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Im November 2021 entschied das Bundesgericht, dass auch während der Covid-19-Pandemie Ferien- und Feiertagsentschädigungen in die Berechnung von Kurzarbeitsentschädigungen einfliessen müssen. Eine Restaurantbetreiberin hatte im März 2020 Kurzarbeitsentschädigungen aufgrund eines Covid-19-bedingten Umsatzrückgangs beantragt, bei denen aber die Arbeitslosenkasse des Kantons Luzern Feiertags- und Ferienentschädigungen nicht anrechnen wollte. Dies sei während des summarischen Abrechnungsverfahrens aufgrund der Formulierung der entsprechenden Covid-19-Verordnung nicht erlaubt, argumentierte die Kasse. Im Oktober 2020 hiess das Luzerner Kantonsgericht die gegen diesen Entscheid eingereichte Beschwerde gut, woraufhin die Arbeitslosenkassen den Fall an das Bundesgericht weiterzog. Dabei stellte auch das SECO Rechtsbegehren auf Aufhebung dieses Urteils. Das Bundesgericht urteilte, dass keine hinreichende Regelung auf Gesetzes- oder Verordnungsstufe für eine Nichtberücksichtigung der Ferien oder Feiertage vorliege und diese folglich mindestens «in pauschalisierter Form» angerechnet werden müssten.

Bundesgerichtsurteil zur Bemessung der Kurzarbeitsentschädigungen bei Personen im Monatslohn

Im Oktober 2020 rügte der EGMR die Schweiz für die Ungleichbehandlung von Witwern und Witwen. Zuvor hatte ein Witwer aus dem Kanton Appenzell Ausserrhoden ein Urteil des Bundesgerichts aus dem Jahr 2012 an den EGMR weitergezogen, der ihm das Recht auf eine Hinterbliebenenrente nach dem Erreichen der Volljährigkeit durch seine jüngste Tochter verneint hatte. Er argumentierte, dass er gegenüber verwitweten Frauen benachteiligt werde, da diese auch nach Volljährigkeit ihrer Kinder und teilweise gar, ohne Kinder zu haben, eine Witwenrente erhielten. Mit knapp 60 Jahren habe aber auch er – genauso wie Witwen – keine Chance mehr auf einen beruflichen Wiedereinstieg.
Seinen Vorwurf, wonach dies der Gleichstellung von Frauen und Männern widerspreche, bestätigte der EGMR. Zwar sei eine Ungleichbehandlung bei sehr guten Gründen möglich, ein solcher liege hier aber nicht vor. Somit verstosse das geltende Gesetz gegen die Menschenrechtskonvention. Das Bundesgericht hatte 2012 auf das entsprechende 1948 durch das Parlament erlassene Gesetz verwiesen. Unklar war zu diesem Zeitpunkt noch, ob die Schweiz das Urteil an die Grosse Kammer des EGMR weiterziehen wird oder nicht. Damit das Urteil rechtskräftig werden würde, müsste der Kläger am Bundesgericht eine Revision des Schweizer Urteils verlangen, erklärte humanrights.ch. Zu einer Gesetzesänderung könnte es aber auch so kommen, wurden doch im Nachgang des Entscheids verschiedene Postulate (Po. 20.4449), Motionen (Mo. 20.4445; Mo. 20.4693) und parlamentarische Initiativen (Pa.Iv. 21.416; Pa.Iv. 21.511, Pa.Iv. 21.512) eingereicht.
Auch die Presse diskutierte insbesondere über die Folgen dieses Urteils, wobei sie sich vor allem fragte, ob die Rente der Witwer derjenigen der Witwen angepasst werden solle oder umgekehrt. Dabei offenbarten die Medien unterschiedliche Präferenzen. Einige wiesen darauf hin, dass eine Verwitwung gemäss einem Bericht des Bundesrates heute weniger gravierende Auswirkungen habe als eine Scheidung oder Trennung. Zudem wurde auf die hohen Kosten einer Ausweitung der Witwerrente verwiesen. Andererseits wurde argumentiert, dass Witwenrenten aufgrund der höheren Lebenserwartung sehr viel häufiger seien als Witwerrenten, weshalb sich die Mehrkosten durch eine grosszügigere Regelung für die Witwer in Grenzen halten würden. Neben den inhaltlichen Fragen wurde in der Berichterstattung auch über fremde Richter und über die abgelehnte Selbstbestimmungsinitiative diskutiert.

Urteil des EGMR zur Witwerrente (2020)

Ein weiteres Urteil bezüglich EL fällte das Bundesgericht im September 2020 und zwar in der Frage, ab wann bei rückwirkender Berechnung von EL Freizügigkeitsgelder angerechnet werden. Dem Betroffenen waren im Februar 2018 rückwirkend ab November 2014 eine ganze IV-Rente sowie EL zugesprochen worden. Im April 2018 wurde sein Pensionskassenguthaben frühzeitig ausbezahlt, was bei Bezug einer vollen Invalidenrente möglich ist. Bei der rückwirkenden Berechnung der EL wurde nun das Freizügigkeitsguthaben aber bereits ab November 2014 angerechnet. Nachdem das Verwaltungsgericht des Kantons Bern eine entsprechende Beschwerde abgewiesen hatte, entschied das Bundesgericht im Sinne des Klägers: Das Freizügigkeitsguthaben sei erst ab 1. März 2018 zu berücksichtigen, zumal nur tatsächlich vorhandene Vermögen und Einkommen angerechnet werden dürfen, über die auch verfügt werden kann. Da die Möglichkeit zum Bezug des Freizügigkeitsgeldes erst ab dem Zeitpunkt bestehe, ab dem die IV-Verfügung rechtskräftig sei, könne das Guthaben auch erst ab dann angerechnet werden.

Urteil BGer zur Frage, ab wann bei rückwirkender Berechnung von EL Freizügigkeitsgelder angerechnet werden

Im Juni 2020 hatte das Bundesgericht einen Fall aus dem Kanton St. Gallen zu beurteilen, in dem es um die Frage ging, ob ein Lebensstil über den durch die Rente ermöglichten Verhältnissen als freiwilliger Vermögensverzicht im Sinne der EL gewertet werden kann. So hatte eine Frau vor ihrem Eintritt in ein Altersheim innert weniger Jahre Ausgaben in der Höhe von CHF 325'830 getätigt. Diese Ausgaben waren gemäss dem Versicherungsgericht des Kantons St.Gallen für den Existenzbedarf nicht notwendig. Das ELG besagt, dass Einkünfte und Vermögenswerte, auf die ohne rechtliche Verpflichtung oder adäquate Gegenleistung verzichtet worden war, bei der Berechnung von EL als Einnahmen gelten. Freiwillig getätigte Ausgaben wertete das Bundesgericht aber bisher nie als entgangene Vermögenswerte; das Gesetz biete keine Möglichkeit zur Lebensführungskontrolle der Versicherten. Selbst wenn also bisher jemand sein ganzes Vermögen verprasst hatte, bot dies keinen Grund für eine Reduktion oder Streichung der EL. Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen forderte jedoch vom Bundesgericht eine Praxisänderung und argumentierte, dass der Lebensstil in diesem Falle als Verzicht gelten solle. Demnach könne selbstverschuldete Armut nicht durch eine Sozialversicherung getragen werden, da dies ansonsten als Sozialhilfe gewertet werden müsse; der Bund habe aber keine Regelungskompetenz im Sozialhilfebereich. Zudem zeige die EL-Revision, die 2021 in Kraft treten wird und die neu eine Bestimmung zur Höhe der erlaubten Ausgaben vor Anmeldung zur EL beinhaltet, dass eine solche Präzisierung auch im Sinne des Gesetzgebers sei. Das Bundesgericht hielt aber in seinem letztinstanzlichen Urteil an seiner bisherigen Praxis fest: In der Tat habe eine entsprechende Leistung durch die EL an die Versicherte zwar sozialhilferechtlichen Charakter, das mache sie aber weder rechtlich noch faktisch zu Sozialhilfe, argumentierte das Gericht. Die Ausgaben dürften deshalb beruhend auf dem bisherigen Recht nicht als Vermögensverzicht gewertet werden. Die Weltwoche befürchtete, dass das Bundesgericht damit der entsprechenden Verschärfung durch die EL-Revision bereits vor deren Inkrafttreten «die Zähne gezogen habe».

EL Bundesgerichtsurteil

Im August 2019 veröffentlichte das Bundesgericht schliesslich seine Urteile zu den drei offenen Beschwerden des Referendumskomitees bezüglich des Abstimmungskampfes gegen die Überwachung von Versicherten. Das Komitee hatte im Juli 2018 gegen je ein Dokument auf der Webseite des BSV und der Suva Abstimmungsbeschwerde an den Regierungsrat des Kantons Zürichs eingereicht und die Entfernung der Dokumente respektive die Feststellung, dass es sich dabei um irreführende Informationen handle, oder die Möglichkeit zu einer Stellungnahme im Dokument gefordert. Im September 2018 erhob das Komitee eine zweite Abstimmungsbeschwerde gegen das Bundesbüchlein mit der Forderung, verschiedene Textpassagen und Tabellen zu ändern oder zu streichen. Nach der Abstimmung im November 2018 folgte eine weitere Abstimmungsbeschwerde mit der Forderung, das Abstimmungsergebnis aufzuheben. Der Zürcher Regierungsrat ging auf keine der drei Beschwerden ein mit der Begründung, die gerügten Punkte hätten kantonsübergreifende Auswirkungen, worauf das Referendumskomitee alle drei Beschwerden ans Bundesgericht weiterzog. Dieses vereinigte die drei Beschwerden und stellte im August 2019 fest, dass auf die zweite und dritte Beschwerde nicht einzutreten sei. Die bundesrätlichen Abstimmungserläuterungen seien nicht direkt anfechtbar und einen Einfluss auf die allgemeine Informationslage im Vorfeld einer eidgenössischen Volksabstimmung – die anfechtbar wäre – habe das Komitee nicht genügend dargelegt.
Bezüglich der ersten Abstimmungsbeschwerde, auf die es eingetreten war, stellte das Bundesgericht fest, dass das BSV im kritisierten Dokument «die interessierten Stimmberechtigten in sachlich gehaltener Form und Sprache über die neuen Bestimmungen des ATSG orientiert» habe. Als Teil einer umfangreicheren Dokumentation des BSV zur Revision des ATSG müsse dieses nicht vollständig sein – auch wenn die übrigen Dokumente erst später, für das Gericht allerdings noch früh genug, auf der Internetseite des BSV publiziert worden seien. Auch der Suva sprach das Bundesgericht die Berechtigung zu, im Vorfeld der Abstimmung Stellung zu beziehen, da sie durch die Abstimmung besonders betroffen sei. Zwar missfiel auch dem Bundesgericht der Titel des Dokuments der Suva «Faktencheck zum Observationsgesetz», da dieser den Eindruck rechtlich gesicherter Fakten erwecke – insbesondere wenn Prognosen über die Anwendung der neuen Gesetzesartikel im Text als «richtig» oder «falsch» bezeichnet würden. Die Aussagen seien aber nicht «eindeutig faktenwidrig», zudem müsse die Suva als betroffenes Unternehmen nicht politisch neutral sein. Abschliessend hielt das Gericht die Möglichkeit, dass die Abstimmung ohne den entsprechenden Mangel anders ausgefallen wäre, aufgrund der Deutlichkeit des Ergebnisses nicht für plausibel. Damit wies es die letzte der drei Abstimmungsbeschwerden ab.
In der Folge setzte der Bundesrat das Gesetz und die Verordnung mit einem Monat Verspätung per 1. Oktober 2019 in Kraft.

Parlament schafft eine gesetzliche Grundlage für die Überwachung von Versicherten (Pa. Iv. 16.479)
Dossier: Überwachung von Versicherten (2016-2019)

Ende 2017 lancierte die Krankenkasse Helsana eine App mit dem Namen Helsana+, mit der man für verschiedene sportliche, aber auch soziale Aktivitäten wie Joggen, Fitnesstraining oder Vereinsmitgliedschaften Rabatte in der Zusatzversicherung bis CHF 300 sowie in der Grundversicherung bis CHF 75 erhält. Ähnliche Bonusprogramme für die Zusatzversicherungen gäbe es zwar schon länger, neu sei aber das entsprechende Angebot für die Grundversicherung, berichteten die Medien. Dieser Aspekt löste in der Presse breite Diskussionen aus. Mit dieser App eröffne die Helsana die «Jagd nach besten Risiken» erneut, empörte sich etwa Lukas Bäumle vom Seniorenrat. Die Belohnung von jungen, gesunden Personen diskriminiere die körperlich beeinträchtigten oder betagten Personen und führe zu einer neuen Art der Risikoselektion, pflichtete ihm Marianne Streiff-Feller (evp, BE) bei und auch Karl Vogler (csp, OW) und Gesundheitsminister Berset kritisierten, dass die App dem Solidaritätsgedanken der OKP wiederspreche und die Chancengleichheit verletze. Geteilt wurde die Kritik auch von verschiedenen Organisationen aus Konsumenten- und Patientenschutz und Pflege, Behindertenorganisationen sowie Gewerkschaften in einem Positionspapier. Sie verwiesen zudem auf technisch nicht versierte oder auf ihre Privatsphäre bedachte Personen, die ebenfalls diskriminiert würden.
Doch nicht nur wegen möglicher Diskriminierung wurde die App kritisiert, sondern auch wegen dem Datenschutz. Gesundheitsdaten gelten gemäss Datenschutzgesetz als besonders schützenswerte Daten. Die Helsana erhalte nun dank der App viele persönliche Informationen und Gesundheitsdaten, wie die Informationen aus Fitnesstrackern, Fotos der Versicherten oder Angaben über Vereinsmitgliedschaften, berichtete die Presse. Zudem sammle und verkaufe die App gemäss der Stiftung Konsumentenschutz Unmengen von Daten im Hintergrund. Zwar erklärte die Helsana, keine heiklen Daten zu speichern und die Informationen nicht weiterzugeben, jedoch gewährten die AGB der Versicherung gemäss Konsumentenschutz sehr viel weiterreichende Möglichkeiten – unter anderem eine stillschweigende Änderung der Nutzungsart.
Auf Kritik stiess die App auch in der Bevölkerung. So zeigte eine Befragung von 3'055 Personen durch die Forschungsstelle Sotomo, dass eine Mehrheit der Bevölkerung verhaltensabhängige Krankenkassenprämien ablehnt. Entsprechend trafen sowohl eine Prämiensenkung für Achtsame (56%) sowie eine Prämienerhöhung für Unachtsame (60%) bei den Befragten insgesamt auf Ablehnung. Eine Umfrage der Stiftung für Konsumentenschutz verdeutlichte zudem, dass das Bonusprogramm der Helsana auch in der Branche selbst auf Kritik stiess. 6 von 15 grossen Krankenkassen gaben ausdrücklich an, Rabattsysteme in der Grundversicherung abzulehnen.

In der Folge reichten Karl Vogler (Ip. 18.3373), Marianne Streiff-Feller (Ip. 18.3282) und Prisca Birrer-Heimo (sp, LU; Ip. 18.3354) Interpellationen zu diesem Thema im Nationalrat ein. Darin fragten sie den Bundesrat, ob er auch der Meinung sei, dass solche Bonusprogramme dem Solidaritätsgedanken zuwiderlaufen würden, ob solche Programme gemäss KVG zulässig seien und welche gesetzlichen Massnahmen nötig seien, um solche Programme zu verhindern. Der Bundesrat verwies darauf, dass eine Ungleichbehandlung von Versicherten, Prämienrabatte für gesundes Verhalten sowie eine Zweckentfremdung der Prämiengelder in der Grundversicherung bereits jetzt unzulässig seien, weshalb er keine gesetzlichen Massnahmen als nötig erachte. Die Helsana verwende aber für ihr Rabattprogramm nur Gelder aus der Zusatzversicherung, nicht aus der Grundversicherung. Hingegen kritisierte der Bundesrat denselben Punkt, welcher im April 2018 bereits der Eidgenössische Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragte (EDÖB), Adrian Lobsiger, angesprochen hatte. Diesem missfiel insbesondere der Zugriff der Zusatzversicherung der Helsana auf Daten der Grundversicherung, welchem die Versicherten für den Erhalt der Boni zustimmen müssten. Dies verstosse gegen das Datenschutzgesetz, da die Datenverarbeitung in den Sozialversicherungen einer gesetzlichen Grundlage unterliegen müssten, betonte er. Die Helsana erachtete die freiwillige Zustimmung der Individuen hingegen als «ausreichende rechtliche Grundlage»; zudem sei man damit nicht dem KVG unterworfen, weil die Prämien aus freien Mitteln der Versicherung, nicht aus den Geldern der OKP bezahlt würden.
Nachdem die Helsana der Aufforderung Lobsigers, das Bonusprogramm auf die Zusatzversicherung zu beschränken, nicht nachgekommen war, gelangte dieser vor das Bundesverwaltungsgericht, das nun entscheiden musste, ob «die Vergütungen das Prinzip des diskriminierungsfreien Zugangs zur Grundversicherung unterlaufe», wie es der Tagesanzeiger formulierte. Nicht Sache des Gerichtsverfahrens waren hingegen die Menge und die Verwendung der durch die App gesammelten Daten. Das Bundesverwaltungsgericht stützte Lobsigers Einschätzung teilweise. Es entschied, dass eine Einwilligung zur Weitergabe der Daten nur über die App nicht ausreiche und die Helsana die unrechtmässig beschafften Daten löschen müsse. Diesen Aspekt habe die Helsana aber bereits nach der Beschwerde des Datenschützers geändert, mittlerweile erfolge die Einwilligung bereits nach den gesetzlichen Vorgaben, berichteten die Medien. Offen liess das Gericht die Frage, ob das Bonusprogramm einer versteckten Prämienverbilligung gleichkomme und damit gegen das KVG verstosse.

Apps Krankenversicherer

Im Januar 2019 gab das Bundesgericht einer Beschwerde von betroffenen Personen recht, wonach die Einkommensgrenze bei der individuellen Prämienverbilligung (IPV) für Kinder und junge Erwachsene im Jahr 2017 im Kanton Luzern zu tief angesetzt war. Die Senkung der Grenze der Nettoeinkommen gemäss Steuererklärung für Ehepaare von CHF 75'000 auf CHF 54'000, mit der nur gerade der unterste Bereich der mittleren Einkommen unterstützt wurde, entspreche nicht dem KVG, das eine Unterstützung von «unteren und mittleren Einkommen» durch Prämienverbilligungen vorsehe. Die Kantone hätten zwar grosse Freiheiten bezüglich der Umsetzung der entsprechenden Regelung, die Ausführungsbestimmungen der Kantone dürften jedoch nicht gegen «Sinn und Geist der Bundesgesetzgebung» verstossen, erklärte das BGer. Das Kantonsgericht hatte zuvor eine Prüfung der entsprechenden Verordnung abgelehnt.
Die Medien führten die Senkung der Einkommensgrenze in Luzern auf eine vom Volk abgelehnte Steuererhöhung im Mai 2017 zurück. Da diese Gelder ausgeblieben seien, habe der Kanton die Einkommensgrenze für Kinder und junge Erwachsene rückwirkend gesenkt und somit CHF 15 Mio. gespart. Rund 8'000 Familien seien von dieser Änderung betroffen gewesen. Verschiedene Haushalte hätten gar bereits ausbezahlte Prämienverbilligungen zurückzahlen müssen.
Doch nicht nur im Kanton Luzern, auch in acht weiteren Kantonen läge die Einkommensgrenze unterhalb des Mittelstandes, erklärte die Presse mit Verweis auf einen Bericht des BAG. Insgesamt sei der Anteil der Prämienverbilligungskosten, welche die Kantone übernehmen, von etwa der Hälfte auf 41.7 Prozent gesunken – dabei gäbe es aber grosse kantonale Unterschiede.
Als «Steilpass des Bundesgerichts» für die SP erachtete der Blick dieses Urteil. So forderten die Sozialdemokraten in der Folge, dass alle Kantone ihre entsprechenden Regeln überprüfen. Man rechne damit, dass 200’000-300'000 Haushalte zu wenig Geld erhalten, erklärte die SP in einer Pressekonferenz. Die Kantone hätten einen Monat Zeit, bevor die Partei rechtliche Schritte einleite. Zudem seien nationale Regeln in diesem «föderalistischen Flickenteppich» dringend, erklärte etwa Barbara Gysi (sp, SG). Genau solche plante die SP mit ihrer Prämienentlastungsinitiative, deren Lancierung für Februar 2019 geplant war.
Doch nicht nur auf linker, auch auf bürgerlicher Seite begrüssten Gesundheitspolitiker gemäss Medien das Urteil. Der Präsident der Sozialdirektorenkonferenz, Martin Klöti (SG, fdp), erklärte etwa eine Harmonisierung der IPV als nötig. Andere bürgerliche Stimmen kritisierten hingegen, dass das Gericht hier in föderale Strukturen und somit in die Freiheit der Kantone eingreife.

Bundesgerichtsurteil zu den Prämienverbilligungen (2019)
Dossier: Prämienverbilligung

Im April 2018 urteilte das Bundesgericht in der Frage, ob der Bundesrat 2014 dazu berechtigt gewesen war, den Tarmed nach politischen Gesichtspunkten zu ändern. Der Bundesrat hatte bei der ersten Tarmed-Änderung entschieden, den Haus- und Kinderärzten mehr und den Spezialärzten im Tarmed weniger Geld für ihre Leistungen zuzusprechen. Dies erachtete die Privatklinik St. Anna in Luzern als widerrechtlich und verrechnete ihre Kosten weiterhin nach den alten, höheren Tarmed-Tarifen. Das eingesetzte Schiedsgericht, das nötig geworden war, weil eine Krankenversicherung diese höheren Tarife nicht akzeptiert hatte, gab der Klinik recht, woraufhin die Versicherung den Fall vors Bundesgericht weiterzog. Da in der Zwischenzeit auf Anraten des Spitalverbands H+ verschiedene Spitäler ihre Rechnungen unter Vorbehalt ausgestellt hatten, erwarteten sowohl Krankenversicherungen als auch Spitäler den Entscheid mit grossem Interesse.
Das Bundesgericht befand im April 2018, dass das KVG keine klaren Vorgaben dazu mache, welche Anpassungen der Bundesrat machen dürfe und wie er dabei vorgehen müsse. Folglich komme ihm diesbezüglich ein grosser Ermessensspielraum zu; er könne daher auch lineare Kürzungen sowie politisch motivierte Kürzungen wie die Förderung der Hausarztmedizin vornehmen. Die Krankenkassen zeigten sich erleichtert über das Urteil, das gemäss Santésuisse nun für Rechtssicherheit sorge. Der Berufsverband der Ärztinnen und Ärzte FMH zeigte sich erstaunt über den Entscheid und insbesondere darüber, dass es dem Bundesrat möglich sein soll, politische Aspekte zu berücksichtigen, während sich die Tarifpartner beim Tarmed strikt an den Wortlaut des KVG halten müssten. Die Medien urteilten, dass dieser Entscheid den Einfluss des Bundesrates stärke; Gewinner seien die Prämienzahlenden, lobte Santésuisse den Entscheid.

Revision des TARMED
Dossier: Tarifstrukturen im Gesundheitswesen

Im September und November 2017 entschied das Bundesverwaltungsgericht, dass Mittel und Gegenstände, die für die Pflege gebraucht werden, nicht mehr separat von den Krankenkassen bezahlt werden, da diese zu den Pflegekosten gehören. Zuvor hatten die Krankenversicherung CSS und Tarifsuisse, eine Tochtergesellschaft von Santésuisse, gegen einen Regierungsratsbeschluss des Kantons Basel-Stadt zur Verlängerung des bis 2014 gültigen Tarifvertrags im Bereich MiGeL um ein Jahr geklagt.
Das Gericht unterschied zwischen Mitteln und Gegenständen, die durch professionelles Personal, und solche, die durch die Patientinnen und Patienten selbst angewendet werden. Die Krankenkassen übernehmen zukünftig also nur noch die Kosten von Mitteln und Gegenständen Letzterer. Da die Kosten der MiGeL zum Beispiel in Pflegeheimen neu bereits in den fixen Vergütungen für die Pflegekosten enthalten sind, erhalten die Heime keine zusätzliche Entschädigung mehr dafür. Das Departement Gesundheit und Soziales des Kantons Aargau sprach in seiner Medienmitteilung von Ertragsausfällen für die Pflegeheime von CHF 4 Mio. und von unbekannt hohen Ausfällen für die Spitexbetriebe. In der Folge erklärte zum Beispiel die CSS, dass sie ab 1. Januar 2018 keine MiGeL-Produkte mehr vergüten werde. Erste Krankenversicherungen hätten gemäss Medienmitteilung des Kantons Aargau zudem mit Rückforderungen für die Jahre 2015 bis 2017 begonnen.

Urteil Bundesverwaltungsgericht betreffend MiGeL
Dossier: Änderungsvorschläge zur Mittel- und Gegenständeliste (MiGeL)

Jugendliche mit einer starken gesundheitlichen Beeinträchtigung, die nicht in der Lage sind, eine Ausbildung nach Berufsbildungsgesetz (BBG) zu absolvieren, erhalten die Möglichkeit einer niederschwelligen ein- oder zweijährigen IV-Anlehre oder einer praktischen Ausbildung nach INSOS. Bedingung ist jedoch, dass eine solche Ausbildung geeignet ist, um der Person eine ihren Fähigkeiten entsprechende Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. Das BSV hatte jedoch festgestellt, dass ein beträchtlicher Anteil Absolventinnen und Absolventen auch nach Abschluss der zweijährigen Ausbildung eine ganze IV-Rente benötigte. Es legte in der Folge in einem IV-Rundschreiben im Mai 2011 fest, dass den betroffenen Jugendlichen generell nur noch einjährige Ausbildungen zugesprochen werden sollen. Nur unter der Voraussetzung von guten Aussichten für eine rentenbeeinflussende Eingliederung respektive für eine Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt soll ein zweites Ausbildungsjahr möglich sein.
Diese neue Praxis kritisierten Behindertenorganisationen stark; die Organisationen Insieme Schweiz, Cerebral Schweiz und Procap Schweiz reichten eine Petition mit 107'675 Unterschriften für eine «Berufsbildung für alle – auch für Jugendliche mit Behinderung» ein. Unterstützung erfuhren sie 2015 von einem Rechtsgutachten, das in Artikel 16 IVG keine genügende rechtliche Grundlage für das entsprechende IV-Rundschreiben ausmachte.
Im Dezember 2016 bestätigte das Bundesgericht diese Einschätzung. Daraufhin gab das BSV bekannt, das Rundschreiben mit sofortiger Wirkung aufzuheben und IV-Anlehren und praktische Ausbildungen nach INSOS wieder generell für die Dauer von zwei Jahren zuzusprechen.
In der Zwischenzeit hatten Christian Lohr (cvp, TG; Po. 13.3615) und Christine Bulliard-Marbach (cvp, FR; Po. 13.3626) je ein Postulat eingereicht, die diese Problematik beinhalteten.

IV-Ausbildungen werden wieder zweijährig
Dossier: Praktische Ausbildung nach INSOS

Nachdem die Kleine Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die Schweiz im Februar 2016 wegen ihrer Praxis der Invaliditätsbeurteilung bei Teilzeitangestellten gerügt hatte, wurde ein Weiterzug an die Grosse Kammer abgelehnt, womit das Urteil gültig ist und umgesetzt werden muss. Gemäss der Anwältin der erfolgreichen Beschwerdeführerin wäre eine Änderung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung für eine Anpassung der Berechnungspraxis ausreichend. Der Bundesrat blieb jedoch bei seiner früheren Haltung, eine Berechnung auf Basis einer hypothetischen vollen Erwerbstätigkeit würde zu einer Ausweitung der Deckung der IV führen und Mehrkosten im Rahmen von jährlich CHF 35 bis 40 Mio. verursachen, weshalb man an der gemischten Methode grundsätzlich festhalten und lediglich kleine Änderungen vornehmen wolle. Dies schrieb er auch in einem Rundschreiben an die IV-Stellen Ende Oktober. In ähnlich gelagerten Fällen wie jenem der Beschwerdeführerin solle die umstrittene gemischte Methode dagegen nicht mehr angewandt werden. Davon betroffen sind Rentenbezügerinnen oder -bezüger, die aus familiären Gründen ihr Arbeitspensum reduzieren – dies soll nicht mehr zu einer Neubeurteilung der Invalidität führen und die betroffene Person entsprechend den bisherigen Status behalten. Am 20. Dezember 2016 entschied das Bundesgericht über das Revisionsgesuch der Beschwerdeführerin und bestätigte darin die soeben beschriebene Übergangsregelung. Bei Personen, die aus anderen Gründen als der Betreuung von Kindern im entsprechenden Alter Teilzeit arbeiten, wird der Invaliditätsgrad somit weiterhin mit der gemischten Methode berechnet.

Diskriminierung von Teilzeitangestellten

Im Oktober 2016 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) über den Fall einer Schweizer Bezügerin einer Unfallrente zu entscheiden, die von Privatdetektiven observiert worden war. Beauftragt worden waren die Privatdetektive von der Unfallversicherung, die den Verdacht hegte, dass die Rentnerin ihre Arbeitsunfähigkeit nur vortäusche. Aufgrund eines in der Folge unter Miteinbezug der Resultate der Observierung erstellten Gutachtens waren die Versicherungsleistungen der Rentnerin gekürzt worden – ein Vorgehen, das 2010 auch vom Bundesgericht gestützt worden war. Der Gerichtshof in Strassburg urteilte jedoch, dass dieses Vorgehen das Recht auf Achtung von Privat- und Familienleben verletzt habe. Ferner sei die Gesetzesgrundlage in der Schweiz – in Betracht gezogen wurden das ATSG und das UVG – bezüglich der Observierung von Versicherten nicht ausreichend. Die Rahmenbedingungen seien nicht klar geregelt, so sei zum Beispiel fraglich, wann und wie lange Observationen durchgeführt werden dürfen und was mit den erhobenen Daten geschehe.
Dieser Entscheid des EGMR dürfte gemäss Experten Auswirkungen auf die Überwachung von Leistungsbeziehenden durch die UV im Allgemeinen, aber auch durch die IV haben, da vermutlich auch die Bestimmungen im IVG nicht ausreichten. Die Suva gab in der Folge bekannt, bis auf Weiteres auf den Einsatz von Detektiven zu verzichten. Der Behindertenverband Agile.ch kritisierte, IV-Bezügerinnen und -Bezüger würden unter Generalverdacht gestellt. In Bundesbern wurden noch im November 2016 zwei parlamentarische Initiativen (Pa.Iv. SGK-SR, Pa.Iv. SVP-Fraktion) eingereicht, mit denen die gemäss EGMR für Observationen nötige Gesetzesgrundlage geschaffen werden soll.

Entscheid des EGMR zur Überwachung von IV-Rentnern
Dossier: Überwachung von Versicherten (2016-2019)

Bereits im Juli 2015 hatte der Bundesrat in Beantwortung eines Postulats einen Bericht vorgelegt, in dem er einen „Optimierungsbedarf" bei der Bemessung von IV-Renten für Personen, die zuvor in einem Teilzeitpensum arbeiteten, ausmachte. Zum überwiegenden Teil sind davon Frauen betroffen. Im Februar 2016 fällte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein Urteil zur IV-Berechnung bei Teilzeitangestellten und rügte die gängige Praxis als diskriminierend gegenüber Frauen. Beschwerde eingereicht hatte eine Mutter mit einem Rückenleiden, deren Invaliditätsgrad nach der Geburt ihrer zwei Kinder gesenkt worden war, was in einem Verlust der Rente resultierte. Die IV hatte die so genannte gemischte Methode zur Berechnung angewandt, die für Teilzeit erwerbstätige Personen mit Haushaltspflichten gilt und die Arbeitsfähigkeit im Beruf und bei der Hausarbeit separat berücksichtigt. Der so berechnete Invaliditätsgrad wird jedoch nur entsprechend dem Teilzeitpensum berücksichtigt, womit es zu einer doppelten Gewichtung des Teilpensums kommt und der resultierende Invaliditätsgrad oft unter den minimalen 40% für eine Teilrente liegt. Entsprechende Fälle sind gemäss Aussage der Behindertenorganisation Procap häufig. Das Bundesgericht hatte dazugehörige Entscheide wiederholt mit dem Argument gestützt, nicht nur invalide, sondern auch gesunde Menschen würden nach der Geburt von Kindern Einkommenseinbussen erleiden, wenn sie ihre Erwerbstätigkeit einschränken oder aufgeben – diese gesellschaftliche Realität auszugleichen, sei nicht Aufgabe der IV, auch wenn davon primär Frauen betroffen sind. Die Teilzeitarbeit komme einem freiwilligen Verzicht auf einen Teil des Lohns gleich, womit auch Einbussen bei den Sozialversicherungen verbunden sind. Das Strassburger Gericht dagegen urteilte, es liege klar eine Diskriminierung vor, die Betroffenen würden in ihrem Recht auf Familienleben beeinträchtigt. Die gemischte Methode betreffe – dies gemäss Angaben des Bundesrates – zu 98% Frauen. Sie benachteilige damit einen grossen Teil der Mütter, die nach der Geburt eines Kindes ihre Erwerbstätigkeit reduzieren, und sei nicht mehr zeitgemäss. Trotz des knappen Entscheids des Gerichts von vier zu drei Stimmen wird dem Urteil eine Signalwirkung zugeschrieben.

Diskriminierung von Teilzeitangestellten

Bereits seit den 1990er-Jahren beschäftigen sich Politik, Justiz und medizinische Fachkreise mit der Frage, ob Schmerzen ohne nachweisbare körperliche Ursachen die Betroffenen zu einer Rente der Invalidenversicherung berechtigen. Seit 1991 und bis 2004 hatte das Bundesgericht die Frage bejaht, dann folgte ein Grundsatzurteil, wonach bei Schmerzstörungen ohne medizinisch belegte Ursache grundsätzlich keine IV-Rente gesprochen wird. Mit entsprechender Willensanstrengungen seien die Symptome in der Regel überwindbar. In der Folge weitete das Bundesgericht die entsprechende Rechtsprechung auch auf andere unklare Beschwerdebilder aus, zum Beispiel auf das chronische Erschöpfungssyndrom, Fibromyalgie und 2010 in einem viel beachteten Urteil auch auf Schleudertraumata. Die Betroffenen leiden an Kopfschmerzen, anderen Schmerzen, Schwindel, Übelkeit, ständiger Müdigkeit oder weiteren Symptomen, was bisweilen als „buntes Beschwerdebild" beschrieben wird. Verschiedene Urteile waren seither an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte EGMR weitergezogen worden, dieser hatte jedoch noch keinen der Fälle behandelt.
Mitte 2014 hatte ein renommierter Münchner Professor und Experte für psychosomatische Medizin ein Gutachten vorgelegt, das als wegweisend betrachtet wurde. Es hielt fest, dass die bundesrichterliche Praxis auf veralteten wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhe. Gemäss dem aktuellen Wissensstand seien zwar manche Beschwerden nicht durch Messungen belegbar und damit nicht objektiv beweisbar, dies gelte jedoch auch bei anerkannten psychischen Störungen wie schweren Depressionen, welche zu einer Rentenberechtigung im Rahmen der IV führen. Auch seien chronische Schmerzen und ähnliche Störungen nicht, wie es das Bundesgericht annimmt, weniger gravierend und leichter zu überwinden als schwere psychische Krankheiten, weshalb eine Ungleichbehandlung nicht gerechtfertigt sei. Das Bundesgericht verkenne zudem den Einfluss sozialer Faktoren auf den Krankheitsverlauf, obwohl dieser wissenschaftlich belegt ist. Als Folge des in der Fachwelt auf hohen Anklang stossenden Gutachtens wurde die Vermutung laut, das Bundesgericht könnte seine Praxis anpassen. Mehrere medizinische Fachgesellschaften begannen gemeinsam die Erarbeitung von Leitlinien für die so genannten somatoformen Störungen. An genau solchen medizinischen Richtlinien hatte es dem Bundesgericht bei seinem Urteil 2004 gefehlt, worauf es die Kriterien für eine Invalidität kurzerhand selbst festgelegt hatte.
In einem im Juni 2015 veröffentlichten Urteil milderte das Bundesgericht seine Praxis tatsächlich ab. Insbesondere gab es die Annahme auf, wonach die Versicherten ihre unklaren Symptome in der Regel mit einer zumutbaren Willensanstrengung überwinden könnten. Damit solle den gemachten Erfahrungen und der Kritik aus Medizinkreisen Rechnung getragen werden. Anstelle der Vermutung der grundsätzlichen Überwindbarkeit soll ein neues strukturiertes Beweisverfahren zur Anwendung kommen, mit dem das tatsächliche Leistungsvermögen der Versicherten gesamthaft und „ergebnisoffen" überprüft wird. Dazu soll ein weites Set an Indikatoren herangezogen werden, das auch die neuen Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften berücksichtigt. Eine Rente wird weiterhin nur bei so genannt objektiver Erwerbsunfähigkeit gesprochen. Vorerst blieb noch offen, wie sich die veränderte Bundesgerichtspraxis auf die Anzahl der Rentengewährungen durch die IV und damit auch auf die Kosten der IV auswirken würde. Vonseiten des Bundesamtes für Sozialversicherungen hiess es, die IV-Stellen müssten ihre Abläufe nun rasch anpassen. Es sei möglich, dass in Zukunft bei unklaren Beschwerdebildern vermehrt Teilrenten gesprochen würden, wodurch die Anzahl der Neurenten ansteigen könnte.
Im Dezember 2015 machte das Bundesgericht klar, die neue Beurteilungspraxis gelte nur für neue IV-Gesuche, nicht für bereits abgelehnte Fälle. Eine Neubeurteilung sei nicht vorgesehen, die Aussichten auf eine IV-Rente seien für Betroffene nicht grundsätzlich angestiegen. Die Forderung der Änderungen beim Nachweis vom Invalidität im Urteil vom Juni führe nicht dazu, dass nach den alten Kriterien getroffene Entscheide der IV rechtswidrig oder nicht vertretbar gewesen wären.

IV-Rente für Schmerzpatienten

Ein wegweisendes Urteil zur Rückzahlung von Krankenkassenreserven fällte ein Genfer Gericht im Mai 2011. Die Krankenkassen Assura und Supra hatten zuvor angekündigt, ihre vor allem in den Westschweizer Kantonen geäufneten Reserven gesamtschweizerisch verteilen zu wollen. Dagegen hatte der Schweizerische Verband der Versicherten (ASSUAS) eine Strafanzeige wegen Veruntreuung eingereicht, nachdem die Kantone Genf, Waadt und Neuenburg die Umverteilung kritisiert hatten. Das Genfer Gericht entschied jedoch, dass das KVG keine rechtliche Grundlage für eine solche Anzeige biete, da es keine Reserven pro Kanton vorsehe. Pierre-Yves Maillard (VD, sp) kritisierte diese Entscheidung als Präsident der GDK und verwies darauf, dass eine solche Umverteilung vielleicht legal, aber moralisch nicht korrekt sei.
Bereits im Jahr 2009 hatte sich der Kanton Genf mit einer Standesinitiative dafür eingesetzt, dass Reserven zukünftig für jeden Kanton einzeln gebildet werden. Die Standesinitiative wurde bisher vom Nationalrat angenommen, die Behandlung im Ständerat war jedoch noch hängig.

Assura und Supra

Viertelsrenten der IV müssen dem Empfänger auch nach einem Wegzug in ein EU-Land ausgerichtet werden. Laut Eidg. Versicherungsgericht unterliegen sie wie ausserordentliche AHV-Renten der Exportpflicht. Das IVG bestimmte bisher, dass Invalidenrenten, die einem Invaliditätsgrad von weniger als 50% entsprechen, nur an Versicherte ausgerichtet werden, die ihren Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz haben. Die Luzerner Richter verwiesen in ihrem Grundsatzentscheid auf das Freizügigkeitsabkommen mit der EU, welches auf den 1. Juni 2002 in Kraft trat. Dieses verbietet eine Rentenkürzung, wenn sich ein Anspruchsberechtigter im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates niedergelassen hat.

Entscheid des eidgenössischen Versicherungsgericht zu Viertelsrenten
Dossier: Fünfte IV-Revision (2004-2009)

Da das BPV trotz persönlichem Vorsprechen von Abgeordneten deren Ansicht nach nur unzureichende Unterlagen vorlegte, gründeten Parlamentarierinnen und Parlamentarier die „Schutzgemeinschaft für KMU und ihre Versicherten“. Unter dem Präsidium von Nationalrat Ineichen (fdp, LU) und dem Vizepräsidium von Nationalrat und SGK-NR-Präsident Bortoluzzi (svp, ZH) gehörten ihr als weitere Mitglieder die Nationalrätinnen Egerszegi (fdp, AG) und Fetz (sp, BS), Nationalrat Rechsteiner (sp, BS) sowie Ständerat und SGK-SR-Präsident Frick (cvp, SZ) an. Die Gründung der Vereinigung war nötig im Hinblick auf eine allfällige Beschwerde, mit der die Offenlegung weiterer Unterlagen erreicht werden sollte. Unterstützung fand sie beim Präsidenten des Gewerbeverbands. Aber auch der Präsident des Arbeitgeberverbandes, grundsätzlich ein Befürworter der Senkung des Umwandlungssatzes auf unter 6,8%, befand, eine derartige Massnahme könne nicht schockartig ergriffen werden, sondern müsse über Jahre erfolgen. Die Gewerkschaften beschlossen ebenfalls eine Beschwerde. Beide Rekurse wurde Mitte September eingereicht. Insgesamt gingen 29 Begehren um aufschiebende Wirkung ein, die Ende Jahr von der zuständigen Eidgenössischen Rekurskommission abgelehnt wurden.

Beschwerde

Das BSV wollte den Krankenkassen Swica und Helsana verbieten, sogenannte Billigkassen zu gründen, da damit Solidaritätselemente wie der Risikoausgleich und die Prämiengleichheit für alle Versicherten einer Gruppe umgangen werden können. Da es Kassenkonglomeraten, die aus mehreren einst unabhängigen Kassen entstanden sind (beispielsweise Groupe Mutuel und ÖKK), nicht verwehrt werden kann, in diesen Teilkassen unterschiedliche Prämienstrukturen zu haben, fochten Swica und Helsana diesen Entscheid beim Gesamtbundesrat an. Die Helsana gelangte auch ans Eidg. Versicherungsgericht, das ihr Recht gab. Der exklusive Zugang über Internet und Callcenters werde tatsächlich in erster Linie junge Leute anziehen („gute Risiken“), aber so lange die älteren Versicherten nicht explizit ausgeschlossen werden, sei die Gründung nicht gesetzeswidrig. Damit kann das BSV nur nachträglich überprüfen, ob die neuen Kassen allen zugänglich sind oder ob Risikoselektion betrieben wird.

Billigkassen Eidg. Versicherungsgericht

Befindet der Bundesrat aufgrund eines Rekurses über Tarife oder kantonale Spitallisten, kann sein Entscheid nicht ans Eidgenössische Versicherungsgericht (EVG) weiter gezogen werden. Dieses trat in einem neuen Grundsatzentscheid nicht auf eine Verwaltungsgerichtsbeschwerde des Schweizer Paraplegiker-Zentrums Nottwil (LU) ein, das keinen Eingang in die Zürcher Spitalliste gefunden hatte und dagegen vergeblich beim Bundesrat interveniert hatte. Das EVG kam zum Schluss, der bundesrätliche Entscheid sei auf Grund der einschlägigen Verfahrensnormen (KVG und Bundesrechtspflegegesetz) abschliessend. Damit sei die Zuständigkeit einer Gerichtsinstanz auch nicht auf dem Umweg über eine verfassungskonforme Gesetzesauslegung oder Lückenfüllung zu begründen. Genau dies fanden aber mehrere Parlamentarier völlig unbefriedigend, da das für Beschwerden zuständige EJPD für deren Behandlung oft sehr lange braucht und zudem, da mit der Gesundheitspolitik wenig vertraut, Entscheide fällt, die nur schwierig nachvollziehbar sind. Im Vorjahr hatte das EJPD der Beschwerde von Privatspitälern in den Kantonen St. Gallen und Basel-Stadt stattgegeben, denen die Kantonsregierung wegen nicht ausgewiesenen Bedarfs die Aufnahme in die Spitalliste verweigert hatte. Der Entscheid war kritisiert worden, weil er die Bemühungen des EDI für eine konsequente Spitalplanung unterlaufe. Im Berichtsjahr nahm der Ständerat eine Empfehlung Plattner (sp, BS) an (Emp. 99.3530), die den BR bittet, diesbezüglich koordinierter vorzugehen. Weitergehende Forderungen wurden im Nationalrat gestellt. Mit einer parlamentarischen Initiative wollte Vallender (fdp, AR) erreichen (Pa.Iv. 99.448), dass Rekurse im Krankenversicherungsbereich ganz den Gerichten (kantonales Schiedsgericht, eidg. Versicherungsgericht) übertragen werden. Da die Initiative ausformuliert war und in den Details nicht den Vorstellungen des Nationalrates entsprach, wurde dem Vorstoss keine Folge gegeben. Weil der Rat die grundsätzlichen Bedenken der Initiantin aber durchaus teilte, überwies er ein Postulat seiner SGK (Po. 00.3008), mit welchem er den Bundesrat auffordert, die Einsetzung einer unabhängigen Rekurskommission zu prüfen.

Eidgenössische Versicherungsgericht Grundsatzentscheid Verwaltungsgerichtsbeschwerde

Art. 102 KVG besagt klar, dass die unter dem früheren Recht zurückgelegten Versicherungszeiten bei der Festsetzung der Prämie anzurechnen sind. Diesen Artikel erklärte nun aber das Bundesgericht im Fall der Zusatzversicherung eines älteren Ehepaares als nicht anwendbar, weil er dem Geist des neuen Gesetzes widerspreche, wonach die Prämien risikogerecht festzusetzen sind. Mit diesem Urteil, das recht viel Staub aufwirbelte, wichen die Lausanner Richter erstmals vom Grundsatz ab, dass die Auslegung einer Rechtsnorm erst dort anfangen darf, wo die Klarheit des Textes aufhört. Das EDI nahm keine Stellung zu dieser brisanten Frage und verschanzte sich hinter der Feststellung, bei der Beratung des KVG habe der Gesetzgeber ganz bewusst darauf verzichtet, die Zusatzversicherungen im Krankenversicherungsrecht zu regeln und hätten diese dem Privatassekuranzbereich überlassen. Dieser Entscheid des Bundesgerichtes führte für 1999 zu teilweise massivsten Prämienschüben für die privat- oder halbprivatversicherten älteren Versicherungsnehmer.

Urteil des Bundesgerichts bezüglich Art. 102 KVG

Das Eidgenössische Versicherungsgericht pfiff die kantonalen Arbeitslosenkassen zurück, welche in letzter Zeit tendenziell jede falsche Angabe der arbeitslosen Versicherten ihnen gegenüber als "grobes Verschulden" werteten und damit mit der höchstmöglichen Streichung von Taggeldern ahndeten.

Eidgenössische Versicherungsgericht falsche Angabe der arbeitslosen Versicherten Streichung von Taggeldern

Es widerspricht nicht der Bundesverfassung, Schweizer und Ausländer in der Sozialversicherung ungleich zu behandeln, sofern dafür ein vernünftiger Grund vorliegt. Das entschied das Bundesgericht. Rund die Hälfte der Kantone hatte die Ausrichtung von Prämienverbilligungen in der Krankenversicherung auf Schweizer und auf Personen mit Wohnsitz in der Schweiz eingeschränkt. Saisonniers und Kurzaufenthalter wurden von der Anspruchsberechtigung ausgeschlossen. Die Gewerkschaft Bau und Industrie erhob gegen die entsprechende Thurgauer Regelung Beschwerde in Lausanne. Sie argumentierte, der Ausschluss der Saisonniers von der Prämienverbilligung verstosse gegen das Krankenversicherungsgesetz, welches eine Prämienverbilligung für alle Versicherten in bescheidenen finanziellen Verhältnissen vorsehe. Das Bundesgericht befand, eine Schlechterstellung sei zulässig, weil Saisonniers in der Schweiz keinen Wohnsitz haben und ihr Lebensmittelpunkt nicht in der Schweiz liegt. Die wirtschaftlichen Verhältnisse von Saisonniers und Kurzaufenthaltern seien anders als jene von Personen, die auch ganzjährig mit den hiesigen - in aller Regel höheren - Lebenshaltungskosten konfrontiert seien. Saisonniers und Kurzaufenthalter, die nur vorübergehend in der Schweiz leben, können gemäss Bundesgericht keine Unterstützung aus allgemeinen Steuergeldern erwarten.

Ungleichbehandlung Schweizer und Ausländer in der Sozialversicherung Bundesgericht

In einem Leitentscheid anerkannte das Bundesgericht erstmals ausdrücklich ein ungeschriebenes Verfassungsrecht auf ein Minimum an staatlicher Fürsorge, das aus der persönlichen Freiheit und aus der Menschenwürde abgeleitet wird. Auch wer durch sämtliche sozialen Sicherheitsnetze gefallen ist, soll keine Bettelexistenz führen müssen. Praktisch bedeutsam wird die Anerkennung dieses Grundrechtes vorwiegend in Ausnahmefällen, in denen die zahlreichen Gesetze von Bund, Kantonen und Gemeinden den Notbedarf einer Person nicht decken. Das Urteil wurde von drei Staatenlosen erfochten, denen der Kanton Bern aufgrund ihrer prekären fremdenpolizeilichen Situation Fürsorgeleistungen verweigert hatte.

Recht auf Existenzsicherung parlamentarische Initiative

Das Eidg. Versicherungsgericht (EVG) entschied in einem neuen Grundsatzurteil, dass sich eine Person, die durch Alkohol- oder Tabakmissbrauch zum Invaliden wird, inskünftig keine IV-Rentenkürzung mehr gefallen lassen muss. Das EVG berief sich dabei auf zwei internationale Abkommen, welche die Kürzung einer Invalidenrente nur zulassen, wenn jemand seine Gesundheit absichtlich geschädigt hat. Nach Auffassung des EVG ist äusserst fraglich, ob bei chronischem Missbrauch von Alkohol und Tabak überhaupt je von absichtlichem Selbstverschulden die Rede sein kann.

Keine IV-Rentenkürzungen mehr bei Alkohol- oder Tabakmissbrauch (1993)

Indem es erstmals eine Ungleichbehandlung von Mann und Frau direkt beseitigte, fällte das Eidg. Versicherungsgericht in Luzern einen Entscheid mit Signalwirkung. Es wurde erkannt, dass eine kantonalrechtliche Ordnung, wonach einerseits der Anspruch auf Witwerrente nur besteht, wenn der Witwer während der Ehe auf den Verdienst der Ehefrau angewiesen war und er nachher nicht voll erwerbsfähig ist, währenddem anderseits der Anspruch auf Witwenrente allein durch den Tod des Ehemannes begründet wird, eine geschlechtsspezifische Unterscheidung darstellt, die sich weder mit biologischen noch mit funktionalen Verschiedenheiten der Geschlechter rechtfertigen lässt und daher gegen Art. 4 Abs. 2 BV verstösst.

Ungleichbehandlung von Mann und Frau Eidg. Versicherungsgericht Entscheid mit Signalwirkung