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Ziemlich überraschend – sogar für seine eigene Partei – gab Didier Burkhalter Mitte Juni 2017 seinen Rücktritt bekannt. Nach acht Jahren im Bundesrat – zwei Jahre als Innen- und sechs Jahre als Aussenminister – und vorher sechs Jahren im Nationalrat habe er das Bedürfnis, etwas anderes zu machen: „J'ai ressenti le besoin de changer de vie”. In den Medien war Burkhalter seit einiger Zeit zwar als etwas amtsmüde dargestellt worden – insbesondere seine häufige Absenz in Bundesbern und der Umstand, dass er lieber von Neuenburg aus arbeite, wurden moniert –, zudem habe er zunehmend den Rückhalt für das Europadossier verloren, der Rücktritt war aber doch nicht erwartet worden. Insbesondere auch, weil er wenige Tage vor einer EU-Standortbestimmung im Bundesrat erfolgte. Der Zeitpunkt des Rücktritts wurde denn auch als äusserst ungünstig bezeichnet, weil die Regierung dadurch aussenpolitisch während Monaten gelähmt sei, so etwa die Reaktion von CVP-Präsident Gerhard Pfister.
Die Bilanz zu Burkhalters Wirken, die in den Medien im Anschluss an die Rücktrittserklärung gezogen wurde, war gemischt. Burkhalter sei ein guter Bundesrat gewesen, „weltoffen und weltfremd zugleich” so etwa die BaZ. Zwar habe Burkhalter auf dem internationalen Parkett brilliert – von praktisch allen Medienbeiträgen erwähnt wurde immer wieder seine Rolle als Vorsitzender der OSZE in der Ukraine-Krise –, in der Innen- bzw. Europapolitik habe er sich aber immer wieder selbst ins Abseits gestellt. Die Erwartungen, die man in ihn gesetzt habe, etwa als Gegenspieler von Christoph Blocher das Rahmenabkommen mit der EU abzuschliessen, habe er nicht erfüllt. Dass das EU-Dossier an einem toten Punkt angelangt sei, sei „le gros point noir de son bilan”, schlussfolgerte die Tribune de Genève. Darüber hinaus habe er sich von seiner Partei immer mehr distanziert. Als Westschweizer Liberaler habe er eine Mitte-Links-Politik priorisiert, was ihm in der Partei angekreidet worden sei, so die NZZ. Als Indiz für das schlechte Verhältnis zwischen Partei und Magistrat wurde der Umstand gedeutet, dass die FDP erst rund zwei Stunden vor der Ankündigung vom Rücktritt in Kenntnis gesetzt worden sei. Vor allem von rechtsbürgerlicher Seite wurde der Vorwurf immer lauter, dass Burkhalter daran schuld sei, dass sich die SVP-FDP-Mehrheit in der Exekutive nicht deutlicher zeige.

Bereits am Tag der Rücktrittsmeldung stellten die Medien Spekulationen bezüglich potenzieller Nachfolger an. Gute Karten habe vor allem Ignazio Cassis, der aktuelle Fraktionspräsident der FDP, da der Anspruch des Kantons Tessin, nach 1999 wieder einen Sitz in der Regierung zu haben, kaum mehr umgangen werden könne und die Westschweiz auch mit nur noch zwei Magistraten adäquat vertreten sei. Werde der Sitz jetzt nicht dem Tessin zugesprochen, würden wohl weitere 10 Jahre vergehen, bis es eine neue Chance gäbe, rechnete Ex-FDP-Präsident Fulvio Pelli vor. Neben Cassis wurden auch dem Tessiner Staatsrat Christian Vitta und der ehemaligen National- und Staatsrätin Laura Sadis sowie Karin Keller-Sutter und Martin Schmid als Vertreterin oder Vertreter der Ostschweiz, die ebenfalls seit längerem Anspruch auf einen Bundesratssitz erhebt, gute Chancen eingeräumt. Die Romandie sei aber nicht zum Vornherein auszuschliessen, weil die Freisinnig-Liberalen in der Westschweiz deutlich auf dem Vormarsch seien. Den verlorenen Sitz werde die französische Schweiz wohl nicht kampflos preisgeben, war in den Medien zu lesen. Aus der Westschweiz fielen denn auch rasch die Namen des Genfer Regierungsrats Pierre Maudet und des Nationalrats Christian Lüscher. Die beiden Waadtländer Staatsräte Jacqueline de Quattro und Pascal Broulis, aber auch Nationalrätin Isabelle Moret und Ständerat Olivier Français wurden trotz ihres Handicaps, wie bereits Guy Parmelin aus dem Kanton Waadt zu stammen, ebenfalls als valable Kandidatinnen und Kandidaten auf das sich drehende Karussell gesetzt. Auch der Name Raphaël Comte wurde für den Kanton Neuenburg ins Spiel gebracht.

Dass die FDP einen Anspruch auf einen zweiten Bundesratssitz hat, war kaum umstritten. Die Parteileitung machte rasch klar, dass es sich beim Nachfolger von Burkhalter um einen „Lateiner” handeln soll – ob Tessiner oder Romand liess man bewusst offen. Die FDP-Frauen, die seit 1989 keine Vertretung mehr in der Landesregierung gehabt hatten, forderten per Kommuniqué bei dieser oder spätestens der nächsten Vakanz eine Bundesrätin. Auch die Grünen verlangten, dass die FDP eine Frau portiere. Die SVP forderte einen Kandidaten mit klar bürgerlichem Profil. Die Mitte-Rechts-Mehrheit müsse jetzt endlich auch im Bundesrat durchgesetzt werden. Die FDP machte früh deutlich, dass man sicher kein Einerticket präsentieren wolle. Bis Mitte August hatten die Kantonalsektionen Zeit, Vorschläge zu machen. Die Fraktion wollte sich dann Anfang September entscheiden.

Die Tessiner Kantonalsektion portierte – nach langer Diskussion, ob man ein Einer- oder ein Zweierticket präsentieren wolle – am 1. August einzig Ignazio Cassis. Sowohl Sadis als auch Vitta sagten Cassis ihre Unterstützung zu. Obwohl Sadis sowohl die Ansprüche aus dem Tessin, als auch der Frauenvertretung hätte erfüllen können, wurde sie nicht berücksichtigt. Vor allem ihre (zu) lange Absenz von der (nationalen) Politik dürfte hierfür mitentscheidend gewesen sein. Mit nur einem Kandidaten aus dem Tessin würde zudem das Risiko von Stimmenaufteilung minimiert, so die kantonale Parteileitung. Das Einerticket wurde auch als Referenz an die Romandie interpretiert; der Weg sei jetzt offen, um eine Frau aus der Romandie zu portieren. Die Frauenfrage wurde auch deshalb noch virulenter, weil Doris Leuthard ebenfalls am 1. August ihren Rücktritt ankündigte. Als Kandidatinnen aus der Romandie gerieten insbesondere Isabelle Moret und Jacqueline de Quattro in den Fokus. Der zweite offizielle Kandidat war dann allerdings doch wieder ein Mann: Am 8. August wurde Pierre Maudet von der Genfer Kantonalsektion einstimmig auf den Schild gehoben. Der Genfer Regierungsrat rechnete sich zwar nur geringe Chancen aus, wollte aber mit Jugend, Modernität und Urbanität punkten. Der zweite, lange ebenfalls als Kandidat gehandelte Genfer, Christian Lüscher, hatte sich kurz zuvor aus persönlichen Gründen selber aus dem Rennen genommen und eine Lanze für seinen jüngeren Genfer Parteikollegen gebrochen. Komplizierter gestaltete sich die offizielle Nominierung der dritten potenziellen Kandidatin. In der Presse wurde ein parteiinterner Zwist über und zwischen den drei Papabili der FDP-Sektion Waadt vermutet. Jacqueline de Quattro und Olivier Français zogen sich dann allerdings zurück, um den Platz für Isabelle Moret frei zu machen, die sich zwar erst spät – und später als die beide anderen – für eine Kandidatur entschieden hatte, am 10. August von ihrer Kantonalsektion aber als einzige Kandidatin aufgestellt wurde.

Nach Ablauf der Meldefrist standen also drei Kandidierende aus drei Kantonen fest. Sofort gingen die Spekulationen los, ob die FDP ein Zweierticket oder ein Dreierticket aufstellen würde. Dabei schien klar, dass Cassis gesetzt war, folglich entweder nur gegen Moret oder aber gegen Moret und Maudet antreten würde. Der Umstand, dass Moret zwar aus dem Kanton Waadt kommt, die FDP aber nicht auf eine mögliche Frauenvertretung verzichten konnte, sowie der umtriebige „Wahlkampf” von Maudet – der Blick sprach von schlechten Karten, die der Genfer aber brillant spiele – waren wohl die Hauptgründe für das Dreierticket, das die FDP-Fraktion offiziell am 1. September aufstellte. Das „tricket” (LT), das in der Fraktion knapp mit 22 zu 19 Stimmen beschlossen worden sei, stosse niemanden vor den Kopf, sei aber auch der Weg des geringsten Widerstands (NZZ) und ein klarer Etappensieg für Maudet (BaZ). Das Dreierticket wurde auch als gute Kunde für den Favoriten Cassis gewertet, dessen Chancen sich dadurch noch weiter erhöhten, weil sich die Stimmen seiner Gegner aufteilen dürften.

Die Kandidatin und die beiden Kandidaten wurden in der Presse unterschiedlich porträtiert. Cassis galt von Anfang an als eigentlicher Kronfavorit. Einziges Manko des in Bundesbern bestens vernetzten Tessiner Arztes sei seine mit der Präsidentschaft beim Krankenkassenverband Curafutura verbundene Nähe zu den Krankenkassen. Insbesondere der Lega, aber auch der SP, war dieses Amt von „Krankencassis” (SGT, So-Bli, TA, WW) ein Dorn im Auge. Ausführlich diskutiert wurde zudem die politische Position des Tessiners. Das Parlamentarierrating der NZZ zeigte, dass er seit seinem Amtsantritt als Fraktionspräsident der FDP vom linken Rand der Partei leicht in die Mitte gerückt war. Insbesondere die SVP betrachtete Cassis freilich als den ihr am nächsten stehenden der drei Kandidierenden. Letztlich gab es aber kaum etwas, was die „occasione d'oro per il Ticino” (CdT) behindert hätte. Die zahlreichen giftigen Angriffe auf die Gesundheitspolitik von Cassis konnten ihm scheinbar nichts anhaben. Auch seine doppelte Nationalität bzw. der Umstand, dass er seinen italienischen Pass abgab und damit zwar Applaus von rechts, aber auch Kritik von links erhielt und eher unfreiwillig eine Debatte um die doppelte Nationalität von Mitgliedern von Bundesbehörden lancierte – diskutiert wurde sogar die Frage, ob man als Doppelbürger loyal sein könne –, schadete dem Südschweizer nicht.
Der grosse Trumpf von Isabelle Moret sei, dass sie eine Frau sei, war den Medien zu vernehmen. Die dezidiert bürgerlich politisierende 46-Jährige spreche drei Landessprachen fliessend, sei gut vernetzt, in den über 10 Jahren im Nationalrat aber kaum aufgefallen. Dies beinhalte immerhin auch, dass sie bisher keine Fehler gemacht habe (TA). Moret selber betonte von Anfang an, dass „Frausein” kein politisches Argument sei. Sie wolle lieber mit ihrer Dynamik punkten und frischen Wind ins Europadossier bringen. Sie betonte allerdings auch, dass sie die erste Mutter mit Schulkindern in der Exekutive wäre. Allerdings hinterliess die Anwältin laut verschiedenen Medien in ihrem Wahlkampf keinen überzeugenden Eindruck (WW), wurde von vielen Seiten angegriffen und wirkte ab und zu nicht wirklich souverän (NZZ). Ihr Wahlkampf sei „ungenügend” (SGT) und „harzig” (AZ) und wurde gar als chaotisch bezeichnet (24 Heures).
Pierre Maudet, 39 Jahre alt, wurde als politisches Naturtalent beschrieben. Der forsche und ambitionierte Regierungsrat habe sich innert kurzer Zeit vom Stadtpräsidenten zum Aushängeschild der Kantonsregierung entwickelt, was ihm auch Vergleiche mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron einbringe (AZ). Sein Nachteil sei allerdings die schwache Vernetzung in Bundesbern. In der Regel würden die Bundesparlamentarierinnen und -parlamentarier einen Bundesrat oder eine Bundesrätin aus den eigenen Reihen vorziehen. Sein Wahlkampf wurde hingegen als exzellent bezeichnet (Blick). Maudet sei vor allem in der Deutschschweiz unterschätzt worden, was das Beste sei, was einem Politiker passieren könne (TA). Vor allem inhaltlich konnte Maudet mit verschiedenen originellen Positionen überzeugen: Er spreche als einziger wirklich „Klartext” (BaZ), gelte in der Europafrage aber als EU-Turbo (WW), was ihn bei der Ratsrechten wohl Stimmen kosten werde.

Die „Kampagne” vor den Bundesratswahlen – eigentlich ein Unding, wenn man bedenkt, dass der Bundesrat von der Vereinigten Bundesversammlung und nicht von der Bevölkerung gewählt wird – nahm ein Ausmass an, das angesichts der Ausgangslage erstaunte. Da die Bundesratswahlen eine in der Schweizer Politik eher seltene Chance für eine Personalisierung der Politik bieten, liefen die Medien auf Hochtouren. In der APS-Zeitungsdokumentation finden sich von Burkhalters Rücktrittsankündigung Mitte Juni bis Ende September mehr als 800 Zeitungsartikel zum Thema Bundesratswahlen. Die FDP selber trug freilich mit geschicktem Politmarketing das Ihre dazu bei, dass die Berichterstattung am Kochen blieb. Mit einer FDP-Roadshow tingelten die Kandidierenden durch die Schweiz. Zahlreiche Homestories, Lifechats, Bevölkerungsbefragungen und gar graphologische Gutachten fanden den Weg in die Presse. Inhaltlich ging es letztlich primär um die Frage, ob die Vertretung der Sprachregion oder die Vertretung der Frauen höher gewichtet werden soll. Oder mit anderen Worten: ob die 20 Jahre Bundesrat ohne Tessiner oder die 30 Jahre ohne FDP-Frau beendet werden sollten. Wirklich inhaltliche Diskussionen wurden hingegen kaum geführt, auch wenn die Aussen- bzw. Europapolitik bzw. der Reset-Knopf, den Cassis in den Verhandlungen mit der EU zu drücken angekündigt hatte, sich angeboten hätten.

Nach der offiziellen Bekanntgabe des Dreiertickets standen am 12. und am 19. September die Hearings auf dem Programm, womit auch die anderen Parteien wieder stärker in den medialen Fokus gerieten. Den Auftakt machte die SVP, deren Parteipräsident Albert Rösti die beiden Romand.e.s stark kritisierte und sich früh für Cassis aussprach. Wichtigstes Kriterium für die Volkspartei sei die Haltung zum Rahmenabkommen mit der EU. Allerdings wurde gemutmasst, dass die Bauern in der SVP-Fraktion wohl eher auf Moret setzen würden, da diese mehr Sympathien für die Anliegen der Landwirtschaft gezeigt habe. Unzufrieden mit dem Dreierticket zeigte sich die SP: „Zwei Super-Lobbyisten und ein Hardliner in der Aussenpolitik” weckten keine Begeisterung (SP-Fraktionspräsident Roger Nordmann in der BZ). Inhaltliche Kriterien stellten die Genossen aber – wie auch die CVP und die GP – nicht auf. Der CVP-Parteipräsident Gerhard Pfister hatte sich allerdings ebenfalls schon früh für die Ansprüche des Tessins, also für Cassis, ausgesprochen. Dieser sei allerdings für einige CVP-Mitglieder zu weit rechts, mutmasste die Zeitung LeTemps. Nach den Hearings zeigten sich die Parteien zwar noch bedeckt – mit Ausnahme der SVP, die demonstrativ für Cassis Stellung bezog –, die Favoritenrolle des Tessiner Kandidaten schien sich allerdings noch einmal verstärkt zu haben. Maudet schien hingegen eher nicht auf Wohlwollen gestossen zu sein. Die SP und die CVP konnten sich nicht auf einen der drei Kandidierenden einigen und gaben entsprechend keine Wahlempfehlung ab – anders als die FDP- und die GLP-Fraktion, die alle drei Kandidierenden empfahlen, die SVP-Fraktion, die sich für Cassis aussprach, die GP-Fraktion, die Moret empfahl, und die BDP-Fraktion, die Maudet auf den Schild hob.

Kurz vor der Ersatzwahl bilanzierte die WOZ die vorherrschende Meinung, dass sich grundsätzlich keine Überraschung abzeichne: Die Bundesratswahlen hätten bisher viel Tamtam, aber nur wenig Spannung verheissen. Mit der Diskussion verschiedener Szenarios versuchten die Medien dieser Spannungslosigkeit entgegenzuwirken. Drei Möglichkeiten, Cassis zu verhindern, seien denkbar: Isabelle Moret könne dank ihrem Frauenbonus und der Unterstützung aller Bauernvertreter sowie mit Hilfe der Stimmen all jener Parlamentarierinnen und Parlamentarier, welche die Frauenfrage möglichst rasch klären wollten, gewinnen; ein Sieg von Pierre Maudet wäre dann möglich, wenn sich die Mehrheit der Bundesversammlung von seinen Fähigkeiten überzeugen liesse. Dies sei durchaus möglich, wenn es ab dem dritten Wahlgang zu einem Zweikampf zwischen Cassis und Maudet kommen würde. Ins Spiel gebracht wurde mit Laura Sadis auch eine Sprengkandidatin, die vor allem bei der Linken auf Unterstützung zählen könnte. Roger Nordmann gab zu Protokoll, dass die Tessinerin in der Tat die Synthese der drei aktuell Kandidierenden gewesen wäre: „Elle a une expérience d’exécutif, elle est italophone et elle a la capacité d’être une femme” (LT). Die Lust der SP auf Experimente halte sich allerdings in Grenzen.

Die Ersatzwahl am 20. September war schliesslich noch weniger spannend, als von den zahlreichen Medien vor Ort befürchtet worden war. Schon im zweiten Wahlgang wurde Ignazio Cassis zum 87. Bundesrat gewählt und zum Nachfolger von Didier Burkhalter gekürt. Der achte Bundesrat aus dem Kanton Tessin hatte bereits im ersten Wahlgang 109 Stimmen erhalten, damit allerdings das absolute mehr von 122 Stimmen verfehlt. Weil die Basler Nationalrätin Sibel Arslan (basta, BS) im ersten Durchgang fehlte, waren lediglich 245 Wahlzettel eingegangen. Die Baslerin erklärte ihr Fernbleiben als stillen Protest gegen den Rücktritt von Bundesrat Burkhalter, dessen Abschiedsrede sie bewegt habe. Wie erwartet splitteten sich die Stimmen für Maudet (62 Stimmen) und Moret (55 Stimmen) auf. Diverse erhielten 16 Stimmen und drei Stimmzettel waren leer geblieben. Weil von den Diversen niemand zehn Stimmen erreicht hatte, wurden keine Namen genannt. Ob also beispielsweise Laura Sadis im Rennen war oder nicht, wird das Geheimnis des Stimmbüros bleiben. Im zweiten Umgang fielen zahlreiche Stimmen für Moret auf Cassis. Die 125 Stimmen reichten dem Tessiner knapp für die absolute Mehrheit. Maudet konnte zwar noch einmal zulegen und erhielt 90 Stimmen, dies reichte allerdings nicht für einen dritten Wahlgang. Moret ihrerseits erhielt lediglich noch 28 Stimmen. Eine Stimme entfiel auf Diverse und zwei Stimmzettel blieben erneut leer – wahrscheinlich stammten sie von den beiden Lega-Parlamentariern, die zwar für eine Tessiner Vertretung waren, nicht aber für Cassis stimmen wollten.
In den Medien wurde gemutmasst, dass vor allem die Stimmen der SVP entscheidend gewesen seien, von denen im ersten Durchgang vereinzelte noch an Moret gegangen, dann aber geschlossen für Cassis eingelegt worden seien. Weil Moret im ersten Wahlgang auch von ihrer eigenen Partei zu wenig Unterstützung erhalten habe, hätte die SP im zweiten Wahlgang umgeschwenkt und ziemlich geschlossen für Maudet gestimmt, um die Wahl von Cassis zu verhindern. Den Namen Moret hätten lediglich noch die Grünen sowie einige Ratsmitglieder aus der BDP, der CVP, der GLP und der SVP auf den Wahlzettel geschrieben.

Cassis erklärte die Annahme der Wahl und bedankte sich bei allen Ratsmitgliedern, auch bei denen, die ihm die Stimme verwehrt hätten. Man könne anderer Meinung sein, letztlich würden aber alle die gleichen übergeordneten Ziele für die Schweiz anstreben. Freiheit sei auch immer die Freiheit der anders Denkenden, zitierte er Rosa Luxemburg, womit er vor allem die Ratslinke überraschte und sichtlich erfreute. Er verspreche vor allem seiner Frau, der Gleiche zu bleiben wie vor der Wahl. Er fühle sich vor allem der Kollegialität verpflichtet und werde als Brückenbauer die ganze Schweiz vertreten. Bereits um 9.30 nahm die Sitzung mit der Vereidigung des neuen Bundesratsmitglieds ihr Ende.

Die Regionen- und Sprachenfrage sei letztlich stärker gewichtet worden als die Frauenfrage, so die Bilanz in den Medien am Tag nach der Wahl. „E la Svizzera è più svizzera”, die Schweiz sei wieder ein bisschen mehr Schweiz, titelte der Corriere del Ticino. Die Wahl von Cassis sei keine Überraschung und Maudet habe eine ehrenvolle Niederlage eingefahren, so die ziemlich einhellige Meinung in den Deutsch- und Westschweizer Medien. Vor wenigen Wochen hätte niemand in Bundesbern den Genfer gekannt und jetzt habe er 90 Stimmen erhalten. Allerdings zeige seine Nichtwahl auch die Schwierigkeiten für einen Kandidierenden, der nicht der Bundesversammlung angehört. Für Moret hingegen, sowie für die Vertretung der Frauen im Bundesrat im Allgemeinen, sei der Ausgang der Wahlen eine Schmach. Verschiedene Politikerinnen kritisierten, dass das Beispiel Moret gezeigt habe, dass an Frauen wesentlich höhere Massstäbe gesetzt würden als an Männer. Die SP habe Cassis nicht verhindern können und müsse sich nun Vorwürfe gefallen lassen, weshalb sie auf Maudet gesetzt und so die Vertretung der Frauen hintergangen habe. Die SP wies die Kritik allerdings an die FDP zurück: Wäre Laura Sadis portiert worden, hätte die SP sie unterstützt. Während sich die Rechte auf einen Mitte-Rechts-Bundesrat freute – Cassis wisse, wem er seine Wahl zu verdanken habe, liess sich SVP-Präsident Rösti nach der Wahl zitieren –, winkte die Linke ab: Es müssten auch im neuen Gremium nach wie vor unterschiedliche Koalitionen geschmiedet werden, so etwa SP-Parteipräsident Christian Levrat. Die WOZ befürchtete allerdings eine Zunahme der Polarisierung. Mit der Wahl von Cassis sei die Kirche aber wieder im Dorf und die Sprachenfrage für eine Weile geregelt. Jetzt müssten die Regionen wieder besser vertreten werden – so der Tenor vor allem aus der Ostschweiz. Verschiedene Politikerinnen forderten zudem eine adäquatere Vertretung von Frauen. Die Idee einer parlamentarischen Initiative, mit der eine angemessene Frauenvertretung in der Verfassung festgeschrieben werden soll, verdichtete sich. Die FDP-Frauen forderten zudem bei der nächsten FDP-Vakanz ein Frauen-Zweierticket.

Über die nach der Ersatzwahl anstehende Departementsverteilung war bereits früh spekuliert worden. Insbesondere Alain Berset waren Ambitionen auf das frei gewordene EDA nachgesagt worden. Allerdings hätte der Departementswechsel von Berset einen unangenehmen Beigeschmack gehabt, weil kurz nach der Departementsverteilung die Abstimmung zur Altersreform 2020 anstand, für die Berset mit Herzblut geworben hatte. Der Wechsel ins Aussendepartement hätte von der Stimmbevölkerung als Flucht interpretiert werden können. Der Bundesrat solle deshalb mit der Departementsverteilung warten, forderte der ehemalige SVP-Präsident Toni Brunner (svp, SG) kurz vor den Bundesratswahlen in der Presse. Wenn nämlich die AHV-Vorlage verloren ginge, wäre Berset nicht mehr der richtige Innenminister. Ende September kam es dann aber schliesslich zur mehrheitlich erwarteten Departementsverteilung. Das freie EDA wurde vom neuen Kollegiumsmitglied Ignazio Cassis übernommen. Er setzte damit eine eigentliche Tradition fort, da Tessiner Bundesräte sehr häufig als Aussenminister amteten. Die Italianità und seine Vielsprachigkeit dürften Vorteile des neuen EDA-Chefs sein. Mit ein Grund dafür, dass sonst alles beim Alten blieb, dürfte auch die im Vorfeld der Bundesratswahl gemachte Aussage von Cassis gewesen sein, dass es vielleicht nicht gut sei, wenn er mit seinen Verbindungen das Innendepartement übernehmen würde. Cassis werde als Aussenminister „der bessere Burkhalter” sein, weil er mehr Verständnis für die Deutschschweiz habe, besser kommuniziere und mehr Kampfgeist habe, urteilte der Tages-Anzeiger. Auf ihn wartet nun das komplexe Europadossier – und zahlreiche Erwartungen von links bis rechts.

Bundesratsersatzwahl 2017 – Nachfolge Didier Burkhalter
Dossier: Bundesratswahlen seit 2008

Die von-Wattenwyl-Gespräche dienen den Parteispitzen als wichtige Möglichkeit des Austausches. In der Regel trifft sich eine Delegation des Bundesrates mit den Partei- und Fraktionspräsidenten der Regierungsparteien, um zentrale Geschäfte und Anliegen im Vorfeld der Sessionen zu diskutieren und zu koordinieren. Im Gegensatz zu 2015 war die BDP nach dem Ausscheiden von Eveline Widmer-Schlumpf nicht mehr an die Gespräche eingeladen.
Die Themen blieben bei den ersten Gesprächen Anfang Februar allerdings dieselben wie schon 2015: Die Legislatur- und Finanzplanung sowie die Umsetzungsarbeiten zum Verfassungsartikel 121a (Steuerung der Zuwanderung) und die Flüchtlingssituation in Europa und der Schweiz.
Zu den zweiten Gesprächen im Mai 2016 traten die Parteien mit drei neuen Präsidien an. Bei der FDP hatte Petra Gössi das Zepter übernommen, die CVP wurde neu von Gerhard Pfister präsidiert und bei der SVP war Albert Rösti neu an die Parteispitze gewählt worden. Gegenstand der Diskussionen war der Sprachenstreit, der durch die Diskussionen um den Frühsprachenunterricht in den Kantonen angeheizt worden war. Im Bereich der internationalen Finanzpolitik wurde die Vermeidung eines möglichen Reputationsschadens für die Schweiz durch die Übernahme internationaler Regulierungen diskutiert. Schliesslich informierte der Bundesrat über die Weiterentwicklung der Armee.
Im August wurde auf Anregung von Bundeskanzler Thurnherr entschieden, die von-Wattenwyl-Gespräche des dritten Quartals künftig in Form einer Klausur durchzuführen. An der nach wie vor freien und informellen Diskussion über wichtige politische Anliegen soll neu der Gesamtbundesrat teilnehmen. Damit soll den Gesprächen ein höherer Stellenwert zugemessen werden. Der früher substanzielle Austausch, der als Zeichen der funktionierenden Konkordanz bewertet wurde – die NZZ sprach von einem eigentlichen Schmiermittel der Konkordanz –, laufe immer mehr Gefahr, ein Leerlauf zu werden oder zu reinen Alibi-Gesprächen zu verkommen. Die einzige Möglichkeit für ein Treffen zwischen Regierung und Bundesratsparteien sei aber wichtig, um Möglichkeiten und Strategien auszuloten. Fix auf der Agenda soll eine Diskussion über die Jahresziele des Folgejahres stehen.
Erstmals trat die Exekutive also am 2. September 2016 in corpore zu den Gesprächen an. Neben den Jahreszielen 2017 des Bundesrates, die Schwerpunkte in der Finanzpolitik, im Infrastrukturbereich, der Bildung und der Europapolitik vorsehen, wurden die Lage im Asylwesen und die durch den Brexit schwieriger gewordenen Verhandlungen mit der EU diskutiert.
Bei den letzten Gesprächen des Jahres Mitte November nahm dann wieder nur eine Delegation des Bundesrates teil. Ueli Maurer informierte über die finanzpolitische Lage und plädierte für eine Annahme des Stabilisierungsprogramms 2017-2019. Im Rahmen der Europapolitik wurde auch über die im Dezember anstehende Entscheidung zur Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative, die Rasa-Initiative und den Brexit diskutiert.

Von-Wattenwyl-Gespräche seit 2013

Die Forderung der SVP, nach einem zweiten Regierungssitz, gehörte seit der Nichtbestätigung von Christoph Blocher (svp, ZH) nach den Wahlen 2007 zum Standardrepertoire der Volkspartei. Bei den Bundesratswahlen 2011 hatte sich die SVP mit ihrem nicht sehr professionellen Nominierungsverfahren praktisch selber aus dem Rennen genommen. Die Vehemenz der Forderung, nach einer adäquaten Regierungsbeteiligung, nahm 2015 gar noch zu und die Attacken der Volkspartei, vor allem auf den BDP-Bundesratssitz, wurden lauter. Die zahlreichen Kandidierenden, die vor den Parlamentswahlen als mögliche Herausforderer angepriesen wurden, dienten dabei einerseits als Nebelpetarden. Weil diese Ankündigungen und sofortigen Dementis, etwa von Toni Brunner (svp, SG) oder Adrian Amstutz (svp, BE), von den Medien bereitwillig aufgenommen und diskutiert wurden, schadete dies anderseits dem Wahlkampf der SVP in keinster Weise. Auch die anderen Parteien profitierten freilich von der medial breitgeschlagenen Diskussion um mögliche Szenarien für die nach den Gesamterneuerungswahlen anstehenden Bundesratswahlen. Die Bürgerlichen bestätigten zwar den prinzipiellen Anspruch der SVP auf einen zweiten Regierungssitz, Regierungsmitglieder, die ihre Sache gut machten, wolle man aber nicht abwählen. SP und GP betonten mit ebendiesem Argument, dass sie Eveline Widmer-Schlumpf (bdp) auf jeden Fall bestätigen wollten.
Die Ausgangslage änderte sich freilich nach der Demissionsankündigung der BDP-Bundesrätin. Die Linke pochte zwar auf einen neuen Mitte-Kandidaten, falls die SVP Kandidierende nominiere, die gegen die Bilateralen seien, und die Grünen sahen ebenfalls weit und breit keinen wählbaren SVP-Kandidierenden. Die restlichen Parteien signalisierten aber rasch, dass sie den Anspruch der SVP auf einen zweiten Bundesratssitz guthiessen und für Spielchen nicht zu haben seien. Dazu gehörte auch die Bestätigung, Bisherige nicht abwählen zu wollen. In der Tat wurde die Möglichkeit diskutiert, einen FDP-Bundesrat abzuwählen und mit einem Kandidierenden der Mitteparteien zu ersetzen, um eine rechtslastige Regierung mit 2 FDP und 2 SVP Magistraten zu verhindern. Die Chance für ein solches Szenario, war allerdings mehr als gering, würden doch dafür weder die FDP noch die SVP Hand bieten.
Rasch zeigte sich zudem, dass die Volkspartei das Nominierungsverfahren dieses Mal mit grösserer Sorgfalt angegangen war als vier Jahre zuvor. Aus den elf ursprünglichen Bewerbungen präsentierte die SVP nach ihrer Fraktionssitzung am 20. November drei Kandidierende aus den drei hauptsächlichen Sprachregionen: Thomas Aeschi (svp, ZG), Guy Parmelin (svp, VD) und Norman Gobbi (TI, lega). Der Tessiner Lega-Regierungsrat stellte sich unter das Banner der SVP, wollte aber auf kantonaler Ebene Legist bleiben. SVP-Fraktionspräsident Adrian Amstutz (svp, BE) wies darauf hin, dass Gobbi Mitglied der SVP Schweiz sei und das Gedankengut der SVP vertrete. Man kooperiere mit der Lega auf nationaler Ebene schon lange. Die Lega gehöre im Parlament schliesslich auch zur SVP-Fraktion. Gobbi sei von der Fraktion praktisch einstimmig nominiert worden (mit 72 von 74 Stimmen). Parmelin (svp, VD) siegte mit 48 zu 29 Stimmen über Oskar Freysinger (VS, svp) und Aeschi setzte sich im fünften Wahlgang mit 44 zu 37 Stimmen gegen Heinz Brand (svp, GR) durch. Ohne Chancen, oder gar nicht ins engere Auswahlverfahren aufgenommen, waren die Kandidaturen von Hannes Germann (svp, SH), Thomas Hurter (svp, SH), Res Schmid (NW, svp), Thomas de Courten (svp, BL), Albert Rösti (svp, BE) und David Weiss (BL, svp).
Die Dreier-Auswahl überraschte, waren doch im Vorfeld andere Favoriten gehandelt worden, die im Parlament eine breitere Unterstützung erhalten hätten. Die SVP machte aber von Anfang an klar, dass sie ihre – nach der Nicht-Bestätigung Blochers – in den Parteistatuten verankerte Regel, strikte anwenden werde. In diesem Sinne würden nicht nominierte, aber gewählte Kandidaten, die ihre Wahl dennoch annähmen, aus der Partei ausgeschlossen. Die Chancen für Hannes Germann (svp, SH), der laut der NZZ mehr Freunde im Parlament als in seiner Partei habe und der erste Bundesrat aus dem Kanton Schaffhausen gewesen wäre, oder für Heinz Brand (svp, GR), der lange als Kronfavorit aus der vernachlässigten Ostschweiz gegolten hatte, lagen damit praktisch bei Null. Es wurden zwar Szenarien für einen Sprengkandidaten aus der Reihe der SVP diskutiert und linke Stimmen kritisierten die Ausschlussregel als Erpressungsversuch, dem man sich nicht beugen werde. Mögliche Sprengkandidaten gaben allerdings rasch bekannt, eine allfällige Wahl nicht annehmen zu wollen.
Die SVP wurde nicht müde zu betonen, dass man mit dem sprachregional ausgewogenen Dreierticket eine echte Auswahl anbiete. Man sei der Forderung der SP und der CVP nachgekommen, einen Kandidierenden aus der Westschweiz aufzustellen und wolle als grösste Partei auch in der Regierung zwei Landesteile repräsentieren. Die Auswahl sorgte allerdings auch für Misstöne. Mit der Nominierung von Norman Gobbi (TI, lega) und Guy Parmelin (svp, VD) – der eine laut Presse bekannt für seine verbalen Entgleisungen, der andere ein politisches Leichtgewicht – wolle die SVP dem Parlament den Deutschschweizer Kandidaten Thomas Aeschi (svp, ZG) aufzwingen. Die Romandie wäre mit drei Sitzen deutlich übervertreten und Gobbi sei Vertreter der Lega. Dies sei keine echte Auswahl und der schweizerischen Konkordanz unwürdig – liess sich etwa Eric Nussbaumer (sp, BL) zitieren. Auch die NZZ kommentierte die Dreier-Nomination als Auswahl, die keine sei. In den Medien galt vorab der Zuger Thomas Aeschi als Kronfavorit. Er vertrete den neuen Stil der SVP, sei jung und ein Vertreter Blocher'scher Prägung – so etwa der TA. Die SVP wurde freilich nicht müde zu betonen, dass sie gerne Regierungsmitglieder aus unterschiedlichen Sprachregionen hätte.
Die Stimmen – auch aus der SVP – , die gerne eine breitere Auswahl aus der Deutschschweiz gehabt hätten, verstummten allerdings nicht. Es gebe durchaus Spielraum für einen (SVP-internen) Sprengkandidaten, zitierte das SGT Vertreter von SP und CVP. Immerhin war in den letzten 100 Jahren jeder fünfte gewählte Bundesrat wild, also nicht von der eigenen Partei nominiert worden. Freilich hatte die Volkspartei alle ursprünglich elf SVP-Kandidaten dazu bewegt, schriftlich zu bestätigen, eine Wahl als Sprengkandidat nicht anzunehmen.

Gesamterneuerungswahlen des Bundesrats 2015 – Nachfolge Eveline Widmer-Schlumpf
Dossier: Bundesratswahlen seit 2008