Nachdem in den achtziger Jahren verschiedene kantonale Armutsstudien - ausgehend von unterschiedlichen Definitionen der Armutsgrenze - vorgelegt worden waren, präsentierte die Universität Bern erstmals eine gesamtschweizerische Studie, welche sich sowohl am soziokulturellen wie am subjektiven Armutskonzept orientierte. Das soziokulturelle Existenzminimum rechnet nicht mit der blossen physischen Daseinssicherung, sondern bezieht Komponenten der Teilhabe am Sozialleben mit ein. Es lässt sich nur in Relation zum Wohlstandsniveau der betrachteten Gesellschaft (oder Region) zu einem bestimmten Zeitpunkt ermitteln. Subjektive Armutskonzepte stellen nicht auf die Einschätzung von Experten ab, sondern von allen Gesellschaftsmitgliedern, Betroffene eingeschlossen. Untersucht wurden die Ressourcen der einzelnen Haushalte, aber auch Wohnqualität, Arbeit und Ausbildung, Gesundheit, private Netzwerke und subjektives Wohlbefinden.

Die Armutsgrenze wird in der Schweiz je nach Gesichtspunkt und gesetzlicher Regelung unterschiedlich festgesetzt. Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos) setzt sie für Einpersonenhaushalte bei 980 Fr. (nach Abgabe der Zwangsausgaben Steuern, Sozial- und Krankenversicherung, Alimente, Schuldzinsen und Wohnkostenanteil) fest; als Grenze für die Anspruchsberechtigung auf Ergänzungsleistungen (EL) gelten 1285 Fr., ebenfalls nach Abzug der Zwangsausgaben. Je nachdem, von welcher Armutsgrenze ausgegangen wird, lebten in der Schweiz im Erhebungsjahr 1992 zwischen 390 000 (5,6% der Wohnbevölkerung) und 860 000 (9,8%) Personen, die als "arm" zu gelten haben. Subjektiv nehmen aber längst nicht alle Betroffenen ihre Situation als Armut wahr.

Die Studie ermittelte neben der Anzahl der als arm einzustufenden Personen jene Bevölkerungsgruppen, die für Armut relativ anfällig sind. 60% der Armen in der Schweiz sind weniger als 40 Jahre alt. Die Auswertung nach Haushaltstypen wies eine besonders hohe Armutsquote bei Alleinerziehenden, geschiedenen Frauen und allein lebenden Männern aus. Junge, kinderreiche Familien gehören überdurchschnittlich häufig zur armen Bevölkerung. Signifikant unterdurchschnittliche Armutsquoten weisen Angestellte (im Unterschied zu Selbständigerwerbenden) und Altersrentner auf. Eine besonders hohe Armutsquote findet sich im Kanton Tessin und in der Romandie sowie unter der ausländischen Bevölkerung. Verdeckte Armut machte die Untersuchung vor allem dort aus, wo Anspruchsberechtigte keine EL oder Sozialhilfe beziehen, weil sie aus nicht genau zu ermittelnden Gründen den Gang zum Sozialamt scheuen bzw. über ihre Rechte nicht informiert sind. Über 50% der bezugsberechtigten Erwerbstätigen und rund ein Drittel der bezugsberechtigten Rentner beziehen weder Sozialhilfe noch EL. Eine Erhöhung der Bezugsquote könnte die real existierende Armut lindern.

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