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Jahresrückblick 2022: Aussenpolitik

Nach der Corona-Pandemie und dem institutionellen Rahmenabkommen 2020 und 2021 wurde das Jahr 2022 nun von einem gänzlich neuen Thema dominiert: Der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine löste in der Schweiz nicht nur Diskussionen zum Sanktionswesen aus, sondern auch eine Grundsatzdebatte zur Schweizer Neutralitätspolitik. Die APS-Zeitungsanalyse für das Jahr 2022 zeigt – im Vergleich zu den Vorjahren – das Aufkommen komplett neuer Themenschwerpunkte wie «Neutralität» und «Sanktionen» in der Medienberichterstattung (vgl. Abbildung 2 der Analyse im Anhang). Wenig überraschend zeigen sich Ausschläge in der Artikelzahl zum Thema Aussenpolitik im Februar und März rund um den Kriegsausbruch in der Ukraine. Zwar nahm der prozentuale Anteil der Berichte dazu in den folgenden Monaten ab, hielt sich aber bis in den Herbst hinein auf einem hohen Niveau.

Das Jahr 2022 begann aussenpolitisch mit einem grossen Paukenschlag, dem Kriegsausbruch in der Ukraine Ende Februar, der den Bundesrat gemäss Medien völlig auf dem falschen Fuss erwischte. Noch im Januar hatten sich die Aussenminister Russlands und der USA in Genf getroffen, um die angespannte Lage an der russisch-ukrainischen Grenze zu deeskalieren. Aussenminister Cassis hatte damals von einer «freundschaftlichen, aber konzentrierten Stimmung» gesprochen. Der Angriff Russlands auf die Ukraine im Donbass löste im Parlament, wie auch in der Bevölkerung heftige Reaktionen aus. Stände- und Nationalrat verabschiedeten wenige Tage nach Kriegsausbruch eine Erklärung, mit der sie einen sofortigen Waffenstillstand verlangten, und übten in der Folge Druck auf den Bundesrat aus, wirtschaftliche Sanktionen der EU zu übernehmen. Nach mehreren verbalen Verurteilungen des Vorgehen Russlands als völkerrechtswidrig und aufgrund des massiven Drucks aus dem In- und Ausland beschloss der Bundesrat am 27. Februar die Übernahme der Sanktionspakete der EU gegen Russland. Bundespräsident Cassis wurde in der Folge nicht müde zu betonen, dass die Schweiz ihre Neutralität mit dieser Art der Sanktionsübernahme beibehalte. In den folgenden Wochen und Monaten übernahm die Schweiz sämtliche Ausweitungen der Sanktionen der EU gegen Russland – und später auch gegen Belarus. Fast zeitgleich zur Übernahme des EU-Sanktionsregimes gab die Regierung bekannt, die ukrainische Bevölkerung mit Hilfsgütern zu unterstützen. Ein erstes Paket in Höhe von CHF 8 Mio. wurde in raschen Abständen durch weitere Hilfsgüterlieferungen und die finanzielle Unterstützung von humanitären Organisationen ergänzt. Im Bereich der Guten Dienste unterstützte die Schweiz den Reform- und Wiederaufbauprozess in der Ukraine mithilfe der von langer Hand geplanten Ukraine Recovery Conference, die im Juli in Lugano stattfand. Die seit 2017 jährlich stattfindende Ukraine Reform Conference wurde angesichts des Kriegsgeschehens umbenannt und inhaltlich neu ausgerichtet.

Der Erlass und die Übernahme von Sanktionen stellten nicht nur den Bundesrat, sondern auch das Parlament vor neue Fragen und hielten dieses auf Trab. Davon zeugen nicht nur die parlamentarischen Vorstösse zum Thema, sondern auch die intensiven Debatten, die im Rahmen der Anpassung des Embargogesetzes geführt wurden. Eine bereits im Jahr 2019 eingereichte parlamentarische Initiative zur Einführung einer Rechtsgrundlage für gezielte Sanktionen bei schweren Menschenrechtsverletzungen und Korruption durch hochrangige Politiker und Politikerinnen erhielt aufgrund der geopolitischen Umstände besondere Relevanz. Zwar wurde diese vom Ständerat abgelehnt, doch trug sie massgeblich zu einer umfassenden Debatte innerhalb des Parlaments über das Schweizer Sanktionswesen bei. Im Mai 2022 verlangte die APK-NR vom Bundesrat mittels einer Kommissionsmotion die Entwicklung einer kohärenten, umfassenden und eigenständigen Sanktionspolitik. Der reine Nachvollzug von EU- und UNO-Sanktionen genügten nach Ansicht der Kommission nicht, um die Landesinteressen der Schweiz in den Bereichen Sicherheit, Versorgungssicherheit und Rechtsstaatlichkeit zu gewährleisten.

Eng mit den Überlegungen zur Sanktionsthematik verknüpft war die Frage, inwiefern die Schweiz diese mit ihrer Neutralität respektive mit ihrer Neutralitätspolitik vereinbaren könne. Während die SVP die Schweizer Neutralität durch die übernommenen EU-Sanktionen als bedroht erachtete, liess Alt-Bundesrat Blocher bezüglich der Sanktionsübernahme verlauten: «Wer hier mitmacht, ist eine Kriegspartei.» Derweil wünschte sich die APK-SR vom Bundesrat in einem Postulat mehr Klarheit und Orientierung in der Neutralitätspolitik. Diese Forderung versprach der Bundesrat durch einen aktualisierten Neutralitätsbericht – der letzte stammte aus dem Jahr 1993 – zu erfüllen. Aussenminister Cassis scheiterte jedoch Anfang September mit der Konzeptionierung der von ihm geprägten «kooperativen Neutralität», als der Gesamtbundesrat den Neutralitätsbericht zurückwies. Erst Ende Oktober verabschiedete die Regierung den Bericht in Erfüllung des Postulats und beschloss, an der Neutralitätspraxis aus dem Jahr 1993 festzuhalten. Im gleichen Monat kündigte die neu gegründete nationalkonservative Gruppierung «Pro Schweiz» an ihrer Gründungsversammlung die Lancierung einer Volksinitiative an, mit der sie die «immerwährende bewaffnete Neutralität» der Schweiz in der Verfassung festschreiben will.

Wenn auch nicht im gleichen Ausmass wie in den Jahren zuvor, sorgten aber auch im Jahr 2022 die bilateralen Beziehungen mit der EU für einige Schlagzeilen. Insbesondere die vom Bundesrat im Januar vorgestellte neue Stossrichtung für das Verhandlungspaket mit der EU sorgte aufgrund des gewählten sektoriellen Ansatzes vielerorts für Kopfschütteln, nicht zuletzt bei EU-Vertreterinnen und -Vertretern selbst. Auch das Parlament kämpfte weiterhin mit den Nachwehen des gescheiterten Rahmenabkommens und beschäftigte sich mit der Vielzahl der 2021 eingereichten parlamentarischen Vorstösse, deren Forderungen von einer nachhaltigen Zusammenarbeit mit der EU, über einen EWR-Beitritt bis zum EU-Beitritt reichten. Der vom Bundesrat versprochene Europabericht, welcher eine Vielzahl der Vorstösse hätte beantworten sollen, liess indes auf sich warten. Im März schwebte überdies die Abstimmung über das Frontex-Referendum wie ein Damoklesschwert über der sowieso schon belasteten Beziehung mit der EU. Ein Nein hätte unter Umständen den Ausschluss aus dem Schengen/Dublin-Abkommen nach sich ziehen können. Zwar verschwanden entsprechende Diskussionen nach dem deutlichen Ja im März 2022 rasch, ein im Sommer publik gewordener Briefwechsel zwischen EU-Vize-Kommissionspräsident Maros Sefčovič und Staatssekretärin Livia Leu warf jedoch ein erneut negatives Licht auf den Stand der bilateralen Verhandlungen. Daraus ging hervor, dass auf beiden Seiten weiterhin Unklarheiten über die jeweiligen Forderungen und roten Linien existierten. Etwas Versöhnlichkeit zeigte das Parlament im März, als es einer Aktualisierung des Abkommens mit der Europäischen Gemeinschaft über Zollerleichterungen und Zollsicherheit zustimmte, sowie in der Herbstsession mit der Annahme zweier Vorlagen zur Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands. Auch die Anpassungen der Systeme ETIAS und VIS waren in beiden Räten ungefährdet.

Im Gegensatz zu den stagnierenden Beziehungen zur EU zeigte sich die Schweiz sehr aktiv im Umgang mit einzelnen Partnerländern. Das Verhältnis zum Vereinigten Königreich wurde im Frühling 2022 unter anderem durch ein Mobilitätsabkommen für Dienstleistungserbringende, ein Sozialversicherungsabkommen und durch einen Präsidialbesuch von Bundespräsident Cassis in London gestärkt. Ebenfalls im Frühjahr reiste Cassis wenige Wochen nach der Annahme des neuen Grenzgängerabkommens mit Italien im Parlament nach Italien, um sich unter anderem mit dem italienischen Aussenminister Luigi di Maio zu treffen. Generell zeigte sich Cassis in seiner Doppelrolle als Aussenminister und Bundespräsident sehr reise- und gesprächsfreudig. Das belegen unter anderem Staatsbesuche in Österreich und der Tschechischen Republik, Polen und Moldawien, Japan, Niger und dem Vatikan, aber auch Gespräche mit dem Aussenminister der VAE und der slowakischen Präsidentin Zuzana Čaputová.
In seiner Chinapolitik musste der Bundesrat 2022 innenpolitisch mehrere Dämpfer hinnehmen: Das Parlament stimmte gegen seinen Willen mehreren Motionen zu, mit denen die wirtschaftlichen Beziehungen mit China und der Whole-of-Switzerland-Ansatz anders ausgestaltet werden sollen.
Auf multinationaler Ebene stach insbesondere die erfolgreiche Wahl der Schweiz als nichtständiges Mitglied des UNO-Sicherheitsrats im Juni hervor. Darüber hinaus beschloss das Parlament, dass sich die Schweiz weiterhin an der internationalen Währungshilfe beteiligen soll, und verabschiedete einen Verpflichtungskredit in Höhe von CHF 10 Mrd. bis 2028, der als Notreserve bei starken Störungen des internationalen Währungssystems eingesetzt werden kann.

Jahresrückblick 2022: Aussenpolitik
Dossier: Jahresrückblick 2022

Anfang Mai 2022 und damit ungefähr ein Jahr nach dem Abbruch der Verhandlungen über das institutionelle Rahmenabkommen bemühte sich Staatssekretärin Livia Leu darum, die Beziehungen mit der EU zu verbessern und neue Verhandlungen anzustossen. In einem Interview mit Le Temps erklärte Leu nach ihrem zweiten Treffen mit EU-Vertretern, dass es eine gewisse Zeit brauche, bis beide Seiten feststellen könnten, ob eine gemeinsame Basis für Verhandlungen bestehe. Der Krieg in der Ukraine und die Übernahme der EU-Sanktionen durch die Schweiz könne sich positiv auf die Verhandlungen mit der EU auswirken, schätzte Leu das unsichere politische Umfeld ein.
Wenige Tage später äusserte sich Petros Mavromichalis – der EU-Botschafter in der Schweiz – kritisch im Hinblick auf die aktuelle Lage. Er betonte, dass die EU der Schweiz keine Vorteile gewähren werde, die ihre Mitgliedstaaten nicht auch hätten. Da für alle Teilnehmerstaaten des Binnenmarkts die gleichen Regeln gelten müssten, schob er auch der vom Bundesrat angestrebten Abschaffung der Guillotine-Klausel einen Riegel vor. Die EU wolle, dass alle Marktzugangsabkommen die Verpflichtung zur dynamischen Rechtsübernahme und den gleichen Streitbeilegungsmechanismus vorsehen, erklärte Mavromichalis in der NZZ. Schutzklauseln seien in einigen Bereichen möglich, ein Ausschluss ganzer Abkommen – wie beispielsweise des Personenfreizügigkeitsabkommens – hingegen sicher nicht.

Mitte Mai deutete ein Brief des Kabinetts von Vize-Kommissionspräsident Maroš Sefčovič an Livia Leu darauf hin, dass noch deutliche Unstimmigkeiten zwischen den beiden Verhandlungsparteien bestanden. In diesem Brief stellte die EU der Schweiz zehn Detailfragen, unter anderem nach der Haltung der Schweiz gegenüber der Rolle des Europäischen Gerichtshofs bei der Streitschlichtung, nach der Akzeptanz gegenüber der Guillotine-Klausel und gegenüber der Weiterentwicklung des EU-Rechts im Kontext der EU-Bürgerrechte.
Wie der Tages-Anzeiger berichtete, habe sich die Position der EU seit der Beerdigung des Rahmenabkommens nicht wirklich verändert. Die EU fordere nach wir vor eine systematische Rahmenlösung für alle bestehenden und zukünftigen Abkommen. Zusätzliche Abkommen in den Bereichen Energie oder Gesundheit könnten ins Verhandlungspaket aufgenommen werden, jedoch nur wenn man auch das Freihandelsabkommen von 1972 aktualisieren würde. Die EU baute zusätzlichen Druck auf den Bundesrat auf, indem sie zur gleichen Zeit eine SP-Delegation in Brüssel ohne Beteiligung der Exekutive empfing. Anlässlich dieses Treffens erklärte Sefčovič sich bereit, in die Schweiz zu reisen, um sich mit Sozialpartnern, Gewerkschaften und Arbeitgebern auszutauschen. Ende Mai meldete sich Mavromichalis in Le Temps abermals zu Wort und verlangte vom Bundesrat eine Klarstellung in Bezug auf dessen Verhandlungsposition, denn die EU könne nicht erkennen, was die Schweiz genau erreichen wolle.

An einer solchen Klarstellung versuchte sich Staatssekretärin Leu Anfang Juni in ihrem Antwortschreiben auf die Fragen der EU. Darin machte Leu deutlich, dass das gescheiterte Rahmenabkommen für die Schweiz bei zukünftigen Verhandlungen keinen Referenzpunkt darstelle. Das Zugeständnis der Schweiz, dass sie neues EU-Recht im Bereich der Bilateralen dynamisch übernehmen würde, gleiche einem Paradigmenwechsel in der Funktionsweise der Marktzugangsabkommen und müsse daher abgefedert werden. Man sei grundsätzlich bereit, die dynamische Rechtsübernahme einzuführen und gemeinsam einen Streitbeilegungsmechanismus zu erarbeiten. Für dieses Entgegenkommen erwarte man aber Ausnahmen und Schutzmassnahmen bei den Aspekten des Lohnschutzes, der Zuwanderung in die Sozialhilfe und der Ausschaffung straffälliger EU-Bürger.
Leu forderte auch ein Mitspracherecht im Gesetzgebungsprozess der EU, sofern dieser die bestehenden und zukünftigen bilateralen Verträge betreffe. Die von der EU geforderte Modernisierung des Freihandelsabkommens lehnte sie ab, da dies «die Verhandlungen überladen» würde, nicht nur zeitlich sondern auch hinsichtlich der Akzeptanz in der Schweiz. In Bezug auf die konkreten Fragen der EU stellte Leu klar, dass die Schweiz bereit sei, rechtliche Verpflichtungen für die Zahlung weiterer Kohäsionsbeiträge einzugehen.
Sie erwähnte auch, dass die institutionellen Regelungen «im Prinzip» bei allen Abkommen im Verhandlungspaket identisch sein könnten und anerkannte die alleinige Kompetenz des EuGH, Europäisches Recht auszulegen. Welche Position der EuGH gegenüber der Schweiz einnehmen werde, definierte sie in ihrer Antwort aber nicht und die Weiterführung der Guillotineklausel erwähnte Leu überhaupt nicht. Angesichts der nach wie vor laufenden Sondierungsphase stellte Leu die Möglichkeit eines baldigen Treffens in den Raum, womit der Ball nun wieder bei der EU lag.

Unstimmigkeiten nach Briefwechsel mit der EU
Dossier: Entwicklung der bilateralen Beziehungen mit der EU nach dem Scheitern des Rahmenabkommens

Ende Februar 2022 präsentierte der Bundesrat seine neue Stossrichtung für das Verhandlungspaket mit der EU. Die offenen Punkte, die sich nicht zuletzt bei den Verhandlungen über das institutionelle Rahmenabkommen gezeigt hätten, wolle man mit einem sektoriellen Ansatz in den einzelnen Binnenmarktabkommen separat lösen. Dazu gehörten die dynamische Rechtsübernahme, die Streitbeilegung, sowie Ausnahmen und Schutzklauseln. Den horizontalen Ansatz – ein übergeordneter Streitlösungsmechanismus für alle Abkommen – des gescheiterten Rahmenabkommens betrachtete der Bundesrat nicht länger als valable Option. Als weitere mögliche Bestandteile des Pakets nannte der Bundesrat mehrere neue Binnenmarktabkommen in den Bereichen Strom und Lebensmittel, sowie Assoziierungsabkommen in den Bereichen Forschung, Gesundheit und Bildung. Die Republik attestierte dem Bundesrat dabei geschicktes Taktieren, denn eine grössere Verhandlungsmasse biete «mehr Spielraum für ein Geben und Nehmen». Auch eine Institutionalisierung der Schweizer Kohäsionszahlungen wurde von der Exekutive in den Raum gestellt. Auf der Grundlage des neuen Beschlusses sollen Sondierungsgespräche mit der EU aufgenommen werden. Parallel dazu liefen die Arbeiten zu den Regelungsunterschieden zwischen dem EU-Recht und dem Schweizer Recht weiter. Das EJPD war schon kurz nach dem Verhandlungsabbruch über das InstA im Mai 2021 damit beauftragt worden, Differenzen zwischen dem EU-Recht und der schweizerischen Rechtsordnung zu eruieren. Ende Juni 2021 lag eine erste Auslegeordnung der Regelungsunterschiede vor, woraufhin in einem zweiten Schritt ermittelt werden sollte, in welchen Bereichen autonome Angleichungen im Interesse der Schweiz wären. Bundesrätin Karin Keller-Sutter teilte an der Medienkonferenz zur neuen Stossrichtung mit, dass sich ihr Departement dabei auf fünf Marktzugangsabkommen der Bilateralen I fokussiert und ein Konzept mit 17 Handlungsoptionen erarbeitet habe. Alt-Staatssekretär Gattiker habe eine «Analyse und Bewertung der ermittelten Spielräume» durchgeführt und werde diese im Gespräch mit den Kantonen und Sozialpartnern vertiefen, teilte der Bundesrat in seiner Pressemitteilung mit.

Der neue Ansatz der Schweiz löste in den Medien kollektives Stirnrunzeln aus, hatte doch EU-Kommissar Sefčovič nach dem Treffen mit Aussenminister Cassis im November 2021 dem Tages-Anzeiger gegenüber klar gemacht, dass man institutionelle Fragen nicht «von Fall zu Fall» lösen könne, sondern ein Rahmenabkommen dafür benötige. Der Blick merkte an, dass Bundespräsident Cassis nicht habe erklären können, weshalb sich diese Auffassung unterdessen geändert haben soll. Stattdessen schicke man Staatssekretärin Leu nach Brüssel, «um zu sondieren, ob sich die Meinung dort geändert hat», so der Blick. Auch die parallel zu den Sondierungsgesprächen mit der EU geführte Verhandlung mit den Sozialpartnern und den Kantonen beäugte der Blick kritisch. Karin Keller-Sutter äusserte sich den Medien gegenüber diesbezüglich aber zuversichtlich und betonte, dass man damit verschiedene Differenzen von vornherein eliminieren wolle. Die Le Temps bezeichnete den neuen Ansatz des Bundesrats als «Bilaterale III», auch wenn der Begriff in der Pressekonferenz nicht gefallen sei. Sie äusserte auch die Vermutung, dass der sektorielle Ansatz – mit dem die Streitbeilegung durch den EuGH umgangen werden soll – Brüssel verärgern dürfte. Aussenminister Cassis erklärte gegenüber derselben Zeitung, dass man auf detaillierte Vorschläge verzichtet habe, um Staatssekretärin Leu mehr Handlungsspielraum zu verschaffen.
Die Reaktionen der Parteien und anderer Interessengruppen auf die neuen Vorschläge des Bundesrats fielen gemischt aus. Für die FDP stelle der sektorielle Ansatz die vielversprechendste Lösungsvariante dar, hielt Parteipräsident Thierry Burkart (fdp, AG) fest. SP-Ständerat Carlo Sommaruga (sp, GE) erachtete den Vorschlag als eher unrealistisch und Foraus-Co-Direktor Darius Farman sowie NEBS-Präsident und SP-Nationalrat Eric Nussbaumer (sp, BL) kritisierten das Fehlen eines Zeitplans scharf. Die SVP befürchtete hingegen die Unterwerfung der Schweiz unter EU-Recht und EU-Richter und kündigte daher Widerstand gegen die Pläne des Bundesrats an.
Petros Mavromichalis, der EU-Botschafter in der Schweiz, begegnete dem neuen Vorgehen der Schweiz mit viel Skepsis. Er begrüsste zwar die Ankündigung des Bundesrats, alle offenen Fragen angehen zu wollen, bezweifelte aber die Machbarkeit des sektoriellen Ansatzes. Er stellte im Interview mit der Republik auch klar, dass die Personenfreizügigkeit für die EU untrennbar mit dem Binnenmarkt verbunden sei und daher ebenfalls der dynamischen Rechtsangleichung und dem juristischen Streitbeilegungsmechanismus unterliegen müsse. Für ihn wirke es, «als ob die Schweiz mit sich selber verhandeln würde und es kein Gegenüber gäbe». Auch die EU habe Erwartungen und Bedürfnisse, weshalb die Debatte nicht nur nach Innen gerichtet werden dürfe.

Neue Stossrichtung des Bundesrats in der Europapolitik
Dossier: Entwicklung der bilateralen Beziehungen mit der EU nach dem Scheitern des Rahmenabkommens

Am 24. November 2021 genehmigte der Bundesrat das MoU mit der EU bezüglich des zweiten Schweizer Beitrags an ausgewählte EU-Mitgliedstaaten, nachdem beide Parlamentskammern den seit 2019 blockierten Beitrag Ende September 2021 freigegeben hatten. Schon Mitte November hatten Bundespräsident Cassis und EU-Kommissar Sefčovič bei ihrem Treffen die auf technischer Ebene erzielte Einigung begrüsst. Für den Bundesrat stelle die Freigabe ein «weiteres positives Signal» an die EU dar, wie er in seiner Medienmitteilung verlauten liess. Das Memorandum beinhalte die wichtigsten Eckwerte des zweiten Schweizer Beitrags wie dessen Höhe, die Aufteilung auf die Partnerländer, die thematischen Prioritäten und die Prinzipien für die Zusammenarbeit und die Umsetzung. Die Unterzeichnung erfolge aber erst, wenn die EU ihre internen Genehmigungsverfahren abgeschlossen habe. Dennoch beschloss der Bundesrat bereits, die Verhandlungen mit den Partnerländern aufzunehmen.
Tags zuvor hatte die APK-NR beschlossen, in der Wintersession 2021 im Rahmen der Debatte zum Voranschlag 2022 einen Antrag auf eine Erhöhung der Kohäsionsmilliarde um CHF 953 Mio. einzureichen, mit dem sie den Beitrag beinahe verdoppeln wollte. Diese Aufstockung sollte mit Konditionen verbunden sein, beispielsweise sollte die EU der Schweiz in mehreren Kooperationsabkommen wie Horizon, Digital Europe, ITER (Internationaler Thermonuklearer Experimental-Reaktor), Euratom und Erasmus+ entgegenkommen. Die NZZ schätzte die Chancen des Antrags als sehr gering ein. Schliesslich setze sich bei Differenzen zwischen den Räten bei Budgetprozessen automatisch die Version mit dem tieferen Betrag durch und bei den Aussenpolitikerinnen und Aussenpolitikern der kleinen Kammer käme die Idee eher schlecht an. Damian Müller (fdp, LU) – Präsident der APK-SR – warnte in der NZZ denn auch vor derartig unüberlegten «Ideen nach dem Prinzip Hoffnung, ohne Strategie und ohne Konzept». In der Budgetdebatte setzte sich die Kommissionsminderheit dann, zur Erleichterung von Finanzminister Maurer, mit 93 zu 84 Stimmen (bei 6 Enthaltungen) durch und versenkte die Idee einer Erhöhung.

Bundesrat genehmigt MoU mit der EU bezüglich des zweiten Schweizer Beitrags an ausgewählte EU-Mitgliedstaaten
Dossier: Schweizer Beitrag an die erweiterte EU

Ende Oktober 2021 berichtete der Tages-Anzeiger, dass Aussenminister Cassis Mitte November für einen Arbeitsbesuch nach Brüssel reisen werde, um sich ein erstes Mal mit dem neuen EU-Verantwortlichen für das Schweiz-Dossier – Maroš Sefčovič – zu treffen. Wie Cassis selbst auf Twitter bekannt gab, diente das Treffen dazu, sich gegenseitig kennen zu lernen und über die Zukunft der bilateralen Beziehungen zu sprechen. Wie der Tagesanzeiger berichtete, sei aus EU-Kreisen zu vernehmen, dass die Schweiz nach dem Abbruch der Verhandlungen über das Rahmenabkommen bei der EU an Priorität eingebüsst habe, daran habe auch die Freigabe der zweiten Kohäsionsmilliarde wenig geändert. Etwas anders präsentierte sich die Erwartungshaltung des Bundesrats. Im Vorfeld des Arbeitsbesuchs äusserte sich Cassis in einem Interview mit der NZZ zur EU-Politik der Schweiz und erwartete nach dem positiven Signal der Schweiz mit dem Kohäsionsbeitrag nun eine Reaktion der EU. Darüber hinaus gab er sich jedoch sehr bedacht und warnte, dass man «nicht noch einmal in die gleiche Falle» wie 2013 tappen dürfe, als die Schweiz «Verhandlungen nach dem Prinzip Hoffnung» aufgenommen habe und sich nicht sicher gewesen sei, was sie wolle und zu welchem Preis. Auf die Frage, ob die Schweiz im Gegenzug für den nächsten Kohäsionsbeitrag die Assoziierung bei der Forschungszusammenarbeit fordere, antwortete Cassis, dass man diese «Logik der gegenseitigen Bedingungen» beenden wolle. Cassis dämpfte in seinem NZZ-Interview die Erwartungen an das bevorstehende Treffen und erklärte, man brauche «Zeit, um ohne Druck innenpolitisch unsere Prioritäten zu klären».
Unterdessen drückten immer mehr Parteien und Vertretende aus der Zivilgesellschaft und Wirtschaft ihre Unzufriedenheit mit dem Vorgehen des Bundesrats aus. Dessen dreiteilige Strategie – Kohäsionsmilliarde freigeben, politischen Dialog stärken, einseitige Anpassung von Schweizer Recht – dürfte erst 2024 zu weiteren Verhandlungen führen, konstatierte die Aargauer Zeitung. Sie berichtete auch, dass ungenannte kritische Stimmen Cassis vorwerfen würden, sich vor den Wahlen 2023 nicht «die Finger an diesem toxischen Dossier» verbrennen zu wollen. Das dauere vielen Parteien, darunter den Grünen und den Grünliberalen, und Interessensgruppen, unter anderem der Operation Libero, zu lange. Ständerat Würth (mitte, SG) forderte vom Bundesrat vor allem angesichts der Probleme bei der Forschungskooperation und der Stromversorgung schnellere Lösungen.
Einige Tage vor dem Arbeitsbesuch von Ignazio Cassis reiste Bundespräsident Parmelin nach Brüssel, wo er sich mit Amtskollegen der EFTA- und EU-Staaten traf. Gegenüber den anwesenden Medienschaffenden erklärte er die Vollassoziierung am Forschungsprogramm Horizon Europe als Hauptziel der kommenden Gespräche zwischen der Schweiz und der EU. Das könnte sich als schwierig erweisen, hielt der Tages-Anzeiger fest, denn die EU verknüpfe Kooperationsfragen neuerdings auch mit den institutionellen Marktzugangsfragen, was zu einer schwierigen Verhandlungslage führe. Hinsichtlich regelmässiger Kohäsionszahlungen in der Zukunft meinte Parmelin, dass man alles diskutieren könne. Das Treffen zwischen Cassis und seinem EU-Ansprechpartner sei eine «erste Kontaktmöglichkeit», der Gesamtbundesrat werde zu einem späteren Zeitpunkt konkrete Vorschläge machen müssen, wie es nach dem InstA-Aus weitergehen soll.

Das Treffen zwischen Cassis und Sefčovič fand am 15. November statt und wie angekündigt wurde insbesondere über die Assoziierung an Horizon 2021-2027 und Erasmus+ gesprochen. Cassis bezeichnete diesbezüglich die Verknüpfung von Marktzugangs- und Kooperationsabkommen als kontraproduktiv und unverständlich. In Bezug auf die Freigabe des zweiten Kohäsionsbeitrags zeigte sich Sefčovič erfreut und die beiden Parteien einigten sich auf technischer Ebene auf ein Memorandum of Understanding über das weitere Vorgehen. Das sei ein positives Zeichen, stellte die NZZ fest, habe doch die EU im Vorfeld regelmässige Zahlungen als «Eintrittsticket» für den Binnenmarkt verlangt, während die Schweiz die Zahlungen als freiwilligen Beitrag für die osteuropäischen Staaten verstanden habe. Abschliessend bekräftigten beide Seiten die Bedeutung der bilateralen Beziehungen und hoben den Willen zu einer konstruktiven Zusammenarbeit hervor. Man einigte sich darauf, am Rande des WEF 2022 über eine bis dahin zu erarbeitende Standortbestimmung und eine gemeinsame Agenda zu diskutieren, um strittige Punkte wie die Streitbeilegung und die Rechtsübernahme angehen zu können.
Die Schweizer Medien reagierten mit gemischten Gefühlen auf die Ergebnisse des Treffens. Die lange Dauer der Besprechung – statt der geplanten Stunde erstreckte sich das Gespräch schliesslich über zwei Stunden – wurde unterschiedlich interpretiert: wahlweise als gutes Zeichen oder als Folge neuer Probleme. Der Tages-Anzeiger sah in der harten Wortwahl des EU-Kommissars im Nachgang des Treffens ein Zeichen für die nach wie vor angespannte Beziehung. Bezeichnend dafür sei auch die Feststellung von Ignazio Cassis, dass man die vergangenen Monate unterschiedlich wahrgenommen habe. Der Tages-Anzeiger mutmasste auch, dass das angekündigte Treffen am WEF als neue Frist der EU verstanden werden könne, insbesondere weil Sefčovič ankündigte, dass man dann sehen werde, ob aufseiten der Schweiz ein «ernsthafter politischer Wille» vorhanden sei. Sefčovič machte auf jeden Fall deutlich, dass der abrupte Abbruch der Verhandlungen zu einer Vertrauenskrise geführt habe und die EU vom Bundesrat ein «klares politisches Signal» erwarte, bevor man über Fragen wie die Teilnahme an Horizon Europe nachdenken könne. Gegenüber dem Tages-Anzeiger hielt Sefčovič am horizontalen Verhandlungsansatz der EU fest und lehnte es ab, institutionelle Fragen für jedes Abkommen einzeln zu lösen: Die Roadmap, die am WEF besprochen werden soll, müsse folglich die Schlüsselfragen zur dynamischen Rechtsübernahme, den Staatsbeihilfen, der Streitschlichtung und einem Mechanismus für regelmässige Kohäsionsbeiträge angehen. Die NZZ gab sich dementsprechend pessimistisch und stellte fest, dass man in den bilateralen Beziehungen etwa gleich weit sei wie vor Abbruch der Verhandlungen, beide Seiten würde immer noch aneinander vorbeireden. Diese Kritik machte sie auch an Cassis' abweichender Darstellung des Treffens fest. Dieser meinte beispielsweise, das Parlament habe mit der Freigabe der Kohäsionsmilliarde bereits das stärkstmögliche Signal gesendet und der Bundesrat würde bis Januar 2022 nichts darüber hinaus tun. In Bezug auf die offengebliebenen Fragen der Personenfreizügigkeit habe er seinem Gegenüber klar gemacht, dass man diesbezüglich nicht weiterkommen werde, denn schliesslich habe die Schweiz nicht zuletzt aufgrund dieser Differenzen die Verhandlungen über das Rahmenabkommen abgebrochen.

Aussenminister Cassis reiste für einen Arbeitsbesuch nach Brüssel
Dossier: Beziehungen Schweiz–EU, institutionelle Frage