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Jahresrückblick 2022: Aussenpolitik

Nach der Corona-Pandemie und dem institutionellen Rahmenabkommen 2020 und 2021 wurde das Jahr 2022 nun von einem gänzlich neuen Thema dominiert: Der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine löste in der Schweiz nicht nur Diskussionen zum Sanktionswesen aus, sondern auch eine Grundsatzdebatte zur Schweizer Neutralitätspolitik. Die APS-Zeitungsanalyse für das Jahr 2022 zeigt – im Vergleich zu den Vorjahren – das Aufkommen komplett neuer Themenschwerpunkte wie «Neutralität» und «Sanktionen» in der Medienberichterstattung (vgl. Abbildung 2 der Analyse im Anhang). Wenig überraschend zeigen sich Ausschläge in der Artikelzahl zum Thema Aussenpolitik im Februar und März rund um den Kriegsausbruch in der Ukraine. Zwar nahm der prozentuale Anteil der Berichte dazu in den folgenden Monaten ab, hielt sich aber bis in den Herbst hinein auf einem hohen Niveau.

Das Jahr 2022 begann aussenpolitisch mit einem grossen Paukenschlag, dem Kriegsausbruch in der Ukraine Ende Februar, der den Bundesrat gemäss Medien völlig auf dem falschen Fuss erwischte. Noch im Januar hatten sich die Aussenminister Russlands und der USA in Genf getroffen, um die angespannte Lage an der russisch-ukrainischen Grenze zu deeskalieren. Aussenminister Cassis hatte damals von einer «freundschaftlichen, aber konzentrierten Stimmung» gesprochen. Der Angriff Russlands auf die Ukraine im Donbass löste im Parlament, wie auch in der Bevölkerung heftige Reaktionen aus. Stände- und Nationalrat verabschiedeten wenige Tage nach Kriegsausbruch eine Erklärung, mit der sie einen sofortigen Waffenstillstand verlangten, und übten in der Folge Druck auf den Bundesrat aus, wirtschaftliche Sanktionen der EU zu übernehmen. Nach mehreren verbalen Verurteilungen des Vorgehen Russlands als völkerrechtswidrig und aufgrund des massiven Drucks aus dem In- und Ausland beschloss der Bundesrat am 27. Februar die Übernahme der Sanktionspakete der EU gegen Russland. Bundespräsident Cassis wurde in der Folge nicht müde zu betonen, dass die Schweiz ihre Neutralität mit dieser Art der Sanktionsübernahme beibehalte. In den folgenden Wochen und Monaten übernahm die Schweiz sämtliche Ausweitungen der Sanktionen der EU gegen Russland – und später auch gegen Belarus. Fast zeitgleich zur Übernahme des EU-Sanktionsregimes gab die Regierung bekannt, die ukrainische Bevölkerung mit Hilfsgütern zu unterstützen. Ein erstes Paket in Höhe von CHF 8 Mio. wurde in raschen Abständen durch weitere Hilfsgüterlieferungen und die finanzielle Unterstützung von humanitären Organisationen ergänzt. Im Bereich der Guten Dienste unterstützte die Schweiz den Reform- und Wiederaufbauprozess in der Ukraine mithilfe der von langer Hand geplanten Ukraine Recovery Conference, die im Juli in Lugano stattfand. Die seit 2017 jährlich stattfindende Ukraine Reform Conference wurde angesichts des Kriegsgeschehens umbenannt und inhaltlich neu ausgerichtet.

Der Erlass und die Übernahme von Sanktionen stellten nicht nur den Bundesrat, sondern auch das Parlament vor neue Fragen und hielten dieses auf Trab. Davon zeugen nicht nur die parlamentarischen Vorstösse zum Thema, sondern auch die intensiven Debatten, die im Rahmen der Anpassung des Embargogesetzes geführt wurden. Eine bereits im Jahr 2019 eingereichte parlamentarische Initiative zur Einführung einer Rechtsgrundlage für gezielte Sanktionen bei schweren Menschenrechtsverletzungen und Korruption durch hochrangige Politiker und Politikerinnen erhielt aufgrund der geopolitischen Umstände besondere Relevanz. Zwar wurde diese vom Ständerat abgelehnt, doch trug sie massgeblich zu einer umfassenden Debatte innerhalb des Parlaments über das Schweizer Sanktionswesen bei. Im Mai 2022 verlangte die APK-NR vom Bundesrat mittels einer Kommissionsmotion die Entwicklung einer kohärenten, umfassenden und eigenständigen Sanktionspolitik. Der reine Nachvollzug von EU- und UNO-Sanktionen genügten nach Ansicht der Kommission nicht, um die Landesinteressen der Schweiz in den Bereichen Sicherheit, Versorgungssicherheit und Rechtsstaatlichkeit zu gewährleisten.

Eng mit den Überlegungen zur Sanktionsthematik verknüpft war die Frage, inwiefern die Schweiz diese mit ihrer Neutralität respektive mit ihrer Neutralitätspolitik vereinbaren könne. Während die SVP die Schweizer Neutralität durch die übernommenen EU-Sanktionen als bedroht erachtete, liess Alt-Bundesrat Blocher bezüglich der Sanktionsübernahme verlauten: «Wer hier mitmacht, ist eine Kriegspartei.» Derweil wünschte sich die APK-SR vom Bundesrat in einem Postulat mehr Klarheit und Orientierung in der Neutralitätspolitik. Diese Forderung versprach der Bundesrat durch einen aktualisierten Neutralitätsbericht – der letzte stammte aus dem Jahr 1993 – zu erfüllen. Aussenminister Cassis scheiterte jedoch Anfang September mit der Konzeptionierung der von ihm geprägten «kooperativen Neutralität», als der Gesamtbundesrat den Neutralitätsbericht zurückwies. Erst Ende Oktober verabschiedete die Regierung den Bericht in Erfüllung des Postulats und beschloss, an der Neutralitätspraxis aus dem Jahr 1993 festzuhalten. Im gleichen Monat kündigte die neu gegründete nationalkonservative Gruppierung «Pro Schweiz» an ihrer Gründungsversammlung die Lancierung einer Volksinitiative an, mit der sie die «immerwährende bewaffnete Neutralität» der Schweiz in der Verfassung festschreiben will.

Wenn auch nicht im gleichen Ausmass wie in den Jahren zuvor, sorgten aber auch im Jahr 2022 die bilateralen Beziehungen mit der EU für einige Schlagzeilen. Insbesondere die vom Bundesrat im Januar vorgestellte neue Stossrichtung für das Verhandlungspaket mit der EU sorgte aufgrund des gewählten sektoriellen Ansatzes vielerorts für Kopfschütteln, nicht zuletzt bei EU-Vertreterinnen und -Vertretern selbst. Auch das Parlament kämpfte weiterhin mit den Nachwehen des gescheiterten Rahmenabkommens und beschäftigte sich mit der Vielzahl der 2021 eingereichten parlamentarischen Vorstösse, deren Forderungen von einer nachhaltigen Zusammenarbeit mit der EU, über einen EWR-Beitritt bis zum EU-Beitritt reichten. Der vom Bundesrat versprochene Europabericht, welcher eine Vielzahl der Vorstösse hätte beantworten sollen, liess indes auf sich warten. Im März schwebte überdies die Abstimmung über das Frontex-Referendum wie ein Damoklesschwert über der sowieso schon belasteten Beziehung mit der EU. Ein Nein hätte unter Umständen den Ausschluss aus dem Schengen/Dublin-Abkommen nach sich ziehen können. Zwar verschwanden entsprechende Diskussionen nach dem deutlichen Ja im März 2022 rasch, ein im Sommer publik gewordener Briefwechsel zwischen EU-Vize-Kommissionspräsident Maros Sefčovič und Staatssekretärin Livia Leu warf jedoch ein erneut negatives Licht auf den Stand der bilateralen Verhandlungen. Daraus ging hervor, dass auf beiden Seiten weiterhin Unklarheiten über die jeweiligen Forderungen und roten Linien existierten. Etwas Versöhnlichkeit zeigte das Parlament im März, als es einer Aktualisierung des Abkommens mit der Europäischen Gemeinschaft über Zollerleichterungen und Zollsicherheit zustimmte, sowie in der Herbstsession mit der Annahme zweier Vorlagen zur Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands. Auch die Anpassungen der Systeme ETIAS und VIS waren in beiden Räten ungefährdet.

Im Gegensatz zu den stagnierenden Beziehungen zur EU zeigte sich die Schweiz sehr aktiv im Umgang mit einzelnen Partnerländern. Das Verhältnis zum Vereinigten Königreich wurde im Frühling 2022 unter anderem durch ein Mobilitätsabkommen für Dienstleistungserbringende, ein Sozialversicherungsabkommen und durch einen Präsidialbesuch von Bundespräsident Cassis in London gestärkt. Ebenfalls im Frühjahr reiste Cassis wenige Wochen nach der Annahme des neuen Grenzgängerabkommens mit Italien im Parlament nach Italien, um sich unter anderem mit dem italienischen Aussenminister Luigi di Maio zu treffen. Generell zeigte sich Cassis in seiner Doppelrolle als Aussenminister und Bundespräsident sehr reise- und gesprächsfreudig. Das belegen unter anderem Staatsbesuche in Österreich und der Tschechischen Republik, Polen und Moldawien, Japan, Niger und dem Vatikan, aber auch Gespräche mit dem Aussenminister der VAE und der slowakischen Präsidentin Zuzana Čaputová.
In seiner Chinapolitik musste der Bundesrat 2022 innenpolitisch mehrere Dämpfer hinnehmen: Das Parlament stimmte gegen seinen Willen mehreren Motionen zu, mit denen die wirtschaftlichen Beziehungen mit China und der Whole-of-Switzerland-Ansatz anders ausgestaltet werden sollen.
Auf multinationaler Ebene stach insbesondere die erfolgreiche Wahl der Schweiz als nichtständiges Mitglied des UNO-Sicherheitsrats im Juni hervor. Darüber hinaus beschloss das Parlament, dass sich die Schweiz weiterhin an der internationalen Währungshilfe beteiligen soll, und verabschiedete einen Verpflichtungskredit in Höhe von CHF 10 Mrd. bis 2028, der als Notreserve bei starken Störungen des internationalen Währungssystems eingesetzt werden kann.

Jahresrückblick 2022: Aussenpolitik
Dossier: Jahresrückblick 2022

Ende Mai 2022 traf sich eine Delegation des Bundesrates zum bereits zweiten Mal nach dem Treffen im März mit allen im Parlament vertretenen Parteien im Hotel Bellevue in Bern zu einem Gespräch über den Krieg in der Ukraine und dessen Folgen für die Schweiz. Der Bundesrat erläuterte den Parlamentarierinnen und Parlamentariern, dass sich die Schweizer Antwort auf den russischen Angriffskrieg auf vier Pfeiler stütze, namentlich Recht, Solidarität, Sicherheit und Gute Dienste. Diskutiert wurde nicht nur die anstehende Ukraine Recovery Conference in Lugano, sondern auch die Schweizer Auslegung der Neutralität und der Neutralitätsbericht, den der Bundesrat angekündigt hatte. Die bundesrätliche Delegation legte die sicherheitspolitischen Folgen des Krieges dar, wobei auch der Zusatzbericht des VBS zum Sicherheitspolitischen Bericht 2021 angesprochen wurde. Dieser befasse sich mit der Möglichkeit einer verstärkten internationalen Kooperation in der Sicherheitspolitik, verriet der Bundesrat. Auch zur Beschaffung der F-35A-Jets, zur Migrationspolitik angesichts der ukrainischen Schutzsuchenden und der Energie- und Wirtschaftspolitik stand die Regierung den Parteien Rede und Antwort.

Anfang Juni beurteilte der Bundesrat mehrere umstrittene Kriegsmaterial-Geschäfte. Unter anderem lagen der Schweiz Anfragen von Deutschland (Munition und Radschützenpanzer) und Dänemark (Radschützenpanzer) zur Weitergabe von Kriegsmaterial an die Ukraine vor. Die Regierung lehnte beide Gesuche aufgrund der geltenden Ausfuhrkriterien gemäss Kriegsmaterialgesetz und des neutralitätsrechtlichen Gleichbehandlungsgebots ab. Der Bundesrat stellte jedoch klar, dass Kriegsmaterial-Zulieferungen an europäische Rüstungsunternehmen weiterhin möglich seien, auch wenn die Gefahr bestehe, dass einige der gelieferten Komponenten in Kriegsmaterial verbaut in die Ukraine gelangen könnten. Das Kriegsmaterialgesetz sehe vor, dass sich Schweizer Unternehmen an den internationalen Wertschöpfungsketten beteiligen können, jedoch dürfe gemäss bundesrätlicher Praxis der Anteil der Schweizer Einzelteile am Endprodukt eine gewisse Warenwertschwelle nicht überschreiten. Da zwei weitere Gesuche aus Deutschland (Panzerfaustkomponenten) und Italien (Flugabwehrkomponenten) diese Vorgaben einhielten, wurden sie vom Bundesrat bewilligt.

Eine Woche später beschloss die Landesregierung die Übernahme eines weiteren EU-Sanktionspakets gegen Russland (sechstes Sanktionspaket), das ein Embargo auf Rohöl und gewisse Erdölerzeugnisse aus Russland umfasste. Nebst dem Kauf wurden auch die Einfuhr, Durchfuhr und der Transport in und durch die Schweiz untersagt. Auch die Erbringung entsprechender Dienstleistungen, darunter Versicherungs- und Rückversicherungsdienstleistungen für den Erdöltransport, waren damit nicht mehr erlaubt. Im Finanzbereich wurden diverse Dienstleistungen für die russische Regierung oder für in Russland niedergelassene juristische Personen und Organisationen verboten. Auch ein Werbeverbot, das Medien wie Russie Today oder Sputnik betraf, war im Sanktionsbündel enthalten. Das WBF habe die notwendigen Massnahmen getroffen, um die EU-Sanktionen in Schweizer Recht zu überführen, so die Regierung in ihrer Medienmitteilung. Das WBF habe zudem weitere russische und belarussische Personen und Organisationen auf die Sanktionsliste gesetzt und den Ausschluss von vier russischen und belarussischen Banken aus dem Nachrichtensystem SWIFT bewilligt. Auch die Liste der mit einem Ausfuhrverbot belegten Militär- und Technologiegüter wurde ergänzt.

Über einen Monat später, Anfang August, sah sich die Landesregierung angesichts der «anhaltenden russischen Militäraggression» gezwungen, weitere EU-Sanktionen gegen Russland («Paket zur Aufrechterhaltung und Anpassung») zu verabschieden, deren Umsetzung sie zeitlich oder materiell für dringlich befunden hatte. Es handelte sich hierbei primär um das Verbot, Gold und Golderzeugnisse aus Russland zu kaufen, einzuführen oder zu transportieren, wobei auch Dienstleistungen im Kontext dieser Güter verboten wurden. Um zur Bekämpfung der weltweiten Ernährungs- und Energiekrisen beizutragen, führte der Bundesrat einige Ausnahmebestimmungen ein, unter anderem richteten sich die Verbote nicht gegen Transaktionen im Zusammenhang mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen und der Lieferung von Öl in Drittländer. Ende August übernahm die Schweiz dann auch die technischen Massnahmen des gleichen Sanktionspakets, unter anderem das Verbot, Einlagen entgegenzunehmen, oder Verbote im Zusammenhang mit Ratingdiensten. Auch die Vergabe von öffentlichen Aufträgen an russische Staatsangehörige und in Russland niedergelassene Organisationen wurden übernommen, nachdem der Bundesrat zuvor behördliche Abklärungen zu dieser Frage in Auftrag gegeben hatte.

Da die EU ihr Visumserleichterungsabkommen mit Russland Anfang September vollständig suspendierte, tat ihr dies die Schweiz wenige Wochen später gleich. Damit setzte sie das seit 2009 bestehende Abkommen vorübergehend ausser Kraft, russische Staatsangehörige konnten jedoch weiterhin über das ordentliche Visaverfahren ein Visum beantragen. Bereits im Frühling 2022 hatte die Schweiz Visaerleichterungen für gewisse Personengruppen, unter anderem russische Diplomatinnen und Diplomaten, aufgehoben.

Ende September verkündete der russische Präsident Wladimir Putin die Annexion der von Russland teilweise besetzten Gebiete der Ukraine. Der Bundesrat verurteilte diesen Schritt als «schwerwiegende Verletzung des Völkerrechts» und anerkannte diese Aneignung nicht. Er rief Russland dazu auf, das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte einzuhalten und einen raschen und ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe auf dem gesamten ukrainischen und dem von Russland besetzten Territorium zu gewährleisten, da der bevorstehende Winter humanitäre Hilfe für die Bevölkerung notwendig mache. In Zusammenhang mit der russischen Annexion hiess das WBF Mitte Oktober die Sanktionierung von 30 weiteren russischen Personen und Organisationen gut. Betroffen waren vor allem Personen, die in die von Russland organisierten Referenden in ukrainischen Regionen involviert waren. Damit stimmte die Schweizer Sanktionsliste zu diesem Zeitpunkt mit derjenigen der EU überein.

Obwohl die EU ihr achtes Sanktionspaket bereits Anfang Oktober 2022 verabschiedet hatte, zog die Schweiz erst Ende November des gleichen Jahres vollständig nach. Mit diesem Paket schuf die Schweiz eine Rechtsgrundlage für die Einführung von Preisobergrenzen für russisches Rohöl und Erdölprodukte sowie für Einschränkungen für weitere Eisen- und Stahlprodukte, Luft- und Raumfahrtgüter und weitere wirtschaftlich bedeutende Güter. Zudem wurde die Erbringung von Dienstleistungen in den Bereichen IT, Architektur, Rechtsberatung, Ingenieurwesen an die russische Regierung oder an russische Unternehmen verboten. Nebst den Massnahmen des achten Sanktionspakets erliess der Bundesrat ein Rüstungsgüterembargo gegen Russland, welches aufgrund der Schweizer Neutralität in Teilen auch auf die Ukraine anwendbar war.

Kurz vor Jahresende kündigte der Bundesrat Mitte Dezember erneut die Übernahme eines Sanktionspakets der EU an, wobei dieses vor allem Anpassungen in Bezug auf die Preisobergrenze für Rohöl und Erdölerzeugnisse mit sich brachte – die entsprechenden Bestimmungen stimmten nun mit derjenigen der EU überein. Eine Woche zuvor hatte das WBF bereits die rechtlichen Grundlagen für die Umsetzung ins Schweizer Recht geschaffen und weitere Personen den Schweizer Finanzsanktionen unterstellt.

Die Schweiz übernimmt die EU-Sanktionen gegen Russland
Dossier: Schweizer Reaktion auf die russischen Aggressionen in der Ukraine (ab 2014)
Dossier: Die Schweizer Neutralität

In der Wintersession 2022 wurden die Reform des Visa-Informationssystems VIS und die Änderung des AIG im Ständerat behandelt. Mathias Zopfi (gp, GL) vertrat die Position der SPK-SR und klärte die kleine Kammer über die Vorzüge des Visa-Informationssystems auf. Die Vernetzung aller Konsulate der Schengen-Staaten ermögliche den Abgleich von Daten zwischen den Visumbehörden, den Grenzkontrollbehörden und den Migrationsbehörden. Die Anpassungen seien vor allem technischer Natur und dienten der Interoperabilität zwischen dem VIS und anderen Informationssystemen, so Zopfi. Die Kommission habe sich auch mit den Bedenken der Minderheit Molina (sp, ZH) aus dem Nationalrat zur Weitergabe von Daten an Drittstaaten auseinandergesetzt. Zopfi berichtete, dass die Verwaltung der Kommission versichert habe, dass sämtliche Datenabfragen an das SEM weitergeleitet werden müssen und bei einem laufenden Asylverfahren keine Auskunft erteilt werde. Auch die zweite Vorlage zur Änderung des AIG beantragte Zopfi im Namen der Kommission zur Annahme. Bundesrätin Karin Keller-Sutter äusserte sich ebenfalls zur Minderheit Molina und ergänzte, dass bei der Datenübermittlung aus dem VIS die Datenschutzregelungen der Schweiz und der entsprechenden EU-Verordnung sowie die Regeln der internationalen Polizeikooperation eingehalten werden müssten. Der Ständerat nahm in der Folge beide Vorlagen einstimmig an.
In der Schlussabstimmung nahm der Nationalrat den Bundesbeschluss zur Reform des Visa-Informationssystems mit 153 zu 9 Stimmen (bei 34 Enthaltungen) an und das Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration mit 157 zu 4 Stimmen (bei 35 Enthaltungen). Die Grünen enthielten sich im Nationalrat geschlossen ihrer Stimme, genauso wie einige Mitglieder der SP. Der Ständerat nahm beide Vorlagen auch in der Schlussabstimmung einstimmig an.

Reform des Visa-Informationssystems VIS und Änderung des AIG

Ende Oktober 2022 kündigte das EDA eine Auslandreise von Bundespräsident Cassis nach Rumänien an, in deren Rahmen er sich mit dem rumänischen Präsidenten Klaus Werner Iohannis, Premierminister Nicolae Ciuca und mehreren Parlamentsmitgliedern hätte treffen sollen. Dieser für Anfang November vorgesehene Besuch wurde kurz darauf jedoch aus terminlichen Gründen auf Dezember verlegt. Erst am 12. Dezember reiste Cassis begleitet von den Nationalrätinnen und Nationalräten Roduit (mitte, VS), Page (svp, FR), Walder (gp, GE) und Weber (glp, VD) – allesamt Mitglieder der parlamentarischen Freundschaftsgruppe Schweiz-Rumänien – nach Bukarest. Die beiden Delegationen tauschten sich über den Krieg in der Ukraine, die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU und die verstärkte Partnerschaft mit Rumänien durch den zweiten Schweizer Beitrag im Rahmen der Kohäsionszahlung aus. Gemeinsam mit dem rumänischen Finanzminister Adrian Câciu unterzeichnete Cassis anschliessend das Abkommen über die Umsetzung des zweiten Schweizer Beitrags.

Reise von Bundespräsident Cassis nach Rumänien
Dossier: Staatsbesuche im Ausland 2022

Am 29. und 30. November 2022 reiste der italienische Präsident Sergio Mattarella für einen offiziellen Staatsbesuch in die Schweiz. Er wurde von Bundespräsident Cassis, den Bundesrätinnen Amherd und Sommaruga sowie von Bundesrat Parmelin in Bern empfangen. In der Folge führte er am ersten Besuchstag bilaterale Gespräche mit der Schweizer Delegation. Unter anderem wurde diskutiert, wie die Kooperation in den Bereichen Energie, Innovation, Forschung und in den wirtschaftlichen Beziehungen in Zukunft vertieft werden könnte. Laut Medienmitteilung seien auch die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU zur Sprache gekommen, zudem habe der Bundesrat dargelegt, wie man diese aus Sicht der Schweiz weiterentwickeln wolle. Weitere Themen seien die Zusammenarbeit bei Migrationsfragen innerhalb Europas und die Sicherheitslage aufgrund des Kriegs in der Ukraine gewesen. Am zweiten Besuchstag reisten Mattarella und Cassis an die ETH in Zürich, um sich über Innovation und Unternehmertum auszutauschen.

Staatsbesuch von Italiens Präsident Sergio Mattarella
Dossier: Staatsbesuche und öffentliche Besuche in der Schweiz seit 1990

Ende November 2022 wurden Bundespräsident Cassis und seine Gattin Paola Rodoni Cassis in Belgien von König Philippe und Königin Mathilde zu einem zweitägigen Staatsbesuch empfangen. In seiner Rede betonte Cassis die Gemeinsamkeiten der beiden Länder, insbesondere die Mehrsprachigkeit und den Föderalismus, sowie die damit einhergehenden Herausforderungen.
Der Bundespräsident traf sich am ersten Besuchstag auch mit seinem belgischen Pendant, Premierminister Alexander De Croo zu einem offiziellen Gespräch, bei dem sich die beiden über die bilateralen Beziehungen ihrer Länder in wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Hinsicht, den Krieg in der Ukraine, die europäische Energieversorgung und die Sicherheitslage Europas unterhielten. Darüber hinaus drehte sich das Gespräch um die Schweizer Europapolitik und die thematischen Schwerpunkte des Schweizer Einsitzes im UNO-Sicherheitsrat. Auch die Themen Bildung, Forschung und direkte Demokratie wurden abgedeckt. Danach tauschte sich Cassis mit den Präsidentinnen der beiden Kammern des belgischen Parlaments und mit dem Bürgermeister von Brüssel aus. Am zweiten Tag des Staatsbesuchs reiste die Schweizer Delegation in den französischsprachigen Landesteil Wallonien.

Bundespräsident Cassis in Belgien
Dossier: Staatsbesuche im Ausland 2022

Im Juni 2022 reichte die APK-NR eine Motion ein, mit der sie sich für sozialpartnerschaftliche Lösungen im EU-Dossier einsetzte. Sie wollte den Bundesrat damit beauftragen, im EU-Dossier mit den Sozialpartnern eine tragfähige Einigung zu finden, wie den Schweizer Anliegen beim Lohnschutz und beim Schutz der Sozialwerke Rechnung getragen werden kann. Zudem sollte der Bundesrat dem Parlament regelmässig Bericht über die Entwicklungen der Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern erstatten und Schutzklauseln in den zentralen Fragen der Personenfreizügigkeit – insbesondere den flankierenden Massnahmen – mit der EU prüfen und diese dem Parlament vorlegen. Die Kommissionsmehrheit sah den Hauptgrund für den Abbruch der Verhandlungen über ein Rahmenabkommen in der «einseitigen Aufkündigung der sozialpartnerschaftlichen Rahmenbedingungen und Verpflichtungen in der Europapolitik [...] durch den Bundesrat», indem sich dieser entschied, das Verhandlungsergebnis zum institutionellen Rahmenabkommen aufgrund offener Punkte bei den flankierenden Massnahmen und der Unionsbürgerrichtlinie vorerst nicht zu paraphieren. Nun müsse der sozialpartnerschaftliche Konsens wiederhergestellt werden, bevor eine breite inländische Abstützung für weitere Schritte hin zu einem guten bilateralen Verhältnis hergestellt werden könne, so die APK-NR. Es brauche ein «inländisches Commitment» zwischen Sozialpartnern und jenen Parteien, die an einer Weiterführung des institutionellen Verhältnisses mit der EU interessiert seien, damit der Schutz der Löhne und des Sozialsystems in künftigen Abkommen gesichert seien. Eine Kommissionsminderheit Portmann (fdp, LU) beantragte die Ablehnung der Motion.

In seiner Stellungnahme anerkannte der Bundesrat zwar die Bedeutung der Sozialpartner in der Europapolitik, hielt jedoch entgegen, dass er deren Anliegen bereits bei den Verhandlungen über das InstA Rechnung getragen habe. Sie seien auch in allen Verhandlungsschritten involviert gewesen, unter anderem bei der 2019 durchgeführten Konsultation. Ab Mitte 2019 habe man die Sozialpartner zudem bei der Lösungssuche in den drei noch offenen Punkten miteinbezogen. Auch nach dem Abbruch der Verhandlungen seien ihre Positionen berücksichtigt worden, zuletzt bei einem Austausch mit Bundesrätin Keller-Sutter und Bundesrat Parmelin im Mai 2022.
Zur zweiten Forderung – der Information des Parlaments – erklärte der Bundesrat, dass die aussenpolitischen Kommissionen laufend über europapolitische Aktualitäten informiert und gegebenenfalls sogar konsultiert würden. Eine regelmässige Berichterstattung im Parlament würde jedoch die Schweizer Verhandlungspositionen offenlegen und damit die Verhandlungsposition der Schweiz schwächen. Zusätzliche Schutzklauseln seien nicht nötig, da die Schweiz bereits jetzt für den Fall von «schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Störungen» temporär vom FZA abweichende Massnahmen ergreifen könne, sofern die EU damit einverstanden sei. Der Bundesrat beantragte dementsprechend die Ablehnung der Motion.

In der Herbstsession 2022 befasste sich der Nationalrat mit der Motion seiner aussenpolitischen Kommission. Gerhard Pfister (mitte, ZG) erklärte im Namen der APK-NR, dass ein europapolitischer Konsens zwischen Sozialpartnern und Parteien der Grundstein für eine glaubwürdige und verbindliche Verhandlungsposition der Schweiz darstelle. Nur so könne eine erarbeitete Lösung auch einem allfälligen Referendum standhalten. Hans-Peter Portmann (fdp, ZH) forderte den Nationalrat im Namen seiner Minderheit hingegen auf, den Kommissionsvorstoss abzulehnen. Er resümierte, dass die Arbeitgeberschaft zu Konzessionen bereit sei, während die Gewerkschaften nicht von ihrer Maximalforderung abrückten, den gesamten Personenfreizügigkeitskreis von der Streitschlichtung auszunehmen. Er warb daher dafür, dass man auch ohne Gewerkschaften eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung für gute flankierende Massnahmen gewinnen könne. Bundesrat Parmelin stellte zu Beginn seiner Stellungnahme klar, dass die Einbeziehung aller relevanten Interessengruppen in der Europapolitik grosses Gewicht besässe. Die im Motionstext erwähnte Aufkündigung der sozialpartnerschaftlichen Rahmenbedingungen sei denn auch nicht einseitig gewesen. Er versprach, dass der Gesamtbundesrat den Dialog mit den Sozialpartnern im Hinblick auf die zukünftigen Verhandlungen mit der EU fortführen werde, und beantragte die Ablehnung der Motion. Die grosse Kammer nahm diese mit 104 zu 80 Stimmen (bei 2 Enthaltungen) gegen der Willen der SVP- und der FDP.Liberalen-Fraktion jedoch an.

Sozialpartnerschaftliche Lösungen im EU-Dossier (Mo. 22.3871)

In der Herbstsession 2022 behandelte der Nationalrat ein Postulat seiner aussenpolitischen Kommission, welches sich mit den «Unterschiede[n] zwischen dem Schweizer und dem EU-Recht im Bereich des Arbeitnehmerschutzes» beschäftigte. Die APK-NR verlangte vom Bundesrat einen Bericht, in dem dieser aufzeigen sollte, welche Anpassungen nötig wären, um das Schweizer Recht im Bereich des Arbeitnehmendenschutzes demjenigen der EU anzugleichen. Ausserdem sollte der Bericht aufzeigen, ob eine derartige Angleichung den Arbeitnehmendenschutz verbessern oder verschlechtern würde. Kommissionssprecher Molina (sp, ZH) erklärte, dass der Bundesrat nach dem Abbruch der Verhandlungen über das Rahmenabkommen autonome Anpassungen des nationalen Rechts an dasjenige der EU geprüft habe, sich dabei aber auf die fünf vom damaligen InstA betroffenen Marktzugangsabkommen beschränkt habe. Die APK-NR wolle jedoch diese Untersuchungen auf weitere Bereiche ausweiten. Seine Kommissionskollegin Bulliard-Marbach (mitte, FR) fügte an, dass das Parlament eine gute Entscheidungsgrundlage für die anstehenden Verhandlungen mit der EU benötige und die Themen Personenfreizügigkeit und Arbeitnehmendenschutz im Mittelpunkt der Diskussionen stehen dürften. Eine Kommissionsminderheit Portmann (fdp, ZH) beantragte der grossen Kammer, den Vorstoss abzulehnen. Portmann vertrat die Ansicht, dass der Sozialbereich nicht Teil der Binnenmarktabkommen mit der EU sei und die Schweiz zurzeit eine liberale Regulierung des Arbeitsmarktes praktiziere. Eine derartige Analyse sei dementsprechend nicht relevant. Der Minderheitssprecher bezeichnete das Postulat als «Frontalangriff auf unseren noch halbwegs liberalen Arbeitsmarkt» und fürchtete sich vor einem «sozialistischen Arbeitsmarkt». Auch der Bundesrat zweifelte den Nutzen des Postulates an, da eine derartige Analyse lückenhaft ausfallen würde. Bundesrat Guy Parmelin wies darauf hin, dass das Schweizer System auf einer starken Sozialpartnerschaft und einem gemeinsamen Dialog mit allen Anspruchsgruppen beruhe, mithilfe derer man spezifische Branchenlösungen suche. Man beobachte die Entwicklungen im EU-Recht aufmerksam und berücksichtige diese, sofern sie zur Erreichung der Schweizer Ziele beitragen. Der Nationalrat stimmte schliesslich mit 90 zu 90 Stimmen (bei 1 Enthaltung) nach Stichentscheid von Nationalratspräsidentin Irène Kälin (gp, AG) für die Annahme des Postulats. SP, Grüne und Grünliberale stimmten dafür, SVP und FDP dagegen, die Mitte zeigte sich gespalten.

Unterschiede zwischen dem Schweizer und dem EU-Recht im Bereich des Arbeitnehmerschutzes

Der Bundesrat verabschiedete im Mai 2022 seine Botschaft zur Reform des Visa-Informationssystems VIS und zur Änderung des AIG im Rahmen der Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands. Das VIS wurde 2011 implementiert und erleichtert die Visumverfahren für einen kurzfristigen Aufenthalt im Schengenraum. Es ermöglicht den Visum-, Grenz-, Asyl- und Migrationsbehörden innert kürzester Zeit die notwendigen Informationen (u.a. Gesichtsbild, Fingerabdrücke) über visumpflichtige Drittstaatsangehörige zu überprüfen. Die Botschaft zum überarbeiteten Visa-Informationssystem beruht auf zwei neuen EU-Verordnungen, welche die Schweiz übernehmen muss, da sie eine Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands darstellen. Der Bundesrat erklärte in der Botschaft, dass die Änderungen grundsätzlich technischer Art seien und die Zuständigkeiten des VIS nur in begrenzter Weise erweitert werden sollen. Die vorgesehenen Änderungen umfassen die Herabsetzung des Alters für die Abnahme von Fingerabdrücken bei Kindern von zwölf auf sechs Jahre und die Befreiung von dieser Verpflichtung für Personen über 75 Jahre; die Aufnahme von Visa und Aufenthaltstitel für den längerfristigen Aufenthalt ins VIS; die Erweiterung des VIS-Zwecks für die Rückkehr von Personen, welche die Einreisevoraussetzungen des Schengen-Raums nicht erfüllen; die Aufnahme von Kopien der Reisedokumente von Gesuchstellenden in das VIS; die Anpassung des Zugangs zu VIS-Daten für Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungsbehörden sowie Europol; die Erfassung von Gesichtsbildern vor Ort; den Zugang für Beförderungsunternehmen zur Überprüfung von Visa und Aufenthaltstiteln sowie den Ausbau diverser technischer Komponenten. Diese Neuerungen machten wiederum die Anpassung des AIG, des BGIAA und des BPI notwendig.
Eine zweite Vorlage, welche die Botschaft behandelte, betraf eine von der Schengen-Weiterentwicklung losgelöste Anpassung des AIG auf Antrag des BAZG. Zwar verfüge das Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit für die Aufgabenerfüllung als Grenzkontrollbehörde bereits über die notwendigen Zugriffe auf die Datenbanken, nicht jedoch zur Erfüllung seiner Aufgaben als Strafverfolgungsbehörde. Das BAZG habe bereits bei der Errichtung eines Rahmens für die Interoperabilität zwischen den verschiedenen EU-Informationssystemen um Zugriff auf den «Gemeinsamen Speicher für Identitätsdaten (CIR)» und Zugang zu den Daten von EES, ETIAS und VIS gebeten. Das BAZG wollte diese Datenbanken zur Verhütung, Aufdeckung oder Ermittlung terroristischer oder sonstiger Straftaten nutzen. Diese Regelung habe man damals jedoch nicht umgesetzt, da die entsprechende Vernehmlassung bereits abgeschlossen gewesen sei und man mehr Zeit für die Klärung rechtlicher Details benötigt habe, erklärte der Bundesrat. Da das BAZG jedoch einen gesetzlichen Auftrag im Bereich der Verhütung von terroristischen Straftaten habe, und es diese ohne die beschriebenen Zugänge nicht erfüllen könne, wolle man dessen Zugriffsrechte in der vorliegenden Änderungsverordnung zum VIS erweitern. Der Bundesrat argumentierte, dass man dem BAZG den Zugriff – wie auch bei anderen eidgenössischen kantonalen und kommunalen Strafverfolgungsbehörden – erlauben müsse, um eine Lücke in der inneren Sicherheit der Schweiz zu schliessen. Er versicherte auch, dass die Kompetenzen des BAZG dadurch nicht erweitert würden.
Die Vernehmlassung habe mehrheitlich positive Stellungnahmen zu beiden Vorlagen mit sich gebracht. Während die Reform des Visa-Informationssystems unbestritten war, habe sich nur die KKJPD wirklich kritisch zur Änderung des AIG geäussert. Die KKJPD kritisierte die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen, da polizeiliche Aufgaben – sofern nicht explizit dem Bund zugeordnet – in der Kompetenz der Kantone lägen. Die KKJPD verlangte daher eine vorgängige Kompetenzklärung im Rahmen der Totalrevision des Zollgesetzes, bevor man die Zugriffsrechte des BAZG durch die Änderung des AIG erweitere.

Der Nationalrat behandelte das Geschäft in der Herbstsession 2022 zusammen mit einem Geschäft zur Festlegung der Bedingungen für den Zugang zu anderen EU-Informationssystemen (BRG 22.019). Eine Minderheit Molina (sp, ZH) forderte Schutzbestimmungen bei der Weitergabe von Personendaten an Drittstaaten und internationale Organisationen. Molina erklärte, dass die Vorlage es ermögliche, dass das SEM oder das Fedpol Personendaten unter gewissen Umständen an Drittstaaten ausserhalb des Schengen-Raums weitergeben können. Eine solche Weitergabe dürfe aber nur stattfinden, wenn garantiert werden könne, dass die betroffene Person dadurch keine «ungerechtfertigte Verletzung ihrer Grundrechte erleidet». Gerhard Pfister (mitte, ZG) – Kommissionssprecher der SPK-NR – verwies auf die bestehende Informationslücke im Bereich der Visa, die zu einem längerfristigen Aufenthalt im Schengen-Raum berechtigen, der geschlossen werden müsse. Zum Antrag der Minderheit merkte Pfister an, dass die Kommission von der Verwaltung eine Stellungnahme verlangt habe. Daraus gehe hervor, dass die Behörden Daten zur Identität und zu den Reisedokumenten nur unter engen Auflagen an Drittstaaten weitergeben könnten, wobei keine Kontrolle durch die nationalen Migrationsbehörden vorgesehen sei. Eine zusätzliche Kontrolle durch das SEM könne in dringenden Fällen zu einem Zeitverlust führen. Die Fraktion der Grünen unterstützte die Minderheit Molina, wie deren Sprecherin Natalie Imboden (gp, BE) bekannt gab. Sie ergänzte, dass sich ihre Fraktion in der Gesamtabstimmung ihrer Stimmen enthalten werde, um darauf hinzuweisen, dass den grundrechtlichen Fragen in der Vorlage mehr Gewicht zukommen müsse. FDP-Fraktionssprecher Cottier (fdp, NE) hingegen kritisierte Molina dafür, dass dieser einen Zeitverlust in Fällen von aussergewöhnlicher Dringlichkeit, bei denen eine unmittelbare Gefahr im Zusammenhang mit terroristischen Aktivitäten oder schweren Straftaten bestehe, in Kauf nehme. Ähnlich argumentierte die SVP-Fraktion, während die GLP- und die Mitte-Fraktionen auf ein Votum verzichteten. Die anwesende Bundesrätin Karin Keller-Sutter merkte zum Minderheitsantrag an, dass die Daten nur bei der Feststellung der Identität von rückkehrpflichtigen Drittstaatsangehörigen oder bei der Gewährung von Asyl für Flüchtlingsgruppen übermittelt werden sollten. Die Rechte dieser Personen dürfen – gemäss EU-Recht und nationalem Recht – nicht beeinträchtigt werden, insbesondere nicht das Non-Refoulement-Gebot. Auch müsse sich der Drittstaat oder die internationale Organisation verpflichten, die Daten nur für die angegebenen Zwecke zu verwenden, und einen Datenschutz gewährleisten, der demjenigen der Schweiz entspreche.
Die grosse Kammer lehnte die Minderheit Molina mit 120 zu 63 Stimmen ab und nahm den Bundesbeschluss zur Reform des Visa-Informationssystems in der Gesamtabstimmung mit 146 zu 7 Stimmen (bei 31 Enthaltungen) an. Die Änderung des AIG nahm der Nationalrat mit 144 zu 4 Stimmen (bei 35 Enthaltungen) ebenfalls deutlich an. Der Enthaltung der Grünen schlossen sich einige Mitglieder der SP und der SVP an.

Reform des Visa-Informationssystems VIS und Änderung des AIG

Der Bundesrat publizierte im Mai 2022 die Botschaft zur Übernahme zweier EU-Verordnungen zur Festlegung der Bedingungen für den Zugang zu anderen EU-Informationssystemen für die Zwecke des ETIAS sowie zur Änderung des Ausländer- und Integrationsgesetzes.
Wie der Bundesrat in seiner Botschaft vermerkte, hatte das Parlament der Übernahme der EU-Verordnung, die ETIAS etablierte, bereits im September 2020 zugestimmt (BRG 20.027). Bei der vorliegenden Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstandes ging es nun darum, die Interoperabilität des ETIAS-Systems mit anderen EU-Informationssystemen (wie etwa SIS) zu gewährleisten. Mit der Interoperabilität solle der Datenaustausch unter diesen Systemen ermöglicht werden und vorhandene Informationen effizienter und gezielter genutzt werden. Der Bundesrat beantragte auch eine Änderung des AIG: Der Abteilung «Biometrische Identifikation» des Fedpol soll es erlaubt werden, die Ergebnisse von Suchanfragen manuell nachzuprüfen, wenn diese einen Treffer in den Schengen/Dublin-Informationssystemen ergeben haben.

Der Nationalrat befasste sich in der Herbstsession 2022 mit dem Geschäft. Die Sprechenden der SPK-NR, Tiana Moser (glp, ZH) und Damien Cottier (fdp, NE), stellten den Entwurf vor. Demnach handelt es sich bei ETIAS um ein System zur Ausstellung von Reisegenehmigungen für Drittstaatenangehörige ohne Visumspflicht, wobei die Prüfung, ob eine Person eine Einreisebewilligung erhält, weitgehend automatisch abläuft. Komme es zu einer Unregelmässigkeit, dann erfolge in den entsprechenden Schengen-Mitgliedstaaten eine manuelle Prüfung der Einreisebewilligung. Das Bundesverwaltungsgericht werde eine Plattform zur Verfügung stellen, über die Beschwerden bei einer mutmasslichen Fehlbeurteilung der Reisegenehmigung eingereicht werden können. Das Ziel dieser Weiterentwicklung des ETIAS-Systems bestehe darin, die Sicherheit, insbesondere in den Bereichen Bekämpfung des Terrorismus und Verhinderung schwerer Straftaten, zu stärken. Minderheitsanträge wurden keine gestellt und die meisten Fraktionen äusserten sich überwiegend positiv. Jedoch meldete Natalie Imboden (gp, BE) seitens der Grünen-Fraktion gewisse datenschützerische Bedenken an und bat Justizministerin Karin Keller-Sutter, den «datenschützerischen Aspekten in den weiteren Umsetzungsarbeiten genügend Beachtung zu schenken». Der Nationalrat nahm die Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstandes mit 134 Stimmen zu 10 Stimmen (33 Enthaltungen) an. Die ablehnenden Stimmen stammten von Mitgliedern der SVP-Fraktion, die Enthaltungen von der Grünen-Fraktion. Die zweite Vorlage, die Änderung des AIG, nahm der Nationalrat mit 145 zu 3 Stimmen bei 33 Enthaltungen an.

Die kleine Kammer behandelte die Vorlage in der Wintersession 2022. Dort stellten Kommissionssprecher Mathias Zopfi (gp, GL) und Justizministerin Keller-Sutter das Geschäft vor, wobei eine eigentliche Debatte ausblieb: Eintreten wurde ohne Gegenantrag beschlossen und beide Vorlagen wurden einstimmig angenommen.

In den Schlussabstimmungen am Ende der Wintersession 2022 zeigte sich wiederum ein ähnliches Stimmverhalten: Während sich die Grünen der Stimmen enthielten, votierte eine grosse Mehrheit des Nationalrates klar für die beiden Vorlagen (155 zu 9 Stimmen bei 32 Enthaltungen / 164 zu 0 Stimmen bei 32 Enthaltungen). Im Ständerat wurden die beiden Vorlagen jeweils einstimmig angenommen (44 zu 0 Stimmen für die beiden Vorlagen).

Festlegung der Bedingungen für den Zugang zu anderen EU-Informationssystemen (ETIAS; BRG. 22.019)
Dossier: Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands, Errichtung von IT-Grosssystemen

In der Herbstsession 2022 beriet der Ständerat über die parlamentarische Initiative Molina (sp, ZH) zur Einführung einer Rechtsgrundlage für gezielte Sanktionen bei schweren Menschenrechtsverletzungen und Korruption durch hochrangige Politiker und Politikerinnen. Damian Müller (fdp, LU) erläuterte der kleinen Kammer die Geschichte des Geschäfts, dem von der APK-NR im Januar 2021 Folge gegeben worden war. Die APK-SR hatte der Initiative zwar im April 2021 nicht zugestimmt, da die APK-NR aber daran festgehalten hatte und der Nationalrat die Initiative in der Folge ebenfalls angenommen hatte, musste sich die APK-SR erneut damit befassen. Kommissionssprecher Müller erklärte, dass die Kommission die Differenzbereinigung beim Embargogesetz habe abwarten wollen und daher die Beratung des Geschäfts verschoben hatte. Da man bei der Beratung des Embargogesetzes verneint habe, eine Rechtsgrundlage für eigenständige Sanktionen schaffen zu wollen, mache es in den Augen der Kommissionsmehrheit auch keinen Sinn, der Initiative Folge zu geben. Eine Minderheit Jositsch (sp, ZH) beantragte dem Rat dennoch, der Initiative Folge zu geben, da durch die persönliche Sanktionierung einzelner hochrangiger Personen negative Konsequenzen für die Zivilbevölkerung vermieden werden könnten. Jositsch erklärte, dass die Initiative – wie der ähnlich ausgestaltete Minderheitsantrag Sommaruga (sp, GE) zum Embargogesetz – eine Ombudsstelle zur Wahrung der rechtsstaatlichen Prinzipien vorsehe. Er erwarte jedoch nicht, dass dies den Ständerat umstimmen würde. Damit behielt er Recht und der Ständerat gab der Initiative mit 28 zu 13 Stimmen keine Folge, womit das Geschäft erledigt war.

Einführung einer Rechtsgrundlage für gezielte Sanktionen bei schweren Menschenrechtsverletzungen und Korruption durch hochrangige Politiker und Politikerinnen (Pa.Iv. 19.501)

Im November 2021 hatte der Bundesrat die Unterzeichnung des MoU zum zweiten Schweizer Beitrag an ausgewählte EU-Mitgliedstaaten genehmigt. Zu diesem Zeitpunkt hatte er jedoch beschlossen, mit der Unterzeichnung noch abzuwarten, bis die EU ihre internen Genehmigungsverfahren abgeschlossen hat, was im April 2022 schliesslich der Fall war. Staatssekretärin Livia Leu unterzeichnete das MoU Ende Juni 2022 anlässlich weiterer Sondierungsgespräche zwischen der Schweiz und der EU zum neuen Verhandlungsansatz des Bundesrats. Das MoU lege die wichtigsten Eckwerte der zweiten Schweizer Kohäsionszahlung fest, darunter deren Höhe, die Aufteilung auf die Partnerländer, sowie die thematischen Prioritäten. Es diene als Referenz für die Verhandlungen mit den Partnerländern über die bilateralen Umsetzungsabkommen, welche noch im Jahr 2022 abgeschlossen werden sollen, teilte das EDA in einer Pressemitteilung mit. Das EDA wertete die Unterzeichnung als wichtigen Schritt und als Beleg, dass die Schweiz weiterhin eine zuverlässige Partnerin sei. Die EU sehe darin hingegen nur den erwarteten Beitrag der Schweiz für die Teilnahme am europäischen Binnenmarkt, berichtete 24heures.

Bundesrat genehmigt MoU mit der EU bezüglich des zweiten Schweizer Beitrags an ausgewählte EU-Mitgliedstaaten
Dossier: Schweizer Beitrag an die erweiterte EU

Im März 2022 forderte Vincent Maitre (mitte, GE) den Bundesrat mittels eines Postulats dazu auf, in seinem angekündigten Bericht zur Europapolitik eine Einschätzung der Wichtigkeit des bilateralen Wegs für die Grenzkantone vorzunehmen. Nebst einer Analyse des Beitrags der Bilateralen zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Grenzkantone solle der Bericht Risiken aufzeigen, die eine Schwächung der bilateralen Verträge für die Grenzkantone mit sich bringen würde. Als mögliche Faktoren nannte Maitre die Nichterneuerung des Freizügigkeitsabkommens; die teilweise Nichterneuerung des Abkommens über den Abbau technischer Handelshemmnisse; den Ausschluss der Schweiz aus dem Programm Horizon Europe für Forschungsprojekte; und schliesslich eine Behinderung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Gesundheit. Der Bundesrat beantragte die Annahme des Postulats und erklärte, dass er dessen Anliegen in seinem Bericht über die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU berücksichtigen wolle. Er sei sich der Bedeutung der Bilateralen für die Grenzkanton bewusst. Diese könne in dem Bericht zwar mittels Beispielen abgebildet, aber keinesfalls abschliessend bestimmt werden. So sei eine Quantifizierung des isolierten Effekts der Nichtaktualisierung einzelner bilateraler Verträge «nur begrenzt möglich». In der Sommersession 2022 nahm der Nationalrat das Postulat stillschweigend an.

Die Wichtigkeit des bilateralen Wegs für die Grenzkantone einschätzen

In der Sommersession 2022 beriet der Nationalrat über die Motion Minder (parteilos, SH), die die Erarbeitung einer Strategie für eine nachhaltige Zusammenarbeit Schweiz-EU verlangte. Die APK-NR sei zum Schluss gekommen, dass nach dem Abbruch der Verhandlungen über das Rahmenabkommen eine klare mittel- und langfristige Strategie nötig sei, erklärte deren Sprecherin Elisabeth Schneider-Schneiter (mitte, BL). Die Schweiz müsse eine «möglichst weitgehende Beteiligung am EU-Binnenmarkt verbunden mit Kooperationen in ausgewählten Interessenbereichen» unter Bewahrung ihrer politischen Eigenständigkeit anstreben. Für diese Art der Zusammenarbeit habe sich der bilaterale Weg bewährt und solle fortgesetzt werden, empfahl Schneider-Schneiter. Nicolas Walder (gp, GE), ebenfalls Kommissionssprecher, zeigte sich erfreut, dass sich auch Mitglieder der SVP-Fraktion Sorgen über eine fehlende Strategie des Bundesrats gegenüber der EU machten. Walder kritisierte den sektoralen Ansatz, den der Bundesrat präsentiert hatte, der eher der Verzögerung weiterer Verhandlungen zu dienen scheine. Die vorliegende Motion gehe auf mehrere Postulate zurück, die vom Bundesrat allesamt einen Europabericht gefordert hatten, welcher aber noch immer nicht vorliege. Die Kommission habe aufgrund der noch immer fehlenden Strategie daher ohne Gegenstimme den Vorstoss unterstützt und fordere den grossen Rat auf, dies ebenfalls zu tun.
Aussenminister Cassis wandte sich beschwichtigend an den Nationalrat und beteuerte, dass der Bundesrat mit der Erarbeitung des genannten Berichts beschäftigt sei. Er verwies zudem darauf, dass der Bundesrat die Eckwerte, innerhalb derer er die Beziehungen zur EU gestalten wolle, bereits im Februar 2022 definiert habe. Dennoch beantragte er die Annahme der Motion. Da keine anderslautenden Anträge vorlagen, wurde der Vorstoss stillschweigend angenommen.

Parlamentarische Vorstösse in Reaktion auf den Abbruch der Verhandlungen über das institutionelle Rahmenabkommen (Po. 13.3151, Po. 14.4080, Po. 17.4147, Po. 21.3618, Po. 21.3654, Po. 21.3667, Po. 21.3678, Mo. 21.4184, Po. 21.4450, Po. 22.3172, BRG. 23.052)
Dossier: Institutionelles Rahmenabkommen
Dossier: Entwicklung der bilateralen Beziehungen mit der EU nach dem Scheitern des Rahmenabkommens

In der Sommersession 2022 nahm der Nationalrat Kenntnis vom Aussenpolitischen Bericht 2021. APK-NR-Sprecher Hans-Peter Portmann (fdp, ZH) bedankte sich bei Aussenminister Cassis für den «aussagekräftigen Bericht und für die mehrheitlich kohärente Umsetzung der aussenpolitischen Strategie des Bundesrates». In Bezug auf den Abbruch der Verhandlungen über das Rahmenabkommen habe der Bundesrat im Bericht erläutert, dass nur in zwei zentralen Bereichen des Abkommens substanzielle Differenzen – beim Lohnschutz und der Auslegung des Freizügigkeitsabkommens – bestanden hätten, wobei die EU nicht bereit gewesen sei, der Schweiz die nötigen Ausnahmen zu gewähren. Eine Minderheit der Kommission unterstütze den Abbruchsentscheid des Bundesrats, obwohl sie nie zu dieser Entscheidung konsultiert worden sei, teilte Portmann mit. Die Mehrheit der Kommission habe sich sehr kritisch darüber geäussert, dass sich der Bundesrat in seinem Bericht – rund zehn Monate nach Verhandlungsabbruch – nach wie vor optimistisch zeige, dass die Freigabe des geschuldeten Kohäsionsbeitrags und der autonome Nachvollzug von EU-Recht zu einer Stabilisierung der bilateralen Beziehungen führen könnten. Portmann monierte, dass diesen Aussagen eine «totale Fehleinschätzung seitens des Bundesrates zugrunde liegt», der die Erosion der bilateralen Verträge nicht wahrhaben wolle.
Ein weiteres Kapitel des Berichts widmete sich dem Thema «Frieden und Sicherheit». Darin ging es vor allem um das Engagement der Schweiz auf multilateraler Ebene, unter anderem in der UNO. Angesichts der erfolgreichen Wahl in den UNO-Sicherheitsrat wünschten sich verschiedene Kommissionsmitglieder, dass die Schweiz weiterhin an der Reform für eine UNO ohne Vetorecht arbeite und dazu beitrage, eine Vereinigung von mittelgrossen und kleinen Staaten mit ähnlich gelagerten Anliegen und Wertehaltungen zu schaffen, so Portmann. Weitere Minderheiten der APK-NR forderten vom Bundesrat die Unterzeichnung des Atomwaffenverbotsvertrags und eine aktivere Politik im UNO-Menschenrechtsrat. Trotz der durchaus auch kritischen Stimmen beantragte die APK-NR den Bericht einstimmig zur Kenntnisnahme. Denis de la Reussille (pda, NE), ebenfalls Kommissionssprecher, lobte seinerseits den Bericht und hob die Bedeutung der Armutsbekämpfung und des Zugangs zu Wasser in den kommenden Jahren hervor.
Verschiedene Fraktionssprecherinnen und -sprecher drückten anschliessend ihren Unmut über den Abbruch der InstA-Verhandlungen mit der EU und die daraus erwachsenen negativen Konsequenzen in Form von fehlender Teilnahme an wichtigen Kooperationsprogrammen wie Erasmus und Horizon aus. Sie kritisierten auch die fehlenden Bemühungen des Bundesrats, die Beziehungen schnellstmöglich zu verbessern, beispielsweise durch die Aushandlung eines neuen Rahmenabkommens.
Bundesrat Cassis fühlte sich angesichts der insgesamt doch eher positiven Einschätzungen des Berichts in der Wahl eines neuen methodischen Ansatzes innerhalb des EDAs bestätigt, wie er in der Folge erklärte. Dieser neue Ansatz beinhaltete einerseits die engere Kooperation zwischen den sieben Departementen bei der Gestaltung der Aussenpolitik, die er zu Beginn der Legislatur in der Aussenpolitischen Strategie 2020-2023 angekündigt hatte, und andererseits die Entscheidung, den aussenpolitischen Bericht möglichst knapp zu halten. Zur Kritik an der EU-Politik des Bundesrats bezog der Bundespräsident hingegen keine Stellung. Der Nationalrat nahm den Bericht auf Antrag seiner Kommission zur Kenntnis.

Aussenpolitischer Bericht 2021
Dossier: Aussenpolitische Berichte (ab 2009)

In der Sommersession 2022 beschlossen National- und Ständerat die Abschreibung der beinahe identischen Motionen der WAK-NR (Mo. 19.3420) und WAK-SR (Mo. 19.3416) «Zusatzverhandlungen zum institutionellen Abkommen mit der EU». Der Bundesrat hatte die Abschreibung beantragt, da zwar die geforderten Nachverhandlungen zu den Punkten Lohnschutz, Unionsbürgerrichtlinie und staatliche Beihilfen Anfang 2021 geführt worden waren, jedoch keine zufriedenstellenden Lösungen mit sich gebracht hatten. Nach dem Abbruch der Verhandlungen über den Entwurf des InstA, befand der Bundesrat die Motionen für erfüllt.

Négociations complémentaires au sujet de l'accord institutionnel avec l'UE (Mo. 19.3416 et 19.3420)
Dossier: Institutionelles Rahmenabkommen

In der Sommersession 2022 schrieben beide Räte die Motion der WAK-SR über Zusatzverhandlungen zum institutionellen Abkommen mit der EU sowie die inhaltlich ähnliche Motion ihrer Schwesterkommission (Mo. 19.3420) ab. Der Bundesrat hatte die Abschreibung beantragt, da die geforderten Nachverhandlungen zu den Punkten Lohnschutz, Unionsbürgerrichtlinie und staatliche Beihilfen Anfang 2021 zwar geführt worden seien, jedoch keine zufriedenstellenden Lösungen mit sich gebracht hätten. Nach dem Abbruch der Verhandlungen über den Entwurf des InstA befand der Bundesrat die Motion für erfüllt.

Zusatzverhandlungen zum institutionellen Abkommen mit der EU (Mo. 19.3416)
Dossier: Institutionelles Rahmenabkommen

Mittels eines Postulats verlangte Nationalrätin Corina Gredig (glp, ZH) im März 2022, dass der Bundesrat im Zusatzbericht zum Sicherheitspolitischen Bericht 2021 in einer breiten Auslegeordnung prüft, an welchen zusätzlichen europäischen und internationalen Programmen und Kooperationsprojekten die Schweiz teilnehmen könnte. Dabei solle sich der Bundesrat am Verhalten anderer neutraler Staaten in Europa orientieren und aufzeigen, welche Wirkung eine erweiterte Kooperation auf die Sicherheit der Schweiz hätte. Postulantin Gredig argumentierte, dass die Schweiz Trittbrettfahrerin der Sicherheitsbemühungen der EU und der NATO sei. Um ihre eigene sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit zu bewahren, müsse sie ihre multilaterale Zusammenarbeit in sicherheitspolitisch relevanten Organisationen ausbauen.
Der Bundesrat beantragte die Ablehnung des Postulats, da er das Anliegen bereits als erfüllt erachtete. Die internationale Kooperation sei schon seit langem Bestandteil der Schweizer Sicherheitspolitik und sei somit als eines von neun Zielen im Sicherheitspolitischen Bericht 2021 aufgeführt worden. Im Zusatzbericht werde das VBS – in Zusammenarbeit mit dem EDA und dem EJPD – eine Analyse der sicherheitspolitischen Folgen des Kriegs in der Ukraine vornehmen. Dazu gehöre auch eine Einschätzung der Auswirkungen des Kriegs auf die Sicherheitslage in Europa und der Möglichkeit, sicherheitspolitische Kooperationen einzugehen. Zudem habe das EDA angekündigt, im Sommer 2022 einen Bericht zur Neutralität der Schweiz zu veröffentlichen. Diese beiden Berichte würden die im Postulat aufgeführte Forderung abdecken, schloss der Bundesrat.
In der Nationalratsdebatte während der Sommersession 2022 kritisierte Gredig die veraltete Vorstellung «einer sich einsam verteidigenden Igel-Schweiz». Im Angriffsfall müsse man sich mit anderen Staaten verbünden, unter Umständen auch mit der NATO. Derartige Kooperationen solle man jedoch frühzeitig einleiten, die Covid-Pandemie habe gezeigt, dass es beim Eintreten des Ernstfalls zu spät sei. Der Nationalrat nahm das Postulat in der Folge mit 116 zu 45 Stimmen (bei 13 Enthaltungen) an. Nur die SVP-Fraktion stimmte gegen Annahme, während sich einige Mitglieder der Grünen ihrer Stimme enthielten.

Sicherheit durch mehr Kooperation. Verstärkte Mitwirkung der Schweiz bei europäischen und internationalen Sicherheitskooperationen

In der Sommersession 2022 nahm der Nationalrat stillschweigend Kenntnis vom Bericht der Delegation bei der EFTA / dem Europäischen Parlament 2021. Negativer Höhepunkt des Berichtsjahrs sei der Abbruch der Verhandlungen über das institutionelle Rahmenabkommen gewesen, der zu Verwerfungen im bilateralen Verhältnis mit der EU geführt habe, erklärte die Delegation. Da die EU nun die Aktualisierung der bestehenden Marktzugangsabkommen verweigere, käme es zu neuen Handelshemmnissen. Auch die Freigabe der zweiten Kohäsionsmilliarde Ende September habe zu keinerlei Fortschritten bei den Verhandlungen über die Assoziierung an die EU-Programme Horizon Europe, Digital Europe und Erasmus+ geführt. Die Delegation bezeichnete diese Verknüpfung von Marktzugangsabkommen und Kooperationsabkommen vonseiten der EU als «sachfremd und unverständlich», da auch die EU und der gesamteuropäische Wissenschafts- und Innovationsstandort durch den Ausschluss der Schweiz geschädigt würden. Sie kündigte daher im Bericht an, ihre Kontakte auf EU-Ebene nutzen zu wollen, um eine Aufhebung dieser Verknüpfung zu erreichen. Beim Arbeitsbesuch der Delegation in Brüssel im September 2021 tauschte sie sich mit verschiedenen Vertreterinnen und Vertretern der EU über die Zukunft der bilateralen Beziehungen aus. Der Austausch setzte sich im November anlässlich des 40. interparlamentarischen Treffens zwischen der Schweiz und der EU fort, wo sich die Gespräche um den Marktzugang der Schweiz, die Schweizer Beteiligung an den Kooperationsprogrammen der EU, die zweite Kohäsionsmilliarde und die EU-Rechtsetzungsvorhaben «Digital Markets Act» und «Digital Services Act» drehten.
Anderweitig hatte die Delegation aber durchaus auch Positives zu berichten. So präsidierte Eric Nussbaumer (sp, BL) das EFTA-Parlamentarierkomitee. Dessen Treffen hätten aber pandemiebedingt weitgehend online durchgeführt werden müssen, genauso wie die Treffen mit der für die Beziehungen zur Schweiz zuständigen Delegation des Europäischen Parlaments. Im Bereich Handel und Nachhaltigkeit habe die Volksabstimmung über die Ratifizierung des Freihandelsabkommens zwischen den EFTA-Staaten und Indonesien für Diskussionen gesorgt. Das knappe Resultat der Abstimmung habe das Parlamentarierkomitee der EFTA dahingehend interpretiert, dass die Stimmbevölkerung sehr viel Wert auf die Nachhaltigkeit und das Ausmass der Umweltauswirkungen des Handels lege. Daher müssten die EFTA-Staaten in Zukunft vermehrt über die Tragweite von Freihandelsabkommen informieren und aufzeigen, dass dadurch nicht Vorschriften und Schutzvorgaben abgebaut würden. Grundsätzlich versuche die EFTA die Transparenz in allen Phasen der Verhandlungen von Freihandelsabkommen zu erhöhen. Auch das EFTA-Parlamentarierkomitee trage dazu seinen Teil bei, indem es den Entscheiden der EFTA in der Öffentlichkeit zu mehr Akzeptanz verhelfe.

Bericht der Delegation bei der EFTA/Europäisches Parlament 2021

In der Frühjahrssession 2022 beschäftigte sich der Nationalrat mit der parlamentarischen Initiative Molina (sp, ZH) zur Einführung einer Rechtsgrundlage für gezielte Sanktionen bei schweren Menschenrechtsverletzungen und Korruption durch hochrangige Politiker und Politikerinnen. Die APK-NR hatte der Initiative im Vorfeld der Session mit 13 zu 10 Stimmen (bei 1 Enthaltung) Folge gegeben. Kommissionssprecher und Initiant Fabian Molina argumentierte, dass die Sanktionen der europäischen Länder in Reaktion auf den russischen Angriff auf die Ukraine Wirkung gezeigt hätten. Sanktionen seien das einzige Mittel zwischen Krieg und Frieden, um «Regelbrecher zur Raison zu bringen». Um die Zivilbevölkerung dadurch aber nicht zu schädigen, müsse man «smart sanctions» nutzen, die gezielt die Verantwortlichen von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen strafen. Die Schweiz tue sich generell schwer mit der Übernahme von Sanktionen, es fehle aber auch die rechtliche Grundlage für eigenständige Sanktionen, erläuterte Molina. Molina bezeichnete den Umstand, dass die Schweiz UNO-Sanktionen und Massnahmen der OSZE und der EU übernehmen müsse als «nicht neutral und noch weniger souverän». Die APK-NR habe daher auch bei der Revision des Embargogesetzes einen Artikel vorgeschlagen, der es dem Bundesrat bei Menschenrechtsverletzungen erlauben soll, eigenständige Sanktionen gegen Personen oder Entitäten anzuordnen. Hans-Peter Portmann (fdp, ZH) kritisierte Molina dafür, dass er die Forderung seiner parlamentarischen Initiative bereits im Embargogesetz eingebracht habe und somit dem Rat zweimal das gleiche Anliegen vorlege und forderte den Rückzug der Initiative. Fabian Molina erklärte, dass dies gemäss Parlamentsrecht nicht möglich sei, weil sie bereits in der Kommission beraten worden war, er wolle aber insbesondere auch im Hinblick auf die Beratung im Ständerat an der Initiative festhalten. Eine Kommissionsminderheit Nidegger (svp, GE) forderte die Ablehnung der Initiative, einerseits weil der Begriff «Menschenrechtsverbrechen» eine Verurteilung nach eingehender Untersuchung voraussetzen würde, andererseits weil die Schweiz dadurch zur aktiven Akteurin im Sanktionsbereich und somit zu einer an internationalen Konflikten beteiligten Partei werden würde. Nidegger befürchtete auch, dass der Rechtsstaat geschwächt werden könnte und die Schweiz im Ausmass der Sanktionen sogar weiter gehen könnte, als die UNO und die wichtigsten Handelspartner. Der Minderheitsführer argumentierte in der Ratsdebatte, dass nur Staaten als Völkerrechtssubjekte das Völkerrecht verletzen könnten und daher auch nur Staaten Gegenstand von Sanktionen sein könnten. Der Nationalrat gab der Initiative schliesslich mit 104 zu 74 Stimmen (bei 5 Enthaltungen) Folge. Die SVP-Fraktion, sowie die FDP.Liberale-Fraktion stimmten fast geschlossen dagegen.

Einführung einer Rechtsgrundlage für gezielte Sanktionen bei schweren Menschenrechtsverletzungen und Korruption durch hochrangige Politiker und Politikerinnen (Pa.Iv. 19.501)

Im Juni 2022 publizierte gfs.bern die VOX-Nachabstimmungsanalyse zur Abstimmung vom 15. Mai 2022 über das Frontex-Referendum und verwies darin auf die sehr niedrige Stimmbeteiligung von nur 40 Prozent. Als Gründe für das geringe Interesse am Frontex-Referendum, dem Transplantations- und dem Filmgesetz nannten die Autorinnen und Autoren den Angriffskrieg Russlands in der Ukraine, die teilweise geringe persönliche Betroffenheit der Abstimmungsvorlagen und den Umstand, dass das politische Interesse gewisser Teile der Bevölkerung nach der Aufhebung der Massnahmen gegen die Covid-19-Pandemie nachgelassen habe. Insbesondere der Krieg in der Ukraine habe aber für die Annahme des Frontex-Ausbaus eine entscheidende Rolle gespielt. So sei die Vorlage durch den Krieg in der Wahrnehmung der Stimmbevölkerung von einer «europapolitischen» zu einer «sicherheitspolitischen» Grundsatzfrage geworden. Der Hauptgrund der Ja-Stimmenden für ihren Stimmentscheid sei deshalb die Stärkung der Grenzen gewesen, stellten die Autorinnen und Autoren der Studie fest. Danach folgten mit einigem Abstand die Einhaltung des Schengen-Abkommens und die Verhinderung von Menschenrechtsverstössen durch eine Teilnahme an Frontex im Sinne von «Verhinderung durch Mitsprache». Eine Verringerung der Zahl der Menschenrechtsverstösse stellte auch das mit grossem Abstand am häufigsten genannte Argument der Gegnerinnen und Gegner des Frontex-Ausbaus dar – sie erhofften sich umgekehrt wohl eher, mit einer Ablehnung ein europaweites Zeichen gegen die Menschenrechtsverstösse setzen zu können. Weitere Argumente stellten eine generelle Kritik an der Arbeit der Frontex-Agentur und an den Skandalen ihrer Mitarbeitenden dar.
Auffällig war laut Studie, dass keines der Pro-Argumente – obwohl sie alle mehrheitsfähig gewesen seien – für sich betrachtet eine vergleichbar hohe Unterstützung erhielt wie die Vorlage als Ganzes. Überdies gelangten die Autorinnen und Autoren zur Erkenntnis, dass die Frontex-Vorlage insgesamt als komplex eingeschätzt worden sei. So gaben rund ein Drittel der Befragten an, dass sie Verständnisschwierigkeiten beim Inhalt gehabt hätten.
Zum deutlichen Ja trug gemäss der Nachbefragung bei, dass die politische Allianz der Befürwortenden – von der GLP und der Mitte über die FDP bis zur SVP – geschlossen aufgetreten sei, während sich aufseiten der Gegnerschaft – vor allem innerhalb der SP – Unstimmigkeiten gezeigt hätten. Stimmende, die sich im politischen Spektrum ganz links positionieren, und solche, die den Institutionen der europäischen Sicherheitspolitik misstrauen, seien mehrheitlich gegen die Vorlage gewesen (23% Ja-Anteil), «gemässigte Linke» hätten aber eher für Annahme gestimmt (63% Ja-Anteil), so das Fazit der Analyse. Dies führte dazu, dass nur etwas mehr als die Hälfte der Anhängerschaft von SP und Grünen den Nein-Parolen ihrer Parteien folgte. Die Studie zeigte auch, dass Personen, die den Schweizer Institutionen vertrauen, eher mit Ja stimmten, während das Vertrauen in die EU keine entscheidende Rolle für den Abstimmungsentscheid spielte. Ältere Personen stimmten zudem eher für den Ausbau der EU-Grenzschutzagentur als jüngere, wobei nur eine Altersgruppe (30-39 Jährige) die Vorlage mehrheitlich ablehnte.

Übernahme und Umsetzung der Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Europäische Grenz- und Küstenwache (Frontex; BRG 20.064)
Dossier: Beteiligung der Schweiz am Ausbau von Frontex

«Es braucht legale Fluchtrouten als humanitäre flankierende Massnahmen zur Übernahme der Frontex-Verordnung» forderte Ständerat Daniel Jositsch (sp, ZH) im März 2022 in einer parlamentarischen Initiative. Jositsch wollte den Bundesbeschluss zur Übernahme der Frontex-Verordnung, mit der die EU-Grenzschutzagentur ausgebaut werden sollte, um einen Artikel ergänzen. Die Ergänzung sähe vor, dass die Schweiz in den Jahren 2022 und 2023 insgesamt mindestens 4'000 UNHCR-Resettlement-Flüchtlinge aufnehmen müsste. Resettlement bezeichnet die dauerhafte Neuansiedelung besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge, die weder in ihr Heimatland zurückkehren, noch in dem Land bleiben können, in welches sie geflohen sind. Jositsch argumentierte, dass diese Forderung bereits in der parlamentarischen Debatte zur Frontex-Vorlage gestellt worden sei. Seiner Meinung nach müsste man zusätzlich zum Frontex-Ausbau die legalen Fluchtrouten ausbauen. Nach einer allfälligen Ablehnung der Frontex-Vorlage durch die Stimmbevölkerung solle der Bundesrat möglichst rasch eine neue Vorlage erarbeiten, welche die in der parlamentarischen Initiative genannten humanitären flankierenden Massnahmen umsetze, denn dies würde die Annahmewahrscheinlichkeit des Frontex-Ausbaus erhöhen. Ständerat Jositsch zog seine Initiative Ende Mai 2022 zurück, nachdem die Frontex-Vorlage mit einer deutlichen Mehrheit (71.5% Ja-Stimmen) angenommen worden war.

Es braucht legale Fluchtroute als humanitäre flankierende Massnahmen zur Übernahme der Frontex-Verordnung
Dossier: Beteiligung der Schweiz am Ausbau von Frontex

Ende Mai 2022 führte ein Staatsbesuch Bundespräsident Cassis in die Tschechische Republik und nach Österreich. Begleitet von Nationalrätin Bulliard-Marbach (mitte, FR) und Ständerat Sommaruga (sp, GE), beides Mitglieder der APK-NR respektive der APK-SR, tauschte sich Cassis in Prag mit dem tschechischen Aussenminister Lipavsky über den Krieg in der Ukraine und dessen Auswirkungen auf die europäische Sicherheitsarchitektur aus. Da die Tschechische Republik im Juli 2022 den EU-Ratsvorsitz übernehmen sollte, traf sich der Bundespräsident auch mit dem Minister für europäische Angelegenheiten Mikuláš Bek, um die neue Stossrichtung des Bundesrats für das Verhandlungspaket mit der EU zu erläutern. Die Schweizer Delegation reiste im Anschluss nach Wien weiter, wo sie sich mit Rafael Grossi, dem Generaldirektor der IAEO traf. Im Zentrum der Gespräche standen die russischen Angriffe auf ukrainische Nuklearanlagen und die dadurch entstandenen Risiken für Mensch und Umwelt. Die beiden Seiten betonten wie wichtig es sei, die Sicherheit und Sicherung solcher Anlagen unter allen Umständen zu gewährleisten und Bundespräsident Cassis erwähnte die Schweizer Prioritäten im Rahmen der Zehnten Überprüfungskonferenz des Vertrags über die Nichtverbreitung von Kernwaffen.

Aussenminister Cassis in Tschechien und Österreich
Dossier: Staatsbesuche im Ausland 2022

Mitte Mai 2022 empfing Bundespräsident Ignazio Cassis die slowakische Präsidentin Zuzana Čaputová in Bern. Dabei handelte es sich um den ersten Staatsbesuch eines slowakischen Staatsoberhaupts in der Schweiz seit der Unabhängigkeit der Slowakischen Republik 1993. Hauptthema der Gespräche, an denen auch Bundesrätin Karin Keller-Sutter teilnahm, war der Krieg in der Ukraine und dessen Folgen. Der Schweizer Aussenminister erklärte die Politik und das Engagement der Schweiz im Rahmen des Konflikts und betonte – mit Blick auf die Ukraine Recovery Conference in der Schweiz –, dass derartige Aufbauinitiativen untereinander koordiniert werden müssten. Die beiden Regierungsmitglieder betonten zudem, dass die Schweiz den bilateralen Weg mit der EU stabilisieren und weiterentwickeln wolle, wozu auch die Fortführung der solidarischen Partnerschaft mit den europäischen Staaten und der EU zur Förderung von Sicherheit, Frieden und Demokratie gehöre. Bundespräsident Cassis erläuterte in diesem Kontext die neue Stossrichtung für ein Verhandlungspaket mit der EU und die beiden Delegationen diskutierten die angestrebte Assoziierung der Schweiz an Horizon Europe und Erasmus+, sowie den zweiten Kohäsionsbeitrag, zu dessen Empfängern auch die Slowakei gehört. Auch die Lage im westlichen Balkan und die Migration wurden thematisiert, wobei Justizministerin Keller-Sutter die Wichtigkeit einer koordinierten europäischen Asyl- und Migrationspolitik, die über die gegenwärtige Flüchtlingskrise hinausgehen müsse, hervorhob. Die Delegationen würdigten auch die Strategien der beiden Länder, die beide über grosse Berggebiete verfügen und damit vom Klimawandel besonders betroffen sind, im Bereich der Klima- und Umweltpolitik und die Zusammenarbeit ihrer Forschungs- und Bildungsstätten.

Staatsbesuch der slowakischen Präsidentin Čaputová
Dossier: Staatsbesuche und öffentliche Besuche in der Schweiz seit 1990

Anfang Mai 2022 und damit ungefähr ein Jahr nach dem Abbruch der Verhandlungen über das institutionelle Rahmenabkommen bemühte sich Staatssekretärin Livia Leu darum, die Beziehungen mit der EU zu verbessern und neue Verhandlungen anzustossen. In einem Interview mit Le Temps erklärte Leu nach ihrem zweiten Treffen mit EU-Vertretern, dass es eine gewisse Zeit brauche, bis beide Seiten feststellen könnten, ob eine gemeinsame Basis für Verhandlungen bestehe. Der Krieg in der Ukraine und die Übernahme der EU-Sanktionen durch die Schweiz könne sich positiv auf die Verhandlungen mit der EU auswirken, schätzte Leu das unsichere politische Umfeld ein.
Wenige Tage später äusserte sich Petros Mavromichalis – der EU-Botschafter in der Schweiz – kritisch im Hinblick auf die aktuelle Lage. Er betonte, dass die EU der Schweiz keine Vorteile gewähren werde, die ihre Mitgliedstaaten nicht auch hätten. Da für alle Teilnehmerstaaten des Binnenmarkts die gleichen Regeln gelten müssten, schob er auch der vom Bundesrat angestrebten Abschaffung der Guillotine-Klausel einen Riegel vor. Die EU wolle, dass alle Marktzugangsabkommen die Verpflichtung zur dynamischen Rechtsübernahme und den gleichen Streitbeilegungsmechanismus vorsehen, erklärte Mavromichalis in der NZZ. Schutzklauseln seien in einigen Bereichen möglich, ein Ausschluss ganzer Abkommen – wie beispielsweise des Personenfreizügigkeitsabkommens – hingegen sicher nicht.

Mitte Mai deutete ein Brief des Kabinetts von Vize-Kommissionspräsident Maroš Sefčovič an Livia Leu darauf hin, dass noch deutliche Unstimmigkeiten zwischen den beiden Verhandlungsparteien bestanden. In diesem Brief stellte die EU der Schweiz zehn Detailfragen, unter anderem nach der Haltung der Schweiz gegenüber der Rolle des Europäischen Gerichtshofs bei der Streitschlichtung, nach der Akzeptanz gegenüber der Guillotine-Klausel und gegenüber der Weiterentwicklung des EU-Rechts im Kontext der EU-Bürgerrechte.
Wie der Tages-Anzeiger berichtete, habe sich die Position der EU seit der Beerdigung des Rahmenabkommens nicht wirklich verändert. Die EU fordere nach wir vor eine systematische Rahmenlösung für alle bestehenden und zukünftigen Abkommen. Zusätzliche Abkommen in den Bereichen Energie oder Gesundheit könnten ins Verhandlungspaket aufgenommen werden, jedoch nur wenn man auch das Freihandelsabkommen von 1972 aktualisieren würde. Die EU baute zusätzlichen Druck auf den Bundesrat auf, indem sie zur gleichen Zeit eine SP-Delegation in Brüssel ohne Beteiligung der Exekutive empfing. Anlässlich dieses Treffens erklärte Sefčovič sich bereit, in die Schweiz zu reisen, um sich mit Sozialpartnern, Gewerkschaften und Arbeitgebern auszutauschen. Ende Mai meldete sich Mavromichalis in Le Temps abermals zu Wort und verlangte vom Bundesrat eine Klarstellung in Bezug auf dessen Verhandlungsposition, denn die EU könne nicht erkennen, was die Schweiz genau erreichen wolle.

An einer solchen Klarstellung versuchte sich Staatssekretärin Leu Anfang Juni in ihrem Antwortschreiben auf die Fragen der EU. Darin machte Leu deutlich, dass das gescheiterte Rahmenabkommen für die Schweiz bei zukünftigen Verhandlungen keinen Referenzpunkt darstelle. Das Zugeständnis der Schweiz, dass sie neues EU-Recht im Bereich der Bilateralen dynamisch übernehmen würde, gleiche einem Paradigmenwechsel in der Funktionsweise der Marktzugangsabkommen und müsse daher abgefedert werden. Man sei grundsätzlich bereit, die dynamische Rechtsübernahme einzuführen und gemeinsam einen Streitbeilegungsmechanismus zu erarbeiten. Für dieses Entgegenkommen erwarte man aber Ausnahmen und Schutzmassnahmen bei den Aspekten des Lohnschutzes, der Zuwanderung in die Sozialhilfe und der Ausschaffung straffälliger EU-Bürger.
Leu forderte auch ein Mitspracherecht im Gesetzgebungsprozess der EU, sofern dieser die bestehenden und zukünftigen bilateralen Verträge betreffe. Die von der EU geforderte Modernisierung des Freihandelsabkommens lehnte sie ab, da dies «die Verhandlungen überladen» würde, nicht nur zeitlich sondern auch hinsichtlich der Akzeptanz in der Schweiz. In Bezug auf die konkreten Fragen der EU stellte Leu klar, dass die Schweiz bereit sei, rechtliche Verpflichtungen für die Zahlung weiterer Kohäsionsbeiträge einzugehen.
Sie erwähnte auch, dass die institutionellen Regelungen «im Prinzip» bei allen Abkommen im Verhandlungspaket identisch sein könnten und anerkannte die alleinige Kompetenz des EuGH, Europäisches Recht auszulegen. Welche Position der EuGH gegenüber der Schweiz einnehmen werde, definierte sie in ihrer Antwort aber nicht und die Weiterführung der Guillotineklausel erwähnte Leu überhaupt nicht. Angesichts der nach wie vor laufenden Sondierungsphase stellte Leu die Möglichkeit eines baldigen Treffens in den Raum, womit der Ball nun wieder bei der EU lag.

Unstimmigkeiten nach Briefwechsel mit der EU
Dossier: Entwicklung der bilateralen Beziehungen mit der EU nach dem Scheitern des Rahmenabkommens