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Obwohl die SPK-SR zunächst nicht auf eine Vorlage zur Anpassung des AIG hatte eintreten wollen, die eine Zulassungserleichterung für Ausländerinnen und Ausländer mit Schweizer Hochschulabschluss mittels Ausnahme von den Kontingenten bezweckte, hatte sie sich erneut mit der Vorlage zu befassen, nachdem sich der Ständerat in der Sommersession 2023 für Eintreten ausgesprochen hatte. In der darauffolgenden Herbstsession legte die Kommission ihrem Rat dann mit 11 zu 2 Stimmen den Antrag vor, das Geschäft an den Bundesrat zurückzuweisen, damit dieser eine andere Lösung ausarbeite. Die SPK-SR beurteilte eine weitere Ausnahme von den Kontingenten als «verfassungsmässig problematisch», so die Kommission in ihrer Medienmitteilung, wobei sie sich auf den Zuwanderungsartikel bezog. Man wolle dem Bundesrat keine Vorgaben machen, wie er die besagte Zulassungserleichterung verfassungskonform erreichen solle, so Kommissionssprecher Caroni (fdp, AR) im Rat; auch eine Lösung über den Verordnungsweg sei möglich. Diesen Weg hatte die der Gesetzesrevision zugrunde liegende Motion Dobler (fdp, SG; Mo. 17.3067) ursprünglich avisiert. Der Bundesrat hatte sich damals jedoch gegen eine Verordnungsänderung entschieden, da er in der entsprechenden Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE) bislang nur Ausnahmen für gewisse kurzfristige Aufenthalte zum Zweck der Erwerbstätigkeit aufgeführt hatte. Der Kommissionssprecher zeigte sich zudem offen dafür, die Regelung nicht nur auf Personen mit Abschluss einer Schweizer Hochschule zu beschränken, sondern sie auch auf Personen mit anderen Schweizer Abschlüssen auf Tertiärstufe auszudehnen, womit er eine Annäherung an den Nationalrat signalisierte. Die zuständige Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider bemerkte im Ständerat, dass es nicht leicht werde, die verschiedenen Vorstellungen und Positionen in einer neuen Lösung zu vereinen; «le dossier est sensible», betonte sie. Als komplikationslos entpuppte sich hingegen der Entscheid der kleinen Kammer auf Rückweisung an den Bundesrat; die Ständerätinnen und Ständeräte stimmten dem Antrag ihrer Kommission stillschweigend zu.

Erleichterte Zulassung zum Arbeitsmarkt für Ausländerinnen und Ausländer mit Schweizer Hochschulabschluss (BRG 22.067)
Dossier: Zulassung für Ausländerinnen und Ausländer mit Schweizer Hochschulabschluss

Nicht weniger als 42 Wortmeldungen konnten im Rahmen der Debatte um den Antrag der Mehrheit der SPK-NR auf Abschreibung der parlamentarischen Initiative von Sibel Arslan (basta, BS) gezählt werden. Die 14-köpfige Kommissionsmehrheit war zu diesem Antrag gelangt, weil sie die Resultate aus der Vernehmlassung zu ihrem ersten Entwurf, der die Senkung des Stimm- und Wahlrechtsalters auf 16 Jahre – beim Wahlrecht beschränkt auf aktives, nicht aber passives Wahlrecht – vorgesehen hatte, als zu negativ erachtete. Eine Mehrheit der Kantone, die bürgerlichen Parteien und Arbeitgeberverbände waren dem Entwurf skeptisch gegenübergestanden. Die starke 11-köpfige Kommissionsminderheit gewichtete die unterstützenden Verehmlassungsantworten hingegen stärker und forderte entsprechend die definitive Ausarbeitung einer Vorlage.

Der Abschreibungsantrag hatte einiges an Medienaufmerksamkeit generiert, weil sich die SPK-NR bereits zum dritten Mal entschieden hatte, das Geschäft nicht (weiter) zu behandeln: Eine knappe Kommissionsmehrheit hatte 2020 bereits empfohlen, der parlamentarischen Initiative keine Folge zu geben, und stellte sodann 2022 den Antrag, das Anliegen abzuschreiben, ohne dass sie eine Vorlage dazu ausgearbeitet hatte. Beide Male folgte die grosse Kammer allerdings der jeweiligen Kommissionsminderheit. Und auch beim nunmehr dritten Versuch der Kommission, die Idee aufgrund der Vernehmlassungsantworten ad acta zu legen, widersetzte sich der Nationalrat mit 98 zu 93 Stimmen.
In der diesem Entscheid vorangehenden, ungewöhnlich langen Debatte gab es kaum neue Argumente. Die Mehrheit der zahlreichen Wortmeldungen waren vielmehr sogenannte Zwischenfragen, in denen ideologische Unterschiede sichtbar wurden, die die linke und rechte Ratshälfte bei der Frage des Ausbaus politischer Inklusion trennt und sich insbesondere um die Divergenz zwischen politischer Urteilsfähigkeit und zivilrechtlicher Mündigkeit drehten.
Das Resultat gegen den Antrag der Mehrheit der SPK-NR kam schliesslich erneut äusserst knapp zustande: Auch bei der nunmehr dritten Abstimmung zeigte sich der Graben zwischen der Ratsrechten und der Ratslinken und erneut spielte die gespaltene Mitte Zünglein an der Waage. Die Fraktionen der SP, der GLP und der GP stimmten geschlossen gegen den Antrag der Kommissionsmehrheit und die SVP-Fraktion unterstützte ihn ebenso geschlossen, die FDP-Fraktion grossmehrheitlich. Bei der Mitte-EVP-Fraktion votierten 16 Mitglieder für den Antrag auf Abschreibung und 13 dagegen – darunter die drei EVP-Mitglieder. Mit 98 zu 93 Stimmen erhielt die somit SPK-NR neuerlich den Auftrag, eine Vorlage auszuarbeiten.

Aktives Stimm- und Wahlrecht für 16-Jährige (Pa.Iv. 19.415)
Dossier: Stimmrechtsalter 16

Im Rahmen der Botschaft zu den Motionen und Postulaten der gesetzgebenden Räte im Jahre 2022 schrieben National- und Ständerat in der Sommersession 2023 die Motion Christoph Eymann (ldp, BS) betreffend die frühe Sprachförderung als Basis für einen Sek-II-Abschluss und als Integrationsmassnahme ab. Der Bundesrat hatte im Sommer 2022 den entsprechenden Bericht «Frühe Sprachförderung in der Schweiz» veröffentlicht.

Frühe Sprachförderung vor dem Kindergarteneintritt als Voraussetzung für einen Sek-II-Abschluss und als Integrationsmassnahme (Mo. 18.3834)
Dossier: Frühe Kindheit

In der Sommersession beugte sich der Ständerat als Zweitrat über die bundesrätliche Botschaft zur Änderung des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG), mit welcher die Zulassungsbestimmungen von ausländischen Drittstaatenangehörigen mit Schweizer Hochschulabschluss gelockert werden sollten. Während der erstberatende Nationalrat die Bestimmung begrüsst hatte und sie auf Anraten seiner Kommissionsmehrheit sogar noch auf Personen mit anderen in der Schweiz erworbenen Abschlüssen auf Tertiärstufe ausdehnen wollte, lag dem Ständerat ein ganz anderer Antrag seiner Kommission vor. Die Mehrheit der SGK-SR beantragte ihrem Rat nämlich, nicht auf die Vorlage einzutreten. Zum einen war sie der Ansicht, dass es eine solche Regelung gar nicht brauche, da die Bewilligungen über die vorhandenen Kontingente, die noch nie ausgeschöpft worden seien, eingeholt werden könnten. Zum anderen sah die Kommissionsmehrheit einen Widerspruch mit dem im Rahmen der Masseneinwanderungsinitiative angenommenen Artikel der Bundesverfassung, der festhält, dass Aufenthaltsbewilligungen von Ausländerinnen und Ausländern an jährliche Höchstzahlen und Kontingente gebunden sein müssen. Eine Kommissionsminderheit beantragte Eintreten und zeigte sich überzeugt, dass eine solche Vorlage ein wirksames Instrument gegen den Fachkräftemangel in bestimmten Sektoren sein könne. Zudem verwies sie darauf, dass das Parlament bereits früher Ausnahmen zur Kontingentierung beschlossen und als verfassungsrechtlich zulässig erklärt hätte – ganz konkret die Buchstaben a bis l des betroffenen Artikel 30 Absatz 1 des AIG, und nun gehe es um Buchstabe m, so Daniel Jositsch (sp, ZH) als Mitglied der Kommissionsminderheit.
Im Rahmen der ständerätlichen Debatte zeigte sich auch die zuständige Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider überzeugt, dass auch diese Ausnahme verfassungsrechtlich möglich sei. Zudem handle es sich nicht um «des hordes de personnes qui viendraient de l'étranger»; man rechne aktuell mit 400 bis 500 Personen jährlich, die von der vorliegenden Gesetzesänderung betroffen wären, und die grundsätzlich ja bereits länger in der Schweiz gelebt hätten und gut integriert seien. Mit 24 zu 20 Stimmen folgte der Ständerat schliesslich seiner Kommissionsminderheit und trat auf den Gesetzesentwurf ein. Dieser Entschluss hatte die Rückweisung an die Kommission zur Folge, die sich nun im Detail mit der Vorlage zu befassen hat.

Erleichterte Zulassung zum Arbeitsmarkt für Ausländerinnen und Ausländer mit Schweizer Hochschulabschluss (BRG 22.067)
Dossier: Zulassung für Ausländerinnen und Ausländer mit Schweizer Hochschulabschluss

Das Stimmrechtsalter 16 überzeuge nicht, kam die Mehrheit der SPK-NR in ihrem Bericht zur Vernehmlassung ihres Entwurfs für eine Einführung das aktiven Stimm- und Wahlrechts für 16-Jährige zum Schluss. Die Kommission beantragte deshalb mit 14 zu 11 Stimmen dem Nationalrat zum dritten Mal, die Idee zu sistieren. Schon im Mai 2020 hatte die SPK-NR beantragt, der parlamentarischen Initiative von Sibel Arslan (basta, BS) keine Folge zu geben. Sie wurde von der grossen Kammer in der Herbstsession 2020 aber genauso überstimmt wie in der Frühlingssession 2022 bei ihrem Antrag, die Initiative abzuschreiben. In der Folge musste die SPK-NR also einen Entwurf für eine Änderung des Artikels 137 BV ausarbeiten. Der bereits in der parlamentarischen Initiative gemachte Vorschlag, das aktive (nicht aber das passive) Stimm- und Wahlrecht auf 16 Jahre zu senken, vermochte aber erneut eine knappe Mehrheit der Kommission nicht zu überzeugen. Sie führte die Antworten der erwähnten Vernehmlassung als Argumente für diese negative Haltung ins Feld.

In der Tat widerspiegelte der Vernehmlassungsbericht die Unentschiedenheit in der Frage. Von 51 eingegangenen Stellungnahmen sprachen sich 27 für die Erweiterung der Stimmberechtigten um rund 130'000 Personen aus (die Stimmbevölkerung würde um rund 2.4 Prozent vergrössert), 21 lehnten sie ab und vier bezogen keine deutliche Position. Unter den Befürworterinnen und Befürwortern fanden sich sieben der 25 antwortenden Kantone – einzig der Kanton Zürich äusserte sich nicht zur Vorlage: Aargau, Bern, Basel-Stadt, Glarus, Jura, Graubünden und Solothurn. Auch die links-grünen Parteien (SP, die Grünen und Ensemble à Gauche) reihten sich ins Lager der Befürworterinnen und Befürworter ein. Bei den Verbänden äusserten sich der SGB und der SKV sowie alle 15 antwortenden Jugendorganisationen (Dachverband Offene Kinder- und Jugendarbeit Schweiz AFAJ, die Jugendsession, die Jugendparlamente aus Bern und Basel-Stadt, Jungwacht Blauring Jubla, Pfadibewegung Schweiz, das National Coalition Building Institute Suisse Schweiz NCBI, das Netzwerk Kinderrechte Schweiz, SAJV, Sexuelle Gesundheit Schweiz, UNICEF und Pro Juventute sowie die Jugendsektion der Mitte-Partei) dem Vorschlag gegenüber positiv. Zu den Gegnerinnen und Gegnern gehörten 15 Kantone (AG, AI, BL, LU, NE, NW, OW, SG, SH, SZ, TG, TI, VD, VS und ZG), die bürgerlichen Parteien (Mitte, FDP und SVP) sowie die Arbeitgeberverbände SGV und das Centre patronal (CP). Zudem äusserte sich eine Privatperson negativ. Neutrale Stellungnahmen gingen von den Kantonen Freiburg, Genf und Uri ein, die allerdings darauf hinwiesen, dass entsprechende Anliegen in ihren Kantonen gescheitert seien. Der Verein Schweizerischer Geschichtslehrerinnen und -lehrer (VSGS) schliesslich betonte, dass die Senkung des Wahl- und Stimmrechtsalters die politische Bildung festigen könnte, was einem Ziel der laufenden Reform des Gymnasiums entspreche.
Die Argumente in den Stellungnahmen waren nicht neu. Auf der Seite der Befürwortenden wurde ins Feld geführt, dass das Durchschnittsalter des Stimmkörpers gesenkt würde (das Medianalter liegt aktuell bei 57 Jahren), was ermögliche, das aktuelle und zukunftsweisende Entscheidungen auch von Jugendlichen mitgetragen werden könnten, was deren Legitimation stärke. Jugendliche interessierten sich für Politik, was sich durch die Senkung des Wahl- und Stimmrechtsalters weiter fördern lasse. Viele 16-jährige übernähmen Verantwortung im Berufsleben oder in Vereinen und dürften über ihr Einkommen, ihr Sexualleben und ihre Religionszugehörigkeit frei verfügen; entsprechend könnten sie auch politische Verantwortung übernehmen. Während die Auswirkungen dieser Änderung auf die Abstimmungsergebnisse in Anbetracht der Zahl 16-18-Jähriger gering bleiben dürften, sei die «demokratiepolitische Wirkung beträchtlich», so die entsprechende Zusammenfassung im Vernehmlassungsbericht.
Hauptargument der Gegnerinnen und Gegner war die Inkongruenz zwischen zivilrechtlicher Volljährigkeit und der Rechte von Bürgerinnen und Bürgern, die mit der Senkung des Wahl- und Stimmrechtsalters geschaffen würde. Jugendliche würden vor den Konsequenzen ihrer Handlungen geschützt, man würde ihnen aber das Recht geben, über gesellschaftliche Konsequenzen zu entscheiden. Es sei widersprüchlich, jemandem das Unterzeichnen von Verträgen zu verbieten, aber die demokratische Mitentscheidung zu erlauben. Kritisiert wurde zudem die vorgeschlagene Trennung zwischen aktivem und passivem Wahlrecht. Dies schaffe «Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse», zitierte der Bericht einige Stellungnahmen. Es sei wichtig, dass sich Jugendliche politisch interessierten, es bestünden aber bereits zahlreiche Möglichkeiten für politische Beteiligung (Familie, Schule, Jugendparlamente, Jungparteien). Es würde zudem zu Schwierigkeiten führen, wenn das Wahl- und Stimmrechtsalter bei nationalen und kantonalen Wahlen und Abstimmungen nicht gleich sei – etwa beim Versand des Stimmmaterials. Einige Gegnerinnen und Gegner äusserten zudem die Sorge, dass Jugendliche nicht die nötige Reife besässen, um politische Verantwortung zu übernehmen.
In zahlreichen Stellungnahmen wurde darüber hinaus darauf hingewiesen, dass mit Ausnahme des Kantons Glarus alle bisherigen Versuche, das Wahl- und Stimmrechtsalter auf kantonaler Ebene zu senken, gescheitert seien. Die Gegnerinnen und Gegner einer Senkung führten dies als Beleg ins Feld, dass die Zeit nicht reif sei für die Idee. Die Landsgemeinde im Kanton Glarus könne zudem nicht als positives Beispiel angeführt werden, weil sie ganz anders funktioniere als nationale Abstimmungen und Wahlen. Die Befürwortenden einer Senkung betonten hingegen, dass die Diskussion weitergehen müsse und die Ausweitung politischer Rechte in der Geschichte stets lange Zeit gedauert und mehrere Anläufe gebraucht habe. Zudem habe sich die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung noch nicht zu diesem Thema äussern können.

In ihrer Medienmitteilung sprach die SPK-NR von «insgesamt ablehnenden Ergebnisse[n]», die zeigten, dass die Initiative nicht weiterverfolgt werden solle. Es sei nicht «sinnvoll», zwei Kategorien von Stimmberechtigten zu schaffen, und «nicht opportun, zwischen dem bürgerlichen und dem zivilen Mündigkeitsalter zu unterscheiden». Weil eine Mehrheit der Kantone die Vorlage ablehne und auch eine Mehrheit der (kantonalen) Stimmberechtigten die Idee jeweils nicht gutgeheissen habe, empfehle die Mehrheit der SPK-NR die Vorlage zur Ablehnung und die Initiative zur Abschreibung. Den Befürworterinnen und Befürwortern empfahl sie als «besten Weg», eine Volksinitiative zu lancieren. Die starke Kommissionsminderheit betonte hingegen in der Medienmitteilung, dass die Vernehmlassungsantworten differenzierter betrachtet werden müssten und dass «die wichtige Frage der demokratischen Partizipation junger Bürgerinnen und Bürger» in einer nationalen Abstimmung diskutiert werden müsse. Der Nationalrat wird in der Sommersession 2023 über den Antrag der Kommission entscheiden.

In den Medien wurde der Antrag der Kommission als «Dämpfer» bezeichnet. Die Medien zitierten die SP und die Grünen, die mit Empörung reagierten, den Entscheid als «Affront à la volonté de la jeune génération» bezeichneten, wie Le Temps zitierte, und auf eine Korrektur im Nationalrat hofften.

Aktives Stimm- und Wahlrecht für 16-Jährige (Pa.Iv. 19.415)
Dossier: Stimmrechtsalter 16

Mitte März 2023 legte der Bundesrat den Bericht zum Postulat von Andri Silberschmidt (fdp, ZH) vor, in dem die Ausübung des Stimmrechts aus dem Ausland untersucht wurde. Gemäss Postulat war zu prüfen, wie der Versand des Stimmmaterials an Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer funktioniert und ob die Stimmabgabe vereinfacht werden könnte. Rund 214'000 Schweizerinnen und Schweizer, die im Ausland ihren Wohnsitz haben, waren 2022 in einem Stimmregister eingetragen und entsprechend stimmberechtigt. Der postalische Weg der Stimmabgabe verhindert – abhängig etwa von der Leistung der Postsysteme im Ausland – ab und zu die rechtzeitige Abgabe der Stimme, was laut Bericht immer wieder vor allem zu Interpellationen führe.
Die Resultate des Berichts basierten unter anderem auf einer Befragung der im Ausland wohnhaften Stimmberechtigten aus fünf Kantonen (AG, FR, GE, LU, TI). Diese habe gezeigt, dass «die Stimmunterlagen bei einer überwiegenden Mehrheit» der Befragten rechtzeitig einträfen. In Europa wohnhafte Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer erhielten das Stimmmaterial häufig gar noch vor den in der Schweiz wohnhaften Stimmberechtigten. Einzig in weiter entfernten Ländern (Australien, Neuseeland, Philippinen, Südafrika und Uruguay) komme es zu «Unzulänglichkeiten bei der Zustellung der Unterlagen». Die getesteten Optionen für eine Beschleunigung des Versands (z.B. Vorverlegung des Versands, Kurierdienste, Versand an Adresse in der Schweiz, Stimmabgabe durch Stellvertretung, E-Versand) seien weniger vielversprechend als E-Voting, das auch deshalb weiterverfolgt werden solle, so der Bericht.

Stärkung der Partizipation von Auslandschweizern und Auslandschweizerinnen (Po. 20.4348)

Nach erfolgter Vernehmlassung zur Anpassung der Zulassungsbestimmungen für Ausländerinnen und Ausländer mit Schweizer Hochschulabschluss hielt der Bundesrat unverändert an seinem Entwurf fest, wie er in seiner im Herbst 2022 erschienenen Botschaft zur Änderung des Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG) erklärte. Konkret unterbreitete er dem Parlament eine Änderung von Art. 30 AIG, gemäss welcher in Zukunft auch Personen ohne Schweizer Pass, aber mit Schweizer Hochschulabschluss von der Kontingentierung ausgenommen werden sollen, sofern sie in der Schweiz einer selbständigen oder unselbständigen Erwerbstätigkeit nachgehen, die «von hohem wissenschaftlichen oder wirtschaftlichen Interesse ist». Er tat dies in Erfüllung einer entsprechenden Motion Dobler (fdp, SG; Mo. 17.3067).

Der Nationalrat behandelte den Entwurf als Erstrat in der Frühjahrssession 2023. Zuerst hatte er sich mit einem Nichteintretensantrag von Thomas Aeschi (svp, ZG) auseinanderzusetzen. Der SVP-Fraktionspräsident begründete seinen Antrag unter anderem mit dem Widerspruch zur angenommenen Volksinitiative «gegen Masseneinwanderung» und zu deren Umsetzung sowie mit der aus seiner Sicht anhaltenden «masslosen Zuwanderung», die keine weitere Lockerung zulasse. Kommissionssprecher Andri Silberschmidt (fdp, ZH) konterte, dass zum einen die Steuergelder nicht optimal investiert seien, wenn Personen nach ihrem Studium in der Schweiz das Land wieder verlassen würden. Ebenso seien diese Personen ja bereits in der Schweiz integriert und nicht zuletzt bestehe in der Schweiz auch ein Mangel an hochspezialisierten Arbeitskräften. Alle Fraktionen mit Ausnahme derjenigen der SVP stimmten geschlossen für Eintreten, woraufhin der Rat die Detailberatung in Angriff nahm.

In der Detailberatung lagen dem Rat diverse Änderungsanträge vor: Die Kommissionsmehrheit beantragte zum einen eine ausgeweitete Fassung des Personenkreises, in dem sie nicht nur Personen aus Drittstaaten, die ein Studium an einer Schweizer Hochschule abgeschlossen haben, berücksichtigt haben wollte, sondern darüber hinaus auch Personen mit anderen Abschlüssen auf Tertiärstufe in der Schweiz, namentlich mit einer höheren Berufsbildung, oder auf Postdoktorierende. Ferner war die Kommission der Ansicht, dass es generell sehr schwierig sei, den Nachweis des wirtschaftlichen oder wissenschaftlichen Interesses zu erbringen. Wenn die genannten Personen einer qualifizierten Anstellung mit Bezug zu ihrem Hochschulstudium nachgingen, solle dies ausreichend sein, um von den jährlichen Höchstzahlen für Aufenthaltsbewilligungen ausgenommen zu werden, so die Ausführungen der Kommission mit Verweis auf den Fachkräftemangel. Daneben lagen drei Minderheitsanträge vor, die im Vergleich zur Version des Bundesrates die Änderung lediglich auf Personen mit einer Postdoc-Anstellung ausdehnen wollte (Minderheit I Marchesi). Eine Minderheit II, ebenfalls angeführt von Piero Marchesi (svp, TI), unterstützte zwar die Ausweitung der Regelung auf die gesamte Tertiärstufe, wollte jedoch auf den von der Kommission eingeführten Zusatz, dass eine qualifizierte Anstellung im Bereich des Hochschulstudiums ausreichend sei, verzichten. Nicht zuletzt optierte eine Minderheit III, vertreten durch Andreas Glarner (svp, AG), dafür, die Gesetzesanpassung auf Personen mit einem Hochschulabschluss in den MINT-Fächern zu beschränken. Am Schluss obsiegte der Antrag der Kommissionsmehrheit deutlich. Lediglich die Minderheit II hatte über die SVP-Fraktion hinaus mobilisieren können; die grossmehrheitliche Unterstützung der Mitte-Fraktion reichte indes noch nicht zu einer Mehrheit im Rat. Mit 135 zu 53 Stimmen (3 Enthaltungen) genehmigte der Nationalrat den so abgeänderten Entwurf in der Gesamtabstimmung.

Erleichterte Zulassung zum Arbeitsmarkt für Ausländerinnen und Ausländer mit Schweizer Hochschulabschluss (BRG 22.067)
Dossier: Zulassung für Ausländerinnen und Ausländer mit Schweizer Hochschulabschluss

Zu Beginn der Wintersession 2022 machte sich der Nationalrat an die Beratung des Voranschlags 2023 mit integriertem Aufgaben- und Finanzplan 2024–2026. Anna Giacometti (fdp, GR) und Jean-Pierre Grin (svp, VD) präsentierten dem Rat das Budget und die Änderungsvorschläge der Kommissionsmehrheit. Beide betonten die «düsteren finanzpolitischen Aussichten» (Giacometti), welche in den Finanzplanjahren grosse Korrekturmassnahmen nötig machen würden. Besser sehe es noch für das Jahr 2023 und somit für den Voranschlag aus, hier schlug die Kommissionsmehrheit gar Mehrausgaben von CHF 11.2 Mio. vor, womit die Schuldenbremse immer noch eingehalten werden könne. Insgesamt beantragte die Kommission sieben Änderungen am bundesrätlichen Voranschlag, welche der Rat allesamt annahm. Kaum Erfolg hatten hingegen die Minderheitsanträge.

Das geplante Defizit in den Finanzplanjahren war auch Thema in den folgenden Fraktionsvoten. Als besonders dramatisch erachtete etwa Lars Guggisberg (svp, BE) die finanzielle Situation des Bundes: Man befinde sich «finanzpolitisch seit Jahren im freien Fall», zumal das Parlament immer mehr Geld ausgebe als vorhanden sei. Nun müsse man Prioritäten setzen, weshalb die SVP insbesondere im Finanzplan entsprechende Kürzungsanträge stelle. Ähnlich formulierte es Alex Farinelli (fdp, TI) für die FDP-Fraktion, der die Bundesfinanzen mit der Titanic verglich – zwar scheine alles ruhig, bei genauerer Betrachtung sei «das Bild, insbesondere das mittelfristige, [aber] wesentlich problematischer und beunruhigender». Auch er verlangte daher die Setzung von Prioritäten. Demgegenüber hob Jean-Paul Gschwind (mitte, JU) das positive strukturelle Saldo des Voranschlags hervor, betonte aber auch, dass man für die Finanzplanjahre Korrekturmassnahmen einbringen müsse – insbesondere auch, weil die Gewinnausschüttung durch die SNB ausbleiben könne.
Deutlich weniger besorgt zeigten sich die Sprechenden der anderen Fraktionen über die finanzpolitische Situation. Roland Fischer (glp, LU) erachtete in Anbetracht der tiefen Schuldenquote des Bundes nicht in erster Linie die Defizite als problematisch, sondern die Ausgestaltung der Schuldenbremse, die es nicht erlaube, Schulden zu machen, um Investitionen zu tätigen. Auch Sarah Wyss (sp, BS) zeigte sich durch die «Mehrbelastungen ab 2024 [...] nicht besonders beunruhig[t]». Man müsse zwar reagieren, dabei aber vor allem auf Nachhaltigkeit setzen und von «kurzfristige[r] Sparwut» absehen. Gerhard Andrey (gp, FR) sah die Schuld für die finanzpolitischen Probleme vor allem bei denjenigen Mitgliedern des Parlaments, welche das Armeebudget stark aufgestockt und einen Abbau der Corona-Schulden über zukünftige Überschüsse durchgesetzt hätten. Statt über Sparmassnahmen solle man aber nun über zusätzliche Einnahmen, etwa im Rahmen einer Erbschaftssteuer, sprechen.

In der Folge behandelte der Nationalrat den Voranschlag 2023 in sechs Blöcken, beginnend mit einem ersten Block zu den Beziehungen zum Ausland und zur Migration. Hierbei lagen dem Rat keine Mehrheitsanträge der Kommission vor, jedoch zahlreiche Minderheitsanträge von Mitgliedern der Polparteien. Einerseits verlangten Minderheiten Badertscher (gp, BE), Friedl (sp, SG), Wettstein (gp, SO) sowie zwei Einzelanträge Pasquier-Eichenberger (gp, GE) etwa eine Aufstockung der Beiträge für humanitäre Aktionen oder an die Entwicklungszusammenarbeit mit den Ländern des Ostens, teilweise auch in den Finanzplanjahren. Andererseits forderten Minderheiten Grin (svp, VD), Guggisberg (svp, BE), Fischer (svp, ZH) sowie ein Einzelantrag der SVP-Fraktion etwa eine Reduktion des Schweizer Beitrags an ausgewählte EU-Mitgliedstaaten, an die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit oder an die Integrationsmassnahmen für Ausländerinnen und Ausländer (teilweise auch oder nur in den Finanzplanjahren) sowie die ordentliche Verbuchung der Ausgaben für Kriegsvertriebene aus der Ukraine. Die Minderheitsanträge blieben jedoch allesamt erfolglos.

Im zweiten Block zu Kultur, Bildung, Forschung, Familie und Sport lagen dem Nationalrat vier Kommissionsanträge vor. Im Sportbereich wollte die Kommission einerseits einen Kredit für die Sportverbände zugunsten der nationalen Meldestelle von Swiss Sport Integrity um CHF 360'000 aufstocken, zumal seit deren Schaffung Anfang 2022 dreimal mehr Meldungen eingegangen seien, als erwartet worden waren. CHF 650'000 sollten zudem für die Ausrichtung der Staffel-Weltmeisterschaft 2024 in Lausanne gesprochen werden, wobei der Bund einen Drittel der Gesamtfinanzierung übernehmen würde. Keine Aufstockung, sondern eine ausdrückliche Verwendung der CHF 390'000, welche der Bundesrat im Bereich Kinderschutz/Kinderrechte veranschlagt hatte, für eine Übergangslösung zur Stärkung der Kinderrechte verlangte die Kommission bei den Krediten des BSV. Eine Übergangslösung war nötig geworden, weil die Ombudsstelle für Kinderrechte, für die der Betrag gedacht war, noch nicht über eine gesetzliche Grundlage verfügte. Schliesslich verlangte die Kommission, dass CHF 35 Mio., welche nach dem Ausschluss der Schweiz aus Horizon Europe bei den EU-Forschungsprogrammen nicht benötigt werden, stattdessen Innosuisse zugesprochen werden. Der Nationalrat hiess alle vier Kommissionsanträge stillschweigend gut.
Weitere CHF 50 Mio. aus dem Kredit der EU-Forschungsprogramme zum Kredit für die Institutionen der Forschungsförderung verschieben wollte eine Minderheit Munz (sp, SH). Zudem verlangten zwei weitere Minderheiten Munz Aufstockungen bei der internationalen Mobilität Bildung zugunsten des Programms Erasmus+. Die Kredite gegenüber dem bundesrätlichen Vorschlag reduzieren wollten hingegen eine Minderheit I Grin bei den Institutionen der Forschungsförderung sowie eine Minderheit Guggisberg in den Finanzplanjahren bei der internationalen Mobilität Bildung und bei den Stipendien an ausländische Studierende. Mit 123 zu 68 Stimmen kürzte der Nationalrat in Übereinstimmung mit der Minderheit Munz den Kredit der EU-Forschungsprogramme zugunsten der Institutionen der Forschungsförderung, lehnte aber ansonsten sämtliche Minderheitsanträge ab. Dazu gehörten auch zwei Minderheiten Nicolet (svp, VD), welche bei Pro Helvetia (auch in den Finanzplanjahren) und bei der familienergänzenden Kinderbetreuung kürzen wollten.

Im Block 3 zu Umwelt und Energie hiess der Nationalrat die veranschlagten CHF 42 Mio. für Programme von EnergieSchweiz für den Heizungsersatz, zur Dekarbonisierung von Industrie und Gewerbe, zur Einführung von neuen Technologien und zur Bekämpfung des Fachkräftemangels sowie CHF 4 Mrd. für den Rettungsschirm Elektrizitätswirtschaft, welchen der Bundesrat in einer Nachmeldung beantragt hatte, gut. Eine Minderheit Schilliger (fdp, LU) hatte erfolglos eine Kürzung bei den Programmen von EnergieSchweiz im Voranschlag und in den Finanzplanjahren gefordert. Erfolglos blieben auch alle anderen Minderheiten etwa zur Streichung von CHF 10 Mio. für eine Winter-Energiespar-Initiative, zur Reduktion des Kredits für die Reservekraftwerke, aber auch für eine Erhöhung des Kredits für die Reservekraftwerke um CHF 100 Mio., um eine Erhöhung der Energiekosten für die Bevölkerung zu verhindern.

Erfolglos blieben auch sämtliche Minderheitsanträge im vierten Block zu den Themen «soziale Wohlfahrt, Gesundheit und Sicherheit», wo etwa eine Minderheit Wettstein (gp, SO) eine Erhöhung des Bundesbeitrags an das Schweizerische Rote Kreuz oder verschiedene Minderheiten Kürzungen beim Rüstungsaufwand oder bei verschiedenen Positionen zur Verteidigung beantragten.

Im fünften Block zu Standortförderung, Steuern und Landwirtschaft gab es nur einzelne Forderungen zu den ersten beiden Bereichen, etwa verlangte eine Minderheit Gysi (sp, SG) zusätzliche Mittel und Stellen in der Steuerverwaltung für mehr Mehrwertssteuerkontrollen und eine Minderheit Guggisberg eine Streichung der Neuen Regionalpolitik, da diese Aufgabe der Kantone sei. Das Hauptinteresse des Nationalrats galt in diesem Block aber der Landwirtschaft, zu der zahlreiche Mehr- und Minderheitsanträge vorlagen: Die Kommissionsmehrheit verlangte eine Erhöhung des Kredits für die Qualitäts- und Absatzförderung zugunsten des Schweizer Weins um CHF 6.2 Mio. (in Umsetzung einer Motion 22.3022, die vom Nationalrat angenommen, aber vom Ständerat an die WAK-SR verwiesen worden war). Eine Minderheit Munz wollte stattdessen einen Teil der bereits veranschlagten Mittel zur Umsetzung der Motion einsetzen, der Nationalrat folgte jedoch seiner Kommissionsmehrheit und beschloss die Krediterhöhung. Weiter beantragte die Kommissionsmehrheit, in den Planungsgrössen zu den Direktzahlungen die Höhe der Versorgungssicherheitsbeiträge auf CHF 1.1 Mrd. festzuschreiben, so dass diese entgegen der Absicht des Bundesrates nicht gekürzt werden könnten. Der Nationalrat folgte auch dieser Kommissionsmehrheit, während eine Minderheit Munz besagte Planungsgrösse erfolglos streichen wollte. Schliesslich sollten die Mittel für Wildtiere, Jagd und Fischerei gemäss Kommissionsmehrheit um CHF 4 Mio. zugunsten von Sofortmassnahmen für den Herdenschutz aufgestockt werden, wobei der Nationalrat auch hier der Komissionsmehrheit und nicht einer Minderheit Schneider Schüttel (sp, FR) auf Beibehalten des bundesrätlichen Betrags folgte. Erfolgreich war zudem eine Minderheit Grin für eine Erhöhung des Kredits für die Pflanzen- und Tierzucht um CHF 3.9 Mio. zugunsten einheimischer Nutztierrassen, nicht aber ein weiterer Minderheitsantrag Grin für einen Verzicht auf die Aufstockung des Funktionsaufwands beim Bundesamt für Landwirtschaft um CHF 900'000 zur Umsetzung einer parlamentarischen Initiative zur Verminderung des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln.

Im sechsten Block ging es abschliessend um den Eigenaufwand des Bundes und um die Schuldenbremse, wobei die Kommissionsmehrheit nur einen Antrag auf Änderung gegenüber der bundesrätlichen Version stellte: Bei den Planungsgrössen zum BABS sollte der Soll-Wert der Kundenzufriedenheit bei den Ausbildungsleistungen von 80 auf 85 Prozent und in den Finanzplanjahren auf 90 Prozent erhöht werden. Stillschweigend hiess der Nationalrat die Änderung gut. Zudem lagen zahlreiche Minderheitsanträge Nicolet auf Kürzungen im Personalbereich verschiedener Bundesämter (BAFU, BAG, BAK, BAV, BFS) sowie beim UVEK vor, die jedoch allesamt abgelehnt wurden – genauso wie weitere Kürzungsanträge im Personalbereich sowie bei den Sach- und Betriebsausgaben des SEM, zur Kürzung des Personalaufwands im Bereich der Social-Media-Strategie und der Digitalisierung sowie für Querschnittskürzungen beim BBL. Abgelehnt wurde aber auch ein Minderheitsantrag Schneider Schüttel zur Schaffung von zwei zusätzlichen Stellen beim BLV im Bereich Zulassung von Pflanzenschutzmitteln. Schliesslich scheiterte auch ein Antrag der SVP-Fraktion, die aus der Gewinnausschüttung der SNB veranschlagten Einnahmen von CHF 666.7 Mio. zu streichen, da die SNB diese nach ihren Verlusten voraussichtlich nicht würde tätigen können.

Nach langen Diskussionen, bei denen sämtliche Mehrheits- sowie einzelne Minderheitsanträge angenommen worden waren, hiess der Nationalrat den Voranschlag in der Gesamtabstimmung mit 137 zu 49 Stimmen (bei 4 Enthaltungen) gut. Die ablehnenden Stimmen stammten von der geschlossen stimmenden SVP-Fraktion sowie von einem Mitglied der Grünen. Angenommen wurden in der Folge auch der Bundesbeschluss über die Planungsgrössen im Voranschlag für das Jahr 2023 (138 zu 50 Stimmen bei 2 Enthaltungen), der Bundesbeschluss über den Finanzplan für die Jahre 2024-2026 (179 zu 12 Stimmen) sowie der Bundesbeschluss über die Entnahmen aus dem Nationalstrassen- und Agglomerationsverkehrsfonds für das Jahr 2023 (191 zu 0 Stimmen).

Voranschlag 2023 mit integriertem Aufgaben- und Finanzplan 2024-2026 (BRG 22.041)
Dossier: Bundeshaushalt 2023: Voranschlag und Staatsrechnung

Ende April 2022 lancierte die WBK-NR ein Postulat, welches darauf abzielte, Kompetenzen von Geflüchteten zu erfassen. Der Bundesrat solle in einem Bericht aufzeigen, wie momentan das Bildungsniveau und Bildungspotenzial von geflüchteten Personen dokumentiert wird und wo allfällige Lücken in der Aufnahme dieser Daten bestehen. Nach momentanem Stand werde bei der Ankunft in der Schweiz der Bildungsstand durch das SEM nicht erhoben und auch die entsprechenden Daten der Kantone seien lückenhaft, argumentierte die Kommission. In seiner Stellungnahme erwiderte der Bundesrat, dass man sich bereits mit der effektiven Nutzung und Förderung der Kompetenzen von geflüchteten Personen beschäftige. Das SEM untersuche konkret, welche bildungsrelevanten Faktoren von Geflüchteten wie erfasst werden. Die Regierung beantragte folglich die Ablehnung des Postulats. Eine ebenfalls ablehnende Kommissionsminderheit Keller (svp, NW) fügte an, die Integration geflüchteter Personen sei Sache der Kantone und Gemeinden, weshalb es Sinn ergebe, allfällige demografische Daten auf jenen Ebenen zu erheben. In der Herbstsession 2022 nahm der Nationalrat das Postulat mit 126 zu 58 Stimmen bei einer Enthaltung an, wobei sich lediglich die geschlossene SVP-Fraktion und einer Minderheit der FDP.Liberalen-Fraktion dagegen positionierten.

Kompetenzen von Geflüchteten erfassen und nutzen (Mo. 22.3393)

Der Nationalrat hatte im März 2022 den Abschreibungsantrag für die parlamentarische Initiative von Sibel Arslan (basta, BS) für die Einführung eines Stimm- und Wahlrechts für 16-Jährige abgelehnt und seine SPK-NR damit, nachdem er der Initiative im Jahr 2020 Folge gegeben hatte, erneut aufgefordert, eine entsprechende Vorlage auszuarbeiten. Die Kommission legte entsprechend im Herbst einen Entwurf vor, der, wie von der parlamentarischen Initiative vorgeschlagen, die Senkung des passiven Wahlrechts und des Stimmrechts auf 16 Jahre vorsah; gewählt werden können Wahl- und Stimmberechtigte entsprechend des Entwurfs also nach wie vor erst mit 18 Jahren. Trotz Ablehnung einer Minderheit der SPK-NR – der Entwurf wurde mit 13 zu 7 Stimmen (bei 3 Enthaltungen) angenommen – wurde der Vorschlag für eine Teilrevision der Verfassung (Artikel 136 BV) Mitte September 2022 in die Vernehmlassung gegeben.

In der Zwischenzeit war das Thema auch deshalb in den Medien präsent, weil sowohl im Kanton Zürich als auch im Kanton Bern entsprechende kantonale Vorschläge an der Urne abgelehnt worden waren. Im Kanton Zürich hatten Regierung und Parlament und alle Parteien mit Ausnahme von EDU, FDP und SVP eine Senkung des aktiven (nicht aber passiven) Wahl- und Stimmrechtsalters auf 16 Jahre empfohlen, die Vorlage wurde aber Mitte Mai 2022 mit 64.4 Prozent Nein-Stimmenanteil von der kantonalen Bevölkerung deutlich verworfen. Auch im Kanton Bern wollte die Mehrheit der Stimmberechtigten Ende September 2022 nichts von einer Ausweitung der politischen Rechte auf junge Menschen wissen. Auch hier war die Ablehnung mit 67 Prozent klar; einzig in der Stadt Bern stimmten 59 Prozent der Stimmberechtigten zu. Auch in Bern hatten sich das Parlament sowie alle Parteien mit Ausnahme von EDU, FDP und SVP für eine Senkung des Stimm- und Wahlrechtsalters ausgesprochen – nicht aber die Regierung, die auf das Jahr 2009 verwies, als schon einmal eine ähnliche Initiative an der Urne abgelehnt worden war (damals allerdings noch deutlicher mit 75% Nein-Stimmenanteil).
Weil in den letzten Jahren in den Kantonen Neuenburg (2020: 58.5% Nein), Uri (2021: 68.4% Nein; 2009: 79.9% Nein), Basel-Landschaft (2018: 84.5% Nein) und Basel-Stadt (2009: 72% Nein) die Ausweitung der politischen Rechte auf 16 bis 18-Jährige ebenfalls an der Urne gescheitert war und sich in den Kantonen Genf (2022), Luzern (2021), Schwyz (2021), Waadt (2021), Zug (2021), Jura (2020), St. Gallen (2020), Schaffhausen (2019), Thurgau (2019) und Freiburg (2010) die kantonalen Parlamente gegen entsprechende Vorstösse aus den eigenen Reihen ausgesprochen hatten, können weiterhin lediglich im Kanton Glarus auch Menschen zwischen 16 und 18 Jahren an politischen Entscheidungen teilhaben.

In den Medien gingen die Meinungen zu diesem Thema auseinander: In NZZ-Meinungsbeiträgen wurde es als «diskriminierend und heuchlerisch» bezeichnet, dass «junge Nachwuchspolitiker als Hoffnungsträger» gefeiert würden, sich «Politiker im Pensionsalter» hingegen für eine Wiederwahl rechtfertigen müssten; dies zeige die vermeintliche Stimmung in der Politik, die Jugendlichen mehr Beteiligung einräumen wolle, die aber in Anbetracht der Ablehnung an den kantonalen Abstimmungsurnen von der Stimmbevölkerung nicht geteilt werde. Hinterfragt wurde in der NZZ zudem, ob Jugendliche über «ausreichend Kenntnisse» verfügten, um sich an Abstimmungen und Wahlen zu beteiligen. Weil der Geschichtsunterricht immer stärker abgewertet werde, sei diese Frage zu verneinen, so ein Zürcher EVP-Kantonsrat. Anderer Ansicht war etwa der Blick: Insbesondere die Klimastreiks hätten gezeigt, dass junge Menschen mobilisiert würden, wenn es um Anliegen gehe, die sie interessierten. Auch Le Temps hob die wachsende Zahl an Jugendlichen hervor, die auf die Strasse gingen und sich wohl auch an der Abstimmungs- und Wahlurne äussern würden. Die Westschweizer Zeitung erinnerte zudem daran, dass auch der Einführung des Frauenstimm- und -wahlrechts sowie der Senkung des Stimmrechtsalter von 20 auf 18 Jahre eine jahrelange Debatte vorangegangen sei. Zuletzt hätten 1991 mehr als 72 Prozent der Stimmberechtigten der Senkung des Wahl- und Stimmrechtsalters zugestimmt, nachdem 1979 noch eine knappe Mehrheit von 50.1 Prozent diese abgelehnt hatte. Einig war man sich in den Medien freilich darüber, dass die kantonalen Resultate wohl einen eher negativen Einfluss auf die nationale Debatte haben könnten; die NZZ etwa fasste die «Schlappe für die Regierung und das Parlament» in Zürich als «Dämpfer» für ähnliche kantonale und nationale Anliegen auf. Der Berner SVP-Kantonalpräsident Manfred Bühler (BE, svp) wünschte sich im Vorfeld der Berner Abstimmung denn auch, dass möglichst deutliche kantonale Resultate der nationalen Diskussion ein Ende setzen würden.

Allerdings dürften die Diskussionen nicht nur national – die Vernehmlassung für die von der SPK-NR erarbeitete Vorlage war bis Ende 2022 geplant –, sondern auch kantonal weitergehen: Im Kanton Graubünden wird die Stimmbevölkerung über die vom Parlament deutlich gutgeheissene Herabsetzung des Stimmrechtsalters auf 16 Jahre abstimmen und in den Kantonen Aargau, Luzern und Solothurn waren 2022 Unterschriftensammlungen für kantonale Volksinitiativen mit demselben Ziel im Gange. Im Kanton Appenzell Ausserrhoden wurde zudem das Stimm- und Wahlrechtsalter in der noch nicht zu Ende beratenen Totalrevision der Kantonsverfassung auf 16 Jahre festgesetzt; bleibt dies so, werden auch in diesem Kanton die Stimmberechtigten das letzte Wort in dieser Frage haben. Im Kanton Tessin war ein entsprechender Vorstoss hängig und im Kanton Basel-Stadt hatte das Parlament die Regierung mit dem Entwurf einer entsprechenden Vorlage beauftragt.

Aktives Stimm- und Wahlrecht für 16-Jährige (Pa.Iv. 19.415)
Dossier: Stimmrechtsalter 16

Der Bundesrat publizierte Ende Juni 2022 in Umsetzung einer Motion Eymann (lpd, BS) einen Bericht zur sprachlichen Förderung im Vorschulalter. Das SBFI hatte den Bericht gestützt auf eine wissenschaftliche Studie der Pädagogischen Hochschule St. Gallen, der Universität Genf und des Forschungsbüros INFRAS erarbeitet. Die Autorinnen und Autoren hielten fest, dass die Sprachförderung im Vorschulalter einen wichtigen Teil der allgemeinen frühen Bildung darstelle und daher auch in diesem Rahmen angegangen werden soll. Im Bericht wurden mehrere entsprechende Empfehlungen formuliert. Unter anderem empfahl der Bericht, beim Bund eine koordinierende Organisationseinheit «Frühe Bildung» zu schaffen. Diese solle dafür sorgen, dass der Bund – etwa in Form eines Gesetzes – die Grundprinzipien für den Zugang zu den Angeboten der frühen Sprachförderung, deren verlangte Qualität und deren Finanzierung festlegt, und so der heterogenen Politik auf kantonaler und kommunaler Ebene entgegenwirke. An die Kantone und Gemeinden gerichtet, welche im Rahmen der frühen Bildung die Hauptverantwortung tragen, riet der Bericht, universelle und alltagsintegrierte Ansätze der frühen Sprachförderung anzuwenden, indem diese Förderung in die alltäglichen Aktivitäten der Institutionen, aber auch der Eltern einfliesst. Dafür sollen die professionellen Betreuungspersonen entsprechend ausgebildet werden, zudem sollen den Eltern Unterstützungs-, Beratungs- und Bildungsleistungen angeboten werden.
Weiter hielt der Bericht fest, dass der Bund im Rahmen des befristeten Impulsprogramms bereits jetzt den Ausbau der Strukturen für die ausserfamiliäre Kinderbetreuung und damit die frühe Sprachförderung finanziell unterstütze. Zudem werde der Bund untersuchen, «welche Chancen die familienzentrierte Vernetzung als bedarfsgerechte Orientierungshilfe für fremdsprachige Familien oder Familien mit besonderen Bedürfnissen bietet». Schliesslich werde er auch die weiteren Entwicklungen im Rahmen des überwiesenen Postulats Baume-Schneider (sp, JU; Po. 21.3741) zur Schaffung einer nationalen Beobachtungsstelle für die frühe Kindheit im Auge behalten.

Frühe Sprachförderung vor dem Kindergarteneintritt als Voraussetzung für einen Sek-II-Abschluss und als Integrationsmassnahme (Mo. 18.3834)
Dossier: Frühe Kindheit

Die parlamentarische Initiative von Sibel Arslan (basta, BS) war 2020 trotz gegenteiliger Empfehlung der SPK-NR von der grossen Kammer knapp mit 98 zu 85 Stimmen angenommen worden und auch die SPK-SR hatte knapp mit 7 zu 6 Stimmen für Folgegeben optiert. Statt eine Vorlage auszuarbeiten, hatte sich die SPK-NR dann allerdings – erneut sehr knapp mit 12 zu 12 Stimmen bei einer Enthaltung und Stichentscheid ihres Präsidenten Andreas Glarner (svp, AG) – dafür entschieden, den Vorstoss zur Abschreibung zu beantragen und keinen Erlassentwurf zum aktiven Stimm- und Wahlrecht für 16-Jährige auszuarbeiten.
Über diesen Abschreibungsantrag entbrannte in der Frühjahrssession 2022 eine lebhafte, mit zahlreichen Gegenfragen gespickte Debatte. Auf der einen Seite wurde für mehr «Vertrauen in die Jugend» plädiert (Corina Gredig, glp, ZH). Die alternde Gesellschaft müsse mehr junge Menschen einbeziehen, argumentierte Marianne Binder-Keller (mitte, AG). Politisches Interesse sei keine Frage des Alters und politisch interessierte Jugendliche dürften nicht gebremst werden, forderte Nadine Masshardt (sp, BE). Für die Gegenseite gab Andri Silberschmidt (fdp, ZH) seine eigenen Erfahrungen zum Besten: Es gebe genügend Werkzeuge, um in jungen Jahren auch ohne Stimm- und Wahlrecht politisch aktiv zu sein. Gleichzeitig kritisierte er die Trennung von aktivem und passivem Wahlrecht. Es leuchte nicht ein, weshalb man abstimmen und wählen sollen dürfe, nicht aber selber kandidieren. Weiter argumentierten die Gegnerinnen und Gegnern, dass man viele Dinge mit 16 noch nicht dürfe, was eben auch die Vergabe des Stimm- und Wahlrechts in Frage stelle. «Wie soll denn jemand, der offenbar nicht in der Lage ist, über den Kauf einer Flasche Wodka zu entscheiden, vernünftig über eine Mehrwertsteuerrevision abstimmen können?», fragte etwa Gregor Rutz (svp, ZH) rhetorisch. Dagegen wandte Felix Wettstein (gp, SO) ein, dass Mündigkeits- und Stimmrechtsalter auch bei der Senkung auf 18 Jahre nicht übereingestimmt hätten (das Mündigkeitsalter lag damals bei 20, heute bei 18 Jahren). Auch die Frage nach der genauen Altersgrenze wurde debattiert. Auf die wiederum rhetorische Frage von Samira Marti (sp BL), ob es korrekt sei, dass über 50-jährige darüber entschieden, wie die Welt in fünfzig Jahren aussehen solle, antwortete Marianne Binder-Keller (mitte, AG), dass es zur Lösung dieser Problematik wohl ein «Stimmrechtsalter null» brauchen würde. Am Schluss meldete sich auch Initiantin Sibel Arslan zu Wort. Eine Abschreibung der Vorlage «wäre eine Ohrfeige für die Jungen». Es gehe um deren Zukunft und ihr Einbezug stärke den Generationenvertrag – so die Baslerin.
Die Abstimmung über den Antrag für Abschreibung fiel in der Folge erneut äusserst knapp aus. Dank einigen Stimmen aus der FDP-Fraktion und knapp der Hälfte der Stimmen aus der Mitte-EVP-Fraktion wuchsen die Voten der geschlossen stimmenden SP-, GLP- und GP-Fraktionen auf 99 an, die gegen die 90 befürwortenden Stimmen – darunter die geschlossen stimmende SVP-Fraktion – obsiegten (3 Enthaltungen). Die SPK-NR wird also eine Vorlage ausarbeiten müssen.

Aktives Stimm- und Wahlrecht für 16-Jährige (Pa.Iv. 19.415)
Dossier: Stimmrechtsalter 16

Jahresrückblick 2021: Soziale Gruppen

Eine überaus wichtige Neuerung im Themenbereich der sozialen Gruppen wurde 2021 für gleichgeschlechtliche Paare eingeführt. Im September nahm die Stimmbevölkerung mit einem deutlichen Ja-Anteil von 64 Prozent die «Ehe für alle» an. Neben der Möglichkeit der Eheschliessung waren damit für gleichgeschlechtliche Paare weitere Ungleichheiten im Familienleben beseitigt worden: In Zukunft ist es auch ihnen möglich, gemeinsam ein Kind zu adoptieren, zudem erhalten verheiratete Frauenpaare Zugang zur Samenspende. Die Relevanz dieser Abstimmung widerspiegelt sich im Ergebnis der APS-Zeitungsanalyse 2021, die einen diesem Ereignis geschuldeten Höchststand an Artikeln zur Familienpolitik im Abstimmungsmonat aufzeigt (vgl. Abbildung 1 im Anhang). Kein anderes Thema im Bereich der sozialen Gruppen erzielte im beobachteten Jahr eine ähnlich hohe mediale Aufmerksamkeit.

Erstmals in der Geschichte der Schweizer Frauen- und Gleichstellungspolitik veröffentlichte der Bundesrat 2021 eine nationale Gleichstellungsstrategie, die jedoch von Frauenorganisationen und linken Parteien kritisiert wurde. Ferner gaben die Kommissionen einer parlamentarischen Initiative Folge, welche die befristete Finanzierung für die familienergänzende Kinderbetreuung durch eine dauerhafte, vom Bund unterstützte Lösung ersetzen will. Der 2022 vorzulegende Entwurf soll die Eltern bei der Finanzierung der Betreuungsplätze massgeblich entlasten und somit zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen. Gleichzeitig wurden im Berichtsjahr aber verschiedene Vorstösse mit ähnlichen, bereits konkreter ausformulierten Vorstellungen in Form einer parlamentarischen Initiative, einer Standesinitiative und einer Motion abgelehnt. Ebenfalls zur Verbesserung der Stellung der Frauen im Beruf beitragen soll die 2018 geschaffene Revision des Gleichstellungsgesetzes, mit der Unternehmen mit über 100 Mitarbeitenden zur Durchführung von Lohnanalysen verpflichtet worden waren. Erste, im August 2021 publizierte Analyseergebnisse von ausgewählten Unternehmen zeichneten ein positives Bild, das jedoch unter anderem wegen fehlender Repräsentativität in Zweifel gezogen wurde. Nach wie vor sind Unternehmen nicht verpflichtet, die Ergebnisse ihrer Lohnanalysen an den Bund zu übermitteln. Gegen eine entsprechende Regelung hatte sich der Ständerat im Juni erfolgreich gewehrt.

Nachdem im Vorjahr der zweiwöchige Vaterschaftsurlaub in einer Volksabstimmung angenommen worden war, gingen die politischen Diskussionen rund um die Ausdehnung von Urlaubsmöglichkeiten für Eltern 2021 weiter. Eine Standesinitiative aus dem Kanton Jura und eine parlamentarische Initiative mit diesem Ziel stiessen im Parlament indes auf wenig Gehör. Der Nationalrat verabschiedete jedoch ein Kommissionspostulat, das die volkswirtschaftlichen Auswirkungen einer Elternzeit aufzeigen soll. In den Räten setzte sich zudem mit Annahme einer Vorlage zum Adoptionsurlaub eine langjährige Forderung in der Minimalvariante durch: Eltern, die ein Kind unter vier Jahren adoptieren, haben künftig Anrecht auf einen zweiwöchigen Urlaub.

Auch das Thema der Gewalt gegen Frauen blieb 2021 auf der politischen Agenda, immer wieder angetrieben durch Zeitungsberichte über häusliche Gewalt und Femizide. Das Parlament überwies drei Motionen, welche die Bereitstellung eines 24-stündigen Beratungsangebots für von Gewalt betroffene Personen forderten, wozu sich die Schweiz 2017 im Rahmen der Ratifikation der Konvention von Istanbul verpflichtet hatte. Ein Zeichen gegen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche setzte der Nationalrat auch durch Befürwortung einer Motion, die das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung im Zivilgesetzbuch verankern möchte. Der Ständerat äusserte sich bis Ende Jahr noch nicht zum Geschäft. Ebenfalls kam es zu breiten medialen Vorwürfen bezüglich Gewalt in Bundesasylzentren, woraufhin das SEM einen Bericht erarbeiten liess.

Nicht zuletzt wurde im Berichtsjahr mit verschiedensten Publikationen und Aktionen auf das 50-jährige Bestehen des Frauenstimm- und -wahlrechts Bezug genommen. Mit Corona-bedingter Verspätung fand im September die offizielle Feier des Bundes statt. Ende Oktober tagte zum zweiten Mal nach 1991 die Frauensession, die insgesamt 23 Forderungen zu unterschiedlichen Themen als Petitionen verabschiedete. Darüber hinaus wurde an diesen Anlässen auch über die Gewährung politischer Rechte an weitere Gruppen diskutiert, so etwa an Personen ohne Schweizer Pass, Minderjährige und Menschen mit einer Beeinträchtigung. Bezüglich Letzteren nahm der Ständerat im Herbst 2021 ein Postulat an, das den Bundesrat aufforderte, Massnahmen aufzuzeigen, damit auch Menschen mit einer geistigen Behinderung uneingeschränkt am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können.

Wie die APS-Zeitungsanalyse 2021 zeigt, erhielten Fragen rund um die Familien- und Gleichstellungspolitik im Jahr 2021 im Gegensatz zu Fragen zur Asyl- und Migrationspolitik überaus starke mediale Aufmerksamkeit. Der Zeitvergleich macht überdies deutlich, dass die Berichterstattung im Bereich Asyl und Migration über die letzten Jahre konstant an Bedeutung eingebüsst hat.

Dieses fehlende Interesse der Medien ist ob der umstrittenen Gesetzesänderungen des Parlaments im Bereich Asylpolitik, welche die Grundrechte der Asylsuchenden einschränkten, bemerkenswert. So können Schweizer Behörden künftig mobile Geräte der Asylsuchenden verwenden, um beim Fehlen von Ausweispapieren Rückschlüsse auf die Identität einer Person zu gewinnen. Dieser Beschluss provozierte eine negative Reaktion des UNHCR. Zudem schuf das Parlament ein Reiseverbot für vorläufig aufgenommene Personen und entschied, dass Personen in Ausschaffungshaft zum Wegweisungsvollzug zur Durchführung eines Covid-19-Tests gezwungen werden können. Unterschiedliche Ansichten vertraten die beiden Räte in Bezug auf junge Asylbewerbende. So lehnte es der Ständerat ab, die Administrativhaft für Minderjährige abzuschaffen, nachdem sich der Nationalrat für diese Forderung im Vorjahr noch offen gezeigt hatte. Ebenso setzte sich der Nationalrat im Berichtsjahr durch Unterstützung einer Motion dafür ein, dass Personen mit abgewiesenem Asylentscheid ihre berufliche Ausbildung beenden dürfen, während sich der Ständerat nach der Beratung einer anderen Motion gegen diese Möglichkeit aussprach. Schliesslich wollte der Ständerat den Familiennachzug von Schutzbedürftigen erschweren, wogegen sich der Nationalrat aber erfolgreich sträubte. Im Sammelstadium scheiterte überdies eine Volksinitiative des ehemaligen Nationalrats Luzi Stamm, gemäss welcher Asylbewerbende in der Schweiz nur noch mit Sachleistungen hätten unterstützt werden sollen: Seine Volksinitiative «Hilfe vor Ort im Asylbereich», die in erster Linie Flüchtlingen primär in der Nähe der Krisengebiete und nicht in der Schweiz helfen wollte, scheiterte an den direktdemokratischen Hürden.

Jahresrückblick 2021: Soziale Gruppen
Dossier: Jahresrückblick 2021

Jahresrückblick 2021: Institutionen und Volksrechte

Der Bundesrat stand auch 2021 vor allem aufgrund seiner Entscheide im Rahmen der Covid-19-Pandemie im Fokus – wobei er je nach Verlauf der Fallzahlen dafür kritisiert wurde, mit zu viel Macht ausgestattet zu sein und zu viele Massnahmen zu ergreifen, oder aber dafür, in Anbetracht der Lage zu wenig zu tun. Die über 60 Prozent Ja-Stimmen bei beiden Covid-Referenden (im Juni und im November) können freilich auch als ziemlich breite Unterstützung der bundesrätlichen Massnahmen-Politik interpretiert werden. Covid-19 bzw. vielmehr das Argument, dass gerade die Pandemie zeige, wie stark die Arbeitsbelastung der sieben Mitglieder der Landesregierung zunehme, stand Pate für die Forderung nach einer Erhöhung der Zahl der Bundesratsmitglieder auf neun – eine Forderung, die seit 1848 schon zwölf Mal gescheitert war. Zwar stiess die Idee in der Wintersession im Nationalrat auf offene Ohren, das Anliegen wird aber im nächsten Jahr im Ständerat wohl auf mehr Widerstand stossen – die SPK-SR hatte sich bereits im Juni dagegen ausgesprochen. Als Institution war die Regierung ansonsten im Vergleich zu früheren Jahren seltener Gegenstand der medialen Berichterstattung. Das dürfte auch damit zu tun haben, dass im Berichtsjahr für einmal vergleichsweise selten über mögliche Rücktritte von Magistratinnen und Magistraten spekuliert wurde. Seit nunmehr drei Jahren ist die Zusammensetzung der Exekutive unverändert.

Auch für die Mitarbeitenden der Bundesverwaltung wird Covid-19 Folgen haben. Aufgrund der Erfahrungen, die beim Lockdown gemacht worden waren, forderten mehrere Vorstösse, dass der Bund mittels dezentralisierter und digitalisierter Arbeitsplätze im Sinne von Homeoffice nachhaltiges Arbeiten ermöglichen soll. Beide Räte hiessen eine entsprechende Motion gut und rannten damit beim Bundesrat offene Türen ein. Nicht einig waren sich die Räte hingegen bei der Frage, ob für die obersten Kader der sieben grossen Bundesunternehmen ein Lohndeckel gesetzlich festgeschrieben werden soll. Der Ständerat lehnte die Forderung, die auf eine parlamentarische Initiative aus dem Jahr 2016 zurückgeht, ab, der Nationalrat wollte auch in der Wintersession weiter an ihr festhalten.

Auch im Parlament war Covid-19 nach wie vor Thema Nummer 1. Nicht nur war das Virus Gegenstand zahlreicher inhaltlicher Debatten, sondern es zwang auch im Bundeshaus zu unterschiedlichen Verhaltensmassnahmen: Zwar konnten im Gegensatz zu 2020 alle Sessionen im Bundeshaus stattfinden, allerdings mussten auch im Parlament je nach Pandemiesituation die Masken- oder Zertifikatspflicht eingehalten werden. Zudem sollten Plexiglasscheiben an den Plätzen in den Ratssälen zusätzlichen Schutz vor dem Virus gewähren. Auch unter Pandemie-bedingt erschwerten Arbeitsbedingungen wurden Beschlüsse gefasst, die den Parlamentsbetrieb wohl nachhaltig verändern werden: So einigten sich beide Kammern auf ein neues Differenzbereinigungsverfahren bei Motionen. Nicht zuletzt sollen im Ständerat künftig sämtliche Abstimmungsresultate veröffentlicht werden. Nach 20-jähriger Opposition und nicht weniger als acht gescheiterten Vorstössen wird also auch die «Dunkelkammer Ständerat», wie Thomas Minder (parteilos, SH) sie nach der 2014 eingeführten elektronischen Abstimmung bei Gesamt- und Schlussabstimmungen bezeichnet hatte, vollständig ausgeleuchtet. Ob dies nun zu einem «Transparenzexzess» und einer Änderung der Diskussionskultur in der «Chambre de réflexion» führen wird, wie dies die ablehnende Minderheit befürchtete, wird sich weisen.

Das Verhältnis zwischen Legislative und Judikative war im vergangenen Jahr aus zwei gewichtigen Gründen Gegenstand von Diskussionen. Auf der einen Seite führten die im November an der Urne mit 31.9 Prozent Ja-Stimmenanteil recht deutlich abgelehnte Justizinitiative sowie der im Parlament verworfene Gegenvorschlag zur Frage, ob die Wahl von Bundesrichterinnen und Bundesrichtern durch das Parlament die Unabhängigkeit der dritten Gewalt beeinträchtige. Auf der anderen Seite zeigten die Schwierigkeiten mit der Besetzung der Bundesanwaltschaft – gleich dreimal musste die Stelle ausgeschrieben werden, bis in der Herbstsession ein neuer Bundesanwalt gewählt werden konnte – und die vorgängigen Diskussionen um die Erhöhung der Alterslimite in der höchsten Strafbehörde, wie schwierig es für das Parlament ist, bei der Besetzung von Gerichtsstellen ideologische Gesichtspunkte der Sachpolitik unterzuordnen – so die Kommentare in einigen Medien.

Auch das Funktionieren der direkten Demokratie war 2021 Gegenstand politischer Diskussionen. Das Parlament hiess einen Gegenvorschlag zur Transparenzinitiative gut, der teilweise weiter geht, als von den Initiantinnen und Initianten verlangt. Das Initiativkomitee zog in der Folge sein Begehren zurück. Mit der Änderung des Bundesgesetzes über die politischen Rechte müssen Parteien ab dem Herbst 2022 ihre Budgets und insbesondere Spenden über CHF 15'000 offenlegen und auch Komitees von Wahl- und Abstimmungskampagnen, die mehr als CHF 50'000 aufwenden, haben ihre Finanzeinkünfte auszuweisen.
Vom Tisch ist hingegen die Möglichkeit, Staatsverträge dem obligatorischen Referendum zu unterstellen. Der Ständerat hatte sich zwar für diesen Ausbau der direkten Demokratie eingesetzt, der Nationalrat wollte aber definitiv nichts davon wissen. Noch hängig ist hingegen ein Entscheid, mit dem allenfalls ein Ausbau partizipativer Elemente im politischen System der Schweiz umgesetzt würde. Noch 2020 hatte sich der Nationalrat dafür ausgesprochen, einer parlamentarischen Initiative, mit der die Einführung des Stimmrechtsalters 16 gefordert wird, Folge zu geben. Auch die SPK-SR konnte sich für den Vorstoss erwärmen. Allerdings machte die SPK-NR im November mit Verweis auf einige kantonale Abstimmungen, bei der die Senkung des Stimm- und Wahlrechtsalters auf grosse Skepsis gestossen war, einen medial stark beachteten Rückzieher – dieses Anliegen wird wohl zukünftig noch zu reden geben. Viel zu reden und zu schreiben gab im Berichtsjahr zudem ein Jubiläum, das auch als Zeugnis dafür gelesen werden kann, dass die direkte Demokratie strukturelle Minderheiten ausserhalb des Entscheidsystems tendenziell benachteiligt: 1971 – also vor 50 Jahren – war das Frauenstimm- und -wahlrecht eingeführt worden – allerdings erst im zweiten Versuch und sehr lange nach den meisten anderen demokratischen Staaten.

Im Gegensatz zum Vorjahr, als eine Volksabstimmung hatte verschoben und verschiedene Fristen hatten verlängert werden müssen, hatte die Pandemie 2021 keine unmittelbaren Auswirkungen auf das Funktionieren der direkten Demokratie. Ganz ohne Covid-19 ging es aber auch 2021 nicht: Die Schweizer Stimmbevölkerung war dabei die einzige weltweit, die – wie eingangs erwähnt – zweimal an die Urne gerufen wurde, um über denjenigen Teil der Massnahmen zu befinden, der von Bundesrat und Parlament in ein separates Gesetz gegossen worden war. Zwar wurde die Kampagne insbesondere zur zweiten Revision des Covid-19-Gesetzes teilweise sehr emotional geführt, im Anschluss an den Urnengang legten sich die Emotionen aber zumindest gegen aussen wieder etwas. Die nicht nur beim zweiten Covid-Referendum, sondern auch bei der Kampagne zum CO2-Gesetz, der Trinkwasser- und der Pestizidinitiative aussergewöhnlich hart geführten Auseinandersetzungen dürften mit ein Grund sein, weshalb die direkte Demokratie mehr Medienaufmerksamkeit generierte als in den beiden Jahren zuvor.

Jahresrückblick 2021: Institutionen und Volksrechte
Dossier: Jahresrückblick 2021

In der Wintersession 2021 stimmte auch der Nationalrat einer Motion der WBK-SR zu, die darauf abzielte, die Berufsbildungsfähigkeit von spät zugewanderten Jugendlichen zu verbessern. Die grosse Kammer folgte damit ihrer Kommissionsmehrheit, die der Meinung war, dass der Bund über eine dauerhafte finanzielle Unterstützung des Programms «Integrationsvorlehre Plus» (INVOL+) dazu beitragen könne, dass 95 Prozent aller 25-jährigen Personen in der Schweiz mindestens einen Abschluss auf Sekundarstufe II ausweisen können. Eine aus SVP-Vertretenden bestehende Kommissionsminderheit plädierte auf Ablehnung der Motion, da der Bund ihrer Ansicht nach bereits genug tue, um die Integration von Jugendlichen zu verbessern, und im Falle des Pilotprogramms INVOL+ erst einmal die Evaluation abgewartet werden solle. Im Nationalrat stiess das Anliegen abgesehen von der SVP-Fraktion und mit einzelnen Ausnahmen aus den Reihen der FDP.Liberalen-Fraktion indes auf breite Unterstützung.

Lücken in der Integrationsagenda Schweiz füllen. Chancengerechtigkeit für alle Jugendlichen in der Schweiz (Mo. 21.3964)

Mit 12 zu 12 Stimmen, bei Stichentscheid ihres Präsidenten Andreas Glarner (svp, AG), entschied sich die SPK-NR, keinen Erlassentwurf zur parlamentarischen Initiative von Sibel Arslan (basta, BS) für ein aktives Stimm- und Wahlrecht für 16-Jährige auszuarbeiten und den Vorstoss zur Abschreibung zu empfehlen. In den Kantonen stosse das Begehren immer wieder auf Widerstand an der Urne und die Unterscheidung des Alters für aktives und passives Wahlrecht sei nicht angebracht, so die Begründung in der Medienmitteilung.
Der «ungewöhnliche Entscheid» (Blick) wurde in den Medien von der Initiantin kritisiert. Die Kommission verweigere die Arbeit und stelle sich über einen Parlamentsentscheid, gab Sibel Arslan im Blick zu Protokoll. Auch die Republik wunderte sich über den Entscheid. Eine jüngere Umfrage zeige, dass sich 55 Prozent der 15 bis 25-Jährigen als politisch engagiert bezeichneten. Zudem hätten die Jungparteien seit Anfang 2020 «massiv» steigenden Zulauf.

Aktives Stimm- und Wahlrecht für 16-Jährige (Pa.Iv. 19.415)
Dossier: Stimmrechtsalter 16

Mit 27 zu 6 Stimmen (2 Enthaltungen) sprach sich der Ständerat in der Herbstsession 2021 für eine Motion seiner WBK-SR aus, die eine verbesserte berufliche Integration von spät zugewanderten Jugendlichen und jungen Erwachsenen bezweckte. Für die Kommission hatte Benedikt Würth (mitte, SG) vorgerechnet, dass es zum gegebenen Zeitpunkt in der Schweiz rund 15'000 Jugendliche und junge Erwachsene mit Ausbildungsbedarf gebe – besonders betroffen seien junge Frauen. Die vom Bund kürzlich unternommenen Förderungsmassnahmen – namentlich das bis 2024 befristete Pilotprogramm «Integrationsvorlehre Plus (INVOL+)», das seit Sommer 2021 auch auf dem regulären Weg zugewanderten Personen aus EU/EFTA-Staaten und Drittstaaten offen steht – seien zu verstetigen und die Kantone bei der Finanzierung von weiteren Massnahmen zur Förderung der Berufsbildungsfähigkeit zu unterstützen. Der Bundesrat hatte die Ablehnung der Motion beantragt. Im Ratsplenum erläuterte Bundesrätin Keller-Sutter, dass es aufgrund bisheriger Erkenntnisse auch die Intention des Bundesrates sei, das Programm INVOL+ zu verstetigen. Nicht einverstanden sei man indes mit der Forderung nach zusätzlichen finanziellen Beiträgen durch den Bund über das Programm hinaus. Mit seinem zustimmenden Beschluss nahm der Ständerat das Anliegen einer 2019 im Nationalrat gescheiterten Motion der WBK-SR wieder auf.

Lücken in der Integrationsagenda Schweiz füllen. Chancengerechtigkeit für alle Jugendlichen in der Schweiz (Mo. 21.3964)

Mike Egger (svp, SG) forderte im September 2019 mit einer Motion den Bundesrat dazu auf, das Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (AIG) so zu ändern, dass die Kantone anerkannten Geflüchteten, welche Sozialhilfe beziehen, einen Wohnort oder eine Unterkunft zuweisen können. Damit solle verhindert werden, dass sich viele Menschen aus den gleichen Herkunftsländern am selben Ort häuften, was deren Integration erschwere, wie der St. Galler sein Anliegen in der Herbstsession 2021 im Nationalrat begründete. Justizministerin Karin Keller-Sutter erklärte die bundesrätliche Empfehlung zur Ablehnung der Motion damit, dass eine entsprechende Anpassung eine Einschränkung für alle in der Schweiz lebenden Ausländerinnen und Ausländer nach sich ziehen müsste, was den Wirtschaftsstandort Schweiz stark schwächen würde. Grund dafür ist Art. 26 der Genfer Flüchtlingskonvention, welcher festhält, dass anerkannte Geflüchtete das Recht haben, sich ihren Wohnsitz selbst auszusuchen und sich frei im Land zu bewegen – ausser die Vertragsstaaten sähen einschränkende Regelungen vor, die für alle auf ihrem Gebiet lebenden Ausländerinnen und Ausländer unter den gleichen Umständen gelten würden. Der Ständerat lehnte die Motion mit 130 zu 60 Stimmen (1 Enthaltung) ab.

Förderung der Integration von anerkannten Flüchtlingen in den Gemeinden (Mo. 19.3998)

Am 2. September 2021 fand mit coronabedingter Verspätung im Nationalratssaal die offizielle Feier zum 50-jährigen Bestehen des Frauenstimm- und -wahlrechts statt. Dass die Schweiz den Frauen die politischen Rechte erst 1971 gewährte und diese somit im internationalen Vergleich ausserordentlich spät zu einer «ganzen Demokratie» wurde, habe mit den direkten Beteiligungsmöglichkeiten zu tun, erklärte Justizministerin Karin Keller-Sutter in ihrer Rede zur Feier. Mit Ausnahme von Liechtenstein hätten sonst in keinem Land der Welt die Männer über die Einführung des Frauenstimmrechts befunden. Neben dem Bundespräsidenten Guy Parmelin, der die Eröffnungsrede hielt, sprachen auch die ehemalige Bundesrätin Ruth Dreifuss, der frühere CVP-Generalsekretär Iwan Rickenbacher und eine der ersten Nationalrätinnen, Hannah Sahlfeld-Singer, zu den geladenen Gästen aus Politik und Verwaltung, Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft. Hanna Sahlfeld-Singer – mit ihren zum Zeitpunkt der Wahl damals 28 Jahren jüngste Parlamentarierin und dazu die erste, die während ihrer Amtszeit Mutter wurde – richtete sich in ihrer Rede auch an die Männer: «Habt keine Angst vor selbstbewussten Frauen», meinte sie. «Seid gleichberechtigte Partner! Dann kann es gut für alle werden.» Auch Karin Keller-Sutter plädierte in ihrer Rede für mehr Gleichberechtigung, denn man könne «auch heute noch nicht das Ende der Geschichte ausrufen». Insbesondere die Vereinbarkeit von Familie und Beruf müsse verbessert werden – letzteres nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer. Darüber hinaus forderte die Bundesrätin auch eine stärkere Bekämpfung von sexueller und häuslicher Gewalt.
Auch die nur wenige Tage später zum selben Anlass durchgeführte gemeinsame Tagung des BJ und der Universität Bern gedachte nicht nur historischer Ereignisse, sondern blickte ebenso nach vorne, indem sie sich mit aktuellen Gleichstellungsfragen und Fragen zur Erteilung des Stimmrechts an weitere Gruppen befasste – so an Personen ohne Schweizer Pass, Minderjährige oder Personen unter umfassender Beistandschaft.

50 Jahre Frauenstimm- und Wahlrecht

In der Sommersession 2021 behandelte der Ständerat ein Postulat Carobbio Guscetti (sp, TI), das den Bundesrat zum Aufzeigen von Massnahmen aufforderte, die nötig sind, um Menschen mit einer geistigen Behinderung eine umfassende politische Teilhabe zu ermöglichen. In ihrer Begründung verwies die Postulantin auf die 2014 von der Schweiz ratifizierte Behindertenrechtskonvention der UNO, die die Vertragsstaaten verpflichtet, Hindernisse für Personen mit einer Behinderung abzubauen, damit diese möglichst gleichberechtigt an der Gesellschaft teilhaben können. Artikel 29 der Konvention garantiert Menschen mit Behinderung auch gleiche politische Rechte, die ihnen durch EU-Mitgliedstaaten zunehmend auch eingestanden würden, so die Tessiner Ständerätin. Mit Ausnahme des jüngsten Beispiels des Kantons Genf sind dauerhaft urteilsunfähige Menschen über 18 Jahre in der Schweiz bis anhin vom Stimm- und Wahlrecht ausgeschlossen. Im November 2020 hatte Genf in einer Volksabstimmung mit einem Ja-Anteil von 75 Prozent allen Personen mit Behinderung das Stimm- und Wahlrecht erteilt. Nachdem der Bundesrat die Annahme des Postulats beantragt hatte, kam der Ständerat diesem Antrag nach.

Menschen mit einer geistigen Behinderung sollen umfassend am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können (Po. 21.3296)

Um das berufliche Potential von spät eingewanderten Personen ausserhalb des Asylbereichs besser ausschöpfen zu können und um die «Sozialhilfeabhängigkeit bzw. das Sozialhilferisiko» dieser Personengruppe zu reduzieren, beschloss der Bundesrat im Mai 2021, das bereits angelaufene Pilotprogramm Integrationsvorlehre (INVOL), das bis anhin nur jungen Personen innerhalb des Asylbereichs zugänglich war, zu erweitern und zu verlängern. Gelten soll dieses sogenannte Programm «Integrationsvorlehre Plus» (INVOL+), an dem sich 17 Kantone beteiligen, ab Sommer 2021 bis und mit Sommer 2024, wofür der Bund insgesamt einen finanziellen Beitrag von CHF 44.8 Mio. aufwendet.
In seiner Medienmitteilung präsentierte der Bundesrat des Weiteren erste Zahlen zum zweiten Laufjahr des INVOL-Programms: In diesem Jahr hätten 867 Personen das Programm gestartet, wovon 737 das Ausbildungsjahr erfolgreich absolvierten (85%). Von Letzteren hätten daraufhin knapp 70 Prozent (N=514) eine Lehrstelle mit EBA oder EFZ beginnen können – 59.3 Prozent gemessen am Total aller Personen, die das Programm begonnen hatten. Dies sei vergleichbar mit den Zahlen aus dem ersten INVOL-Durchführungsjahr.
Zeitgleich gab der Bundesrat nach Abschluss von Subventionsverträgen mit 14 Kantonen die Lancierung des Pilotprogramms «Finanzielle Zuschüsse zur Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommenen» bekannt. Im Rahmen dieses Programms werden Arbeitgebende für den «ausserordentlichen Einarbeitungsaufwand», der durch die Anstellung von Flüchtlingen oder vorläufig aufgenommenen Personen anfalle, finanziell entschädigt. Ziel des dreijährigen Pilotprojektes, für das der Bundesrat einen Beitrag von CHF 11.4 Mio. einsetzt, ist, dass pro Jahr mindestens 300 Personen dieser Gruppe einen Vertrag für eine unbefristete oder zumindest längerfristige Arbeitsstelle erhalten.

Pilotprogramm «Integrationsvorlehre» (INVOL) wird verlängert und erweitert (INVOL+)

Im Frühling 2021 publizierte das BFS erstmals eine Statistik zu den Wiederholungen von Schülerinnen und Schülern im 3. bis 8. Jahr der Primarstufe – also von der ersten bis zur sechsten Klasse, da die beiden Kindergartenjahre ebenfalls zur Primarstufe gezählt werden. Die Studie belegte, dass es im Allgemeinen nur sehr wenige Wiederholungen auf dieser Stufe gibt; im Durchschnitt müssen jedes Jahr nur 1.3 Prozent der Lernenden eine Klasse wiederholen. Es bestehen jedoch Unterschiede bezüglich des Geschlechts, der Region und vor allem bezüglich der Migrationskategorie sowie des sozialen Hintergrundes. Währenddem 2.8 Prozent der Kinder, die nach ihrem 6. Lebensjahr in die Schweiz eingewandert sind, auf der Primarstufe mindestens einmal eine Klasse wiederholen müssen, beläuft sich diese Zahl bei Kindern, die in der Schweiz geboren sind, auf lediglich 1.1 Prozent. Hinsichtlich des Bildungsniveaus der Eltern hielt die Studie fest, dass Kinder mit Eltern ohne nachobligatorischen Bildungsabschluss dreimal häufiger repetieren müssen als Kinder, bei denen mindestens ein Elternteil über einen Hochschulabschluss verfügt (2.1 Prozent versus 0.7 Prozent).

Wenige Wiederholungen auf Primarstufe

Mit Beratung einer entsprechenden Änderung des Ausländer- und Integrationsgesetzes schrieb das Parlament im Frühjahr 2021 eine Motion der SGK-SR ab, die eine punktuelle Anpassung des Status der vorläufigen Aufnahme forderte.

Statut des étrangers admis à titre provisoire (Mo. 18.3002)
Dossier: Ausländer- und Integrationsgesetz. Änderung (vorläufig Aufgenommene)

Am 7. März 2021 nahm die Schweizer Stimmbevölkerung die Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» mit 51.2 Prozent Ja-Stimmen an. Damit fiel das Ergebnis letztlich knapper aus als aufgrund von Vorumfragen erwartet. Die Stimmbeteiligung betrug 51.4 Prozent. Die höchste Zustimmung erfuhr das Verhüllungsverbot im Jura (60.7% Ja), gefolgt vom Tessin (60.5%) und Schwyz (60.2%). In St. Gallen, wo wie im Tessin bereits ein kantonales Verhüllungsverbot gilt, dem 2018 zwei Drittel der Stimmbevölkerung zugestimmt hatten, war die Zustimmung mit 53.1 Prozent vergleichsweise schwach. Am wenigsten Unterstützung erhielt die Initiative im Kanton Basel-Stadt (40.6% Ja), gefolgt von Zürich (45.2%) und Genf (48.7%). Auch die Kantone Appenzell Ausserrhoden (49.1%), Bern (49.6%) und Graubünden (49.6%) lehnten die Initiative knapp ab. Bemerkenswert hoch war die Zustimmung für eine Initiative aus den Reihen der SVP – auch im direkten Vergleich mit dem 2009 angenommenen Minarettverbot, das ebenfalls vom Egerkinger Komitee initiiert worden war – in der Westschweiz. Verschiedene Expertinnen und Experten mutmassten in den Medien, dass einerseits die Nähe zu Frankreich den Diskurs analog der dort geführten Debatten stärker auf den sicherheitspolitischen Aspekt gelenkt habe und andererseits die in der Romandie stark präsenten, prominenten bürgerlichen und linken Stimmen, die sich für die Initiative starkgemacht hatten, wohl erheblichen Einfluss gehabt und den Anti-SVP-Reflex beschränkt hätten.
Die Befürwortendenseite wertete den Entscheid als «ein klares Signal des Widerstands gegen die Islamisierung der Schweiz», wie sich der Urheber des ersten kantonalen Verhüllungsverbots Giorgio Ghiringhelli vom «Corriere del Ticino» zitieren liess. Als «Zeichen gegen den ‹politischen Islam›, der vielen Menschen Unbehagen bereitet», interpretierte die NZZ das Votum. Der Berner SP-Grossrat Mohamed Hamdaoui sah im Resultat dementsprechend einen Positionsbezug der gemässigten Muslime gegen den Islamismus, wie er gegenüber «Le Temps» verlauten liess.
Das unterlegene Lager bedauerte den Volksentscheid derweil aus verschiedenen Gründen. Feministische Kreise, die sich gegen das Verhüllungsverbot starkgemacht hatten, fühlten sich durch das Argument, die Vollverschleierung sei Ausdruck der Unterdrückung der Frauen, für rassistische und xenophobe Zwecke missbraucht, wie deren Vertreterin Meriam Mastour gegenüber der Presse erklärte. Die Tourismusbranche befürchtete einen Imageschaden für die Schweiz und zeigte sich besorgt, dass künftig weniger kaufkräftige und konsumfreudige Gäste aus den Golfstaaten die Schweiz besuchen würden. Die Jungen Grünen und der IZRS erklärten unabhängig voneinander, eine gerichtliche Anfechtung des Verhüllungsverbots wenn nötig bis vor den EGMR unterstützen zu wollen. Pascal Gemperli, Pressesprecher der FIDS, zeigte sich um die Sicherheit der muslimischen Gemeinschaft besorgt und befürchtete zunehmende Aggression und Gewalt gegenüber Musliminnen und Muslimen. Bundesrätin Karin Keller-Sutter betonte gegenüber den Medien, das Abstimmungsresultat sei nicht als Votum gegen die Musliminnen und Muslime in der Schweiz zu verstehen. Diese Linie wurde im unterlegenen Nein-Lager breit vertreten. Dass der Ja-Anteil gegenüber der Minarettinitiative deutlich abgenommen habe, gebe Anlass zur Hoffnung, dass die Schweiz vielleicht doch nicht so islamfeindlich sei, so der Tenor.
Letztlich sei der Entscheid «vor allem auf symbolischer Ebene bedeutsam», resümierte die NZZ. Die konkreten praktischen Auswirkungen sind in der Tat noch unklar. Wie Karin Keller-Sutter erklärte, liege die Umsetzung bei den Kantonen, weil sie über die Polizeihoheit verfügten. Sie hätten nun zwei Jahre Zeit, entsprechende Gesetze zu erlassen. Der Bund müsse das Verbot unterdessen für diejenigen Bereiche, in denen er zuständig ist – beispielsweise im öffentlichen Transportwesen und im Zollwesen – auf Gesetzesebene konkretisieren. Gemäss dem «Blick» zeigten sich einige Kantonsvertretende wenig motiviert, ein gesetzliches Verhüllungsverbot zu erlassen, und würden die Umsetzung lieber ganz dem Bund überlassen. Initiant Walter Wobmann (svp, SO) warf dem Bund in derselben Zeitung bereits vor, die Initiative nicht umsetzen zu wollen: Ein Bundesgesetz sei «unabdingbar, um zu verhindern, dass am Schluss in jedem Kanton etwas anderes gilt», zitierte ihn das Blatt.


Abstimmung vom 7. März 2021

Beteiligung: 51.42%
Ja: 1'427'344 (51.2%) / Stände: 16 4/2
Nein: 1'360'750 (48.8%) / Stände: 4 2/2

Parolen:
– Ja: EDU, Lega, SD, SVP
– Nein: FDP (4*; Frauen: 1*; Jungfreisinnige: 2*), GLP, GP, KVP, Die Mitte (2*), PdA, SP; EKR, SSV, Travail.Suisse, VPOD, Schweizer Tourismus-Verband, EKS, SBK, Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund (SIG), Schweizerischer Rat der Religionen, Katholischer Frauenbund (SKF), Alliance F, Amnesty International, Operation Libero
– Stimmfreigabe: EVP (3*); Schweizerische Evangelische Allianz
* Anzahl abweichender Kantonalsektionen

Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» und indirekter Gegenvorschlag (19.023)
Dossier: Nationales Burkaverbot

Mitte Januar 2021 startete mit Medienkonferenzen sowohl seitens des Initiativkomitees als auch des Bundesrats der Abstimmungskampf zur Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot». In den zwei darauffolgenden Monaten bis zum Abstimmungstermin am 7. März 2021 war das Thema Verhüllungsverbot in der Presse praktisch täglich präsent. Wie die Zeitungs- und Inserateanalyse zeigte, erhielt die Volksinitiative im angegebenen Zeitraum deutlich mehr Medienaufmerksamkeit als die beiden anderen Abstimmungsvorlagen vom 7. März, das E-ID-Gesetz und das Freihandelsabkommen mit Indonesien. Obgleich über das Verhüllungsverbot sehr viel debattiert wurde, gab es weder für noch gegen die Initiative eine nennenswerte Inseratekampagne. Dies ging mit einer komplexen Gemengelage in der intensiv geführten Debatte einher: Die Grenze zwischen dem befürwortenden und dem ablehnenden Lager war äusserst diffus; praktisch in jeder Partei oder gesellschaftlichen Gruppierung, die ihren Standpunkt kundtat, gab es gewichtige Stimmen, die sich für die jeweils gegnerische Seite starkmachten. Neben dem Egerkinger Komitee, das die Initiative lanciert hatte, und der SVP, die sie im Parlament unterstützt hatte, stand auf der Pro-Seite etwa auch ein Mitte-links-Komitee aus der Westschweiz, in dem sich unter anderen GLP-Nationalrätin Isabelle Chevalley (VD), der Genfer FDP-Grossrat Jean Romain, der Berner SP-Grossrat Mohamed Hamdaoui und alt-CVP-Nationalrätin Marlyse Dormond Béguelin (VD) für das Verhüllungsverbot engagierten. Ferner warb ein überparteiliches Frauenkomitee um die Nationalrätinnen Marianne Binder-Keller (mitte, AG) und Monika Rüegger (svp, OW) sowie die Präsidentin des Forums für einen fortschrittlichen Islam Saïda Keller-Messahli für die Initiative. Für ein Nein plädierten indes alle grossen Parteien ausser der SVP – allerdings keineswegs geschlossen –, ein parlamentarisches Komitee unter der Federführung von FDP-Ständerat Andrea Caroni (AR), der Schweizer Tourismusverband, mehrere Frauenverbände und Frauenstreikkomitees sowie diverse Akteure, die sich selbst als liberal verstanden oder sich für die Religionsfreiheit einsetzten, darunter die Operation Libero, Amnesty International und verschiedene religiöse Organisationen. Die grossen Abwesenden im Abstimmungskampf waren die direkt Betroffenen, die Nikabträgerinnen selber. Wie der Tages-Anzeiger berichtete, lag das jedoch nicht daran, dass man sie nicht hätte zu Wort kommen lassen, sondern dass sie sich – abgesehen von zwei Interviews während der gesamten Kampagne – nicht äussern wollten. Nach gemäss eigenen Angaben monatelanger Suche blieb der Zeitung deshalb nichts als die Erkenntnis, «dass verhüllte Frauen in der Schweiz nicht nur Körper und Gesicht verstecken, sondern unsichtbar und stumm bleiben».

Argumentativ bewegte sich der Abstimmungskampf auf verschiedenen Ebenen, wobei die Befürwortenden und die Gegnerschaft über weite Strecken dieselben Punkte vorbrachten, sie aber unterschiedlich interpretierten und daher zu gegenteiligen Schlüssen kamen. Neben der Islamdebatte und der Grundrechtsdiskussion wurde von beiden Seiten aus feministischer, sicherheitspolitischer, staatspolitischer und empirischer Warte argumentiert. Wenngleich der Initiativtext keinen Bezug zur islamischen Gesichtsverschleierung herstellte, war beiden Seiten klar, dass sie sich vor allem gegen jene richtete. In der Presse war daher meist vom «Burkaverbot» oder von der «Anti-Burka-Initiative» die Rede, obwohl in der Schweiz – wenn überhaupt – ausschliesslich der Nikab zu sehen sei, wie eine im Abstimmungskampf viel zitierte Studie der Universität Luzern feststellte. Während das Contra-Lager die Initiative als anti-islamisch und diskriminierend gegenüber Musliminnen verstand, sah die Pro-Seite sie als Mittel zum Kampf gegen den radikalen Islam und den Islamismus. Die Religionsfreiheit der Musliminnen tangiere die Initiative nicht, weil die Verschleierung nicht vom Islam verlangt werde, sondern ein kultureller Ausdruck für die Unterdrückung der Frau sei; sie könne daher nicht als Ausübung der persönlichen Freiheit gewertet werden. Vielmehr sei die Vollverschleierung sexistisch und entwürdigend, weil sie die Frauen im öffentlichen Leben unsichtbar mache und entmenschliche. Die muslimischen Frauen müssten davor bewahrt werden, weil sie sich mit Gesichtsschleier nicht in die Schweizer Gesellschaft integrieren könnten. Die Gegenseite betonte, dass sich die Nikabträgerinnen in der Schweiz in der Regel aus religiöser Überzeugung freiwillig verschleierten und nicht befreit werden müssten – im Gegenteil: Soziologische Studien aus Frankreich zeigten, dass die Verschleierung von den strenggläubigen Musliminnen im westlichen Kulturkreis als antikonformistischer, emanzipatorischer Akt verstanden werde. In Frankreich habe das Verbot den Gesichtsschleier sogar populärer werden lassen, weil er jetzt auch als Ausdruck des Protests getragen werde. Zudem sei es sexistisch und paternalistisch, den Frauen vorzuschreiben, wie sie sich zu kleiden hätten und ihnen die freie Entscheidung für den Schleier nicht zuzutrauen. Falls eine Frau den Schleier tatsächlich unter Zwang trage, kriminalisiere das Verbot überdies das Opfer und wirke kontraproduktiv, indem es die betroffenen Frauen zuhause einsperre und erst recht aus der Gesellschaft ausschliesse. Dass es gemäss der Studie der Universität Luzern in der Schweiz nur 20 bis 30 vollverschleierte Frauen gebe, gab dem ablehnenden Lager Anlass, das Anliegen als unnötige Symbolpolitik zu bezeichnen. Für die Befürworterinnen und Befürworter war die Gesichtsverhüllung jedoch eine Prinzipienfrage und auch in noch so kleinen Zahlen nicht tolerierbar. Sie sahen sich im Motto «Wehret den Anfängen» bestärkt und forderten, jetzt zu handeln, solange es noch nicht zu spät sei.

Weiter hob die Pro-Seite hervor, dass die Identifizierbarkeit von Personen sicherheitsrelevant sei. Das Verhüllungsverbot schütze die Gesellschaft somit auch vor vermummten Kriminellen wie zum Beispiel Hooligans oder gewalttätigen Demonstrierenden. Dem setzte die Gegenseite entgegen, dass es in fünfzehn Kantonen bereits verboten sei, sich bei Demonstrationen und Sportveranstaltungen zu vermummen. (Als erster Kanton hatte Basel-Stadt 1990 ein solches Verbot eingeführt.) Ausserdem verhindere das Verhüllungsverbot – anders als von den Initianten schon bei der medienwirksamen Lancierung der Initiative suggeriert – keine Terroranschläge. Dafür brauche es strafrechtliche und präventiv-polizeiliche Massnahmen, denn allein durch ein Verhüllungsverbot würden radikalisierte Islamisten und Islamistinnen «nicht plötzlich zurück in die Mitte der Gesellschaft finden», wie es der «Sonntags-Blick» formulierte. In anderen Kontexten, etwa in winterlicher Kälte, an der Fasnacht oder in der Pandemiesituation, sei die Verhüllung zudem auch für die Initiantinnen und Initianten kein Problem, wie die im Initiativtext enthaltenen Ausnahmen zeigten.

Auf der staatspolitischen Ebene drehte sich die Diskussion um die Frage, ob das Verhüllungsverbot in die Bundesverfassung gehöre. Während die Contra-Seite es ablehnte, Kleidervorschriften in die Verfassung zu schreiben, sah das Pro-Lager dies als gerechtfertigt an, weil es eben nicht um eine blosse Kleidervorschrift gehe, sondern um einen Grundsatz der liberalen und demokratischen Gesellschaft: In der Öffentlichkeit das Gesicht zu zeigen und dasjenige des Gegenübers zu sehen, sei fundamental für das Zusammenleben. Diese Begründung hatte auch den EGMR von der menschenrechtlichen Zulässigkeit des Verhüllungsverbots in Frankreich überzeugt, als dieses in Strassburg vergeblich angefochten worden war. Darüber, ob die seit Monaten geltende Maskenpflicht aufgrund der Corona-Pandemie dieses Argument ad absurdum führe oder ob sie gerade beweise, dass es das Verhüllungsverbot für das Funktionieren der zwischenmenschlichen Beziehungen brauche, wurden sich die beiden Lager nicht einig. Derweil war das gegnerische Lager der Ansicht, es sei gerade höchst illiberal, etwas zu verbieten, das niemandem schade, nur weil es auf Ablehnung stosse. Auch der Bundesrat argumentierte hauptsächlich staatspolitisch: Ein nationales Verhüllungsverbot greife in die Souveränität der Kantone ein, denen die Polizeihoheit obliege. Das Tessin und St. Gallen hätten bereits ein Verhüllungsverbot eingeführt, während andere Kantone ein solches explizit abgelehnt hätten. Diese Entscheide seien zu respektieren. Die Befürwortendenseite argumentierte indessen, dass die Regelung einer solch fundamentalen gesellschaftlichen Frage nicht den Kantonen überlassen werden dürfe. Dass die Gesichtsverhüllung in vielen anderen europäischen Ländern – darunter Belgien, Bulgarien, Dänemark, Frankreich, Lettland und Österreich – und sogar einigen arabischen Staaten wie Ägypten, Marokko, Senegal oder Tunesien verboten – und im Falle von Frankreich das Verbot explizit vom EGMR als menschenrechtskonform bestätigt – sei, wertete die Pro-Seite als Zeichen der Legitimität ihres Anliegens. Sie betonte zudem die guten Erfahrungen, welche die Kantone Tessin und St. Gallen damit gemacht hätten. Weder im Tessin noch in den bei arabischen Gästen beliebten österreichischen Ferienorten habe sich das Verhüllungsverbot negativ auf den Tourismus ausgewirkt, wie es der Tourismusverband befürchtete. Die Contra-Seite hob hingegen hervor, dass im Tessin und in St. Gallen praktisch keine Verstösse gegen das Verbot registriert würden, was bestätige, dass es sich nur um ein Scheinproblem handle. In diesem Zusammenhang war in den Augen der Befürworterinnen und Befürworter auch Justizministerin Karin Keller-Sutter, die sich im Namen des Bundesrats gegen das Verhüllungsverbot aussprach, nicht glaubwürdig, weil sie in St. Gallen als ehemalige Polizeidirektorin genau ebendieses eingeführt habe. Gleichzeitig attestierten die Gegnerinnen und Gegner dem Egerkinger Komitee und der SVP ein Glaubwürdigkeitsproblem, weil sie ihnen ihr Engagement für Frauenrechte nicht abkauften.

Neben der Initiative selbst sorgte auch der indirekte Gegenvorschlag, der bei Ablehnung der Initiative automatisch in Kraft treten würde, für einige Diskussionen. Die Initiativgegnerinnen und -gegner waren der Ansicht, der Gegenvorschlag regle mit der gesetzlichen Pflicht, zur Identifizierung vor Behörden das Gesicht zu zeigen, alles Nötige. Ausserdem leiste er – im Gegensatz zum Verhüllungsverbot – einen tatsächlichen Beitrag an die Stärkung der Frauenrechte und die bessere Integration von ausländischen Frauen in die Gesellschaft. Die Initianten argumentierten hingegen, der Gegenvorschlag löse das eigentliche Problem nicht und wer keine «Gleichstellungsoffensive» («Weltwoche») wolle, müsse mit der Annahme der Initiative den Gegenvorschlag verhindern.

Die durchgeführten Umfragen attestierten der Initiative von Anfang an gute Chancen. Nachdem Ende Januar eine klare Ja-Mehrheit von 63 Prozent (Tamedia) bzw. 56 Prozent (SRF) resultiert hatte, legte die Nein-Kampagne im Folgenden etwas zu. Zwei Wochen vor der Abstimmung bekundeten noch 59 bzw. 49 Prozent der Befragten eine Ja-Stimmabsicht. Während die Parteibasis der SVP durchwegs zu rund 90 Prozent ja stimmen wollte, zeigten sich die Anhängerschaften von FDP, Mitte und GLP gespalten – hier konnte das Nein-Lager im Verlauf der Kampagne Boden gutmachen. Auch im linken Lager traf das Anliegen immerhin bei rund 30 Prozent der Befragten auf Wohlwollen.

Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» und indirekter Gegenvorschlag (19.023)
Dossier: Nationales Burkaverbot