Anders als bei dem 1992 vom Volk abgelehnten EWR-Beitritt, welcher die Übernahme von EU-Recht bedingt hätte, geht es beim bilateralen Vertrag mit der EU über den freien Personenverkehr im Bereich der Sozialversicherungen lediglich um eine Koordinierung der sozialen Sicherheit, was nur geringe gesetzliche Änderungen notwendig macht. Die Sozialgesetzgebung der beiden Partner wird grundsätzlich nicht verändert, doch soll verhindert werden, dass Beschäftigte eine direkte oder indirekte Benachteiligung bei der sozialen Sicherheit erleiden, wenn sie vom EU-Raum in die Schweiz wechseln oder umgekehrt. Erfasst von der Koordination werden alle schweizerischen Sozialversicherungszweige in den Bereichen Krankheit, Unfall, Invalidität, Alter, Tod, Arbeitslosigkeit und Familienleistungen. Oberstes Prinzip ist die uneingeschränkte Gleichbehandlung der Bürgerinnen und Bürger aller Vertragsstaaten. Hinzu kommt die Verpflichtung zur gegenseitigen Anerkennung von Versicherungszeiten für den Erwerb von Leistungsansprüchen sowie zur Auslandszahlung von Leistungen. Um nicht in allen Sozialversicherungsgesetzen sämtliche Koordinationsbestimmungen einfügen zu müssen, wurde in den entsprechenden Gesetzen eine sogenannte „Verweiserbestimmung“ auf das europäische Verordnungsrecht eingefügt.
Für den reinen AHV/IV-Bereich ergeben sich aus dem Abkommen keine besonderen Belastungen für die Schweiz. Im Ausland zurückgelegte Beitragszeiten müssen zwar anerkannt werden, doch kann jedes Vertragsland die Höhe seiner Renten weiterhin autonom berechnen. Zu einer finanziellen Hypothek könnte hingegen die freiwillige AHV für Auslandschweizer werden. Die Gleichbehandlungsvorschrift würde die Schweiz verpflichten, EU-Staatsangehörige unter den gleichen Voraussetzungen wie Schweizer Bürgerinnen und Bürger zur (massiv defizitären) freiwilligen AHV zuzulassen. Der Bundesrat schlug deshalb vor, bereits jetzt die Beitrittsmöglichkeit im Sinn seiner Vorschläge zur Revision der freiwilligen AHV (siehe unten) einzuschränken. Danach soll ein Beitritt künftig nur noch bei Wohnsitz in einem Staat möglich sein, mit dem die Schweiz kein Sozialversicherungsabkommen abgeschlossen hat. Ausserdem muss die betreffende Person zuvor mindestens fünf Jahre obligatorisch in der AHV versichert gewesen sein. Beitreten könnten schweizerische und ausländische Staatsangehörige.
Die Ergänzungsleistungen zur AHV und IV können als beitragsunabhängige Sonderleistungen der öffentlichen Hand von der Auslandszahlung ausgenommen werden. Dafür entstehen im Inland neue Verpflichtungen, deren Kosten auf jährlich 11 Mio Fr. geschätzt werden. EU-Staatsangehörige haben inskünftig unter denselben Voraussetzungen wie schweizerische Bürgerinnen und Bürger Anspruch auf EL. Die bisher verlangte zehnjährige Mindestwohndauer entfällt. Für allfällige Karenzfristen bei kantonalen Zusatzergänzungsleistungen und AHV/IV-Beihilfen müssen Wohnzeiten in einem EU-Staat angerechnet werden. Bei den Hilflosenentschädigungen beantragte der Bundesrat eine Herauslösung aus der eigentlichen Versicherung und eine ausschliessliche Übernahme durch die öffentliche Hand, um so den Export dieser Leistungen ebenfalls auszuschliessen.
Im Rahmen der beruflichen Vorsorge ergeben sich durch die bilateralen Verträge nur geringfügige Veränderungen, da nur die Minimalvorsorge gemäss BVG von der Koordination tangiert ist. Nach Ablauf einer fünfjährigen Übergangsfrist können Barauszahlungen der Austrittsleistung gleich wie für Schweizer Bürgerinnen und Bürger nur noch erfolgen, wenn damit eine Aufgabe der Erwerbstätigkeit verbunden ist. Ist dies nicht der Fall, wird das BVG-Guthaben bei einem beruflichen Wechsel ins Ausland an den neuen Wohnsitzstaat überwiesen. Nicht berührt vom Abkommen ist die Wohneigentumsförderung mit Mitteln der beruflichen Vorsorge.
Die bedeutendsten Neuerungen im Sozialversicherungsbereich treten bei der Krankenversicherung ein. Hier wurde bereits im Personenverkehrsabkommen eine Präzisierung vorgenommen, da – anders als in den meisten europäischen Staaten – in der Schweiz die Versicherungspflicht nicht an eine Erwerbstätigkeit, sondern an den Wohnsitz geknüpft ist. Deshalb musste ausdrücklich gesagt werden, dass alle ausländischen Personen, die aufgrund ihrer Erwerbssituation der sozialen Sicherheit in der Schweiz zugeordnet sind, auch der hiesigen Krankenversicherung unterstellt werden müssen. Dies gilt – unter Wahrung des Prinzips der Individualversicherung mit Kopfprämien – auch für die in einem EU-Staat lebenden nichterwerbstätigen Familienangehörigen. Alle diese Personen kommen – wenn sie in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen leben – ebenfalls in den Genuss von Prämienverbilligungen.
Im Bereich der Arbeitslosenversicherung bestanden bisher lediglich mit den Nachbarstaaten Deutschland, Frankreich, Österreich und Italien bilaterale Abkommen. Die grundsätzliche Gleichbehandlung aller Arbeitnehmer war zwar im geltenden Arbeitslosenversicherungsgesetz (AVIG) gewährleistet, doch konnten Kurzaufenthalter und Saisonniers auf Grund aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen ihre Ansprüche nur bedingt geltend machen. Die Koordinationsregeln der EU zwingen die Schweiz, nach der Annahme der bilateralen Verträge drei Grundsätze zu erfüllen: Das Beschäftigungslandprinzip bedeutet, dass der Anspruch auf Leistungen der ALV in jenem Staat besteht, in welchem der Arbeitnehmer zuletzt angestellt war; die Zusammenrechnung der Beitragszeiten stellt sicher, dass alle in einem EU-Land geleisteten Beschäftigungen für die Berechnung des Anspruchs berücksichtigt werden; die Bestimmungen zum Export von Leistungen ermöglichen es schliesslich einem arbeitslosen Schweizer oder EU-Bürger, in einem anderen Land eine Arbeit zu suchen und sich die Arbeitslosenentschädigung während maximal drei Monaten nachschicken zu lassen. In Anbetracht der relativ hohen Zahl von befristeten Arbeitsverhältnissen ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – 1997 hatten rund 90 000 EU-Staatsangehörige einen unterjährigen Arbeitsvertrag in der Schweiz – wurde eine siebenjährige Übergangsregelung ausgehandelt. Diese sieht vor, dass die Schweiz in diesem Zeitraum bei Arbeitnehmern mit unterjährigen Arbeitsverhältnissen das Prinzip der Zusammenrechnung nicht anwenden muss. Damit haben Kurzaufenthalter nur dann Anspruch auf Leistungen, wenn sie die sechsmonatige Mindestbeitragszeit nach schweizerischem Recht erfüllen. Im Gegenzug erstattet die Schweiz während der Übergangsfrist weiterhin den Wohnsitzstaaten die auf den Löhnen der Grenzgänger erhobenen Beiträge sowie neu diejenigen der Kurzaufenthalter mit einem Arbeitsverhältnis von weniger als sechs Monaten.
Personenfreizügigkeit (Bilaterale I und flankierende Massnahmen, BRG 99.028-4)
Dossier: Die Bilateralen Verträge I und die sektoriellen Verhandlungen mit der EU 1993 bis 1998