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Jahresrückblick 2022: Föderativer Aufbau

Die Diskussionen über Krisentauglichkeit und allfälligen Reformbedarf des schweizerischen föderalistischen Systems hielten 2022 wie schon in den Vorjahren an, allerdings in geringerer medialer Intensität: Mit dem Abflauen der Covid-19-Pandemie und der Aufhebung der meisten Massnahmen ging Anfang Jahr auch das Medieninteresse an Fragen des Föderalismus auf das Niveau vor der Pandemie zurück (siehe die Abbildungen in der angehängten APS-Zeitungsanalyse 2022).
Viele Medien, Behörden und Forschende zogen aber Bilanz darüber, ob der Föderalismus bei der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie eher Fluch oder Segen gewesen sei. Dabei herrschte weitgehend Einigkeit, dass der Föderalismus verschiedentlich einem Schwarzpeter-Spiel Vorschub leistete, bei dem Bund und Kantone sich gegenseitig die Verantwortung für unpopuläre Entscheidungen zuschoben. Kantonal unterschiedliche Regelungen wurden oft als Flickenteppich wahrgenommen, was möglicherweise der generellen Akzeptanz von Einschränkungen schadete. Andererseits wurden dank dem «föderalen Labor» diverse innovative Lösungen in einem Kanton entwickelt und konnten im Erfolgsfall dann auch anderswo übernommen werden – so etwa die Zürcher Lösung für die Unterstützung von Kulturschaffenden, das Zuger Ampelsystem oder die Bündner Massentests, welche ihrerseits aus dem Wallis inspiriert waren. Weil der Föderalismus zu einer breiteren Abstützung politischer Massnahmen zwingt, hat er gemäss einer verbreiteten Einschätzung die Entscheidungsfindung verlangsamt und tendenziell verwässert, die Akzeptanz in der Gesellschaft dadurch aber vermutlich verbessert. Kritik gab es in den Medien, aber auch aus den Kantonen, an der Rolle der interkantonalen Konferenzen der Kantonsregierungen: Diese seien fälschlicherweise als Sprachrohre der Kantone gegenüber dem Bund und der Öffentlichkeit wahrgenommen worden.

Aufgrund dieser Diskussionen wurden teilweise auch Konsequenzen in Form von institutionellen Anpassungen gefordert. Ein von verschiedenen Seiten vorgebrachtes Anliegen war eine klarere Kompetenzzuteilung und eine bessere Koordination zwischen Bund und Kantonen. Derweil rückte die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) wieder von ihrer Ende 2020 formulierten Forderung nach einem paritätisch zusammengesetzten politisch-strategischen Führungsorgan von Bund und Kantonen ab; sie erachtete nun im Fall einer Krise bloss noch einen gemeinsamen Krisenstab auf operativer Ebene und eine Intensivierung des Dialogs auf strategischer Ebene für nötig. Zudem solle das Epidemiengesetz dem Bund künftig bereits in der besonderen Lage (und nicht erst in der ausserordentlichen Lage) eine «strategische Gesamtführung» und zusätzliche Kompetenzen für landesweite Massnahmen übertragen. Kritikerinnen und Kritiker witterten darin eine neue Schwarzpeter-Strategie: Die KdK wolle Verantwortung an den Bund abschieben. Die KdK selbst argumentierte hingegen, es gehe ihr um die Vermeidung von Flickenteppichen.

Die zwei Seiten der Föderalismusmedaille – einerseits Begünstigung innovativer Lösungen durch das föderale Labor, andererseits Verlangsamung einheitlicher Lösungen und Koordinationsbedarf zwischen Bund und Kantonen – blieben auch in anderen Bereichen ein unerschöpfliches Thema der öffentlichen Diskussion. So wurde etwa diskutiert, ob der Föderalismus bei der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung(en) in der Schweiz als Motor oder vielmehr als Bremsklotz wirke.
Die Aufgabenteilung und die Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen war auch bei der Aufnahme der zahlreichen nach der russischen Invasion aus der Ukraine Geflüchteten ein Thema. Aufgrund der erstmaligen Aktivierung des Schutzstatus S waren dabei Fragen zu klären, wie jene nach einem Schlüssel für die Zuteilung der Geflüchteten auf die Kantone oder nach der finanziellen Unterstützung des Bundes für ihre Betreuung in den Kantonen.
In der Diskussion um eine drohende Energieknappheit forderte die Konferenz kantonaler Energiedirektoren (EnDK) nebst der Einberufung eines Krisenstabs auf Bundesebene mehr und frühzeitigere koordinierende Vorgaben vom Bund, worauf dieser vorerst nicht einging. Manche Kommentatorinnen und Kommentatoren fühlten sich an das «Gschtürm» während der Covid-19-Pandemie erinnert: Erneut schöben Bund und Kantone einander gegenseitig die Verantwortung für unpopuläre Massnahmen zu.

Die Debatte um das Verhältnis zwischen Stadt und Land flaute im Vergleich zum Vorjahr deutlich ab – bis sie im Zusammenhang mit den Bundesratsersatzwahlen im Dezember unvermittelt wieder hochkochte: Einige Stimmen in den Medien befürchteten aufgrund der Wohnorte der künftigen Bundesratsmitglieder eine Übervertretung der ländlichen Schweiz, andere sahen auf lange Sicht gerade im Gegenteil die Städte übervertreten, während Agglomerations- und Landgemeinden weniger Bundesratsmitglieder stellten als es ihrem Bevölkerungsanteil entspräche. Dagegen gehalten wurde aber vor allem auch, dass die aktuellen Wohnorte der Bundesratsmitglieder bloss von marginaler Bedeutung für die Vertretung regionaler Interessen in der Schweiz seien.

Derweil tat sich bei zwei Volksabstimmungen ein Röstigraben auf: Sowohl beim knappen Ja zur AHV-21-Reform als auch beim Nein zum Medienpaket wurde die Romandie (und bei der AHV zudem das Tessin) von einer Mehrheit der Deutschschweiz überstimmt. Zwei im Berichtsjahr erschienene Studien zum Röstigraben gaben indessen eher zu Gelassenheit Anlass: Sie zeigten unter anderem, dass sämtliche Kantone – auch jene der Sprachminderheiten – deutlich häufiger auf der Gewinner- als auf der Verlierseite stehen und dass es bisher nicht einmal bei jeder hundertsten Volksabstimmung zu einem «perfekten» Röstigraben gekommen ist, bei dem sämtliche mehrheitlich französischsprachigen Kantone auf der einen und sämtliche Deutschschweizer Kantone auf der anderen Seite standen.

In der schier unendlichen Geschichte um die Kantonszugehörigkeit von Moutier unternahmen Beschwerdeführende 2022 einen Versuch, das Abstimmungsergebnis von 2021 mit einem Rekurs umzustossen. Das bernische Statthalteramt trat auf den Rekurs jedoch nicht ein, sodass es nicht zu einer weiteren Abstimmungswiederholung kommt: Moutier wird also vom Kanton Bern zum Kanton Jura übertreten – und zwar möglichst per 1. Januar 2026. Auf dieses Datum konnten sich die beiden Kantone und der Bund inzwischen einigen. Bis dahin ist noch eine Reihe inhaltlicher Fragen zu lösen, und das Ergebnis muss in Volksabstimmungen in den Kantonen Bern und Jura sowie mit einem Parlamentsbeschluss des Bundes abgesegnet werden.
Nachdem die bisher ebenfalls bernische Gemeinde Clavaleyres diesen Prozess bereits durchlaufen hatte, stellte der Wechsel von Clavaleyres zum Kanton Freiburg am 1. Januar 2022 nur noch eine Vollzugsmeldung dar. Es handelte sich dabei um die erste Grenzverschiebung zwischen zwei Schweizer Kantonen seit 1996, als Vellerat den Kanton Bern zugunsten des Kantons Jura verliess.

Häufiger als Kantonswechsel sind Gemeindefusionen innerhalb desselben Kantons. Der Trend zu weniger und grösseren Gemeinden ging 2022 weiter: Am 1. Januar 2022 betrug die Zahl der Gemeinden in der Schweiz 2'148, das waren 24 weniger als ein Jahr davor. Damit ging die Entwicklung in einem ähnlichen Tempo weiter wie in den Vorjahren.

Jahresrückblick 2022: Föderativer Aufbau
Dossier: Jahresrückblick 2022

Jahresrückblick 2022: Bildung und Forschung

Im Bereich der obligatorischen Schulen standen im Frühjahr 2022 die Diskussionen um ukrainische Kinder im Zentrum des medialen Interesses. Aufgrund des Krieges in der Ukraine waren insbesondere zahlreiche ukrainische Frauen und Kinder in die Schweiz geflohen, weshalb sich die Frage stellte, wie diese Kinder sinnvoll in das Schweizer Schulsystem integriert werden können. Diese Herausforderung fügte sich in einen ohnehin vorherrschenden Mangel an Lehrpersonen ein, über welchen insbesondere zum Schulstart im August debattiert wurde. Wie die Medien berichteten, mussten zahlreiche Schulen auf bereits pensionierte Lehrkräfte, Studierende der PH oder auf Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger zurückgreifen, um alle Stellen besetzen zu können. Wie eine Studie des BFS allerdings zeigte, wird sich der Mangel an Lehrpersonen in den nächsten Jahren wohl verringern, da insbesondere die Anzahl der Neuabsolventinnen und Neuabsolventen der PH ansteige.

Der Themenbereich Forschung war geprägt von der Nicht-Teilnahme am EU-Forschungsprogramm Horizon Europe und deren Auswirkungen auf die Schweizer Forschungs- und Hochschullandschaft. In zahlreichen Voten im Parlament und in der medialen Berichterstattung machte sich zunehmend Unmut über den Ausschluss der Schweizer Forschung bemerkbar. Im Berichtsjahr wurden zahlreiche Vorstösse eingereicht und behandelt, mit denen das Parlament einen Ausweg aus dieser vertrackten Situation suchte. Eine Motion der APK-NR, die im Sommer 2022 vom Nationalrat angenommen wurde, verlangte beispielsweise vom Bundesrat, Verhandlungen mit der EU über eine spezifische Vereinbarung für eine umgehende Assoziierung der Schweiz als Drittland an die verschiedenen EU-Forschungsprogramme aufzunehmen. Die WBK-NR hingegen forderte vom Bundesrat mehr Transparenz über die Verwendung der Mittel des Horizon-Pakets 2021-2027. Als sich im Verlaufe des Berichtsjahres immer stärker abzeichnete, dass die von der EU geforderten institutionellen Fragen in den Beziehungen Schweiz–EU nicht mehr im laufenden Jahr gelöst werden können, schloss die WBK-SR in Umsetzung zweier Standesinitiativen (Pa.Iv. BS 21.328; Pa.Iv. BL 21.327) vor, einen befristeten Fonds für die finanzielle Unterstützung der internationalen Forschungszusammenarbeit einzurichten.
Die Häufung an Zeitungsartikeln über den Ausschluss aus Horizon, ersichtlich in Abbildung 1 der APS-Zeitungsanalyse, führte – neben der intensivierten Berichterstattung über die schliesslich an der Urne verworfenen Tierversuchs-Initiative – im Januar 2022 zu einem medialen Peak: Der Bereich Bildung und Forschung machte in diesem Monat etwas über 5 Prozent der gesamten Medienberichterstattung über die Schweizer Politik aus, während er im Durchschnitt des Jahres 2022 bei knapp 3 Prozent zu liegen kam.
Erfolgreicher als bei Horizon Europe zeigte sich die Schweiz in anderen Bereichen der Forschungszusammenarbeit: Bundesrat und Parlament sprachen sich im Jahr 2022 für Teilnahmeverhandlungen mit der EU am Programm «Copernicus» – einem satellitengestützten Erdbeobachtungsprogramm für umwelt- und sicherheitsrelevante Daten – aus. Zudem hiess das Parlament auch den Beitritt zu sechs ERIC-Forschungsinfrastrukturnetzwerken in den Bereichen Umweltwissenschaften, Life Sciences und Gesundheit sowie Sozial- und Geisteswissenschaften gut.

Im Bereich der Hochschulen wurde eine Debatte um die Anstellungsbedingungen und die Karrieremöglichkeiten des Mittelbaus geführt. Auf Basis von zwei Petitionen (21.2026 sowie 21.2051) reichte die WBK-NR im Frühjahr 2022 ein Postulat ein, mit welchem sie eine Bestandsaufnahme zu den Themen Prekarität, Gleichstellung und akademischer Nachwuchs beim Mittelbau der Schweizer Hochschulen forderte. Der Nationalrat überwies das Postulat in der Sommersession 2022.

Jahresrückblick 2022: Bildung und Forschung
Dossier: Jahresrückblick 2022

Jahresrückblick 2022: Aussenpolitik

Nach der Corona-Pandemie und dem institutionellen Rahmenabkommen 2020 und 2021 wurde das Jahr 2022 nun von einem gänzlich neuen Thema dominiert: Der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine löste in der Schweiz nicht nur Diskussionen zum Sanktionswesen aus, sondern auch eine Grundsatzdebatte zur Schweizer Neutralitätspolitik. Die APS-Zeitungsanalyse für das Jahr 2022 zeigt – im Vergleich zu den Vorjahren – das Aufkommen komplett neuer Themenschwerpunkte wie «Neutralität» und «Sanktionen» in der Medienberichterstattung (vgl. Abbildung 2 der Analyse im Anhang). Wenig überraschend zeigen sich Ausschläge in der Artikelzahl zum Thema Aussenpolitik im Februar und März rund um den Kriegsausbruch in der Ukraine. Zwar nahm der prozentuale Anteil der Berichte dazu in den folgenden Monaten ab, hielt sich aber bis in den Herbst hinein auf einem hohen Niveau.

Das Jahr 2022 begann aussenpolitisch mit einem grossen Paukenschlag, dem Kriegsausbruch in der Ukraine Ende Februar, der den Bundesrat gemäss Medien völlig auf dem falschen Fuss erwischte. Noch im Januar hatten sich die Aussenminister Russlands und der USA in Genf getroffen, um die angespannte Lage an der russisch-ukrainischen Grenze zu deeskalieren. Aussenminister Cassis hatte damals von einer «freundschaftlichen, aber konzentrierten Stimmung» gesprochen. Der Angriff Russlands auf die Ukraine im Donbass löste im Parlament, wie auch in der Bevölkerung heftige Reaktionen aus. Stände- und Nationalrat verabschiedeten wenige Tage nach Kriegsausbruch eine Erklärung, mit der sie einen sofortigen Waffenstillstand verlangten, und übten in der Folge Druck auf den Bundesrat aus, wirtschaftliche Sanktionen der EU zu übernehmen. Nach mehreren verbalen Verurteilungen des Vorgehen Russlands als völkerrechtswidrig und aufgrund des massiven Drucks aus dem In- und Ausland beschloss der Bundesrat am 27. Februar die Übernahme der Sanktionspakete der EU gegen Russland. Bundespräsident Cassis wurde in der Folge nicht müde zu betonen, dass die Schweiz ihre Neutralität mit dieser Art der Sanktionsübernahme beibehalte. In den folgenden Wochen und Monaten übernahm die Schweiz sämtliche Ausweitungen der Sanktionen der EU gegen Russland – und später auch gegen Belarus. Fast zeitgleich zur Übernahme des EU-Sanktionsregimes gab die Regierung bekannt, die ukrainische Bevölkerung mit Hilfsgütern zu unterstützen. Ein erstes Paket in Höhe von CHF 8 Mio. wurde in raschen Abständen durch weitere Hilfsgüterlieferungen und die finanzielle Unterstützung von humanitären Organisationen ergänzt. Im Bereich der Guten Dienste unterstützte die Schweiz den Reform- und Wiederaufbauprozess in der Ukraine mithilfe der von langer Hand geplanten Ukraine Recovery Conference, die im Juli in Lugano stattfand. Die seit 2017 jährlich stattfindende Ukraine Reform Conference wurde angesichts des Kriegsgeschehens umbenannt und inhaltlich neu ausgerichtet.

Der Erlass und die Übernahme von Sanktionen stellten nicht nur den Bundesrat, sondern auch das Parlament vor neue Fragen und hielten dieses auf Trab. Davon zeugen nicht nur die parlamentarischen Vorstösse zum Thema, sondern auch die intensiven Debatten, die im Rahmen der Anpassung des Embargogesetzes geführt wurden. Eine bereits im Jahr 2019 eingereichte parlamentarische Initiative zur Einführung einer Rechtsgrundlage für gezielte Sanktionen bei schweren Menschenrechtsverletzungen und Korruption durch hochrangige Politiker und Politikerinnen erhielt aufgrund der geopolitischen Umstände besondere Relevanz. Zwar wurde diese vom Ständerat abgelehnt, doch trug sie massgeblich zu einer umfassenden Debatte innerhalb des Parlaments über das Schweizer Sanktionswesen bei. Im Mai 2022 verlangte die APK-NR vom Bundesrat mittels einer Kommissionsmotion die Entwicklung einer kohärenten, umfassenden und eigenständigen Sanktionspolitik. Der reine Nachvollzug von EU- und UNO-Sanktionen genügten nach Ansicht der Kommission nicht, um die Landesinteressen der Schweiz in den Bereichen Sicherheit, Versorgungssicherheit und Rechtsstaatlichkeit zu gewährleisten.

Eng mit den Überlegungen zur Sanktionsthematik verknüpft war die Frage, inwiefern die Schweiz diese mit ihrer Neutralität respektive mit ihrer Neutralitätspolitik vereinbaren könne. Während die SVP die Schweizer Neutralität durch die übernommenen EU-Sanktionen als bedroht erachtete, liess Alt-Bundesrat Blocher bezüglich der Sanktionsübernahme verlauten: «Wer hier mitmacht, ist eine Kriegspartei.» Derweil wünschte sich die APK-SR vom Bundesrat in einem Postulat mehr Klarheit und Orientierung in der Neutralitätspolitik. Diese Forderung versprach der Bundesrat durch einen aktualisierten Neutralitätsbericht – der letzte stammte aus dem Jahr 1993 – zu erfüllen. Aussenminister Cassis scheiterte jedoch Anfang September mit der Konzeptionierung der von ihm geprägten «kooperativen Neutralität», als der Gesamtbundesrat den Neutralitätsbericht zurückwies. Erst Ende Oktober verabschiedete die Regierung den Bericht in Erfüllung des Postulats und beschloss, an der Neutralitätspraxis aus dem Jahr 1993 festzuhalten. Im gleichen Monat kündigte die neu gegründete nationalkonservative Gruppierung «Pro Schweiz» an ihrer Gründungsversammlung die Lancierung einer Volksinitiative an, mit der sie die «immerwährende bewaffnete Neutralität» der Schweiz in der Verfassung festschreiben will.

Wenn auch nicht im gleichen Ausmass wie in den Jahren zuvor, sorgten aber auch im Jahr 2022 die bilateralen Beziehungen mit der EU für einige Schlagzeilen. Insbesondere die vom Bundesrat im Januar vorgestellte neue Stossrichtung für das Verhandlungspaket mit der EU sorgte aufgrund des gewählten sektoriellen Ansatzes vielerorts für Kopfschütteln, nicht zuletzt bei EU-Vertreterinnen und -Vertretern selbst. Auch das Parlament kämpfte weiterhin mit den Nachwehen des gescheiterten Rahmenabkommens und beschäftigte sich mit der Vielzahl der 2021 eingereichten parlamentarischen Vorstösse, deren Forderungen von einer nachhaltigen Zusammenarbeit mit der EU, über einen EWR-Beitritt bis zum EU-Beitritt reichten. Der vom Bundesrat versprochene Europabericht, welcher eine Vielzahl der Vorstösse hätte beantworten sollen, liess indes auf sich warten. Im März schwebte überdies die Abstimmung über das Frontex-Referendum wie ein Damoklesschwert über der sowieso schon belasteten Beziehung mit der EU. Ein Nein hätte unter Umständen den Ausschluss aus dem Schengen/Dublin-Abkommen nach sich ziehen können. Zwar verschwanden entsprechende Diskussionen nach dem deutlichen Ja im März 2022 rasch, ein im Sommer publik gewordener Briefwechsel zwischen EU-Vize-Kommissionspräsident Maros Sefčovič und Staatssekretärin Livia Leu warf jedoch ein erneut negatives Licht auf den Stand der bilateralen Verhandlungen. Daraus ging hervor, dass auf beiden Seiten weiterhin Unklarheiten über die jeweiligen Forderungen und roten Linien existierten. Etwas Versöhnlichkeit zeigte das Parlament im März, als es einer Aktualisierung des Abkommens mit der Europäischen Gemeinschaft über Zollerleichterungen und Zollsicherheit zustimmte, sowie in der Herbstsession mit der Annahme zweier Vorlagen zur Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands. Auch die Anpassungen der Systeme ETIAS und VIS waren in beiden Räten ungefährdet.

Im Gegensatz zu den stagnierenden Beziehungen zur EU zeigte sich die Schweiz sehr aktiv im Umgang mit einzelnen Partnerländern. Das Verhältnis zum Vereinigten Königreich wurde im Frühling 2022 unter anderem durch ein Mobilitätsabkommen für Dienstleistungserbringende, ein Sozialversicherungsabkommen und durch einen Präsidialbesuch von Bundespräsident Cassis in London gestärkt. Ebenfalls im Frühjahr reiste Cassis wenige Wochen nach der Annahme des neuen Grenzgängerabkommens mit Italien im Parlament nach Italien, um sich unter anderem mit dem italienischen Aussenminister Luigi di Maio zu treffen. Generell zeigte sich Cassis in seiner Doppelrolle als Aussenminister und Bundespräsident sehr reise- und gesprächsfreudig. Das belegen unter anderem Staatsbesuche in Österreich und der Tschechischen Republik, Polen und Moldawien, Japan, Niger und dem Vatikan, aber auch Gespräche mit dem Aussenminister der VAE und der slowakischen Präsidentin Zuzana Čaputová.
In seiner Chinapolitik musste der Bundesrat 2022 innenpolitisch mehrere Dämpfer hinnehmen: Das Parlament stimmte gegen seinen Willen mehreren Motionen zu, mit denen die wirtschaftlichen Beziehungen mit China und der Whole-of-Switzerland-Ansatz anders ausgestaltet werden sollen.
Auf multinationaler Ebene stach insbesondere die erfolgreiche Wahl der Schweiz als nichtständiges Mitglied des UNO-Sicherheitsrats im Juni hervor. Darüber hinaus beschloss das Parlament, dass sich die Schweiz weiterhin an der internationalen Währungshilfe beteiligen soll, und verabschiedete einen Verpflichtungskredit in Höhe von CHF 10 Mrd. bis 2028, der als Notreserve bei starken Störungen des internationalen Währungssystems eingesetzt werden kann.

Jahresrückblick 2022: Aussenpolitik
Dossier: Jahresrückblick 2022

Jahresrückblick 2022: Kultur, Sprache, Kirchen

Nach gut zwei Jahren Covid-19-Pandemie war es dieses Jahr endlich wieder so weit: Die Schweiz durfte die Kultur wieder ohne Einschränkungen geniessen. Bereits am 16. Februar 2022 hob der Bundesrat den Grossteil der nationalen Massnahmen – auch diejenigen im Kulturbereich – auf, woraufhin es in der Kultur ein breites Aufatmen und Erwachen gab. Konzerte und Festivals, sowie Museen, Theater oder Kinos konnten wieder gänzlich ohne Einschränkungen besucht werden. Dies führte auch dazu, dass der Kulturbereich – nach zwei Jahren verstärkter Aufmerksamkeit durch Covid-19 – in den Medien etwas aus dem Fokus geriet, wie Abbildung 2 der APS-Zeitungsanalyse zeigt.

Die Kulturpolitik der Schweiz war 2022 von drei grösseren Themen geprägt: der Abstimmung zur Revision des Filmförderungsgesetzes, dem neuen Bundesgesetz über den Jugendschutz in den Bereichen Film und Videospiele und der Frage, wie die Schweiz mit Nazi-Raubkunst umgehen soll.

Nachdem die Beratungen zur Revision des Filmförderungsgesetzes – Lex Netflix – nach langwierigen Diskussionen als letztes Geschäft der Kulturbotschaft 2021-2024 in der Herbstsession 2021 zu einem Abschluss gekommen war, ergriffen die Jungfreisinnigen, die Jungen Grünliberalen sowie die Junge SVP Ende Januar 2022 erfolgreich das Referendum. Streaming-Anbietende wie Netflix oder Disney+ sollten mit diesem Gesetz unter anderem dazu verpflichtet werden, vier Prozent des Umsatzes in das schweizerische Filmschaffen zu investieren oder für die Bewerbung Schweizer Filme einzusetzen. Zudem mussten die Plattformen 30 Prozent des Angebots mit europäischen Beiträgen füllen. Die bürgerlichen Jungparteien störten sich besonders an diesen beiden Punkten: Zum einen befürchteten sie, mit der Pflichtabgabe würde eine Erhöhung der Abo-Preise einhergehen, und zum anderen erachteten sie die Quote für europäische Filme und Serien als «bevormundend und eurozentristisch». Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger nahmen das Gesetz im Mai 2022 jedoch mit 58.1 Prozent Ja-Stimmen an. Der Abstimmungskampf war dann auch das einzige Ereignis des Jahres, welches im Bereich Kulturpolitik zu einem substantiellen Anstieg der medialen Berichterstattung führte (vgl. Abbildung 1 der APS-Zeitungsanalyse).

Ohne grosse mediale Beachtung fanden in der Herbstsession 2022 die Beratungen um das neue Bundesgesetz über den Jugendschutz in den Bereichen Film und Videospiele nach gut zwei Jahren ein Ende. Ziel des Gesetzes soll es sein, Kinder und Jugendliche besser vor Gewalt- und Sexualdarstellungen in Filmen und Videospielen zu schützen, etwa durch eine schweizweite Alterskennzeichnung und -kontrolle der Produkte. Die Verantwortung, diese Regelungen zu entwickeln, wurde den Branchenorganisationen überlassen, welche entsprechende Expertinnen und Experten hinzuziehen sollen.

Für hitzige mediale Debatten sorgte hingegen die Kunstsammlung von Emil Bührle, der gemäss Medien ein Nazisympathisant und Waffenlieferant im Zweiten Weltkrieg war. Als Teile seiner Sammlung im Sommer 2021 im Kunsthaus Zürich ausgestellt worden waren, waren darob hitzige Diskussionen entbrannt, insbesondere weil Bührle Nazi-Raubkunst besessen habe und die Provenienz bei einigen Werken der Sammlung nicht endgültig geklärt sei. Diese Debatte ging auch an Bundesbern nicht ohne Spuren vorbei. So nahmen die Räte eine Kommissionsmotion der WBK-NR an, welche die Schaffung einer Plattform für die Provenienzforschung von Kulturgütern forderte. Weiter hiessen sie eine Motion gut, mit der eine unabhängige Kommission für NS-verfolgungsbedingt entzogene Kulturgüter geschaffen werden sollte. Offen liessen die Räte, ob eine solche Kommission auch für Raubkunst aus kolonialen Kontexten geschaffen werden soll.

Rund um die kirchen- und religionspolitische Fragen blieb es in der Bundespolitik im Jahr 2022 eher ruhig, jedoch weckte die katholische Kirche der Schweiz einige mediale Aufmerksamkeit, wie erneut in der APS-Zeitungsanalyse ersichtlich wird. Der Universität Zürich war im Frühling 2022 in Form eines Pilotprojekts ein Forschungsauftrag erteilt worden, mit dem die sexuellen Missbräuche innerhalb der Schweizer katholischen Kirche seit 1950 wissenschaftlich untersucht werden sollten. Dabei sollte ein Fokus auf die Strukturen gelegt werden, welche dabei geholfen hatten, die Missbräuche zu vertuschen. Zu diesem Zweck öffnete die katholische Kirche der Schweiz ihre Geheimarchive für die Forschenden.
Heftige Debatten rief auch der vom Churer Bischof Joseph Maria Bonnemain eingeführte, für die Angestellten aller Ebenen der katholischen Kirche verbindliche Verhaltenskodex hervor, mit dem sexuellem Missbrauch vorgebeugt werden sollte. Einige Priester von Chur weigerten sich, den Kodex zu unterzeichnen, da einzelne Weisungen daraus der katholischen Lehre entgegenlaufen würden – so untersage er es etwa, sich negativ über die sexuelle Ausrichtung von Menschen auszusprechen.

Anfang 2022 verlängerte das SEM die muslimische Seelsorge in den Bundesasylzentren, welche Anfang 2021 in einzelnen Regionen als Pilotprojekt eingeführt worden war. Zuvor hatte eine Studie des Schweizerischen Zentrums für Islam und Gesellschaft (SZIG) der Universität Freiburg eine positive Bilanz gezogen. Sollten die Ergebnisse auch nach diesem Jahr positiv ausfallen, strebt das SEM eine permanente Einführung des Angebots und einen Ausbau auf alle Bundesasylzentren an – sofern die Finanzierung dafür gesichert werden kann. Bereits 2018 war ein entsprechendes Pilotprojekt aufgrund fehlender finanzieller Mittel auf Eis gelegt worden.

Jahresrückblick 2022: Kultur, Sprache, Kirchen
Dossier: Jahresrückblick 2022

Jahresrückblick 2022: Soziale Gruppen
von Viktoria Kipfer und Marlène Geber

Die Schweizer Asylpolitik wurde vor allem im Frühjahr 2022 primär durch den Krieg in der Ukraine geprägt, wie auch die Abbildung 1 der APS-Zeitungsanalyse zeigt. So aktivierte die Schweiz im März 2022 erstmals den Schutzstatus S, der es den Geflüchteten aus der Ukraine erlaubt, ohne reguläres Asylverfahren in der Schweiz eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Bis im November 2022 fanden so rund 70'000 Flüchtende aus der Ukraine in der Schweiz Schutz. Das Zusammenleben zwischen Geflüchteten aus der Ukraine und Schweizerinnen und Schweizern nahm zu Beginn des Krieges eine Hauptrolle in der medialen Berichterstattung ein. So zeigten sich viele Schweizerinnen und Schweizer vor allem zu Beginn solidarisch mit den Flüchtenden, von denen in der Folge rund die Hälfte bei Privatpersonen unterkam, wie die SFH berichtete. Gleichzeitig wurde der Schutzstatus S aber auch als «faktische Ungleichbehandlung» der Ukrainerinnen und Ukrainer gegenüber allen anderen Asylsuchenden kritisiert. Folglich wurden im Parlament zahlreiche Vorstösse zum neuen Schutzstatus eingereicht, welche diesen unter anderem einschränken oder anpassen wollten – jedoch erfolglos. Insgesamt führte die Zeitungsberichterstattung zur Asylpolitik im Zuge des Ukraine-Kriegs zu einem deutlichen Anstieg des medialen Interesses des Jahres 2022 zum Thema «Soziale Gruppen» gegenüber dem Vorjahr (vgl. Abbildung 2 der APS-Zeitungsanalyse).

Diskutiert wurden auch allgemeine Neuregelungen bei den Asylsuchenden, etwa zur Schaffung der Möglichkeit, dass Asylsuchende nach einem negativen Aufenthaltsentscheid ihre Lehre in der Schweiz beenden dürften. Dieser Vorschlag scheiterte jedoch im Ständerat. Hingegen sprach sich der Nationalrat für zwei Motionen für eine Erleichterung des Zugangs zu einer beruflichen Ausbildung für abgewiesene Asylsuchende und Sans-Papier sowie für die Ermöglichung der Erwerbstätigkeit auch im Falle eines negativen Asylentscheids aus. Unverändert bestehen blieben die zwangsweisen Covid-19-Tests von Abgewiesenen bei der Rückstellung in ihr Herkunftsland, welche das Parlament bis ins Jahr 2024 verlängerte. Finanzielle Unterstützung wollte der Bundesrat schliesslich Kantonen mit Ausreisezentren an der Landesgrenze in Ausnahmesituationen gewähren, National- und Ständerat nahmen jedoch gewichtige Änderungen an der entsprechenden Revision des AIG vor.

Im Jahre 2022 unternahmen Bundesrat und Parlament einige Anstrengungen bei der Bekämpfung von häuslicher Gewalt und Gewalt an Frauen. Einerseits inspirierte ein Bericht zu Ursachen von Homiziden im häuslichen Umfeld eine Vielzahl verschiedener Vorstösse, andererseits diente auch die Ratifikation der Istanbul-Konvention als Ansporn zur Lancierung parlamentarischer Vorlagen gegen häusliche und geschlechterbezogene Gewalt. Als Erbe der letztjährigen Frauensession wurde zudem ein erster Vorstoss, der nationale Präventionskampagnen gegen Gewalt fordert, überwiesen. Während sich bei diesem Thema eine Allianz von Frauen verschiedenster Parteien beobachten liess, fand ein Vorstoss aus dem rechten Lager, mit dem Gewalt an Frauen künftig mit einer Freiheitsstrafe geahndet werden müsste, im Parlament keine Mehrheit. Des Weiteren rückte auch die Mehrdimensionalität der Gewalt an Frauen im Rahmen intersektionaler Vorstösse in den Fokus. Einerseits erhielt die Forderung nach verbessertem Schutz ausländischer Opfer vor häuslicher Gewalt mehr Aufmerksamkeit, andererseits wurde die Schutzbedürftigkeit von Menschen mit Behinderung bei häuslicher Gewalt hervorgehoben. Zwei weitere, im Frühjahr 2022 lancierte Vorlagen mit dem Titel «Wer schlägt, geht!» beschäftigten sich mit dem Wohnverhältnis nach Vorfällen der häuslichen Gewalt, während sich der Nationalrat in der Sommersession für eine nationale Statistik über Kinder, die Zeuginnen und Zeugen von häuslicher Gewalt sind, aussprach. Zuletzt forderten Vertreterinnen unterschiedlicher Parteien in sechs parlamentarischen Initiativen, Aufrufe zu Hass und Gewalt aufgrund des Geschlechts der Antirassismus-Strafnorm zu unterstellen, was von der erstberatenden RK-NR befürwortet wurde.

Die Idee eines «pacte civil de solidarité» (Pacs) treibt die Schweiz bereits seit mehreren Jahren um, was im Frühjahr 2022 in einem Bericht des Bundesrats über die «Ehe light» mündete. Auf Grundlage des Berichts wurde bereits ein parlamentarischer Vorstoss zur Schaffung entsprechender Rechtsgrundlagen im Ständerat eingereicht. Auch die Regulierung von Schwangerschaftsabbrüchen fand im Jahr 2022 Platz auf der politischen Agenda. Denn Ende 2021 hatten Vertreterinnen und Vertreter der SVP zwei Volksinitiativen lanciert, welche die Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen reduzieren wollten: einerseits die Initiative «Für einen Tag Bedenkzeit vor jeder Abtreibung (Einmal-darüber-schlafen-Initiative)» und andererseits die Initiative «Für den Schutz von ausserhalb des Mutterleibes lebensfähigen Babys (Lebensfähige-Babys-retten-Initiative)». 2022 führten diese Anliegen auch innerhalb der SVP zu Diskussionen; insbesondere jüngere Vertreterinnen der Volkspartei äusserten sich dezidiert dagegen. Dieser Konflikt mündete unter anderem in der Ablehnung hauseigener Vorstösse durch eine Minderheit der SVP-Fraktion in der Sondersession 2022. Umgekehrt hatten es auch Vorstösse, die auf einen flächendeckenden und hürdenfreien Zugang zu Abtreibung abzielten, 2022 nicht leicht im Parlament.

Betreffend die Familienplanung sprachen sich beide Räte für eine Legalisierung der Eizellenspende für Ehepaare aus. Unter anderem weil die parlamentarische Initiative zur Überführung der Anstossfinanzierung für die familienexterne Kinderbetreuung in eine zeitgemässe Lösung den Sprung ins Sessionsprogramm 2022 verpasst hatte, stimmten National- und Ständerat einer Verlängerung der Bundesbeiträge an die familienexterne Kinderbetreuung bis Ende 2024 zu. Um jedoch die Kosten für die familienergänzende Kinderbetreuung zu senken und die Anzahl Kitaplätze zu erhöhen, wurde im Frühjahr 2022 eine Volksinitiative «Für eine gute und bezahlbare familienergänzende Kinderbetreuung für alle (Kita-Initiative)» lanciert. Auch die Annahme der «Ehe für alle» im September 2021 blieb nicht folgenlos im Parlament: Da gleichgeschlechtliche Paare nach der Heirat bei der Familienplanung weiterhin eingeschränkt seien, setzten sich zwei Motionen mit der rechtlichen Anerkennung der Elternschaft gleichgeschlechtlicher Paare auseinander, um deren Gleichberechtigung auch über die «Ehe für alle» hinaus voranzutreiben.

Darüber hinaus wurde 2022 eine Reihe von Forderungen aus der zweitägigen Frauensession 2021 vom Parlament aufgegriffen. Zwei Motionen zum Einbezug der Geschlechterperspektive in der Medizin stiessen in der Herbstsession 2022 in der grossen Kammer auf Akzeptanz. In Anbetracht des bevorstehenden digitalen Wandels fokussierten andere, auf die Frauensession zurückgehende erfolgreiche parlamentarische Vorstösse auf den Einbezug von Frauen in die Digitalisierungsstrategie des Bundes. In Anbetracht der in der Frauensession eingereichten Petitionen reichten die betroffenen Kommissionen auch mehrere Postulate ein, welche unter anderem Berichte zur Strategie zur Integration von Frauen in MINT-Berufen, zur Evaluation der schulischen Sexualaufklärung und zur Aufwertung der Care-Arbeit forderten – sie wurden allesamt angenommen.

In der LGBTQIA-Politik nahm besonders die Diskussion über die Existenz und das Verbot von Konversionstherapien viel Platz ein. Nach der Annahme der «Ehe für alle» waren 2021 drei parlamentarische Initiativen zum Verbot von Konversionstherapien eingereicht, später aber wegen einer lancierten Kommissionsmotion zurückgezogen worden. Angenommen wurde hingegen ein Postulat, das die Datengrundlage zum Vorkommen von Konversionsmassnahmen in der Schweiz verbessern möchte.

Auch die Gleichstellung gehörloser und hörbehinderter Menschen sollte gemäss Parlament vorangetrieben werden, weshalb National- und Ständerat eine Motion zur Schaffung eines Gesetzes zur Anerkennung der Gebärdensprachen annahmen.

Jahresrückblick 2022: Soziale Gruppen
Dossier: Jahresrückblick 2022

In der Wintersession 2022 wurden das Doppelbesteuerungsabkommen mit Äthiopien (BRG 22.028) und das Änderungsprotokoll des Doppelbesteuerungsabkommens mit Armenien (BRG 22.033) im Ständerat behandelt. Die WAK-SR beantrage dem Rat einstimmig, beiden Vorlagen zuzustimmen, teilte Kommissionssprecher Pirmin Bischof (mitte, SO) mit. Es handle sich nicht nur um das erste Doppelbesteuerungsabkommen mit Äthiopien, dem zweitgrössten Land Afrikas, sondern dem ersten DBA mit einem ostafrikanischen Land überhaupt, so Bischof. Die Verhandlungen seien harmonisch verlaufen, nur der Bereich der Besteuerung der technischen Dienstleistungen – für Beratung, Management und technisches Know-how – wurde aufgrund von unüberbrückbaren Differenzen vom Abkommen ausgenommen. Zum Änderungsprotokoll mit Armenien erklärte Bischof, dass es dabei hauptsächlich um die Anpassung an die BEPS-Mindeststandards gehe, welche unbestritten gewesen sei. Der Ständerat folgte der Empfehlung seiner Kommission und nahm beide Bundesbeschlüsse einstimmig an.

Auch in den Schlussabstimmungen blieben die Vorlagen ungefährdet. Das Änderungsprotokoll mit Armenien wurde vom Nationalrat mit 143 zu 37 Stimmen (bei 16 Enthaltungen) und vom Ständerat mit 44 Ja-Stimmen einstimmig angenommen. Das DBA mit Äthiopien nahmen der Nationalrat mit 142 zu 43 Stimmen (bei 11 Enthaltungen) und der Ständerat mit 43 zu 1 Stimme (keine Enthaltungen) ebenfalls deutlich an. Die Gegenstimmen stammten – wie immer bei Doppelbesteuerungsabkommen – von der SVP-Fraktion.

Doppelbesteuerungsabkommen mit Äthiopien und Armenien
Dossier: BEPS-Übereinkommen mit der OECD
Dossier: Doppelbesteuerungsabkommen

In Erfüllung eines Postulats der RK-SR veröffentlichte der Bundesrat im Dezember 2022 einen Bericht zur Einführung elektronischer Fussfesseln im Ausländergesetz. Im Bericht wird die Verwendung elektronischer Fussfesseln, auch bekannt als Electronic Monitoring, in der Durchsetzung ausländerrechtlicher Zwangsmassnahmen, unter anderem als Alternative zur Administrativhaft, näher beleuchtet. Bereits heute muss das Electronic Monitoring, meist als Sender am Fussgelenk, von allen Kantonen als Vollzugsform für kurze Freiheitsstrafen angeboten werden und kann auch zur Durchsetzung von Kontakt- und Rayonverboten verwendet werden. Der Bundesrat hob hervor, dass die Anwendung von Electronic Monitoring im ausländerrechtlichen Bereich in erster Linie mit einigermassen kooperativen Individuen zu erfolgen habe. Für diese bestünden aber bereits weniger harte Massnahmen als die ausländerrechtliche Administrativhaft. Letztere werde bei Personen, bei denen die akute Gefahr bestehe, dass sie nach einem negativen Aufenthaltsentscheid untertauchen, zur Anwendung gebracht. Folglich käme der Einsatz des Electronic Monitorings nur bei einem sehr begrenzten Personenkreis in Frage, namentlich bei Personen, bei welchen die ausländerrechtliche Administrativhaft entweder momentan nicht verordnet werden könne oder bereits die maximale Haftdauer überschritten habe. Demgegenüber könnten einzelne Auflagen wie Hausarrest durch den Einsatz von Electronic Monitoring einfach verfolgt und das Untertauchen von Individuen im Asylprozess vermieden werden. Gemäss der Analyse des Bundesrats wögen die potentiellen Nachteile des Electronic Monitorings jedoch schwer. Erstens verfüge die Polizei in den meisten Kantonen nicht über die personellen Mittel, die durch das Electronic Monitoring verzeichneten Verstösse zu verfolgen, insbesondere da sich ausreisepflichtige Individuen oftmals als weniger kooperativ erweisen würden als dies beispielsweise bei Personen im Strafvollzug der Fall sei. Zweitens könnte das Electronic Monitoring ein Untertauchen von ausreisepflichtigen Individuen kaum verhindern, da entsprechende Geräte zerstört werden könnten. Zuletzt sei der Mehrwert einer solchen Intervention fraglich, da Verstösse bereits heutzutage meist relativ schnell erkannt würden. Abschliessend erachtete der Bundesrat in seinem Bericht die Einführung elektronischer Fussfesseln als nicht zielführend, da bereits genügend Alternativen zur Administrativhaft im Schweizer Asylvollzug vorhanden seien.

Introduction du bracelet électronique dans la loi fédérale sur les étrangers et l'intégration (Po. 20.4265)

In der Wintersession 2022 befasste sich der Ständerat mit dem Abkommen mit dem Vereinigten Königreich zur Koordinierung der sozialen Sicherheit. Die Genehmigung des Bundesbeschlusses war in der SGK-SR unumstritten gewesen, dementsprechend begnügte sich Kommissionssprecher Hannes Germann (svp, SH) mit einer kurzen Zusammenfassung des Abkommensinhalts. Germann wies die Ratsmitglieder darauf hin, dass das Abkommen im gegenseitigen Einverständnis bereits seit dem 1. November 2021 vorläufig angewendet werde, da das bestehende Freizügigkeitsabkommen mit der EU seit dem Brexit nicht mehr auf das Vereinigte Königreich anwendbar sei. Das vorliegende Abkommen sei im Rahmen der Mind-the-Gap-Strategie des Bundes ausgearbeitet worden und umfasse die Alters-, Hinterlassenen- und Invaliditätsvorsorge sowie die Kranken- und Unfallversicherung. Nebst einer weitgehenden Gleichbehandlung der Versicherten garantiere das Abkommen auch einen erleichterten Zugang zu den Leistungen im Bereich der sozialen Sicherheit. Dabei lehne es sich inhaltlich an das Abkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU an, wodurch die Einheitlichkeit der anzuwendenden Regeln gewährleistet werde. Germann wies darauf hin, dass es im Abkommen eine Versicherungslücke bezüglich der Invalidenversicherung gebe. Personen, die sich nach ihrem Arbeitsleben im jeweils anderen Staat niederlassen, könnten ihre IV-Renten nicht exportieren. Die Kommission schloss sich aber der Meinung der Verwaltung und des Bundesrats an, dass das vorliegende Abkommen die bessere Variante sei, als gar kein Abkommen zu haben. Der Ständerat nahm den Entwurf einstimmig an.
In der Schlussabstimmung nahmen sowohl der National- wie auch der Ständerat den Bundesbeschluss einstimmig an.

Abkommen mit dem Vereinigten Königreich zur Koordinierung der sozialen Sicherheit (BRG 22.032)
Dossier: Mind the Gap-Strategie nach dem Brexit

Eine in der Wintersession 2020 eingereichte Motion Quadri (lega, TI) forderte – wie eine bereits im Mai eingereichte Motion Addor (svp, VS; Mo. 20.3264) – ein Moratorium für die Erteilung von neuen Grenzgängerbewilligungen und die Wiedereinführung des Inländervorrangs in Grenzkantonen. Die Coronakrise habe zu einer erhöhten Arbeitslosigkeit auf dem Schweizer Arbeitsmarkt geführt, während mehr Grenzgängerinnen und Grenzgänger in der Schweiz arbeiteten und somit zusätzlich einheimische Arbeitskräfte vom Arbeitsmarkt verdrängen würden, argumentierte der Motionär. Obschon der Bundesrat in seiner Stellungnahme die schwierige wirtschaftliche Lage von Bewohnerinnen und Bewohnern der Grenzkantone im Zuge der Coronakrise anerkannte, erachtete er die Aufrechterhaltung der Personenfreizügigkeit als immens wichtig, insbesondere um dem Fachkräftemangel im Gesundheitsbereich während der Corona-Pandemie entgegenzuwirken. Zudem bestehe durch die Stellenmeldepflicht, durch die Stellensuchende fünf Tage vor der öffentlichen Ausschreibung einer Stelle über diese informiert werden, bereits ein effektiver inländischer Mechanismus, um arbeitssuchende Personen wieder in den Arbeitsmarkt einzubinden, so die Regierung.
Mitte Dezember 2022 wurde die Motion abgeschrieben, da sie nicht innert zwei Jahren behandelt worden war.

Coronabedingte Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise. Moratorium für die Erteilung von neuen Grenzgängerbewilligungen und Wiedereinführung des Inländervorrangs (Mo. 20.4521)

En 2020, le groupe UDC a déposé une motion pour forcer le Conseil fédéral a signé des accords techniques dans le secteur de l'énergie avec les États voisins, malgré l'incertitude qui plane sur l'accord institutionnel avec l'Union européenne (UE). Le groupe UDC considère que de tels accords deviennent indispensables pour garantir la stabilité du réseau électrique et sécuriser l'approvisionnement énergétique en Suisse.
Le Conseil fédéral s'est opposé à la motion. Il a précisé qu'une loi fédérale relative à un approvisionnement en électricité sûr reposant sur des énergies renouvelables (LApEl) était en cours d'élaboration et que l'Office fédéral de l'énergie (OFEN) surveillait constamment la sécurité de l'approvisionnement énergétique.
En décembre 2022, la motion a été classée car elle n'a pas été examinée dans le délai imparti.

Électricité. Des accords techniques avec les États voisins pour garantir l'approvisionnement du pays (Mo. 20.4275)

Le député socialiste Mustafa Atici (ps, BS) a chargé le Conseil fédéral de sortir la Suisse des programmes internationaux de développement de nouveaux réacteurs nucléaires dans le domaine de la fission et de la fusion. De son point de vue, les investissements financiers dans la recherche sur le nucléaire sont en inadéquation avec la politique énergétique de la Suisse qui prévoit la sortie de l'énergie nucléaire. Selon lui, cet argent devrait être investi dans le développement des énergies renouvelables.
Le Conseil fédéral s'est opposé à la motion. Il considère que les objectifs helvétiques et européens convergent dans la recherche dans le domaine de l'énergie nucléaire. Par conséquent, il préconise une participation de la Suisse aux programmes Euratom et ITER. Fin de l'année 2022, la motion a été classée car elle n'a pas été examinée dans un délai de deux ans.

Plan de sortie des programmes internationaux visant le développement de nouveaux réacteurs nucléaires dans le domaine de la fission et de la fusion (Mo. 20.4396)

Als Zweitrat stimmte der Ständerat in der Wintersession 2022 einer Änderung des Ausländer- und Integrationsgesetzes zu, mit welcher die Covid-19-Testpflicht für ausreisepflichtige Personen bis Ende Juni 2024 verlängert wird. Ebenso wie im Nationalrat hatte eine linke Kommissionsminderheit auf Nichteintreten plädiert. Mit 33 zu 11 Stimmen wurde dieser Antrag abgelehnt, worauf mit ebendiesem Stimmverhältnis die Zustimmung zum Gesetzesentwurf erfolgte. Nachdem beide Parlamentskammern der Dringlichkeitsklausel zugestimmt hatten, konnte die Schlussabstimmung noch in derselben Session stattfinden. Der Nationalrat stimmte der Revision mit 122 zu 67 Stimmen (6 Enthaltungen) zu, der Ständerat mit 33 zu 10 Stimmen (1 Enthaltung). Während die ablehnenden Stimmen aus dem linken Lager stammten, fanden sich die Enthaltungen in den Reihen der Bürgerlichen.

Verlängerung der Bestimmungen zum Covid-19-Test bei der Ausschaffung (BRG 22.047)

In der Wintersession 2022 entschied der Nationalrat in der Differenzbereinigung stillschweigend, dem Entschied des Ständerats bezüglich der finanziellen Unterstützung von Kantonen mit Ausreisezentren an der Landesgrenze in Ausnahmesituationen zu folgen. Somit revidierte der Nationalrat seinen vorherigen Entscheid gegen die Festhaltung von Unter-15-Jährigen in Ausreisezentren und kehrte zur Fassung des Bundesrats zurück. Dies, da er unter anderem darauf verzichten wollte, Familien im Rahmen der kurzen Festhaltung zu trennen und er die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in Ausreisezentren als zumutbar erachtete. In den Schlussabstimmungen nahm der Ständerat den Gesetzesentwurf einstimmig an, während in der grossen Kammer lediglich SVP-Nationalrat Erich Hess (svp, BE) gegen den Entwurf stimmte.

Finanzielle Unterstützung von Kantonen mit Ausreisezentren an der Grenze (BRG 22.044)

Nachdem sich der Nationalrat in der Sommersession 2022 bereits dafür ausgesprochen hatte, den Zugang zur beruflichen Ausbildung für abgewiesene Asylsuchende und Sans-Papiers zu erleichtern, stützte der Ständerat diesen Entscheid in der Wintersession. Dabei folgte er einer linken Kommissionsminderheit, die den Erfolg einer im Jahr 2010 überwiesenen Motion Barthassat (cvp, GE; Mo. 08.3616) mit ähnlicher Stossrichtung als «sehr bescheiden» bewertete, weswegen die Anforderungen zu senken seien. Die Kommissionsmehrheit sah aufgrund der beschleunigten Asylverfahren und bestehenden Härtefallregelungen hingegen keinen Handlungsbedarf und war der Ansicht, dass dadurch Anreize für einen unrechtmässigen Aufenthalt geschaffen würden. Die Kommissionsmehrheit unterlag im Ständerat relativ knapp mit 19 zu 21 Stimmen.

Erweiterte Härtefallregelung zum Zugang zu beruflichen Ausbildungen (Mo. 22.3392)
Dossier: Lehrabschlüsse für abgewiesene Asylsuchende und Sans Papiers

Ende Oktober 2022 kündigte das EDA eine Auslandreise von Bundespräsident Cassis nach Rumänien an, in deren Rahmen er sich mit dem rumänischen Präsidenten Klaus Werner Iohannis, Premierminister Nicolae Ciuca und mehreren Parlamentsmitgliedern hätte treffen sollen. Dieser für Anfang November vorgesehene Besuch wurde kurz darauf jedoch aus terminlichen Gründen auf Dezember verlegt. Erst am 12. Dezember reiste Cassis begleitet von den Nationalrätinnen und Nationalräten Roduit (mitte, VS), Page (svp, FR), Walder (gp, GE) und Weber (glp, VD) – allesamt Mitglieder der parlamentarischen Freundschaftsgruppe Schweiz-Rumänien – nach Bukarest. Die beiden Delegationen tauschten sich über den Krieg in der Ukraine, die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU und die verstärkte Partnerschaft mit Rumänien durch den zweiten Schweizer Beitrag im Rahmen der Kohäsionszahlung aus. Gemeinsam mit dem rumänischen Finanzminister Adrian Câciu unterzeichnete Cassis anschliessend das Abkommen über die Umsetzung des zweiten Schweizer Beitrags.

Reise von Bundespräsident Cassis nach Rumänien
Dossier: Staatsbesuche im Ausland 2022

Mit 135 zu 55 Stimmen schloss sich der Nationalrat seiner SPK-NR an und gab einer parlamentarischen Initiative der SVP, welche die Aufhebung der Versicherungspflicht für Sans-Papiers forderte, in der Wintersession 2022 keine Folge. Lediglich die SVP-Fraktion und vier Mitglieder der FDP.Liberalen-Fraktion hatten sich für Folgegeben ausgesprochen. Die SVP erachtete es als «stossend», Sans-Papiers trotz nicht Vorliegen einer Aufenthaltsbewilligung einer Versicherungspflicht zu unterstellen, womit deren Aufenthalt quasi legitimiert werde, anstatt die Personen auszuweisen. Die Kommissionsmehrheit erachtete die vorgeschlagene Massnahme hingegen nicht als geeignet, da durch das Verwehren des Zugangs zur Krankenversicherung insbesondere das Recht der betroffenen Personen auf medizinische Grundversorgung beeinträchtigt werde und dies unter anderem gesundheitliche Folgen hätte, was längerfristig zu höheren Kosten führen würde. Das Anliegen ist somit erledigt – ebenso wie eine weitere parlamentarische Initiative aus derselben Geschäftsserie der SVP, die der Rat zeitgleich mit ähnlichem Stimmverhältnis ablehnte (Pa.Iv. 21.446).

Keine Versicherungspflicht für Sans Papiers (Pa.Iv. 21.445)

Nach seiner Kommission stellte sich in der Wintersession 2022 auch der Nationalrat gegen die Forderung einer parlamentarischen Initiative der SVP-Fraktion, die verlangte, dass wesentliche Vertragsabschlüsse nur noch bei Vorliegen einer Wohnsitzbestätigung möglich sein sollen. Der Nationalrat gab der parlamentarischen Initiative mit 133 zu 57 Stimmen keine Folge. Die SVP hatte auf diese Weise versucht, die Schweiz für illegal anwesende Personen weniger attraktiv zu machen. Im Namen der Kommissionsmehrheit bezeichnete Tiana Angelina Moser (glp, ZH) «die Situation mit den Sans-Papiers [als] rechtsstaatlich unbefriedigend». Gleichzeitig erachtete die Kommissionsmehrheit die Initiative aber nicht als angemessen oder zielführend; weder für die betroffenen Personen noch für die Gesamtgesellschaft könne diese Verbesserungen bringen, so Moser. Neben der geschlossen befürwortenden SVP-Fraktion wurde die Initiative von sechs Mitgliedern der FDP.Liberalen-Fraktion unterstützt. Zeitgleich erledigte der Nationalrat eine weitere parlamentarische Initiative der SVP-Fraktion mit ähnlicher Stossrichtung (Pa.Iv. 21.445). Beide Initiativen gehörten zu einer 9-teiligen Geschäftsserie, mit der die SVP-Fraktion zusätzliche Massnahmen gegen die irreguläre Migration forderte (siehe auch Mo. 21.3487-Mo. 21.3493).

Massnahmen gegen Sans-Papiers: Wesentliche Vertragsabschlüsse nur mit Wohnsitzbestätigung (Pa.Iv. 21.446)

Die Weiterführung der Verlagerungspolitik durch den Ausbau der NEAT-Zubringerstrecke Wörth-Strasbourg stand in der Wintersession 2022 auf dem Programm des Ständerates. Für die KVF-SR berichtete Thierry Burkart (fdp, AG), dass zur Umsetzung des Verfassungsauftrags zur Verkehrsverlagerung (Alpen-Initiative) eine Verbesserung der NEAT-Zufahrtsstrecken im Norden der Schweiz nötig sei. Mit der vorliegenden Motion solle der Bundesrat aufgefordert werden, auf eine Beseitigung des Nadelöhrs der südlichen deutschen Rheintalstrecke hinzuwirken. Bundesrätin Simonetta Sommaruga begrüsste seitens der Regierung das Anliegen der Motion. Sie wies jedoch gleichzeitig darauf hin, dass Frankreich und Deutschland dem Ausbau dieser Strecke nicht dieselbe Bedeutung beimessen würden wie die Schweiz. Es sei daher davon auszugehen, dass der Ausbau eine entsprechende finanzielle Beteiligung der Schweiz bedinge. Danach nahm der Ständerat die Motion stillschweigend an.

Weiterführung der erfolgreichen Verlagerungspolitik und Gewährleistung der nationalen Versorgungssicherheit dank Ausbau des linksrheinischen Neat-Zubringers Wörth-Strassburg (Mo. 22.3000)
Dossier: Verlagerung von der Strasse auf die Schiene

Im August 2022 publizierte der Bundesrat die Botschaft zur Genehmigung des Abkommens zwischen der Schweiz und Albanien über soziale Sicherheit. Das Abkommen schafft die völkerrechtliche Grundlage für die Koordinierung der Alters-, Hinterlassenen- und Invaliditätsvorsorge beider Länder. Gemäss Botschaft entspricht das Abkommen inhaltlich den Sozialversicherungsabkommen, welche die Schweiz mit den anderen Balkanstaaten Montenegro, Serbien, Kosovo sowie Bosnien und Herzegowina abgeschlossen hat. Dementsprechend regle es allgemein geltende Grundsätze wie die Gleichbehandlung der Staatsangehörigen, die Auszahlung der Renten ins Ausland, die Anrechnung von Versicherungszeiten, die Unterstellung von Erwerbstätigen und die gegenseitige Verwaltungshilfe. Zudem enthalte es eine Grundlage zur Bekämpfung von missbräuchlicher Inanspruchnahme von Leistungen.

Das Geschäft wurde in der Wintersession 2022 vom Nationalrat besprochen, wobei die vorberatende SGK-NR das Geschäft mit grosser Mehrheit zur Annahme empfohlen hatte. Kommissionssprecher Andri Silberschmidt (fdp, ZH) erklärte, dass die Inanspruchnahme von Leistungen der Altersvorsorge im Ausland eigentlich eine Selbstverständlichkeit sei. Für die Koordinierung der Sozialversicherungssysteme sei jedoch der Abschluss eines zwischenstaatlichen Vertrags notwendig. Die Umsetzung des Abkommens bringe zudem Mehrkosten von CHF 2.5 Mio. mit sich, wobei CHF 2 Mio. zulasten der Versicherungen und die restlichen CHF 500'000 zulasten des Bundes gingen. Es käme aber auch zu Einsparungen bei den Ergänzungsleistungen, Prämienverbilligungen und der Sozialhilfe, indem die betroffenen Personen ihren Wohnsitz nach Albanien verlegten.
Eine Minderheit Glarner (svp, AG) beantragte dem Rat, nicht auf das Geschäft einzutreten. Minderheitssprecher Glarner wies darauf hin, dass nur 70 Schweizerinnen und Schweizer in Albanien lebten, im Vergleich zu den 3000 Albanerinnen und Albaner in der Schweiz. Die SVP-Fraktion lehne das Abkommen ab, weil die Kaufkraftdifferenz zum Überweisungsland nicht berücksichtigt werde, so Glarner. Zudem käme es bei einer Umsetzung des Abkommens zu einem «Export der schweizerischen Sozialversicherungsleistungen» und die AHV hätte Mehrkosten in Höhe von CHF 2 Mio. zu tragen, obwohl deren Finanzierung nach 2030 nicht gesichert sei. Bundesrat Berset erinnerte den Rat daran, dass das Abkommen identisch mit den bereits mit anderen Balkanstaaten abgeschlossenen Sozialversicherungsabkommen sei. Die finanziellen Auswirkungen bezeichnete er als gering, er hob jedoch die Bedeutung der Betrugsbekämpfungsklausel hervor. Die grosse Kammer trat mit 125 zu 53 Stimmen (bei 1 Enthaltung) auf das Geschäft ein und genehmigte das Abkommen mit 129 zu 52 Stimmen (bei 2 Enthaltungen). Die Gegenstimmen stammten von der SVP-Fraktion.

Sozialversicherungsabkommen mit Albanien
Dossier: Sozialversicherungsabkommen mit den Nachfolgestaaten der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien

Im August 2022 publizierte der Bundesrat die Botschaft zum Rechtshilfeabkommen in Strafsachen mit der Republik Kosovo. Mit Abschluss dieses Abkommens baue die Schweiz ihr Vertragsnetz im Bereich der Rechtshilfe weiter aus und verstärke die wirksame Bekämpfung der internationalen Kriminalität. Der Bundesrat erklärte, dass der Rechtshilfevertrag eine völkerrechtliche Grundlage für die Zusammenarbeit der Justizbehörden beider Staaten schaffe. Dabei übernehme er die Grundsätze des schweizerischen Rechtshilfegesetzes und des Europäischen Rechtshilfeübereinkommens und füge sich somit in das bereits bestehende Netz der bilateralen Rechtshilfeverträge ein. Da die Republik Kosovo von mehreren europäischen Ländern nicht als Staat anerkannt werde, könne sie den Abkommen des Europarats, welche der Vereinfachung der Strafrechtszusammenarbeit dienen, nicht beitreten. Aus diesem Grund habe der Kosovo der Schweiz im Jahr 2018 die Aushandlung eines bilateralen Abkommens vorgeschlagen, was sich als Ergänzung zum seit 2012 bestehenden Vertrag über die Überstellung verurteilter Personen angeboten habe, argumentierte der Bundesrat. Das Abkommen vereinfache und beschleunige Rechtshilfeverfahren, weil es unter anderem formale Erfordernisse verringere und die Zentralbehörden beider Länder, die als Ansprechpartner fungieren, bezeichne. Gleichzeitig lege es klare Anforderungen für gültige Rechtshilfegesuche fest, beispielsweise bezüglich Datenschutz, und definiere konkrete Gründe für die Ablehnung eines Gesuchs – wie etwa bei einem vermuteten Verstoss gegen die EMRK. Wie der Bundesrat bekannt gab, beinhalte der Vertrag als erster bilateraler Rechtshilfevertrag überhaupt eine Bestimmung, welche die Einsetzung gemeinsamer Ermittlungsgruppen ermögliche.

Das Rechtshilfeabkommen wurde in der Wintersession 2022 im Nationalrat behandelt, nachdem die RK-NR das Geschäft einstimmig zur Annahme empfohlen hatte. Kommissionssprecher Nicolas Walder (gp, GE) verwies darauf, dass die bereits bestehende, aktive Zusammenarbeit in Strafsachen unbedingt formalisiert und vereinfacht werden müsse. Die Kommission sei beruhigt, dass eine unfreiwillige Beteiligung an möglichen Menschenrechtsverletzungen im Kosovo durch gewisse Bestimmungen im Abkommen verhindert werde. Bundesrätin Karin Keller-Sutter versicherte, dass der Kosovo sich aufgrund seiner Verfassung zur Einhaltung der EMRK und des UNO-Pakts II verpflichtet habe, auch wenn er aufgrund der fehlenden Anerkennung diesen Abkommen nicht als Vertragsstaat beitreten könne. Die grosse Kammer nahm den Bundesbeschluss in der Gesamtabstimmung mit 176 zu 6 Stimmen (bei 2 Enthaltungen) deutlich an.

Rechtshilfeabkommen in Strafsachen mit Kosovo

In der Wintersession 2022 behandelte das Parlament den Nachtrag II zum Voranschlag 2022 zusammen mit dem Voranschlag 2023. Anna Giacometti (fdp, GR) erläuterte dem Nationalrat die aktuelle Vorlage als Kommissionssprecherin: Nachdem National- und Ständerat in der Herbstsession 2022 bereits den Voranschlagskredit für subsidiäre Finanzhilfen über CHF 4 Mrd. an ein systemrelevantes Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft bewilligt hatten, standen nun weitere Ausgaben von CHF 1.6 Mrd. in 23 Nachtragskrediten zur Diskussion. Den grössten Kreditposten stellte die Aufnahme von bis zu 110'000 Geflüchteten mit Schutzstatus S dar (CHF 1.2 Mrd.), gefolgt von Transport und Einrichtung von Reservekraftwerken im Kampf gegen eine mögliche Strommangellage ab dem Winter 2022/2023 (CHF 160 Mio. Nachtragskredit, CHF 470 Mio. Verpflichtungskredit) und einem Kredit zur Begleichung der Passivzinsen des Bundes aufgrund der Zinserhöhungen durch die SNB (CHF 135 Mio.). Zuvor hatte die FinDel bereits dringliche Kredite über CHF 4.3 Mrd. bewilligt (neben den CHF 4 Mrd. für die Elektrizitätswirtschaft auch CHF 303 Mio. für das Reservekraftwerk in Birr, für die höheren Migrationsausgaben, für die höheren Passivzinsen sowie für die Impfungen gegen die Affenpocken), diese müssen vom Parlament aber dennoch beraten werden. In der Zwischenzeit hatte der Bundesrat zudem zwei Nachmeldungen zum Nachtrag II vorgenommen, in denen er unter anderem CHF 100 Mio. für ein Winterhilfe-Paket zugunsten des Wiederaufbaus der zivilen Infrastruktur in der Ukraine beantragte.

Während sich die Kommissionsmehrheit mit allen Nachtragskrediten und Nachmeldungen einverstanden zeigte, lagen zahlreiche Minderheitsanträge vor. So verlangte eine Minderheit Friedl (sp, SG), die Beträge zugunsten der Ukraine aufzustocken, was der Nationalrat jedoch mehrheitlich ablehnte. Kürzungsanträge stellten hingegen Mike Egger (svp, SG) bezüglich des Globalbudgets des BAG für den Kauf des Impfstoffes gegen die Affenpocken sowie Benjamin Fischer (svp, ZH) zu den Integrationsmassnahmen für Ausländerinnen und Ausländer, sie blieben jedoch ebenfalls erfolglos. Abgelehnt wurden auch die Kürzungs- oder Streichungsanträge von Mitgliedern der SVP-Fraktion bezüglich verschiedener Kredite beim BFE: So sollte der Kredit für die Reservekraftwerke weniger stark erhöht, das Globalbudget des BFE gar nicht erhöht und der Nachtragskredit für die Notstromgruppen gestrichen werden, obwohl die FinDel bereits verschiedene dieser Beträge gutgeheissen hatte. Erfolglos blieb schliesslich auch ein Einzelantrag Glättli (gp, ZH) auf Erhöhung des Globalbudgets des BFE zur Finanzierung einer Informationskampagne zum Einsparpotenzial im Warmwasserbereich.
Mit 139 zu 51 Stimmen (bei 1 Enthaltung) hiess der Nationalrat in der Folge den zweiten Entwurf des Nachtrags II zum Voranschlag 2023 gut, die ablehnenden Stimmen stammten von den Mitgliedern der SVP-Fraktion.

Keine Änderungsanträge lagen im Ständerat vor, der sämtliche Kredite stillschweigend guthiess, sämtliche Ausgaben einstimmig genehmigte und den Entwurf schliesslich mit 38 zu 0 Stimmen ebenfalls einstimmig annahm.

Nachtrag II zum Voranschlag 2022 (BRG 22.042)
Dossier: Bundeshaushalt 2022: Voranschlag und Staatsrechnung

Zu Beginn der Wintersession 2022 machte sich der Nationalrat an die Beratung des Voranschlags 2023 mit integriertem Aufgaben- und Finanzplan 2024–2026. Anna Giacometti (fdp, GR) und Jean-Pierre Grin (svp, VD) präsentierten dem Rat das Budget und die Änderungsvorschläge der Kommissionsmehrheit. Beide betonten die «düsteren finanzpolitischen Aussichten» (Giacometti), welche in den Finanzplanjahren grosse Korrekturmassnahmen nötig machen würden. Besser sehe es noch für das Jahr 2023 und somit für den Voranschlag aus, hier schlug die Kommissionsmehrheit gar Mehrausgaben von CHF 11.2 Mio. vor, womit die Schuldenbremse immer noch eingehalten werden könne. Insgesamt beantragte die Kommission sieben Änderungen am bundesrätlichen Voranschlag, welche der Rat allesamt annahm. Kaum Erfolg hatten hingegen die Minderheitsanträge.

Das geplante Defizit in den Finanzplanjahren war auch Thema in den folgenden Fraktionsvoten. Als besonders dramatisch erachtete etwa Lars Guggisberg (svp, BE) die finanzielle Situation des Bundes: Man befinde sich «finanzpolitisch seit Jahren im freien Fall», zumal das Parlament immer mehr Geld ausgebe als vorhanden sei. Nun müsse man Prioritäten setzen, weshalb die SVP insbesondere im Finanzplan entsprechende Kürzungsanträge stelle. Ähnlich formulierte es Alex Farinelli (fdp, TI) für die FDP-Fraktion, der die Bundesfinanzen mit der Titanic verglich – zwar scheine alles ruhig, bei genauerer Betrachtung sei «das Bild, insbesondere das mittelfristige, [aber] wesentlich problematischer und beunruhigender». Auch er verlangte daher die Setzung von Prioritäten. Demgegenüber hob Jean-Paul Gschwind (mitte, JU) das positive strukturelle Saldo des Voranschlags hervor, betonte aber auch, dass man für die Finanzplanjahre Korrekturmassnahmen einbringen müsse – insbesondere auch, weil die Gewinnausschüttung durch die SNB ausbleiben könne.
Deutlich weniger besorgt zeigten sich die Sprechenden der anderen Fraktionen über die finanzpolitische Situation. Roland Fischer (glp, LU) erachtete in Anbetracht der tiefen Schuldenquote des Bundes nicht in erster Linie die Defizite als problematisch, sondern die Ausgestaltung der Schuldenbremse, die es nicht erlaube, Schulden zu machen, um Investitionen zu tätigen. Auch Sarah Wyss (sp, BS) zeigte sich durch die «Mehrbelastungen ab 2024 [...] nicht besonders beunruhig[t]». Man müsse zwar reagieren, dabei aber vor allem auf Nachhaltigkeit setzen und von «kurzfristige[r] Sparwut» absehen. Gerhard Andrey (gp, FR) sah die Schuld für die finanzpolitischen Probleme vor allem bei denjenigen Mitgliedern des Parlaments, welche das Armeebudget stark aufgestockt und einen Abbau der Corona-Schulden über zukünftige Überschüsse durchgesetzt hätten. Statt über Sparmassnahmen solle man aber nun über zusätzliche Einnahmen, etwa im Rahmen einer Erbschaftssteuer, sprechen.

In der Folge behandelte der Nationalrat den Voranschlag 2023 in sechs Blöcken, beginnend mit einem ersten Block zu den Beziehungen zum Ausland und zur Migration. Hierbei lagen dem Rat keine Mehrheitsanträge der Kommission vor, jedoch zahlreiche Minderheitsanträge von Mitgliedern der Polparteien. Einerseits verlangten Minderheiten Badertscher (gp, BE), Friedl (sp, SG), Wettstein (gp, SO) sowie zwei Einzelanträge Pasquier-Eichenberger (gp, GE) etwa eine Aufstockung der Beiträge für humanitäre Aktionen oder an die Entwicklungszusammenarbeit mit den Ländern des Ostens, teilweise auch in den Finanzplanjahren. Andererseits forderten Minderheiten Grin (svp, VD), Guggisberg (svp, BE), Fischer (svp, ZH) sowie ein Einzelantrag der SVP-Fraktion etwa eine Reduktion des Schweizer Beitrags an ausgewählte EU-Mitgliedstaaten, an die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit oder an die Integrationsmassnahmen für Ausländerinnen und Ausländer (teilweise auch oder nur in den Finanzplanjahren) sowie die ordentliche Verbuchung der Ausgaben für Kriegsvertriebene aus der Ukraine. Die Minderheitsanträge blieben jedoch allesamt erfolglos.

Im zweiten Block zu Kultur, Bildung, Forschung, Familie und Sport lagen dem Nationalrat vier Kommissionsanträge vor. Im Sportbereich wollte die Kommission einerseits einen Kredit für die Sportverbände zugunsten der nationalen Meldestelle von Swiss Sport Integrity um CHF 360'000 aufstocken, zumal seit deren Schaffung Anfang 2022 dreimal mehr Meldungen eingegangen seien, als erwartet worden waren. CHF 650'000 sollten zudem für die Ausrichtung der Staffel-Weltmeisterschaft 2024 in Lausanne gesprochen werden, wobei der Bund einen Drittel der Gesamtfinanzierung übernehmen würde. Keine Aufstockung, sondern eine ausdrückliche Verwendung der CHF 390'000, welche der Bundesrat im Bereich Kinderschutz/Kinderrechte veranschlagt hatte, für eine Übergangslösung zur Stärkung der Kinderrechte verlangte die Kommission bei den Krediten des BSV. Eine Übergangslösung war nötig geworden, weil die Ombudsstelle für Kinderrechte, für die der Betrag gedacht war, noch nicht über eine gesetzliche Grundlage verfügte. Schliesslich verlangte die Kommission, dass CHF 35 Mio., welche nach dem Ausschluss der Schweiz aus Horizon Europe bei den EU-Forschungsprogrammen nicht benötigt werden, stattdessen Innosuisse zugesprochen werden. Der Nationalrat hiess alle vier Kommissionsanträge stillschweigend gut.
Weitere CHF 50 Mio. aus dem Kredit der EU-Forschungsprogramme zum Kredit für die Institutionen der Forschungsförderung verschieben wollte eine Minderheit Munz (sp, SH). Zudem verlangten zwei weitere Minderheiten Munz Aufstockungen bei der internationalen Mobilität Bildung zugunsten des Programms Erasmus+. Die Kredite gegenüber dem bundesrätlichen Vorschlag reduzieren wollten hingegen eine Minderheit I Grin bei den Institutionen der Forschungsförderung sowie eine Minderheit Guggisberg in den Finanzplanjahren bei der internationalen Mobilität Bildung und bei den Stipendien an ausländische Studierende. Mit 123 zu 68 Stimmen kürzte der Nationalrat in Übereinstimmung mit der Minderheit Munz den Kredit der EU-Forschungsprogramme zugunsten der Institutionen der Forschungsförderung, lehnte aber ansonsten sämtliche Minderheitsanträge ab. Dazu gehörten auch zwei Minderheiten Nicolet (svp, VD), welche bei Pro Helvetia (auch in den Finanzplanjahren) und bei der familienergänzenden Kinderbetreuung kürzen wollten.

Im Block 3 zu Umwelt und Energie hiess der Nationalrat die veranschlagten CHF 42 Mio. für Programme von EnergieSchweiz für den Heizungsersatz, zur Dekarbonisierung von Industrie und Gewerbe, zur Einführung von neuen Technologien und zur Bekämpfung des Fachkräftemangels sowie CHF 4 Mrd. für den Rettungsschirm Elektrizitätswirtschaft, welchen der Bundesrat in einer Nachmeldung beantragt hatte, gut. Eine Minderheit Schilliger (fdp, LU) hatte erfolglos eine Kürzung bei den Programmen von EnergieSchweiz im Voranschlag und in den Finanzplanjahren gefordert. Erfolglos blieben auch alle anderen Minderheiten etwa zur Streichung von CHF 10 Mio. für eine Winter-Energiespar-Initiative, zur Reduktion des Kredits für die Reservekraftwerke, aber auch für eine Erhöhung des Kredits für die Reservekraftwerke um CHF 100 Mio., um eine Erhöhung der Energiekosten für die Bevölkerung zu verhindern.

Erfolglos blieben auch sämtliche Minderheitsanträge im vierten Block zu den Themen «soziale Wohlfahrt, Gesundheit und Sicherheit», wo etwa eine Minderheit Wettstein (gp, SO) eine Erhöhung des Bundesbeitrags an das Schweizerische Rote Kreuz oder verschiedene Minderheiten Kürzungen beim Rüstungsaufwand oder bei verschiedenen Positionen zur Verteidigung beantragten.

Im fünften Block zu Standortförderung, Steuern und Landwirtschaft gab es nur einzelne Forderungen zu den ersten beiden Bereichen, etwa verlangte eine Minderheit Gysi (sp, SG) zusätzliche Mittel und Stellen in der Steuerverwaltung für mehr Mehrwertssteuerkontrollen und eine Minderheit Guggisberg eine Streichung der Neuen Regionalpolitik, da diese Aufgabe der Kantone sei. Das Hauptinteresse des Nationalrats galt in diesem Block aber der Landwirtschaft, zu der zahlreiche Mehr- und Minderheitsanträge vorlagen: Die Kommissionsmehrheit verlangte eine Erhöhung des Kredits für die Qualitäts- und Absatzförderung zugunsten des Schweizer Weins um CHF 6.2 Mio. (in Umsetzung einer Motion 22.3022, die vom Nationalrat angenommen, aber vom Ständerat an die WAK-SR verwiesen worden war). Eine Minderheit Munz wollte stattdessen einen Teil der bereits veranschlagten Mittel zur Umsetzung der Motion einsetzen, der Nationalrat folgte jedoch seiner Kommissionsmehrheit und beschloss die Krediterhöhung. Weiter beantragte die Kommissionsmehrheit, in den Planungsgrössen zu den Direktzahlungen die Höhe der Versorgungssicherheitsbeiträge auf CHF 1.1 Mrd. festzuschreiben, so dass diese entgegen der Absicht des Bundesrates nicht gekürzt werden könnten. Der Nationalrat folgte auch dieser Kommissionsmehrheit, während eine Minderheit Munz besagte Planungsgrösse erfolglos streichen wollte. Schliesslich sollten die Mittel für Wildtiere, Jagd und Fischerei gemäss Kommissionsmehrheit um CHF 4 Mio. zugunsten von Sofortmassnahmen für den Herdenschutz aufgestockt werden, wobei der Nationalrat auch hier der Komissionsmehrheit und nicht einer Minderheit Schneider Schüttel (sp, FR) auf Beibehalten des bundesrätlichen Betrags folgte. Erfolgreich war zudem eine Minderheit Grin für eine Erhöhung des Kredits für die Pflanzen- und Tierzucht um CHF 3.9 Mio. zugunsten einheimischer Nutztierrassen, nicht aber ein weiterer Minderheitsantrag Grin für einen Verzicht auf die Aufstockung des Funktionsaufwands beim Bundesamt für Landwirtschaft um CHF 900'000 zur Umsetzung einer parlamentarischen Initiative zur Verminderung des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln.

Im sechsten Block ging es abschliessend um den Eigenaufwand des Bundes und um die Schuldenbremse, wobei die Kommissionsmehrheit nur einen Antrag auf Änderung gegenüber der bundesrätlichen Version stellte: Bei den Planungsgrössen zum BABS sollte der Soll-Wert der Kundenzufriedenheit bei den Ausbildungsleistungen von 80 auf 85 Prozent und in den Finanzplanjahren auf 90 Prozent erhöht werden. Stillschweigend hiess der Nationalrat die Änderung gut. Zudem lagen zahlreiche Minderheitsanträge Nicolet auf Kürzungen im Personalbereich verschiedener Bundesämter (BAFU, BAG, BAK, BAV, BFS) sowie beim UVEK vor, die jedoch allesamt abgelehnt wurden – genauso wie weitere Kürzungsanträge im Personalbereich sowie bei den Sach- und Betriebsausgaben des SEM, zur Kürzung des Personalaufwands im Bereich der Social-Media-Strategie und der Digitalisierung sowie für Querschnittskürzungen beim BBL. Abgelehnt wurde aber auch ein Minderheitsantrag Schneider Schüttel zur Schaffung von zwei zusätzlichen Stellen beim BLV im Bereich Zulassung von Pflanzenschutzmitteln. Schliesslich scheiterte auch ein Antrag der SVP-Fraktion, die aus der Gewinnausschüttung der SNB veranschlagten Einnahmen von CHF 666.7 Mio. zu streichen, da die SNB diese nach ihren Verlusten voraussichtlich nicht würde tätigen können.

Nach langen Diskussionen, bei denen sämtliche Mehrheits- sowie einzelne Minderheitsanträge angenommen worden waren, hiess der Nationalrat den Voranschlag in der Gesamtabstimmung mit 137 zu 49 Stimmen (bei 4 Enthaltungen) gut. Die ablehnenden Stimmen stammten von der geschlossen stimmenden SVP-Fraktion sowie von einem Mitglied der Grünen. Angenommen wurden in der Folge auch der Bundesbeschluss über die Planungsgrössen im Voranschlag für das Jahr 2023 (138 zu 50 Stimmen bei 2 Enthaltungen), der Bundesbeschluss über den Finanzplan für die Jahre 2024-2026 (179 zu 12 Stimmen) sowie der Bundesbeschluss über die Entnahmen aus dem Nationalstrassen- und Agglomerationsverkehrsfonds für das Jahr 2023 (191 zu 0 Stimmen).

Voranschlag 2023 mit integriertem Aufgaben- und Finanzplan 2024-2026 (BRG 22.041)
Dossier: Bundeshaushalt 2023: Voranschlag und Staatsrechnung

Der Ständerat befasste sich in der Wintersession 2022 als Zweitrat mit der Frage, wie der Bund Kantone mit Ausreisezentren an der Landesgrenze in Ausnahmesituationen finanziell unterstützen soll. Eine Mehrheit der SPK-SR sprach sich für die unveränderte Annahme der entsprechenden Änderung des AIG aus. Eine Minderheit Engler (mitte, GR) erachtete es hingegen als ratsam, dem Entscheid des Nationalrats zu folgen und die Festhaltung von Kindern und Jugendlichen unter 15 Jahren zu untersagen. Der Ständerat entschied sich jedoch mit 23 zu 15 Stimmen (bei 1 Enthaltung), die im Nationalrat beschlossene Bestimmung wieder zu streichen und bei der Fassung des Bundesrats zu bleiben. Des Weiteren reichte Ständerat Philippe Bauer (fdp, NE) einen Einzelantrag ein, mit dem er den Bund verpflichten wollte, sich im Rahmen einer Tagespauschale an den Betriebskosten zur kurzfristigen Festhaltung von Personen zu beteiligen. Dies sei jedoch nicht realistisch, entgegnete Bundesrätin Karin Keller-Sutter, da der Vollzug des Ausländerrechts allein den Kantonen obliege. Nach Inkrafttreten der zur Diskussion stehenden Vorlage werde der Bund die Kantone fortan allerdings auf freiwilliger Basis in Ausnahmesituationen unterstützen können. Der Antrag Bauer scheiterte mit 21 zu 20 Stimmen knapp und die Vorlage wurde zur Differenzbereinigung zurück an den Nationalrat überwiesen.

Finanzielle Unterstützung von Kantonen mit Ausreisezentren an der Grenze (BRG 22.044)

Die überwiesene Motion Abate (fdp, TI) zur finanziellen Unterstützung von Kantonen mit Ausreisezentren an der Grenze wurde vom Parlament während den Beratungen zu einer entsprechende Änderung des AIG in der Wintersession 2022 als erfüllt abgeschrieben.

Aide financière aux cantons qui gèrent des centres de départ à la frontière suisse

Am 29. und 30. November 2022 reiste der italienische Präsident Sergio Mattarella für einen offiziellen Staatsbesuch in die Schweiz. Er wurde von Bundespräsident Cassis, den Bundesrätinnen Amherd und Sommaruga sowie von Bundesrat Parmelin in Bern empfangen. In der Folge führte er am ersten Besuchstag bilaterale Gespräche mit der Schweizer Delegation. Unter anderem wurde diskutiert, wie die Kooperation in den Bereichen Energie, Innovation, Forschung und in den wirtschaftlichen Beziehungen in Zukunft vertieft werden könnte. Laut Medienmitteilung seien auch die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU zur Sprache gekommen, zudem habe der Bundesrat dargelegt, wie man diese aus Sicht der Schweiz weiterentwickeln wolle. Weitere Themen seien die Zusammenarbeit bei Migrationsfragen innerhalb Europas und die Sicherheitslage aufgrund des Kriegs in der Ukraine gewesen. Am zweiten Besuchstag reisten Mattarella und Cassis an die ETH in Zürich, um sich über Innovation und Unternehmertum auszutauschen.

Staatsbesuch von Italiens Präsident Sergio Mattarella
Dossier: Staatsbesuche und öffentliche Besuche in der Schweiz seit 1990