktualisierungen einstellen. Ab 2016 und bis spätestens 2018 sollen deshalb alle Arbeitsplätze mit neuer Software ausgerüstet werden. In der Botschaft zum Bundesbeschluss wies der Bundesrat darauf hin, dass ein einziges Programm beschafft werden soll, um Synergien zu nutzen. Kommissionssprecher Christian Levrat (sp, FR) wies bei der Beratung im Ständerat darauf hin, dass man in der Finanzkommission (FK-SR) über eine Alternative zu Microsoft als Auftragnehmer diskutiert habe, dass eine Evaluation allerdings zeige, dass eine solche kaum bestehe. In der kleinen Kammer wurde denn auch diskussionslos und einstimmig die Ausgabenbremse gelöst wie auch dem Bundesbeschluss zugestimmt.

Arbeitsplätze mit neuer Software ausgerüstet

Die Stimmberechtigten befanden am 9. Juni über die Initiative für eine Volkswahl des Bundesrates. Das von der SVP lancierte Volksbegehren verlangte, dass die Schweizer Regierung nicht mehr von der Vereinigten Bundesversammlung gewählt, sondern durch die Wahlbevölkerung bestimmt wird. Die Wahl wäre zeitgleich mit den Gesamterneuerungswahlen für den Nationalrat und in gesamtschweizerischem Majorzverfahren mit einem Wahlkreis abzuhalten. Für die italienischen und französischen Sprachminderheiten würden insgesamt zwei Sitze reserviert. Im Vorjahr hatten sich Bundesrat und Parlament ziemlich eindeutig gegen das nach der Abwahl von Christoph Blocher aus dem Bundesrat 2007 aufgegleiste Begehren ausgesprochen, das schon bei den Verfassungsdiskussionen 1848 und 1872 und zwei Mal als Initiative der SP in den Jahren 1900 und 1942 keine Mehrheiten gefunden hatte. Die Initiative wurde von einem überparteilichen Komitee bekämpft, dem alle Parteien ausser der SVP angehörten. Sogar die Grünen, die als Oppositionspartei selber schon ähnliche parlamentarische Vorstösse lanciert hatten, sprachen sich gegen das Anliegen aus. Das Gegnerkomitee trat unter dem Motto an, dass Bewährtes nicht aufs Spiel zu setzen sei. Das aktuelle Gleichgewicht zwischen den Gewalten sei eine zentrale Determinante für die politische Stabilität und den Wohlstand in der Schweiz. Der von der SVP geforderte Systemwechsel sei kaum begründbar und beruhe auf populistischen Forderungen. Der Verweis auf die Kantone, wo die Volkswahl der Regierung funktioniere – das bedeutendste Argument der Initiativbefürworter – wurde von den Initiativgegnern abgewiesen, da ein Wahlkampf in den Kantonen mit einem Wahlkampf auf nationaler Ebene kaum vergleichbar sei. Ein solcher würde amerikanische Verhältnisse evozieren und die zeitlich bereits arg belasteten Bundesräte nicht nur zusätzlich unter Druck setzen, sondern auch in einen Dauerwahlkampf verwickeln, der eine Kollegialregierung verunmöglichen würde. Stille Schaffer hätten zudem gegen charismatische, medial taugliche Personen weniger gute Chancen und Geld würde eine noch grössere Rolle spielen als heute. Schliesslich wurde auch die Quotenregel für die sprachlichen Minderheiten kritisiert; die Wahrscheinlichkeit, dass die beiden Sitze an die Romandie gingen und der Kanton Tessin kaum mehr Regierungsvertreter stellen könnte, sei enorm hoch. Die SVP ihrerseits setzte sich überraschend lau für ihr Anliegen ein. Zwar wurde ein 2,8 Mio. Auflagen starkes Extrablatt in die Haushalte gestreut, in dem mit dem Untergang der Schweiz gedroht wurde, wenn den Mauscheleien im Bundesrat und den Hintertreppen-Absprachen bei Regierungswahlen nicht durch das Volk Einhalt geboten würden. Im Gegensatz zu anderen Parteien wolle man die Mitspracherechte des Souveräns stärken und nicht noch weiter abbauen. Zudem schaltete die Partei ein für SVP-Verhältnisse sehr unspektakuläres Text-Plakat („Dem Volk vertrauen!“). Wichtige Exponenten der Partei schalteten sich aber kaum in den Abstimmungskampf ein und nahmen teilweise gar demonstrativ Stellung gegen die Initiative. Die Kantonalsektion Thurgau empfahl gar die Nein-Parole und die SVP Unterwallis beschloss Stimmfreigabe bei der parteieigenen Initiative. Es wurde parteiintern auch befürchtet, dass sich eine Volkswahl zuungunsten der SVP auswirken könnte. Prominente Unterstützung erhielt die Idee der Volkswahl allerdings durch die ehemalige SP-Bundesrätin Micheline Calmy-Rey. Sie befand, dass die Volkswahl zu einer besseren Machtbalance zwischen Bundesrat und Parlament führe, weil die Regierung damit über mehr Legitimität verfügen würde. Erste Umfragen Anfang Mai liessen eine relativ geringe Begeisterung in der Bevölkerung für die Idee der Volkswahl erahnen. Tatsächlich wurde das Begehren Anfang Juni dann auch deutlich mit 76,3% Nein-Stimmenanteil und durch alle Kantone abgelehnt. In einigen Kantonen der Romandie (FR, NE, JU) lagen die Ja-Anteile gar unter 20%. Am höchsten war die Zustimmung im Kanton Tessin (32,2% Ja), was aufgrund der Debatten um den Minderheitenschutz etwas überraschend war. Die gesamtschweizerische Stimmbeteiligung lag bei 39,2%, was die laue Kampagne neben dem Umstand, dass die APS-Inserateanalyse einen absoluten Negativrekord hinsichtlich Anzahl Zeitungsinserate ausmachte, ebenfalls wiederspiegelt. Noch am Abend der Abstimmung äusserten sich die Parteipräsidenten zum Abstimmungsausgang. CVP-Präsident Darbellay wertete das Resultat als Zeichen nationaler Kohäsion, FDP-Präsident Müller war froh über die Wahrung der Konkordanz, die durch eine Volkswahl in Gefahr geraten wäre, und SP-Präsident Levrat freute sich, dass die „psychologische Verarbeitung der Abwahl Blochers“ nun zum Abschluss kommen könne. SVP-Präsident Brunner anerkannte zwar, dass das Thema vom Tisch sei, wehrte sich aber vorsorglich gegen künftige Beschneidungen der direkten Demokratie. Der Leidensdruck sei anscheinend momentan noch zu tief. Justizministerin Sommaruga sah im Resultat den Wunsch des Souveräns, die Demokratie vor Dauerwahlkämpfen zu schützen. Das deutliche Nein wurde in der Presse als Vertrauensbeweis in die Institutionen und insbesondere in den Bundesrat gewertet, man sah im Abstimmungsergebnis aber auch eine Ohrfeige an die SVP, die an einem wenig experimentierfreudigen Volk vorbeipolitisiert habe. Die noch im Vorjahr von Wermuth (sp, AG) eingereichte parlamentarische Initiative (12.489), die neben der Volkswahl auch einige zusätzliche Reformen wie die Aufstockung der Regierungsmitglieder auf neun oder die Transparenz der Wahlkampagnenfinanzierung gefordert hatte, wurde im Berichtjahr kurz nach dem abschlägigen Volksentscheid zurückgezogen.


Abstimmung vom 9. Juni 2013

Beteiligung: 39,5%
Ja: 480 291 (23,7%) / 0 Stände
Nein: 1 550 080 (76,3%) / 20 6/2 Stände

Parolen:
– Ja: SVP (2)*.
– Nein: FDP, CVP, SP, GP, GLP, BDP, EVP, CSP; SGV, Travail.Suisse.
* in Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen.

Initiative für eine Volkswahl des Bundesrates (BRG 12.056)
Dossier: Vorschläge für eine Volkswahl des Bundesrates
Dossier: 9 statt 7 Bundesratsmitglieder?

Im Berichtsjahr kam es zu fünf Mutationen im Parlament. Für den in den Bundesrat gewählten Ständerat Alain Berset (sp, FR) wurde Christian Levrat (sp, FR) gewählt (siehe hier). Dessen Nationalratssitz erbte Ursula Schneider Schüttel (sp, FR). Zwei Räte verstarben 2012 im Amt: Otto Ineichen (fdp, LU) und Peter Malama (fdp, BS). Ihre Sitze übernahmen Peter Schilliger (fdp, LU) und Daniel Stolz (fdp, BS). Schliesslich musste Bruno Zuppiger (svp, ZH) aufgrund einer Erbschaftsaffäre zurücktreten. Für ihn rutschte Gregor Rutz (svp, ZH) nach.

Mutationen 2012
Dossier: Mutationen im nationalen Parlament