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Die Ankündigung der ersten von insgesamt vier von-Wattenwyl-Gesprächen im Jahr 2022 im Februar 2022 glich derjenigen des Vorjahres. Nicht nur der Ort war aufgrund der Covid-19-Pandemie noch immer nicht das namengebende Von-Wattenwyl-Haus, sondern erneut der Bernerhof, sondern auch die hauptsächlichen Traktanden der Gespräche zwischen den Parteispitzen und einer Bundesratsdelegation – im Februar bestehend aus dem frisch gekürten Bundespräsidenten und Aussenminister Ignazio Cassis, Gesundheitsminister Alain Berset und Energieministerin Simonetta Sommaruga sowie dem Bundeskanzler Walter Thurnherr – waren gleich wie im Vorjahr. Diskutiert wurde nämlich über die sich langsam entspannende gesundheitspolitische Lage sowie das in seiner neuen Stossrichtung formulierte Ziel der Regierung, die bilateralen Beziehungen zur EU zu stabilisieren. Einen weiteren aussenpolitischen Diskussionspunkt stellte der geplante Sitz der Schweiz im UNO-Sicherheitsrat (2023–2024) dar. Simonetta Sommaruga informierte über die geplanten Vorhaben zur Senkung der Treibhausgasemissionen auf Netto-Null bis 2050 (Revision des CO2-Gesetzes und Schaffung des Bundesgesetzes über sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien).
Im Mai 2022 fanden die Gespräche nach über zwei Jahren wieder im Von-Wattenwyl-Haus statt. Und auch die Themen hatten sich innert Monaten aufgrund der aktuellen weltpolitischen Lage mit dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs stark verschoben. Bundespräsident Ignazio Cassis, Simonetta Sommaruga, Guy Parmelin sowie Walter Thurnherr diskutierten mit den Vertretungen der Bundesratsparteien über die aussenpolitischen, wirtschaftlichen und energiepolitischen Auswirkungen des Konflikts. Konkrete Diskussionsgegenstände waren die neutralitätspolitische Ausrichtung der Schweiz, die Konferenz zum Wiederaufbau der Ukraine in Lugano, der weltweite Teuerungsdruck und die Energieversorgungssicherheit – neben dem bereits im Februar diskutierten Stromversorgungsgesetz, dessen Umsetzung beschleunigt werden sollte, informierte die Energieministerin dabei über die geplanten Massnahmen zur Gasversorgungssicherheit.
Wie vor der Covid-19-Pandemie üblich traf sich die Landesregierung für die Von-Wattenwyl-Gespräche im Herbst in corpore und in Klausur mit den Parteispitzen. Neben dem Krieg und seinen Auswirkungen standen die Versorgungssicherheit, die Finanzplanung, wirtschaftspolitische Folgen der Inflation, die gesundheitspolitische Lage sowie einmal mehr die Europapolitik auf der Traktandenliste. In der bundesrätlichen Bilanz zu sechs Monaten Krieg nahm Justizministerin Karin Keller-Sutter Stellung zu den Migrationsbewegungen und dem Schutzstatus S, der rund 62'000 Personen gewährt worden sei; Verteidigungsministerin Viola Amherd betonte ihrerseits den Wandel der «europäischen Sicherheitsarchitektur» und die Bedeutung multilateraler Organisationen auch für die Schweiz; Aussenminister Ignazio Cassis berichtete über die Lugano-Konferenz. Die energetische Versorgungssicherheit wurde von Energieministerin Simonetta Sommaruga erörtert. Massnahmen seien etwa eine Wasserkraftreserve, Einrichtung von Reservekraftwerken und Plänen zur Bewältigung einer möglichen Gasmangellage; die Stromversorgung sei momentan aber sichergestellt. Wirtschaftsminister Guy Parmelin erklärte die steigenden Energiepreise zur Hauptursache für die ansteigende Inflation, die zwar mit 3.4 Prozent unter dem europäischen Mittel liege, aber auch in der Schweiz auf die Kaufkraft drücke. Über die schwierige Lage der Bundesfinanzen, denen ab 2024 strukturelle Defizite in Milliardenhöhe drohten, berichtete Finanzminister Ueli Maurer. Auch in der sich momentan beruhigenden Situation in der Covid-19-Pandemie gehe es weiterhin darum, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern, gab Gesundheitsminister Alain Berset zu bedenken. Schliesslich informierte Aussenminister Ignazio Cassis auch über die Sondierungsgespräche mit der EU: Es bestünden weiterhin erhebliche Differenzen.
Die vierte Gesprächsrunde der Von-Wattenwyl-Gespräche fand am 11. November statt. Die Bundesratsparteispitzen liessen sich dabei über die Reise von Bundespräsident Ignazio Cassis in die Ukraine und die Weiterführung des Schutzstatus S informieren. Erneut wurde auch über die Massnahmen zur Verhinderung einer Strommangellage diskutiert, darunter etwa das Reservekraftwerk in Birr oder der Rettungsschirm für systemkritische Stromunternehmungen, aber auch über den Verzicht, Unternehmen oder Private aufgrund der hohen Energiepreise oder der Inflation zu unterstützen. Auch die laufenden Sondierungsgespräche mit der EU, die «besorgniserregende Haushaltsentwicklung» und die nach wie vor angespannte gesundheitspolitische Lage waren wie schon im Herbst Gegenstand der Diskussionen.

Von-Wattenwyl-Gespräche seit 2013

Jahresrückblick 2022: Institutionen und Volksrechte

Spätestens seit dem Rücktritt von Ueli Maurer als Bundesrat Ende September dominierte die Suche nach seiner Nachfolgerin oder seinem Nachfolger den Themenbereich «Institutionen und Volksrechte» (vgl. Abbildung 1 der APS-Zeitungsanalyse). Mit dem Rücktritt von Simonetta Sommaruga Ende November standen im Dezember 2022 gleich zwei Bundesratsersatzwahlen an. Maurer hatte seinen Rücktritt mit dem Wunsch begründet, noch einmal etwas Neues machen zu wollen, und Simonetta Sommaruga hatte sich entschieden, in Folge eines Schlaganfalles ihres Mannes ihr Leben neu auszurichten. Wie bei Bundesratsersatzwahlen üblich, überboten sich die Medien mit Spekulationen, Expertisen, Interpretationen und Prognosen. Bei der SVP galt die Kandidatur von Hans-Ueli Vogt (svp, ZH), der sich 2021 aus der Politik zurückgezogen hatte, als Überraschung. Dennoch zog ihn die SVP-Fraktion anderen Kandidatinnen und Kandidaten vor und nominierte ihn neben dem Favoriten Albert Rösti (svp, BE) als offiziellen Kandidaten. Bei der SP sorgte der sehr rasch nach der Rücktrittsrede von Simonetta Sommaruga verkündete Entscheid der Parteileitung, mit einem reinen Frauenticket antreten zu wollen, für Diskussionen. Die medialen Wogen gingen hoch, als Daniel Jositsch (ZH) dies als «Diskriminierung» bezeichnete und seine eigene Bundesratskandidatur verkündete. Die SP-Fraktion entschied sich in der Folge mit Elisabeth Baume-Schneider (sp, JU) und Eva Herzog (sp, BS) für zwei Kandidatinnen. Zum Nachfolger von Ueli Maurer wurde bereits im 1. Wahlgang Albert Rösti mit 131 von 243 gültigen Stimmen gewählt. Hans-Ueli Vogt hatte 98 Stimmen erhalten (Diverse: 14). Für die SP zog Elisabeth Baume-Schneider neu in die Regierung ein. Sie setzte sich im dritten Wahlgang mit 123 von 245 gültigen Stimmen gegen Eva Herzog mit 116 Stimmen durch. Daniel Jositsch hatte in allen drei Wahlgängen jeweils Stimmen erhalten – deren 6 noch im letzten Umgang. Die Wahl der ersten Bundesrätin aus dem Kanton Jura wurde von zahlreichen Beobachterinnen und Beobachtern nicht nur als Überraschung gewertet, sondern gar als Gefahr für das «Gleichgewicht» der Landesregierung kommentiert (Tages-Anzeiger). Die rurale Schweiz sei nun in der Exekutive übervertreten, wurde in zahlreichen Medien kritisiert.

Der Bundesrat stand aber nicht nur bei den Wahlen im Zentrum des Interesses. Diskutiert wurde auch über Vor- und Nachteile einer Erhöhung der Zahl der Regierungsmitglieder, wie sie eine parlamentarische Initiative Pa.Iv. 19.503 forderte – es war bereits der sechste entsprechende Vorstoss in den letzten 30 Jahren. Die Begründungen hinter den jeweiligen Anläufen variieren zwar über die Zeit – der neueste Vorstoss wollte «die Konkordanz stärken», also mehr Spielraum für parteipolitische aber auch für gendergerechte Vertretung schaffen – die Projekte nahmen bisher aber stets denselben Verlauf: Auch in diesem Jahr bevorzugte das Parlament den Status quo.
Verbessert werden sollte hingegen die Krisenorganisation des Bundesrates. Dazu überwiesen beide Kammern gleichlautende Motionen und Postulate der GPK beider Räte, die Rechtsgrundlagen für einen Fach-Krisenstab sowie eine Gesamtbilanz der Krisenorganisation des Bundes anhand der Lehren aus der Corona-Pandemie verlangten.

Auch das Parlament sollte als Lehre aus der Pandemie krisenresistenter gemacht werden. Aus verschiedenen, von Parlamentsmitgliedern eingereichten Ideen hatte die SPK-NR eine einzige Vorlage geschnürt, die 2022 von den Räten behandelt wurde. Dabei sollten aber weder der Bundesrat in seiner Macht beschränkt, noch neue Instrumente für das Parlament geschaffen werden – wie ursprünglich gefordert worden war. Vielmehr sah der Entwurf Möglichkeiten für virtuelle Sitzungsteilnahme im Falle physischer Verhinderung aufgrund höherer Gewalt und die Verpflichtung des Bundesrates zu schnelleren Stellungnahmen bei gleichlautenden dringlichen Kommissionsmotionen vor. Umstritten blieb die Frage, ob es statt der heutigen Verwaltungsdelegation neu eine ständige Verwaltungskommission braucht. Der Nationalrat setzte sich für eine solche ein, der Ständerat lehnte sie ab – eine Differenz, die ins Jahr 2023 mitgenommen wird.
Nicht nur die Verwaltungskommission, auch die Schaffung einer ausserordentlichen Aufsichtsdelegation war umstritten. Die vom Nationalrat jeweils mit grosser Mehrheit unterstützte Idee, dass es neben der PUK und den Aufsichtskommissionen ein mit starken Informationsrechten ausgerüstetes Gremium geben soll, das als problematisch beurteilte Vorkommnisse in der Verwaltung rasch untersuchen könnte, war beim Ständerat stets auf Unwille gestossen. Auch nach einer Einigungskonferenz konnten sich die Räte nicht auf eine Lösung verständigen, woraufhin der Ständerat das Anliegen versenkte, zumal er die bestehenden Instrumente und Akteure als genügend stark erachtete.

Seit vielen Jahren Zankapfel zwischen den Räten ist die Frage nach der Höhe der Löhne in der Bundesverwaltung. In diesem Jahr beendete der Ständerat eine beinahe sechsjährige Diskussion dazu, indem er auf eine entsprechende Vorlage der SPK-SR auch in der zweiten Runde nicht eintrat, obwohl der Nationalrat deutlich für eine Obergrenze von CHF 1 Mio. votiert hatte. Die SPK-NR sorgte in der Folge mit einer neuerlichen parlamentarischen Initiative für ein Verbot von «goldenen Fallschirmen» für Bundeskader dafür, dass diese Auseinandersetzung weitergehen wird.

In schöner Regelmässigkeit wird im Parlament auch die Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit diskutiert. Zwei entsprechende Motionen wurden in diesem Jahr von der Mehrheit des Ständerats abgelehnt, da das aktuelle System, in welchem die Letztentscheidung dem direktdemokratischen Element und nicht der Judikative überlassen wird, so gut austariert sei, dass ein Verfassungsgericht nicht nötig sei. Freilich ist sich das Parlament der Bedeutung der obersten Bundesgerichte durchaus bewusst. Ein Problem stellt dort seit einiger Zeit vor allem die chronische Überlastung aufgrund der hohen Fallzahlen dar. Daher werde gemäss Justizministerin Karin Keller-Sutter mittelfristig eine Modernisierung des Bundesgerichtsgesetzes geprüft, kurzfristig sei eine Entlastung aber nur durch eine Erhöhung der Zahl der ordentlichen Richterinnen und Richter zu erreichen. Eine entsprechende parlamentarische Initiative der RK-NR hiessen beide Kammern gut, allerdings jeweils gegen die geschlossen stimmende SVP-Fraktion, die in der Erhöhung lediglich «Flickwerk» sah.

Die mittels direktdemokratischer Abstimmungen verhandelte Schweizer Politik zeigte sich 2022 einigermassen reformresistent. Nachdem im Februar gleich beide zur Abstimmung stehenden fakultativen Referenden (Gesetz über die Stempelabgaben und Medienpaket) erfolgreich waren, wurde in den Medien gar spekuliert, ob die Bundespolitik sich nun vermehrt auf Blockaden einstellen müsse. Allerdings passierten dann im Mai und im September 4 von 5 mittels Referenden angegriffenen Bundesbeschlüsse die Hürde der Volksabstimmung (Filmgesetz, Organspende, Frontex, AHV21). Einzig die Revision des Verrechnungssteuergesetzes wurde im September an der Urne ausgebremst. 2022 war zudem die insgesamt 25. Volksinitiative erfolgreich: Volk und Stände hiessen die Initiative «Kinder und Jugendliche ohne Tabakwerbung» gut. Die beiden anderen Volksbegehren (Massentierhaltungsinitiative, Initiative für ein Verbot von Tier- und Menschenversuchen) wurden hingegen abgelehnt.

Dass in der Schweizer Politik manchmal nur ganz kleine Schritte möglich sind, zeigen die erfolglosen Bemühungen, den Umfang an Stimm- und Wahlberechtigten zu erhöhen. Der Nationalrat lehnte zwei Vorstösse ab, mit denen das Stimmrecht auf Personen ohne Schweizer Pass hätte ausgeweitet werden sollen. Auch die Wahrscheinlichkeit, dass das Stimmrechtsalter in naher Zukunft auf 16 gesenkt werden wird, hat sich im Jahr 2022 eher verringert: Zwar wies eine knappe Mehrheit des Nationalrats den Abschreibungsantrag für eine parlamentarische Initiative, welche eine Senkung des Alters für das aktive Stimmrecht verlangt und welcher 2021 beide Kammern Folge gegeben hatten, ab und wies sie an die SPK-NR zurück, damit diese eine Vorlage ausarbeitet. In zwei Kantonen wurde die Senkung des Stimmrechtsalters im Jahr 2022 an der Urne aber deutlich verworfen: in Zürich im Mai mit 64.8 Prozent Nein-Stimmenanteil, in Bern im September mit 67.2 Prozent Nein-Stimmenanteil.

Allerdings fielen 2022 auch Entscheide, aufgrund derer sich das halbdirektdemokratische System der Schweiz weiterentwickeln wird. Zu denken ist dabei einerseits an Vorstösse, mit denen Menschen mit Behinderungen stärker in den politischen Prozess eingebunden werden sollen – 2022 nahmen etwa beide Kammern eine Motion an, mit der Einrichtungen geschaffen werden, die helfen, das Stimmgeheimnis für Menschen mit Sehbehinderung zu gewährleisten. Zudem gaben National- und Ständerat einer parlamentarischen Initiative für die Barrierefreiheit des Live-Streams der Parlamentsdebatten Folge, damit auch hörgeschädigte Menschen diesen folgen können. Andererseits verabschiedete der Bundesrat die Verordnung zu den künftigen Transparenzbestimmungen bei Wahlen und Abstimmungen. Ob und wie die erstmals für die eidgenössischen Wahlen 2023 bzw. für das Finanzjahr 2023 vorzulegenden Kampagnen- und Parteibudgets die politischen Debatten beeinflussen werden, wird sich weisen.

Jahresrückblick 2021: Institutionen und Volksrechte
Dossier: Jahresrückblick 2022

In der Wintersession 2022 begann der Nationalrat die Beratung des neuen Gesetzes für eine Tonnagesteuer für Hochseeschiffe. Kommissionssprecherin Amaudruz (svp, GE) betonte, dass die Mehrheit der WAK-NR mit diesem Gesetz ein klares Signal an die Wirtschaft senden wolle und dass man davon ausgehe, dass die Einführung einer Tonnagesteuer zu höheren Steuereinnahmen und neuen Arbeitsplätzen führe. Die Tonnagesteuer diene dazu, Hochseetransportunternehmen in der Schweiz zu halten, nachdem deren Sonderregelungen zur Besteuerung mit dem STAF abgeschafft worden waren. Diese neue Regelung sei OECD-konform und werde auch in der EU angewendet. Finanzminister Maurer betonte, dass die Vorarbeiten zu dieser Vorlage aus einer Zeit stammten, in der es der Hochseeschifffahrt überaus schlecht ging, und erinnerte an die entsprechenden Bürgschaften des Bundes. Zwar gebe es verfassungsrechtliche Gründe für und wider eine Tonnagesteuer, jedoch sei es volkswirtschaftlich wichtig, die Hochseeschifffahrt in der Schweiz mit derjenigen im Ausland gleichzustellen. «Zum Standort Schweiz, einem zuverlässigen Standort mit hohem Know-how, gehören eben auch diese Schiffe», betonte der Finanzminister.

Im Nationalrat lagen ein Antrag Bertschy (glp, BE) auf Nichteintreten sowie ein Antrag Wermuth (sp, AG) auf Rückweisung des Entwurfs an den Bundesrat vor, wobei dieser die «ökologische und soziale Verantwortung der Schifffahrtsbranche» im Entwurf hätte stärken sollen. Zudem hatte auch die FK-NR in einem Mitbericht aus finanziellen Gründen den Verzicht auf das neue Gesetz gefordert. Kathrin Bertschy brachte verschiedene Gründe für ihren Nichteintretensantrag an: Einerseits halte man die Verfassungsmässigkeit der Vorlage, insbesondere den Grundsatz der Besteuerung nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und der rechtsgleichen Besteuerung, nicht für gegeben. Zwei Gutachten seien diesbezüglich zu unterschiedlichen Schlüssen gekommen, was insbesondere an ihrer unterschiedlichen Einschätzung der Frage, ob die Hochseeschifffahrt in der Schweiz ohne diese Vorlage in ihrer Existenz gefährdet sei, gelegen habe. Aufgrund der guten aktuellen wirtschaftlichen Lage der entsprechenden Branche verneine die Minderheit diese existenzielle Bedrohung, die eine Voraussetzung für die Verfassungsmässigkeit darstelle. Zudem hätten sowohl der Bundesrat als auch die FK-NR in ihrem Mitbericht erklärt, die Auswirkungen der Vorlage auf den Bundeshaushalt seien unklar. Mit diesem Entwurf könnten Rohstoffunternehmen die OECD-Mindestbesteuerung unterwandern, zumal sie den Schifffahrtsunternehmen gemäss Schätzungen von Expertinnen und Experten eine Besteuerung von 6 bis 7 Prozent erlaube. Schliesslich verlangte Bertschy, dass nur Unternehmen von der Steuer profitieren dürften, die mindestens unter EU- oder EWR-Flagge fahren, damit sie auch die entsprechenden Arbeits- und Umwelterfordernisse erfüllen müssten. Eine entsprechende Regelung sei jedoch nach der Vernehmlassung aus dem Entwurf gestrichen worden. Ähnlich argumentierte auch Cédric Wermuth, der überdies auch die Besteuerung nach Tonnage als unsinnig hervorstrich. Wenn man aber eine Tonnagesteuer wolle, müsse diese so ausgestaltet sein, dass die ökologische und soziale Verantwortung der Branche gestärkt werde.
In der Folge lehnte der Nationalrat beide Minderheitsanträge ab (mit 107 zu 83 Stimmen bei 4 Enthaltungen respektive mit 103 zu 90 Stimmen bei 1 Enthaltung), wobei SP und Grüne sowie eine Minderheit der Mitte-Fraktion beide Minderheitsanträge annahmen, während die GLP geschlossen den Rückweisungsantrag, aber nur zur Hälfte den Nichteintretensantrag unterstützte.

In der Detailberatung vertrat die Kommissionsmehrheit zwei Änderungsanträge: Einerseits wollte sie auch die Kreuzfahrtschiffe ausdrücklich der Tonnagesteuer unterstellen, obwohl der Bundesrat diese in der Botschaft bereits als Teil des Personentransports erachtet hatte. Eine Minderheit Bertschy sprach sich gegen den Einbezug der Kreuzfahrtschiffe aus, zumal Kreuzfahrten einen «unsinnigen» Tourismuszweig darstellten, den man gegenüber dem Tourismus in der Schweiz nicht einseitig subventionieren solle. Der Nationalrat folgte jedoch seiner Kommissionsmehrheit.
Als zweite Änderung verlangte die Kommission, dass nur diejenigen Schiffe zur Tonnagesteuer zugelassen werden, deren «strategische[s] und kommerzielle[s] Management [...] in der Schweiz ausgeübt wird». Damit wollte man die Problematik lösen, dass die im Vernehmlassungsentwurf vom Bundesrat vorgeschlagene Beschränkung auf in der EU und im EWR zugelassene Schiffe gegen WTO-Recht verstossen würde. Dies war folglich auch die Kritik an einem Minderheitsantrag Badran (sp, ZH), welcher ebendiese Einschränkung forderte. WTO-konform wäre gemäss den Kommissionssprechenden auch der Antrag der Minderheit Ryser (gp, SG), nur Flotten zuzulassen, die zu 60 Prozent im Schweizer Schifffahrtsregister eingetragen sind. Diese Lösung erachtete Finanzminister Maurer jedoch als zu restriktiv und als «Schmälerung der Attraktivität der Schweizer Tonnagesteuer». Die Kommissionsmehrheit setzte sich in der Folge mit ihrem Alternativvorschlag gegen die Minderheitsanträge durch.

Darüber hinaus versuchten verschiedene Minderheiten die vorgeschlagenen Regelungen zu ver- oder entschärfen. So erachtete eine Minderheit Amaudruz den Vorschlag von Bundesrat und Kommissionsmehrheit als zu einschränkend und schlug mehrere Änderungen vor: Erstens sollte die Liste der mittels Tonnagesteuer besteuerten Zwecke nicht abschliessend genannt werden, was der Nationalrat jedoch ablehnte, weil es gemäss Kommissionssprecher Müller (mitte, LU) gegen das Legalitätsprinzip verstossen würde. Zweitens sollte die Regelung für Schiffe zur Errichtung und zum Unterhalt von Offshore-Bauwerken auf alle Seeschiffe mit maritimen Dienstleistungen für die Offshore-Industrie ausgedehnt werden. Zudem wollte Amaudruz die Regelung zu den Gewinnen aus Nebentätigkeiten, die ebenfalls via Tonnagesteuer besteuert werden können, ausweiten. Der Nationalrat lehnte jedoch sämtliche Anträge ab.
Eine Minderheit Wermuth schlug hingegen vor, die weitere, 30-prozentige Ermässigung des steuerbaren Reingewinns bei Erfüllung von ökologischen Anforderungen zu streichen. Beispiele aus anderen Staaten mit deutlich restriktiveren Regelungen hätten gezeigt, dass solche Belohnungen keine Wirkung auf die ökologischen Massnahmen auf den Schiffen hätten. Auch hier setzte sich die Kommissionsmehrheit jedoch durch und behielt die Ermässigung bei.

In der Gesamtabstimmung hiess der Nationalrat den Entwurf mit 99 zu 85 Stimmen (bei 3 Enthaltungen) gut, wobei die ablehnenden Stimmen von der SP-, der Grünen-, fast der gesamten GLP- und einer Minderheit der Mitte-Fraktion stammten.

Bundesgesetz über die Tonnagesteuer auf Seeschiffen (BRG 22.035)

In der Wintersession 2022 begrüsste Kommissionssprecher Martin Schmid (fdp, GR) den Ständerat zur Beratung der Änderung des Finanzmarktinfrastrukturgesetzes (FinfraG). Die in der WAK-SR unbestrittene Vorlage ziele darauf ab, die Anerkennung ausländischer Handelsplätze für den Handel mit Beteiligungspapieren von Gesellschaften mit Sitz in der Schweiz zu regeln und so den Schutz der Schweizer Börseninfrastruktur nachhaltig zu gewährleisten. Die vorgesehenen Schutzmassnahmen seien bisher auf dem Verordnungsweg geregelt worden, nachdem die EU der Schweiz 2018 mit dem definitiven Verlust der Börsenanerkennung gedroht hatte, erläuterte Schmid. Der Bundesrat hatte daraufhin mittels Notrechts in einer Verordnung das geforderte Recht angewendet und so eine drohende negative Entwicklung für den Finanzplatz Schweiz verhindert. Die Inhalte dieser Verordnung sollten nun ohne inhaltliche Änderungen formell ins Gesetz aufgenommen werden, um zu verhindern, dass diese zeitlich beschränkten Schutzmassnahmen ersatzlos auslaufen. Die Vorlage sehe zudem die Möglichkeit vor, diese Massnahmen im Falle einer erneuten Anerkennung der Börsenäquivalenz durch die EU wieder aufzuheben, ergänzte Finanzminister Ueli Maurer die Ausführungen des Kommissionssprechers. Stillschweigend trat die kleine Kammer auf das Geschäft ein und stimmte – analog ihrer Kommission – dem Entwurf des Bundesrats ohne Änderungsanträge einstimmig zu.

Loi sur l’infrastructure des marchés financiers (LIMF). Modification (transfert de la mesure visant à protéger l’infrastructure boursière) (Ob. 22.050)

Departementsverteilung und Prognosen

Bereits nach dem Rücktritt von Ueli Maurer hatten die Medien mögliche Szenarien für Departementswechsel skizziert. Viola Amherd würde das VBS wohl gerne abgeben und allenfalls könnte Karin Keller-Sutter mit dem Finanzdepartement ihr Lieblingsdossier übernehmen, wurde etwa spekuliert. Freilich wurden auch Alain Berset und Ignazio Cassis Wechselgelüste nachgesagt. Bei entsprechenden Wechseln müsste der neue SVP-Bundesrat das in den Medien als unbeliebt geltende Verteidigungs- oder das Justizdepartement übernehmen. Das wahrscheinlichste Szenario sei aber, dass alles beim Alten bleibe, weil sich bei den Gesamterneuerungswahlen 2023 mehr Möglichkeiten für einen Wechsel ergeben würden. Die Ausgangslage und damit auch die Spekulationen änderten sich freilich, als nach dem Rücktritt von Simonetta Sommaruga klar wurde, dass auch das UVEK vakant werden würde. Die möglichen Szenarien hätten sich dadurch vervielfacht, urteilte etwa Le Temps wiederum unmittelbar nach der Rücktrittsankündigung von Simonetta Sommaruga. Die Karten würden auch deshalb neu gemischt, weil das frei werdende UVEK begehrt sei – was mit zahlreichen verschiedenen Szenarien untermauert wurde. Insbesondere Albert Rösti (svp, BE) dürfte daran interessiert sein, habe allerdings als allfälliger Bundesratsneuling kaum das Recht, zu wählen.

Normalerweise wird die Diskussion zwischen den Regierungsmitgliedern um die Verteilung der Departemente nach einer Bundesratswahl oder einer -ersatzwahl für die erste offizielle Bundesratssitzung am darauffolgenden Freitag traktandiert. Um eine Situation wie 2018 zu vermeiden, als die Parteien übers Wochenende versucht hatten, Einfluss auf die Verteilung zu nehmen, nachdem man sich am an der ersten (Freitags-)Sitzung nicht hatte einigen können, beraumte Bundespräsident Ignazio Cassis die Besprechung diesmal allerdings bereits früher an. Die eigentliche im Gremium intern zu regelnde Departementsverteilung sollte keinen öffentlichen, politischen Charakter erhalten. Entsprechend traf sich der Bundesrat mit den beiden neuen Mitgliedern bereits am Tag nach den Wahlen zu einer informellen Sitzung, bei der man sich auf eine neue Verteilung einigen konnte: Karin Keller-Sutter übernahm das Finanzdepartement; Elisabeth Baume-Schneider erhielt das EJPD und Albert Rösti das von ihm bevorzugte UVEK. Alain Berset (EDI), Viola Amherd (VBS), Guy Parmelin (WBF) und Ignazio Cassis (EDA) behielten entsprechend ihre Departemente.

Auch wenn Bundespräsident Ignazio Cassis betonte, dass man eine Verteilung im Interesse des Landes gesucht und gefunden habe, sprachen die Medien von «Frustrationen», welche die Verteilung auslöse (Le Temps). Zwar machten die Medien verschiedene «grosse Verlierer» und «grosse Gewinner» aus, waren sich darin aber nicht wirklich einig. Einerseits galt Alain Berset als «grosser Verlierer» der Bundesratswahl, da ihm trotz seiner Wechselgelüste ins EDA oder ins EFD angesichts des «Powerplays» der Bürgerlichen nichts anderes übrig geblieben, als im EDI zu bleiben, meinte etwa der Blick. Andererseits wusste die Aargauer Zeitung, dass er nicht bereit gewesen sei, das «für die Gewerkschaften wichtige Innendepartement, die Gesundheits- und Sozialpolitik in bürgerliche Hände zu geben». Berset selbst zeigte sich in einem Blick-Interview «sehr glücklich» mit seinem Departement.
Als «grosser Gewinner» wurde Albert Rösti bezeichnet, da er gleich sein Wunschdepartement erhalten habe. Der Traumjob des neuen Bundesrats sei aber der Alptraum der Linken, augurten der Blick und 24Heures. Dass der «Ölbaron», vom Blick als «Ölbert» bezeichnet, das UVEK übernehme, sei nicht gut für den Umweltschutz, twitterten etwa die Grünen. Der Umstand, dass Röstis erstes grosses Geschäft das Klimaschutz-Gesetz sei, das er nun verteidigen müsse, verspreche allerdings Spannung und sei ein erster Lackmustest für die Konkordanzfähigkeit des neuen SVP-Bundesrats, waren sich die Medien einig. Ebenfalls zu den Gewinnerinnen wurde Karin Keller-Sutter gezählt, die mit dem Finanzdepartement ihr Wunschdepartement erhalten habe und die bürgerliche Sparpolitik wohl weiterverfolgen werde.
Schwierig werde der Start wohl für Elisabeth Baume-Schneider werden, die im EJPD zahlreiche Baustellen übernehmen müsse, urteilten die meisten Medien. Die Jurassierin selber gab hingegen zu Protokoll, dass sie sich als ehemalige Sozialarbeiterin auf das Departement freue. In einigen Westschweizer Medien wurde darauf hingewiesen, dass jetzt ausgerechnet eine Jurassierin den Wechsel von Moutier vom Kanton Bern in den Kanton Jura supervisiere.
Von der SP wurde die Verteilung als Machtdemonstration der Bürgerlichen kritisiert. Dass der Entscheid im Konsens gefallen sei, wie die Bundesratsmitglieder versicherten, vermochte den Zorn der SP nicht zu mindern. Das sei ein Angriff auf die Kollegialität gewesen, liess sich Cédric Wermuth (sp, AG) in der Aargauer Zeitung zitieren.

Bundesratsersatzwahlen 2022 – Nachfolge von Ueli Maurer und Simonetta Sommaruga
Dossier: Bundesratswahlen seit 2008

Die Wahl des Bundespräsidenten und des Vizepräsidenten des Bundesrates für 2023 geriet ob der Bundesratsersatzwahl etwas aus dem Rampenlicht. Im Anschluss an die Wahl von Albert Rösti und Elisabeth Baume-Schneider, die als Nachfolger und Nachfolgerin von Ueli Maurer und Simonetta Sommaruga gewählt worden waren, bestimmte die Vereinigte Bundesversammlung den amtierenden Vizebundespräsidenten Alain Berset turnusgemäss zum neuen Bundespräsidenten für 2023. Der SP-Magistrat erhielt dabei lediglich 140 Stimmen. Von den 232 eingelangten Stimmzetteln blieben ganze 46 leer. 16 entfielen auf Viola Amherd, 10 auf Karin Keller-Sutter, 15 auf Diverse und 5 Stimmzettel waren ungültig. Damit übersprang Berset zwar das absolute Mehr (91 Stimmen) klar, das Resultat war aber deutlich unterdurchschnittlich: Seit dem Zweiten Weltkrieg erhielten neue Bundespräsidentinnen und Bundespräsidenten im Schnitt 173 Stimmen. Micheline Calmy-Rey hält mit nur 106 Stimmen (2010) den Minusrekord. Am meisten Stimmen (213) hatte 1978 Willi Ritschard erhalten. Bei seiner ersten Wahl zum Bundespräsidenten im Jahr 2018 hatte Alain Berset noch ausgezeichnete 190 Stimmen erhalten.

Zur Vizepräsidentin wählte die Vereinigte Bundesversammlung ebenfalls turnusgemäss Viola Amherd, die also voraussichtlich 2024 zum ersten Mal Bundespräsidentin werden wird. Im Gegensatz zu Berset konnte sich die VBS-Chefin über ein glänzendes Resultat freuen. Von den 239 eingelangten Stimmzetteln waren zwar 13 leer und 3 ungültig, zudem entfielen 16 Stimmen auf Diverse, auf 207 Stimmzetteln stand hingegen der Name Amherds. Dies war das drittbeste Resultat für eine Vizepräsidiumswahl seit 1945. Nur Roger Bonvin (1966: 214), Eduard von Steiger (1949: 208) und erneut Willi Ritschard (1977: 207) erhielten mehr bzw. gleich viele Stimmen wie die Walliser Magistratin. Den Minusrekord mit 122 Stimmen hielt Ueli Maurer (2012); im Schnitt erhielten Vizepräsidentinnen und Vizepräsidenten seit 1945 gut 170 Stimmen.

Im Anschluss an die Wahl von Präsidium und Vizepräsidium gratulierte der für 2023 frisch gekürte Bundespräsident in seiner Ansprache seiner neuen Kollegin und seinem neuen Kollegen und bedankte sich bei den beiden scheidenden Bundesratsmitgliedern sowie beim scheidenden Bundespräsidenten Ignazio Cassis. In schwierigen und unsicheren Zeiten müsse «ensemble, insieme, ensemen, zusammen» Verantwortung übernommen werden, um Lösungen zu finden. Berset erinnerte daran, dass die Schweiz im kommenden Jahr ihren 175. Geburtstag feiere. Das Land habe sein Potenzial noch längst nicht ausgeschöpft. Seine Kultur sei auf Anpassung und Reformen ausgerichtet, worum im Rahmen von starken Institutionen immer wieder gerungen werde. Er freue sich auf die anstehende gemeinsame Arbeit zur ständigen Erneuerung der Schweiz.

Die Medien sprachen angesichts der 140 Stimmen bei der Wahl Bersets von einem höchstens mediokren Resultat (La Liberté). Berset sei «angezählt», urteilte der Tages-Anzeiger. In einer «politisch schwarzen Woche» habe er mit der Präsidentschaftswahl einen «Tiefschlag» erlebt. Im vergangenen Jahr habe er «ungewöhnlich viel einstecken» müssen – der Tages-Anzeiger erinnerte an die versuchte Erpressung Bersets, die Diskussion über die Einsprache gegen eine Mobilfunkantenne in seiner Heimatgemeinde oder die Kritik am Privatpilotflug nach Frankreich, die in den Medien für viel negatives Echo und einen «Krisensommer» für den Freiburger Magistraten gesorgt hätten. Das Präsidialjahr werde freilich nicht einfacher werden, stünden doch zahlreiche Projekte in seinem Departement an, das er nicht habe wechseln dürfen, so der Tages-Anzeiger weiter. Die Weltwoche fragte sich, ob es der Gesundheitsminister im Präsidialjahr wohl schaffe, «sein angeschlagenes Image aufzupolieren». Le Temps vermutete, dass die leeren Stimmen vor allem von der FDP eingelegt worden seien, die ihren Unmut über die überraschende Wahl von Elisabeth Baume-Schneider habe kundtun wollen. Die Freisinnigen hatten im Vorfeld der Ersatzwahlen vor einer Mehrheit der sprachlichen Minderheiten im Bundesrat gewarnt, wie sie nun eingetreten war. Die Leerstimmen seien folglich ein Zeichen dafür, dass der Freisinn die SP auffordere, dieser nicht adäquaten Vertretung der Sprachregionen und der urbanen Schweiz so bald wie möglich ein Ende zu setzen – zum Beispiel mit einem Rücktritt von Alain Berset. Der neue Bundespräsident selber kokettierte mit dieser Kritik und bezeichnete sich in einem Interview mit Le Temps als «un peu périurbain et un peu péri-rural». In den Medien wurde zudem daran erinnert, dass Berset in Umfragen stets zu den beliebtesten Magistratspersonen gehöre.

Ende Jahr gab der scheidende Bundespräsident Ignazio Cassis 24Heures zu Protokoll, dass er sehr gerne noch eine zweite Präsidentschaft erleben würde. Er habe mit dem Ende der Covid-19-Pandemie, mit dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine und mit der Wahl zweier neuer Mitglieder in der Regierung ein ausserordentliches Präsidialjahr erlebt. Le Temps nahm zudem mit Befriedigung zur Kenntnis, dass dank Cassis mit der EU ein neuer Dialog etabliert worden sei. Der Tessiner selber zeigte sich froh, dass dieses Jahr zu Ende sei; er freue sich aber auf ein nächstes.

2023 – Alain Berset
Dossier: Wahlen des Bundespräsidiums

Die Wahl

Am Mittwoch 7. Dezember schritt die Vereinigte Bundesversammlung schliesslich zur Ersatzwahl. Entsprechend dem Protokoll wurden zuerst die beiden zurücktretenden Bundesratsmitglieder durch den Nationalratspräsidenten Martin Candinas (mitte, GR) verabschiedet. Als «Chrampfer» würdigte Candinas den zurücktretenden SVP-Bundesrat Ueli Maurer. Er sei «das Gewissen der Finanzpolitik» gewesen und habe immer wieder vor Mehrausgaben gewarnt. Im Parlament würden seine Freundlichkeit, sein «verschmitzter Humor» und seine Vorlieben für Metaphern fehlen, so Candinas. Simonetta Sommaruga habe nicht nur «die Prinzipien der Kollegialität und der Konkordanz verkörpert», sondern auch stets das Wohl der Menschen in den Mittelpunkt gestellt, lobte Nationalratspräsident Candinas die scheidende Magistratin. Insbesondere während ihres Präsidialjahres während der Covid-19-Krise habe sie die bemerkenswerte Fähigkeit gezeigt, auch «[i]m Moment der Unsicherheit Brücken zu bauen».
Ueli Maurer hob in seiner Abschiedsrede die Bedeutung von Freiheit hervor, die es zu verteidigen gelte, wozu auch ein gesunder Finanzhaushalt beitrage. Er sei stolz auf seinen Ruf als «Sparonkel», freue sich jetzt aber auf die Zeit danach. Simonetta Sommaruga ihrerseits betonte, wie wichtig es sei, dass dass man trotz unterschiedlicher Auffassungen aufeinander zugehe. Es sei ihr eine Freude und eine Ehre gewesen, Bundesrätin zu sein: «Ich habe es gerne gemacht», wiederholte sie noch einmal den Satz, den sie bereits bei ihrer Rücktrittsankündigung gesagt hatte. Die scheidende Magistratin und der scheidende Magistrat wurden unter grossem Beifall und stehenden Ovationen verabschiedet.

Nachdem Martin Candinas die Fraktionsempfehlungen für die Ersatzwahl von Ueli Maurer verlesen hatte – mit Ausnahme der grünen Fraktion, die keinen Kandidaten empfahl, schlugen alle anderen Fraktionen sowohl Albert Rösti (svp, BE) als auch Hans-Ueli Vogt (svp, ZH) vor – und Fraktionssprecher Thomas Aeschi (svp, ZG) das Parlament gebeten hatte, jemanden vom SVP-Ticket zu wählen, schritt die Vereinigte Bundesversammlung zur ersten «Wahl eines neuen Mitglieds in den Bundesrat». Die Nachfolge von Ueli Maurer war sehr rasch geregelt: Bereits im ersten Wahlgang übersprang der Favorit Albert Rösti das absolute Mehr. Mit 131 von 243 gültigen Stimmen liess er Hans-Ueli Vogt, der 98 Stimmen erhielt, recht deutlich hinter sich. 14 Stimmen entfielen auf Verschiedene.
In seiner kurzen Rede, in welcher der neu gekürte Bundesrat «mit grosser Freude und grossem Tatendrang» die Wahl annahm, betonte Albert Rösti, dass er seine Lebenserfahrung einbringen und seine Überzeugungen im Bundestat vertreten werde; er wolle aktiv und konstruktiv an Lösungen arbeiten, die Bestehendes bewahren, aber wo nötig auch behutsam Anpassungen verlangen.

Die Ersatzwahl von Simonetta Sommaruga dauerte dann etwas länger. Auch hier gab der Nationalratspräsident die Empfehlungen der Fraktionen bekannt – ausser der GLP-Fraktion, die nur Eva Herzog (sp, BS) empfahl, schlugen alle anderen Fraktionen beide Kandidatinnen zur Wahl vor – und auch hier ergriff lediglich der Fraktionspräsident der SP das Wort. Roger Nordmann (sp, VD) dankte noch einmal den beiden scheidenden Bundesratsmitgliedern. Gemäss den seit einigen Jahren eingespielten Gepflogenheiten präsentiere auch die SP-Fraktion ein Zweierticket zur Auswahl, betonte er. Im ersten Wahlgang erhielten freilich nicht bloss die beiden offiziellen Kandidatinnen Stimmen: Elisabeth Baume-Schneider (sp, JU) kam auf 96 von 243 gültigen Stimmen, Eva Herzog auf 83 Stimmen, gefolgt von Daniel Jositsch (sp, ZH), dem 58 Mitglieder der Bundesversammlung ihre Stimme gaben. 6 Stimmen entfielen auf Diverse. Das absolute Mehr von 123 wurde damit von niemandem erreicht.
Im Vorfeld des zweiten Wahlgangs ergriff noch einmal der Fraktionspräsident der SP das Wort. Er bitte die Bundesversammlung, eine der beiden vorgeschlagenen Frauen zu wählen. Die Zusammensetzung des Bundesrats mit fünf Männern und zwei Frauen sei nicht nur unausgewogen, sondern würde auch völlig aus der Zeit fallen. Er erinnere daran, dass bis heute – inklusive Albert Rösti, dem er gratuliere – 111 Männer, aber lediglich neun Frauen in der Landesregierung gesessen seien. Es sei Zeit für die zehnte. Nicht ans Rednerpult schritt hingegen Daniel Jositsch, obwohl viele Beobachterinnen und Beobachter erwartet hätten, dass er eine Verzichtserklärung abgeben würde. In der Folge erhielt er auch im zweiten Wahlgang 28 Stimmen, weshalb erneut weder Elisabeth Baume-Schneider (112 Stimmen) noch Eva Herzog (105 Stimmen) das absolute Mehr überspringen konnten.
Es brauchte entsprechend einen dritten Wahlgang, bei dem sich aber zur grossen Überraschung der meisten Kommentatorinnen und Kommentatoren die Reihenfolge der Kandidatinnen nicht mehr veränderte: Mit 123 Stimmen – genau so viele waren für das absolute Mehr nötig – wurde Elisabeth Baume-Schneider zur neuen Bundesrätin gewählt. Eva Herzog hatte 116 Stimmen erhalten, erneut entfielen 6 Stimmen auf Daniel Jositsch.
Es sorgte für Heiterkeit, dass die neu gekürte Bundesrätin bereits am Rednerpult stand, bevor sie der Nationalratspräsident dorthin gebeten hatte. Auch Elisabeth Baume-Schneider nahm die Wahl an. Sie gratuliere – das sei ganz seltsam, das auszusprechen – ihrem zukünftigen Kollegen Albert Rösti. Sie wolle getreu dem Satz in der Bundesverfassung, dass sich die Stärke des Volkes am Wohl der Schwachen messe, ihre Werte in den Dienst der Gesellschaft stellen. Sie sei sicher charmant, wie dies viele Kolleginnen und Kollegen im Vorfeld der Wahlen in den Medien immer wieder betont hätten, sie sei aber auch ehrlich und sie könne sehr ernsthaft arbeiten, worauf sie sich freue. In der Folge legte Albert Rösti den Eid und Elisabeth Baume-Schneider das Gelübde ab, woraufhin sie mit stehenden Ovationen bedacht wurden. Vor dem Bundeshaus feierten rund 200 Jurassierinnen und Jurassier den Überraschungssieg «ihrer» ersten Bundesrätin.

Die Medien sprachen praktisch unisono von einer Überraschung. Während die Presse in der Romandie den Sieg ihrer neuen Bundesrätin feierte – Le Temps betitelte sie als «La reine Elisabeth» –, die Wahl als «Höhepunkt eines überzeugenden politischen Werdegangs» darstellte und ihre hervorragende Kampagne lobte, hoben die Deutschschweizer eher die im Vergleich zur «distanziert-kühlen» Eva Herzog sympathischere Art der Jurassierin hervor, um die Überraschung zu erklären. Die NZZ vermutete, dass die Jurassierin von vielen Parlamentsmitgliedern nicht nur als zugänglicher, sondern auch als beeinflussbarer bewertet worden sei. Es sei nicht das erste Mal, «dass in einer Bundesratswahl die Gmögigere gewählt» werde. Die NZZ vermutete gar, dass «der männliche Teil des Parlaments [...] in dubio lieber eine Tochter- oder Mutterfigur [wählt], hingegen vor starken und machtbewussten Frauen [zurückschreckt]». Diese Aussagen wurden in der Folge verschiedentlich als sexistisch kritisiert.
Zahlreiche weitere Gründe wurden für die überraschende Wahl von Baume-Schneider in den Medien bemüht. Mehrmals wurde etwa strategisches Verhalten vermutet: Innerhalb der SP hätten einige den «natürlichen Berset-Nachfolger» Pierre-Yves Maillard (sp, VD) verhindern wollen, mutmasste etwa die NZZ und auch Le Temps glaubte, dass sich das Parlament mit der Wahl Baume-Schneiders für künftige Bundesratswahlen mehr Optionen habe offenlassen wollen. Für den Blick war der «Jura-Coup» eine Folge freisinniger Strategie: So hätten etwa die Stimmen aus der Landwirtschaft und von vielen Romand.e.s nicht für eine Wahl gereicht, die nötigen Stimmen habe sie aus der FDP-Fraktion erhalten, die erkannt habe, dass sie der SP schade, wenn diese zwei Mitglieder aus der Westschweiz in der Landesregierung habe. Als weiteren Grund machten einige Medien auch den Umstand aus, dass Herzog einigen Bürgerlichen wohl «zu europafreundlich» gewesen sei.

Für mediale Diskussionen sorgten auch die Stimmen, die Daniel Jositsch erhalten hatte. In verschiedenen Interviews wurde zudem Unmut darüber geäussert, dass der Zürcher Ständerat keine Verzichtserklärung abgegeben hatte. Insbesondere in seiner eigenen Partei habe er damit viel Geschirr zerschlagen. Der Blick sprach im Hinblick auf künftige Bundesratswahlen gar von einem «Eigengoal»: Mit seinem Verhalten habe er sein Ziel, Bundesrat zu werden, wohl endgültig verbaut. Die Stimmen für Daniel Jositsch seien wohl vor allem aus der SVP gekommen, wurde vermutet. In der Tat gab Christian Imark (svp, SO) in der Solthurner Zeitung zu Protokoll, aus «Protest gegen das Theater im Vorfeld» zuerst Daniel Jositsch die Stimme gegeben zu haben.

Weniger Analyse wurde in den Medien für die Wahl von Albert Rösti angestrengt. «Viel Drama bei der SP – null Drama bei der SVP», brachte dies der Tages-Anzeiger auf den Punkt. Das Resultat sei vor allem auch die Folge davon, dass die Berner Sektion im Gegensatz zur Zürcher Sektion für eine Nachfolge bereit gewesen sei, urteilte Le Temps; Hans-Ueli Vogt sei zudem wohl auch sein Ruf zum Verhängnis geworden, zu wenig hart für den Job zu sein. Die grosse Frage sei nun, wie stark Albert Rösti, der laut NZZ «Konkordanz verkörpert», die Linie der SVP im Bundesrat vertreten werde.

Die Bundesratsersatzwahlen brachten also eine Premiere: Zum ersten Mal seit seinem Bestehen (1979) war der Kanton Jura in der Landesregierung vertreten. Die Wahl seiner Bundesrätin wurde im Kanton Jura denn auch ausgiebig gefeiert. Die Kantonsregierung schaltete ein Inserat, mit dem sie Elisabeth Baume-Schneider gratulierte. Keine Premiere stellte hingegen die Regierungsmehrheit der Sprachminderheiten dar. Bereits von 1917 bis 1920 hatten ein Tessiner (Giuseppe Motta), ein Genfer (Gustave Ador), ein Waadtländer (Camille Decoppet) und der erste Rätoromane (Felix-Louis Calonder) im Bundesrat gesessen. In den restlichen rund 170 Jahren war die Mehrheit in der Landesregierung freilich stets deutschsprachig gewesen. Die von der Bundesverfassung seit 1999 empfohlene adäquate Vertretung der Sprachregionen entspräche mathematisch 2.3 Sitzen für nicht-deutschsprachige Regierungsmitglieder.

Bundesratsersatzwahlen 2022 – Nachfolge von Ueli Maurer und Simonetta Sommaruga
Dossier: Bundesratswahlen seit 2008

Die Fraktionshearings

In der Woche vor den Ersatzwahlen hatten die zwei verbliebenen SP-Kandidatinnen – Eva Herzog (sp, BS) und Elisabeth Baume-Schneider (sp, JU) – und SVP-Kandidaten – Albert Rösti (svp, BE) und Hans-Ueli Vogt (svp, ZH) – den einzelnen Fraktionen Red und Antwort zu stehen. Vor diesen Fraktionshearings wurden die vier Kandidierenden allerdings von der rund 30-köpfigen, starken Bauernlobby im Parlament angehört, was einiges Medienecho auslöste. Man habe sofort Unterschiede hinsichtlich Herkunft von Stadt und Land gespürt, gab Pierre-André Page (svp, FR) im Anschluss an diese Sitzung 24Heures zu Protokoll. Für Albert Rösti und Elisabeth Baume-Schneider sei die Landwirtschaft nicht einfach bloss Politik, sondern man merke, dass sie aus eigener Erfahrung wüssten, wie die Realität als Landwirtin und Landwirt aussehe, liess sich auch Simone de Montmollin (fdp, GE) zitieren. Man gebe aber keine Wahlempfehlung ab, so der Präsident der Gruppe, Markus Ritter (mitte, SG). Der Blick verwies darauf, dass es bei der Erneuerungswahl zweimal um «Stadt gegen Land» gehe, sah allerdings wie die meisten anderen Deutschschweizer Medien diesbezüglich ein Unentschieden – weiterhin gehörte die Favoritenrolle Albert Rösti und Eva Herzog.

Die Aargauer Zeitung hingegen berichtete nach den ersten Fraktionsanhörungen der SP-Kandidatinnen von einer «rasanten Aufholjagd» der Jurassierin. Ebendiese Nähe zur Landwirtschaft – unterstrichen durch ein Foto, welches sie mit Schwarznasenschafen auf einer Wiese zeigte und das von allen Medien verbreitet wurde – sei nach der Anhörung der SP-Kandidatinnen auch in der SVP-Fraktion als «riesiger Vorteil» bezeichnet worden. Sie sei zwar inhaltlich nicht auf der Linie der Partei, verströme allerdings laut Aussagen verschiedener Fraktionsmitglieder «Wärme, Fröhlichkeit und Zugänglichkeit», vor allem auch, wenn sie Schweizerdeutsch spreche. Bei Eva Herzog sei «die Temperatur im Sitzungszimmer [...] deutlich [gesunken], als sie den Raum betrat», zitierte die Aargauer Zeitung ein weiteres SVP-Fraktionsmitglied. Anders interpretierte die NZZ das Hearing der SVP. Eva Herzog sei bei der SVP gut angekommen, weil sie besser vorbereitet gewesen sei als Elisabeth Baume-Schneider. SVP-Fraktionsmitglieder hätten betont, dass Eva Herzog «das Format für den Bundesrat» habe. Der Tages-Anzeiger schätzte die Stimmung in der SVP auf «zwei Drittel für Herzog, ein Drittel für Baume-Schneider». Die SVP-Fraktion gab in der Folge keine Empfehlung ab, erklärte aber, dass man sich an das SP-Ticket halten werde.
Auch die Fraktion der Grünen gab keine Wahlempfehlung ab, bezeichnete aber beide Kandidatinnen als «ausgezeichnet», so Fraktionschefin Aline Trede (gp, BE) in der Aargauer Zeitung. Da die Mauern der Fraktionszimmer Ohren hätten, wusste die Liberté, dass die Grünen in einer Probeabstimmung mit drei Viertel der Stimmen Elisabeth Baume-Schneider den Vorzug gegeben hätten.
Schon vor der Bekanntgabe der Kandidatur von Elisabeth Baume-Schneider hatte die FDP verlauten lassen, dass sie sich gegen eine Mehrheit von lateinischsprachigen Mitgliedern im Bundesrat stellen werde. Vor den Hearings wurde im Freisinn gar diskutiert, die Jurassierin nicht einzuladen und sich stattdessen mit Evi Allemann zu unterhalten. Diesen Plan liess man dann allerdings fallen. Zwar sprach die Fraktion nach dem Hearing ebenfalls keine Empfehlung aus, erinnerte aber in ihrer Stellungnahme an die Bedeutung der ausgewogenen sprachlichen und regionalen Vertretung im Bundesrat. Die dann doch eher zurückhaltende Position wurde in den Medien dadurch erklärt, dass die starke französischsprachige Minderheit innerhalb der FDP-Fraktion wohl Sympathien für Baume-Schneider gezeigt habe.
In der Mitte-Fraktion sei das Rennen offen, urteilte Le Temps, auch wenn einzelne Fraktionsmitglieder Eva Herzog im Vorteil sähen. Die Sprachenfrage sei für die Mitte eher unwichtig, wenn die Übervertretung der Personen aus der lateinischsprachigen Schweiz nicht zu lange andauere. Der entsprechende Artikel der Bundesverfassung sei keine mathematische Regel, sondern vor allem ein Minderheitenschutz, erinnerte Pirmin Bischof (mitte, SO).
Einzig die GLP-Fraktion sprach sich nach der Anhörung für Eva Herzog aus, weil man sie als fähiger erachte, die EU-Beziehungen zu normalisieren, wie Tiana Moser (glp, ZH) gegenüber Le Temps erklärte.

Die beiden SVP-Kandidaten wurden zuerst von der FDP- und der GLP-Fraktion angehört. Albert Rösti habe dabei wesentlich nervöser gewirkt als Hans-Ueli Vogt, wusste die Aargauer Zeitung zu berichten. Albert Rösti bleibe Kronfavorit, urteilte hingegen die NZZ, auch wenn beide Fraktionen sowohl den Berner als auch den Zürcher als wählbar erachteten und deshalb Stimmfreigabe beschlossen. Einzelne Fraktionsmitglieder befanden, dass Hans-Ueli Vogt einen fragileren Eindruck hinterlassen habe als Albert Rösti. Bei der GLP sei es vor allem darum gegangen, zu entscheiden, welchem der beiden Kandidaten eher zuzutrauen sei, zugunsten der Konkordanz von der Parteilinie abzuweichen.
Zu einem Novum kam es bei der Grünen Fraktion, die zum ersten Mal ein Hearing für die SVP-Kandidaten durchführte. Darauf hatte die Fraktion in den vergangenen Jahren jeweils verzichtet, weil sie mit einer eigenen Kampfkandidatur gegen die SVP angetreten war. Die GP-Fraktion empfehle keinen der beiden SVP-Kandidaten zur Wahl, weil beide ein Risiko für das Klima, die Biodiversität und die Menschenrechte darstellten, liess die grüne Fraktion nach den Anhörungen durch Fraktionsvizepräsidentin Lisa Mazzone (gp, GE) verlauten. Die Fraktionsmitglieder seien frei, bei der Wahl um die Nachfolge von Ueli Maurer keinen oder einen anderen Namen auf den Wahlzettel zu schreiben.
Davon sah die SP-Fraktion ab. Auch wenn die SVP-Kandidierenden weit von der Politik der SP entfernt seien, würden die Fraktionsmitglieder einem offiziellen Kandidierenden die Stimme geben – welchem sei ihnen freigestellt, wurde erklärt.
Auch für die Mitte-Fraktion waren beide SVP-Kandidierenden wählbar und auch sie gab entsprechend keine Wahlempfehlung ab.

Auch nach diesen Hearings blieben die Favoritenrollen in den Medien klar verteilt: Die meisten von den Medien präsentierten Expertinnen und Experten gingen von einer Wahl Albert Röstis und Eva Herzogs aus. Stellvertretend dafür wurde etwa in der Aargauer Zeitung am Tag vor den Wahlen das «Orakel» bzw. der Prognosemarkt «50 plus 1» zitiert, auf dem 149 Politikwissenschafterinnen und Politikwissenschafter mit jeweils 87 Prozent auf eine Wahl Röstis und Herzogs wetteten. Die Wahl von Rösti – aufgrund der Amtsdauer wurde die Nachfolge von Ueli Maurer (14 Jahre im Amt) vor jener von Simonetta Sommaruga (12 Jahre im Amt) durchgeführt – werde zudem Eva Herzog dienen, weil sie als einzige Vertreterin der urbanen Schweiz gelte, prognostizierte der Tages-Anzeiger in seiner Ausgabe am Tag der Wahl. Die NZZ sah allerdings nach den Hearings nur noch «leichte Vorteile» für Eva Herzog. Es gebe nichts mehr, dass «klar gegen Baume-Schneider» spreche, eine Überraschung sei deshalb nicht auszuschliessen. Für Schlagzeilen nach der ominösen «Nacht der langen Messer» sorgten Aussagen mehrerer Parlamentsmitglieder, dass Daniel Jositsch (sp, ZH) – obwohl nicht offizieller Kandidat – wohl einige Stimmen machen werde und – falls er gewählt würde – nicht auf die Wahl verzichten würde. Man werde staunen, wie viele Stimmen Jositsch machen werde, wurde etwa Nik Gugger (evp, ZH) in der Aargauer Zeitung zitiert.

Bundesratsersatzwahlen 2022 – Nachfolge von Ueli Maurer und Simonetta Sommaruga
Dossier: Bundesratswahlen seit 2008

Reaktion der anderen Parteien - Angriff der Grünen?

Nach den eidgenössischen Wahlen 2019 und ihrem damaligen Wahlerfolg hatten die Grünen mit einiger Vehemenz einen Anspruch auf einen Bundesratssitz angemeldet und anschliessend auch den Sitz von Ignazio Cassis angegriffen – allerdings ohne Erfolg. Mit dem Rücktritt von Ueli Maurer eröffnete sich der grünen Partei eine neuerliche Möglichkeit für einen Angriff. Allerdings schätzen die Medien die Chancen für eine Sitzeroberung als äusserst gering ein, weil kaum eine Partei Hand bieten werde, den unbestrittenen Anspruch der stärksten Partei auf zwei Sitze in Frage zu stellen. Die Frage war zudem, ob sich bei den Grünen überhaupt eine Kandidatin oder ein Kandidat finden würde, die oder der sich sozusagen «verheizen» lassen und mögliche Chancen für eine Bundesratswahl nach den eidgenössischen Wahlen 2023 zum Vornherein vergeben würde – der Blick sprach von einem «Opferlamm». Zwar wurden in den Medien einige Namen genannt, etwa Ständerat Mathias Zopfi (gp, GL), Nationalrätin Aline Trede (gp, BE) oder der Baselbieter Regierungsrat Issac Reber (BL, gp). Das Zögern der Grünen, die erst am 18. Oktober an einer Fraktionssitzung entscheiden wollten, ob sie überhaupt antreten wollen oder nicht, wurde von den Medien aber kritisiert. Auch bei den eidgenössischen Wahlen 2019 habe man zu lange gewartet; die Geschichte scheine sich deshalb zu wiederholen, argwöhnte die Aargauer Zeitung. Kurz vor der entsprechenden Fraktionssitzung präsentierte der Sonntagsblick eine Umfrage, die zeigte, dass sich total 32 Prozent der Befragten für eine Kandidatur der Grünen aussprachen. Dieser Anteil lag bei GP- und SP-Sympathisierenden bei knapp 70 Prozent, erreichte bei Anhängerinnen und Anhängern der bürgerlichen Parteien aber nicht einmal 20 Prozent.
An einer Medienkonferenz gaben die Grünen dann tags darauf bekannt, den SVP-Sitz nicht angreifen zu wollen. Man wolle gegen das «abgekartete Spiel» des «Machtkartells», das sich durch Untätigkeit in Klima-, Umwelt- und Europafragen auszeichne, nicht unnötig Zeit «vergeuden», so Aline Trede vor der Presse. Es sei erfolgversprechender, die Gesamterneuerungswahlen im Nachgang an die eidgenössischen Wahlen 2023 abzuwarten, weil momentan keine einzige Fraktion für Gespräche über einen grünen Bundesratssitz bereit sei. Die Partei werde gestärkt aus den Wahlen hervorgehen und ihren Anspruch auf eine Regierungsbeteiligung festigen. Die Medien zeigten Verständnis für den Verzicht. Sei ihr Konkordanz wichtig, dann dürfe die GP nicht die SVP angreifen, deren Anspruch auf zwei Sitze aufgrund von deren Grösse unbestritten sei, argumentierte die NZZ. Die Aargauer Zeitung erklärte den Verzicht auch damit, dass sich keine Kandidierenden finden liessen. Die Grünen brächen damit aber mit einer 35-jährigen Tradition: Die Partei habe bisher die Sitze der SVP stets angegriffen. Die Weltwoche vermutete, das unentschlossene Vorgehen zeige, dass es den Grünen auch früher nie wirklich ernst gewesen sei mit der Eroberung eines eigenen Bundesratssitzes. Die «Kamikaze-Aktion» hätte wohl viel Energie gekostet, aber letztlich nicht viel gebracht, schloss der Tages-Anzeiger. Wenn sie aber künftig wirklich Regierungsmacht wollten, dann dürften sie sich vor einem Angriff auf die SP-Sitze nicht mehr scheuen. Die NZZ schliesslich nannte die Grünen gar «naiv»: Wenn sie nicht «zu harmlos für den Bundesrat» bleiben wolle, müsse die Partei bei den Gesamterneuerungswahlen einen Sitz der SP angreifen.

Nach der Rücktrittsankündigung von Simonetta Sommaruga Ende Oktober wurde dieses von dem Medien angemahnte Szenario dann freilich plötzlich realistisch. Die Grünen reagierten diesmal wesentlich rascher und kündigten lediglich eine Stunde nach dem Rücktritt der Berner Magistratin an, den Sitz der SP ebenfalls nicht anzugreifen. Es brauche mehr Kraft für die Bekämpfung der Klimakrise im Bundesrat; auf Kosten der SP könne sich das entsprechende Gewicht aber sicherlich nicht verschieben, so die Begründung von Aline Trede in den Medien. Diese Argumentation weckte freilich Kritik bei der GLP und der FDP, die den Grünen vorwarfen, nicht zur Konkordanz zu stehen, sondern eine inhaltliche Koalition anzustreben. Mit drei Sitzen sei die Linke definitiv übervertreten. Auch die NZZ kritisierte, dass die Grünen «auf ihre historische Chance» verzichteten, da sie bei einem Angriff auf den SP-Sitz wohl durchaus Unterstützung von rechts erhalten hätten.

Bundesratsersatzwahlen 2022 – Nachfolge von Ueli Maurer und Simonetta Sommaruga
Dossier: Bundesratswahlen seit 2008

30. September 2022: Der Rücktritt von Ueli Maurer

Obwohl immer wieder über seinen Rücktritt spekuliert worden war, kam die Ankündigung von Ueli Maurer, nach 14 Jahren Regierungstätigkeit Ende 2022 sein Bundesratsmandat niederzulegen, einigermassen überraschend. Maurer selber hatte nach den letzten Spekulationen vor gut einem Jahr verlauten lassen, er werde mindestens bis Ende Legislatur (also bis Oktober 2023) in der Regierung bleiben und dann vielleicht gar nochmals vier Jahre anhängen. Am 30. September 2022 liess er dann aber an einer Pressekonferenz verlauten, er wolle wieder «der normale Ueli» sein und habe noch einige private Projekte in Planung. Mit 71 Jahren war Maurer der älteste amtierende Bundesrat seit Einführung der Zauberformel. Maurer war 2008 für Samuel Schmid in den Bundesrat gewählt worden und hatte damit die kurze Oppositionsphase der SVP beendet. Er hatte zuerst das Verteidigungsdepartement übernommen, bevor er 2015 ins Finanzdepartement gewechselt war. In den Medien wurde Maurer als «erfolgreichster Politiker der Schweiz» (St. Galler-Tagblatt) beschrieben, allerdings auch dafür kritisiert, dass er häufig mit den Grenzen der Kollegialität gespielt habe und aufgrund seines schlechten Französisch nur einen «reduzierten Kontakt mit der Romandie» gepflegt habe (Le Temps). Im Parlament habe er als Finanzminister grossen Respekt genossen, gaben mehrere Parlamentsmitglieder zu Protokoll. Gelobt wurden zudem seine umgängliche Art, seine Dossierkenntnis und sein Pragmatismus. Er sei sich treu, bodenständig und bescheiden geblieben, urteilte der Blick. Der «widerborstige Bauernsohn» habe sich «nicht vom System vereinnahmen lassen», fasste die Aargauer Zeitung zusammen. Der «erstaunlich wandlungsfähige» Maurer gehöre «zu den Politikern, die zu Anfang ihrer Karriere belächelt, später gefürchtet oder gehasst und am Schluss respektiert werden», befand die NZZ. Auch der «launische Umgang» mit den Medien war Gegenstand der medialen Würdigungen: Der Tages-Anzeiger bezeichnete den SVP-Magistraten als den letzten «Oppositions-Bundesrat» – «mäandriered zwischen den Rollen als Staatsmann und Oppositioneller» habe er es allerdings geschafft, die Konkordanz nach den unruhigen Jahren nach Christoph Blocher und Eveline Widmer-Schlumpf wieder zu stabilisieren. Die Weltwoche vermutete, dass «dem Berner Politikbetrieb» die Spontanität Maurers bald fehlen werde. Kritischer urteilte die WoZ: Maurer habe «wesentlich dazu beigetragen [...], rechtspopulistische Hetze zu normalisieren».

Bereits am Tag nach der Rücktrittsankündigung überboten sich die Medien mit Spekulationen über mögliche Nachfolgerinnen und Nachfolger von Ueli Maurer. Am häufigsten genannt wurden die Nationalrätinnen Esther Friedli (svp, SG) und Céline Amaudruz (svp, GE), die Zürcher Regierungsrätin Natalie Rickli (ZH, svp), die Nationalräte Albert Rösti (svp, BE), Gregor Rutz (svp, ZH) und Thomas Aeschi (svp, ZG), der frühere Parteipräsident und Nationalrat Toni Brunner (SG, svp) sowie der Aargauer Regierungrat Jean-Pierre Gallati (AG, svp). Albert Rösti galt in den meisten Medien als Kronfavorit. Seine einzige Schwäche sei, dass Christoph Blocher, der «noch immer ein entscheidendes Wort mitzureden» habe, wie der Blick wusste, gegen ihn ein Veto einlegen könnte. Dies gelte nicht für Esther Friedli, die als mögliche erste SVP-Bundesrätin gehandelt wurde. Dass neben Karin Keller-Sutter eine zweite St. Gallerin bereits in der Regierung sitze, sei kein Problem, urteilten vor allem die Ostschweizer Medien. Eine früher oft gehandelte Anwärterin auf einen Bundesratssitz, Magdalena Martullo-Blocher gab hingegen noch am Tag von Maurers Rücktritt bekannt, kein Interesse am Regierungsamt zu haben. Ebenfalls unverzüglich aus dem Rennen nahmen sich Roger Köppel (svp, ZH) und Franz Grüter (svp, LU). Auch Diana Gutjahr (svp, TG) erteilte entsprechenden medialen Anfragen eine Absage, da für sie «als junge Mutter [...] der richtige Zeitpunkt für eine Bundesratskandidatur nicht gegeben» sei, wie das St. Galler-Tagblatt bedauerte. Auch Toni Brunner schloss einen Rücktritt auf die nationale Bühne bald aus und nach einiger Bedenkzeit verzichtete auch seine Lebenspartnerin Esther Friedli. Sie wolle ihre regionale Verankerung für den Ständeratswahlkampf nutzen, der aufgrund des Rücktritts von Paul Rechsteiner (sp, SG) im kommenden Frühling 2023 anstand. Bundesrätin werden sei hingegen kein Lebensziel von ihr.

Nachdem sowohl Natalie Rickli als auch der ebenfalls angefragte Regierungsrat Ernst Stocker (ZH, svp) und auch Gregor Rutz bekannt gegeben hatten, nicht für die Nachfolge Maurers kandidieren zu wollen, schien sich abzuzeichnen, dass der Kanton Zürich in Kürze zum zweiten Mal in der Geschichte nicht im Bundesrat vertreten sein könnte. Nur während knapp sieben Jahren zwischen dem Rücktritt von Elisabeth Kopp (1989) und der Wahl von Moritz Leuenberger (1995) war der bevölkerungsreichste Kanton der Schweiz nicht in der eidgenössischen Regierung präsent gewesen und stellte folglich bisher mit 20 Magistratinnen und Magistraten die meisten Bundesratsmitglieder aller Kantone. Von einer «Blamage» für die kantonalzürcherische SVP, die es versäumt habe, rechtzeitig für mögliche Nachfolgerinnen und Nachfolger zu sorgen, sprach in der Folge der Tages-Anzeiger. Dass der Zürcher Flügel nicht vertreten sei, sei aber auch darauf zurückzuführen, dass die Kantonalpartei aufgrund der reihenweisen Absagen eine «Partei der Nein-Sager» sei, so der Blick weiter. Die «oppositionelle DNA der Zürcher SVP» entpuppe sich jetzt als Nachteil, analysierte die Aargauer Zeitung.

Im Gegensatz zum «Personalproblem» der Zürcher habe die Berner SVP einen Kandidaten zu viel, kommentierte der Tages-Anzeiger die Kandidatur von Werner Salzmann (svp, BE), der am 6. Oktober als erster offiziell ankündigte, Bundesrat werden zu wollen. Der Berner Ständerat betonte, er sei als Oberst der Schweizer Armee und Sicherheitspolitiker ein idealer Kandidat für das VBS. Salzmann stamme aus der Familie des BGB-Parteigründers Rudolf Minger, dem ersten Bundesrat der BGB (und späteren SVP) und habe entsprechend ein «Bundesrat-Gen», so der Tages-Anzeiger. Salzmann könne dem Favoriten Rösti zwar gefährlich werden, innerhalb der Berner SVP werde aber befürchtet, dass der Ständeratssitz verloren gehen könnte, wenn Salzmann in den Bundesrat gewählt würde, spekulierte der Tages-Anzeiger weiter. Wenige Tage später, am 10. Oktober 2023, gab auch Albert Rösti seine Kandidatur bekannt. Der Zweikampf zwischen den beiden Bernern bringe ein wenig Salz in den Wahlkampf, urteilte La Liberté. Allerdings vermuteten die Medien, dass der ehemalige Parteipräsident Rösti im Parlament mehr Rückhalt habe als Salzmann. Die BZ urteilte entsprechend, dass Röstis Kandidatur höchstens «wegen internen Widerstands» scheitern könnte. Die NZZ befand gar, dass die Kandidatur Röstis für Langeweile sorge, weil der «anstandslos anständige [...] Panorama-Politiker» kaum anecke – was eine wichtige Voraussetzung sei, um genügend Stimmen aus dem Parlament zu erhalten. Skeptischer zeigte sich die WoZ, die sich fragte, weshalb dem «Ölkönig», der «eine riesige Schadensbilanz» aufweise, so viele Sympathien zuflögen. Starke Kritik erwuchs Rösti auch in der Weltwoche, die befürchtete, dass Rösti seinen SVP-Kurs wohl aufgeben werde, wenn er im Bundesrat sitzen werde. Roger Köppel, Chefredaktor der Weltwoche, warnte vor einem «Kuckucksei» und einem «Trojanischen Pferd» für die SVP im Bundesrat. Rösti sei «der Prototyp eines Pöstchenjägers, ein Hansdampf an allen Kassen» und er sei mit seinem «Naturell des Jasagers» und als «Briefträger bezahlter Interessen» «der Falsche». Im Sonntagsblick wurde vermutet, dass «Atom-Rösti» auch deshalb im Parlament die grössten Chancen habe, weil er nicht die Kernthemen der SVP vertrete, sondern Energiepolitik betreibe. Würde er dem UVEK vorstehen, wäre dies «ein Coup», so der Sonntagsblick. Die zahlreichen Lobby-Mandate Röstis waren in der Folge ein ziemlich häufiges mediales Thema. Der Blick erinnerte schliesslich daran, dass die SVP mit den letzten Berner Vertretern in der Landesregierung nicht sehr glücklich gewesen sei. Sowohl Adolf Ogi, der innerparteilich als zu europafreundlich gegolten habe, als auch Samuel Schmid, der als «halber Bundesrat» bezeichnet worden war, hätten in der SVP selber nur wenig Rückhalt gehabt.

Am 15. Oktober gab der Zuger Finanzdirektor Heinz Tännler (ZG, svp), seit 2006 in der Zuger Kantonsregierung, bekannt, dass er die Innerschweiz und einen «boomenden Kanton» vertreten wolle. Als «zupackender Wirtschaftspolitiker» wolle er den beiden Berner Bewerbungen etwas entgegensetzen und der Partei eine Auswahl bieten. Es sei nicht gut, dass die Zentralschweiz seit dem Rücktritt von Kaspar Villiger im Jahr 2003 nicht mehr im Bundesrat vertreten sei. In zahlreichen Gesprächen sei er darauf aufmerksam gemacht worden, dass «diese Region wieder eine Stimme in der Landesregierung haben» müsse. Er wolle aber auch alle anderen finanzstarken Kantone vertreten, so Tännler in der Ankündigung seiner Kandidatur. In den Medien wurden Tännler trotz Exekutiverfahrung eher geringe Chancen eingeräumt, da er im Gegensatz zu Salzmann und Rösti nicht dem Bundesparlament angehöre, was häufig ein Nachteil sei. Zudem stehe er als Finanzdirektor des reichen Kantons Zug vor allem bei Linken in Verdacht, «Politik für die Reichen und Mächtigen zu machen», so die Bewertung der NZZ.

Am 18. Oktober meldete auch Michèle Blöchliger (svp, NW), seit 2018 Gesundheitsministerin des Kantons Nidwalden, ihre Ambitionen an. Sie sei überzeugt, dass sie «den nötigen Rucksack» mitbringe, den es für das Amt als Bundesrätin brauche: Sie sei sich gewohnt, das Kollegialitätsprinzip zu achten, habe politische Exekutiverfahrung und bringe mit einer englischsprachigen Mutter wichtige Sprachkompetenzen mit. Die SVP könne aufatmen, weil sie doch noch eine Frau gefunden habe, befand 24Heurers. Für die Nidwaldner Regierungsrätin und Rechtsanwältin «mit juristischem Gewissen», wie die Nidwaldner Zeitung wusste, spreche nicht nur ihr Geschlecht, sondern auch der Umstand, dass aus dem Innerschweizer Kanton noch nie jemand in der Landesregierung gesessen habe. Zudem sei sie parteiintern gut vernetzt und der Umstand, dass auch innerhalb der SVP viele eine Frau auf einem Zweierticket forderten, erhöhe ihre Chancen ebenfalls, waren sich viele Medien einig. Allerdings sei sie in Bundesbern etwa auch im Vergleich zu Tännler praktisch unbekannt und liefe Gefahr, sich «in einer undankbaren Rolle als Alibikandidatin» wiederzufinden, prognostizierte die NZZ. Für Schlagzeilen sorgte in der Folge die Aussage Blöchligers, dass Wikipedia nicht zutreffende Angaben über sie verbreite. Sie besitze – im Gegensatz zu den Informationen auf Wikipedia – die britische Staatsangehörigkeit seit dem Tod ihrer Mutter nicht mehr. Der Tages-Anzeiger, der diese Aussage überprüfte, fand allerdings heraus, dass Blöchliger nie formell auf den britischen Pass verzichtet habe. Die Zeitung machte daraus auch deshalb eine Geschichte, weil die SVP 2019 mit einem Vorstoss – erfolglos – das Verbot einer doppelten Staatsbürgerschaft von Bundesratsmitgliedern gefordert hatte. «Blöchligers Hin und Her um ihre zweite Nationalität» biete neuen «Zunder für diese Debatte», so der Tages-Anzeiger. Blöchliger selber gab bekannt, dass sie offiziell auf die britische Staatsangehörigkeit verzichten werde. Allerdings war die Geschichte für viele Medien ein gefundenes Fressen. Der Tages-Anzeiger urteilte, dass sich Blöchliger mit der versuchten Vertuschung ihrer doppelten Staatsbürgerschaft – «um der eigenen Partei zu gefallen» – wohl selbst aus dem Rennen genommen habe. Als «denkbar schlecht» bezeichnete die Weltwoche den Kampagnenstart Blöchligers.

Weitere Kandidatinnen und Kandidaten hatten entsprechend der Terminplanung der SVP bis zum 21. Oktober Zeit, ihr Interesse zu bekunden. Einen Tag vor Ablauf dieser Frist meldete sich die SVP Zürich mit einem eigentlichen Überraschungscoup doch noch zurück und präsentierte den 2021 aus dem Nationalrat zurückgetretenen Hans-Ueli Vogt (svp, ZH) als Kandidierenden. Er sei aus der Politik ausgestiegen, weil ihm die parlamentarische Arbeit nicht zugesagt habe, das Bundesratsamt reize ihn aber, erklärte Vogt. Er wolle «ein Opfer erbringen», zudem sei seine Kandidatur «weder eine Verlegenheitslösung noch eine Alibiübung», gab Vogt der NZZ zu Protokoll, eine urbane Vertretung in der Landesregierung sei zudem wichtig. «Professor Vogt» sei der «Wunschkandidat» der Zürcher Kantonalsektion, betonte Kantonalpräsident Domenik Ledergerber (ZH, svp), der den Kandidierenden als «gründlich, aber zielstrebig, urban und doch bodenständig» beschrieb. In den Medien wurde die Kandidatur begrüsst. Nun habe Zürich doch noch einen Kandidaten, freute sich etwa die NZZ. Vogt sei in Bern auch nach seinem Rücktritt 2021 noch genügend bekannt und werde nach wie vor als seriöser Sachpolitiker geschätzt; vor allem auf linker Seite könne er punkten, ergänzte die NZZ. Auch 24Heures urteilte, dass Vogt mit den Eigenschaften «Intello, urbain, gay» das Zeug habe, die Kampagne aufzumischen. Innerhalb der SVP sei Vogt allerdings ein «OVNI», ein unbekanntes Flugobjekt, urteilte La Liberté. Seine Chancen wurden auch vom Tages-Anzeiger vor allem im Vergleich mit dem «berechenbareren» Albert Rösti als geringer eingestuft. Vogt sei gleichzeitig «Verlegenheitslösung und Befreiungsschlag» für die Zürcher SVP, befand die Weltwoche.

Da bis zum Ende der Meldefrist alle weiteren Favoriten abgesagt hatten – darunter etwa auch Thomas Aeschi, der nach seinem Misserfolg 2015 auf eine zweite Bundesratskandidatur verzichten und sich auf seine Parlamentsarbeit konzentrierten wollte, oder der Aargauer Regierungsrat Jean-Pierre Gallati (AG, svp), der sich bis Meldeschluss bedeckt gehalten hatte – und sich keine neuen Personen mehr gemeldet hatten, standen mit Werner Salzmann, Albert Rösti, Heinz Tännler, Michèle Blöchliger und Hans-Ueli Vogt die fünf Kandidierenden für die Nachfolge von Ueli Maurer fest. Die Partei habe sich knapp gerettet, fasste die Aargauer Zeitung zusammen. Mit einer Frau und einem Kandidaten aus Zürich könne die SVP nun doch verschiedene Optionen bieten. Die Empfehlung der Kandidierenden durch die jeweiligen Kantonalsektionen war Formsache. Für Spannung sorgte einzig die Frage, ob die Kantonalberner Sektion eine Vorselektion treffen und lediglich einen der beiden Kandidierenden vorschlagen würde. Sie schob die Frage einer allfälligen Vorselektion allerdings an die nationale Findungskommission weiter und nominierte sowohl Albert Rösti als auch Werner Salzmann einstimmig. Besagte Findungskommission nahm sich dann bis Mitte November Zeit, die Kandidierenden auf Herz und Nieren zu prüfen, um der Fraktion einen Vorschlag zu unterbreiten.
Wie schon die Kantonalberner scheute sich dann allerdings auch die Findungskommission, eine Vorentscheidung zu treffen. Alle fünf Kandidierenden seien wählbar und in den Hauptthemen strikt auf der Parteilinie. Sie würden einen eindrücklichen Leistungsausweis und die nötige Führungserfahrung mitbringen. Die von alt-Nationalrat Caspar Baader (BL, svp) präsidierte Kommission empfehle der Fraktion zudem, ein Zweierticket zu bilden. Somit stand also die Fraktion in der Verantwortung, die Vorauswahl zu treffen. An der Favoritenrolle von Albert Rösti ändere dies nichts, waren sich die Medien einig. Spannend sei einzig, wer neben ihm aufs Ticket komme, so etwa die NZZ.
Am 18. November entschied sich dann die SVP-Fraktion für ein Zweierticket aus Albert Rösti und Hans-Ueli Vogt. Rösti sei in der ersten Runde mit 26 von 51 Stimmen zum einen Kandidaten auf dem Zweierticket bestimmt worden, wussten die Medien zu berichten. In dieser ersten Runde hätten Michèle Blöchliger vier und Heinz Tännler lediglich eine Stimme auf sich vereinen können. Vogt sei auf 13 und Salzmann auf 5 Stimmen gekommen. Dreimal sei es dann in der Folge zu einem 25:25 Unentschieden zwischen dem Berner und dem Zürcher Kandidaten gekommen, bevor wahrscheinlich eine sich bis dahin enthaltende Stimme in der fünften Runde den Ausschlag für Hans-Ueli Vogt gegeben habe. Das Ringen zeige, dass fraktionsintern befürchtet werde, dass Vogt im Parlament auf linker Seite Stimmen holen könnte und so zum «Rösti-Verhinderer» werde, analysierte die NZZ. Das Rennen zwischen Bern und Zürich sei nun neu lanciert, waren sich die meisten Medien einig.

Bundesratsersatzwahlen 2022 – Nachfolge von Ueli Maurer und Simonetta Sommaruga
Dossier: Bundesratswahlen seit 2008

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Zusammenfassung
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Bundesratsersatzwahlen 2022

Am 7. Dezember 2022 wählte das Parlament mit Albert Rösti und Elisabeth Baume-Schneider zwei neue Bundesratsmitglieder. Die Ersatzwahlen waren nötig geworden, weil Ueli Maurer und Simonetta Sommaruga im Herbst 2022 ihren Rücktritt auf Ende 2022 gegeben hatten. Zwischen dem 1. Oktober und den Tagen nach den Ersatzwahlen war das Thema Bundesratswahlen äusserst stark im medialen Fokus. Neben den bei Bundesratsersatzwahlen stets immer rascher drehenden Nachfolgekarussellen, den Wahlen und der Departementsverteilung interessierte sich die Presse auch für die Frage der repräsentativen Vertretung in der Landesregierung, hinsichtlich parteipolitischer und regionaler Vertretung sowie hinsichtlich des Frauenanteils.

Chronologie
Der Rücktritt von Ueli Maurer und die Kandidierenden der SVP
Der Rücktritt von Simonetta Sommaruga und die Kandidierenden der SP
Die Reaktionen der anderen Parteien
Die Woche vor der Ersatzwahl
Die Wahl von Albert Rösti und Elisabeth Baume-Schneider
Die Departementsverteilung
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Bundesratsersatzwahlen 2022 – Nachfolge von Ueli Maurer und Simonetta Sommaruga
Dossier: Bundesratswahlen seit 2008

En raison d'un été particulièrement sec, les feux d'artifices ont été interdits dans la plupart des cantons suisses lors de la fête nationale en 2022. En effet, le manque de précipitations et la sécheresse ont rendu l'utilisation d'engins pyrotechniques particulièrement dangereuse, et l'on voulait à tout prix éviter le déclenchement de feux de forêts, dévastateurs dans d'autres régions d'Europe. Pour les organisateurs et organisatrices des festivités du premier août, il a donc fallu faire preuve de créativité afin de satisfaire les fidèles de la fête nationale. Après deux années particulières en raison de la pandémie, peu de doutes subsistaient quant à leur capacité d'adaptation. Diverses communes ont eu droit à une mention dans la presse, à l'image de Daillens, dans le canton de Vaud. Ce village a renoncé à son feu d'artifice il y a deux ans et investit désormais le budget de CHF 10'000 francs qui lui était alloué dans un brunch offert aux habitantes et habitants. À Sierre, une fête foraine avec des manèges gratuits pour les enfants a remplacé le feu d'artifice. D'autres localités optent désormais pour des spectacles de drones. Cela a été le cas de Bienne, Crans-Montana ou encore Cudrefin. Des alternatives qui pourraient bien perdurer, car en raison du réchauffement climatique, l'utilisation des feux d'artifices deviendra de plus en plus dangereuse. En outre, une initiative «pour une limitation des feux d'artifices» est soutenue par la ligue suisse contre le bruit et par des organisations de défense de l'environnement. Cette initiative se trouve actuellement au stade de la récolte de signatures.
Comme d'habitude, les membres du Conseil fédéral se sont rendus aux quatre coins de la Suisse pour participer aux festivités. Leurs discours ont été teintés des problèmes auxquels font face la Suisse et l'Europe actuellement. Entre crise climatique, sanitaire, sécuritaire et énergétique, Guy Parmelin, à Oberwald (VS), a reconnu que l'année 2022 n'était malheureusement pas très enthousiasmante. À Lucerne, Alain Berset a souligné l'importance de maintenir la cohésion nationale et le vivre-ensemble, appelant à la diversité, non seulement linguistique et culturelle, mais également des perspectives, des idées et des opinions, afin «que nous puissions débattre de tout, puis boire une bonne bière ensemble après cela». Au somment du Moléson (FR), à Winterthour et à Fribourg, Karin Keller-Sutter, Viola Amherd et Simonetta Sommaruga ont également souhaité se montrer optimistes dans leurs discours. Quant à Ueli Maurer, lui se trouvait à Marbachegg (LU), où il a relevé que la Suisse doit son succès à la démocratie directe, au fédéralisme et à la neutralité armée. Le zurichois a amusé son auditoire en déclarant que «les citoyens et citoyennes suisses sont les chef.fe.s, et le conseiller fédéral n'est qu'un employé. Mais très bien payé, merci beaucoup!».
Enfin, le président de la Confédération Ignazio Cassis a effectué un périple ferroviaire à travers la Suisse. Parti le matin de Lugano, le tessinois s'est d'abord rendu à Knonau (ZH), région des guerres de Kappel et de la guerre du Sonderbund, puis à Granges, où furent tuées trois personnes lors de la grève générale de 1918. En choisissant ces lieux symboliques, Cassis avait pour but de rappeler que la paix et la stabilité ont un prix, selon la NZZ. Le président s'est montré convaincu que «le monde a actuellement besoin de plus de Swissness (suissitude)». Le terminus du train présidentiel était Lausanne, où Cassis a visité le nouveau pôle muséal Plateforme 10. Après s'être demandé «dans quel autre pays un président pourrait-il prendre un train de ligne et traverser trois régions linguistiques dans la même journée, en s’arrêtant pour partager un moment de fête avec la population», il en a profité pour rappeler les paroles de l'ancien conseiller fédéral vaudois Jean-Pascal Delamuraz, qui avait déclaré que «si les Suisses s'entendent bien, c'est qu'ils ne se comprennent pas». Ignazio Cassis a complété ces propos en rajoutant que «cela est un peu vrai, mais pas seulement. Les Suisses sont surtout fiers de leurs différences. Le secret de notre vivre ensemble est à chercher dans notre fierté commune d’être unique». Une manière là aussi de marquer d'une note positive une journée qui se veut festive, malgré les circonstances peu réjouissantes au niveau international. Les médias n'ont d'ailleurs pas manqué de le souligner, évoquant le «changement d'époque» que la Suisse, mais aussi le monde, traversent actuellement, dans les nombreux articles relatifs à la fête nationale qui ont comme d'habitude fleuri dans la presse.

Erster August

«Vielfalt» war eines der Mottos des Präsidialjahres von Ignazio Cassis und ebendieses Motto war auch leitend für den vom Bundespräsidenten organisierten Bundesrats-Ausflug 2022, der am 30. Juni ganz im Norden der Schweiz begann und am 1. Juli ganz im Süden endete. Einer Bootsfahrt am Rheinfall folgte eine Begegnung mit der Schaffhauser Bevölkerung und ein Mittagessen mit der Kantonsregierung. Normalerweise führt das «Bundesratsreisli» in den Heimatkanton des Bundespräsidenten oder der Bundespräsidentin. Da Schaffhausen allerdings bisher noch nie ein Bundesratsmitglied stellte, wollte Cassis dem Kanton die Referenz erweisen. Das Tessin war dann freilich die nächste Station des Ausflugs, die mit einem Extrazug erreicht wurde. Am Nachmittag des ersten Tages besuchten die Regierungsmitglieder nämlich das nationale Jugendsportzentrum in Tenero und nahmen dort an einem Bogenschiesswettkampf teil. Anschliessend ging die Reise noch weiter in den Süden: In Mendrisio besuchte der Bundesrat am zweiten Tag der Reise die Accademia di architettura, wo der Architekt Mario Botta ein Referat zur Geschichte der Akademie hielt. Auch in Mendrisio traf sich die Landesregierung mit der ansässigen Bevölkerung und dem kantonalen Regierungsrat. Mit einem Mittagessen im kleinen Kreis wurde der Ausflug beschlossen.
Für das Treffen mit der Bevölkerung in Schaffhausen hatte auch der Präsident der Corona-Massnahmen-skeptischen Organisation «Mass-Voll», Nicolas A. Rimoldi, seinen Besuch angemeldet. Tatsächlich kam Rimoldi mit Alain Berset und Ueli Maurer ins Gespräch, was von den Medien festgehalten wurde. Selbst dieses Treffen sei – abgesehen von ein paar Buh-Rufen – «massvoll verlaufen», berichtete der Blick. Solange so lockere Gespräche möglich seien, sei «unser Land noch in Ordnung», fand die Sonntagszeitung; sei die Schweiz tatsächlich eine Diktatur, wie Mass-Voll behaupte, dann sei sie «die angenehmste der Welt».

Bundesratsreise

Am 21. November 2020 machte die Weltwoche in einer «Online-Eilmeldung: Berset – Erpressung und Vertuschung» bekannt, dass versucht worden war, Bundesrat Alain Berset zu erpressen. Dies ging aus einem Strafbefehl der Bundesanwaltschaft hervor, die im Dezember 2019 vom Innenminister eine entsprechende Strafanzeige erhalten hatte. Laut den Medien, die den Fall anderntags bereitwillig aufnahmen, soll Alain Berset zu einer Zahlung von CHF 100'000 aufgefordert worden sein, ansonsten würden Fotos und persönliche Korrespondenz veröffentlicht. Die Tatverdächtige sei festgenommen, rechtskräftig verurteilt und zur Zahlung einer Busse von CHF 4'500 verpflichtet worden, wusste die Weltwoche weiter zu berichten. Peter Lauener, der Sprecher des Gesundheitsministers sowie der den Freiburger Bundesrat in dieser Sache vertretende Anwalt bezeichneten den Fall vor den Medien als erledigt. Die beschuldigte Person habe ihre «haltlosen und teilweise verleumderischen Behauptungen» widerrufen.

Die Medien liessen freilich nicht locker und versuchten in den Folgewochen, mehr Details zum Fall zu recherchieren. Dabei boten wohl vor allem die geschwärzten Stellen im Strafbefehl einen Anreiz. Für die Sonntagszeitung war klar, dass Berset mit der Erpresserin eine Affäre gehabt haben musste. Allerdings seien die Fotos und die Korrespondenz auf dem Computer und dem Handy der Frau von der Bundesanwaltschaft gelöscht worden – mit schriftlicher Zustimmung der Verurteilten. Auch die Beschreibungen des Inhalts der Bilder seien im Strafbefehl zensiert worden. «Das ist ein ungewöhnliches Vorgehen», urteilte die Sonntagszeitung.
In den Medien wurde virulent diskutiert, ob Alain Berset erpressbar sei und ob er von den Strafbeamten eine privilegierte Behandlung erfahren habe. Dies wurde von den Verantwortlichen verneint. Die Daten seien in den Verfahrensakten weiterhin vorhanden und es sei bei der Schwärzung der Stellen vor allem um den Persönlichkeitsschutz der involvierten Personen gegangen; laut der Bundesanwaltschaft sei die Anonymisierung in diesem Fall gar zwingend gewesen. Anderer Meinung war vor allem die Weltwoche. Die Bundesanwaltschaft sei rigoroser vorgegangen als normal und Medien und Öffentlichkeit seien bewusst ausgeschaltet worden. Die Weltwoche schrieb von «Ungleich-Justiz» und stellte gar die Vermutung auf, Berset habe die Frau durch Geldzahlungen zum Schweigen gebracht.
Der Tages-Anzeiger befand, Berset habe fahrlässig und zu spät gehandelt. Es seien rund drei Wochen seit dem ersten Versuch vergangen, bevor er Anzeige eingereicht habe und er habe zudem den Gesamtbundesrat nicht über den Fall informiert. Der Anwalt Bersets erklärte hingegen, dass nicht von Beginn weg klar gewesen sei, ob die Sache ernst sei oder nicht. Zudem habe Berset den damaligen Bundespräsidenten Ueli Maurer sowie die damalige Justizministerin Karin Keller-Sutter in Kenntnis gesetzt.
Die meisten Medien kommentierten den Fall zurückhaltender als die Weltwoche und der Tages-Anzeiger. Dass der Innenminister die Erpressung sofort angezeigt habe, zeige vielmehr, dass er eben nicht erpressbar sei. Sein Privatleben würde die Öffentlichkeit nur dann etwas angehen, wen er dadurch in seinen Amtsgeschäften behindert würde, was – insbesondere auch im Rahmen seiner sehr zeitraubenden Aufgaben während der Covid-19-Pandemie – augenscheinlich nicht der Fall gewesen sei, urteilten etwa die Aargauer Zeitung und die NZZ. Es handle sich hier um «Keine Geschichte», titelte der Sonntags-Blick und kritisierte den «Fertigmacher-Journalismus».

Die SVP versuchte, den Fall politisch auszuschlachten: Thomas Aeschi (svp, ZG) forderte etwa eine vertiefte Untersuchung durch die GPK. Anders tönte es aus den anderen Parteien, wo die Meinung vorherrschte, Alain Berset habe richtig gehandelt.

Ende November 2020 gab die Aufsichtsbehörde über die Bundesanwaltschaft (AB-BA) bekannt, dass sie sich das Vorgehen der Bundesanwaltschaft im Erpressungsfall Berset genauer anschauen wolle. Auch die Klärung der Frage, wie die Informationen aus der Bundesanwaltschaft überhaupt an die Weltwoche gelangt seien, werde untersucht, so die AB-BA. Alain Berset selber nahm dann am Rande einer Medienkonferenz Stellung. Es handle sich um eine abgeschlossene Privatangelegenheit, er sei nicht erpressbar und appelliere an die Wichtigkeit der Privatsphäre, die «selbstverständlich auch für Bundesräte» gelte. Ausser der Weltwoche, die den Fall bis Ende Jahr am Köcheln hielt, verschwand die Geschichte in der Folge aus dem medialen Fokus.

Dies änderte sich im September 2021. Erneut war es die Weltwoche, die aus ihr vorliegenden «geheimen Strafakten» ableitete, dass Berset «die Unwahrheit gesagt, Bundesbeamte missbraucht und Steuergeld verschleudert» habe. Er sei sehr wohl erpressbar gewesen, habe gegen die Frau, die er zu einer Abtreibung gezwungen habe, ein psychiatrisches Gutachten angestrengt, die Elitepolizei «Tigris» für die Verhaftung der Frau in deren Wohnung mobilisiert, sie letztlich zum Schweigen gebracht und während seiner ausserehelichen Affäre, die von Frühling 2012 bis Anfang 2013 gedauert habe, auch missbräuchlich die amtliche Limousine inklusive Chauffeur verwendet. Der Artikel war Beginn einer neuerlichen Artikelflut in der Presse. Die NZZ berichtete laut eigenen Aussagen darüber, «was nicht in der Weltwoche steht». Die Frau habe in der Tat abgetrieben, sei aber offenbar nicht von Berset schwanger gewesen. Beim Einsatz der Ermittler der Bundespolizei, die die Frau in zivil auf der Strasse angesprochen hätten, habe es sich um einen Standardeinsatz gehandelt und Berset habe die Anwaltskosten übernommen, die eigentlich die Frau hätte bezahlen müssen, weil sie die Sache auf sich habe beruhen lassen. Der Tages-Anzeiger wusste hierzu zu berichten, dass Lukas Bruhin, der ehemalige Generalsekretär des EDI, also des Departements von Berset, dafür mit der Frau Kontakt aufgenommen habe. Dies wiederum wurde von Alfred Heer (svp, ZH) zum Anlass genommen, erneut eine GPK-Untersuchung zu fordern, da es nicht angehe, den Staatsapparat mit der Lösung privater Probleme zu beauftragen. Der Blick gab hingegen bekannt, dass Lukas Bruhin lediglich die Bedrohungslage eruiert habe. Auch der Einsatz der Tigris-Einheit sei damit zu erklären, dass Berset Drohanrufe erhalten habe, deren Urheberin oder Urheber nicht klar gewesen seien – in diesem Fall sei ein solches Vorgehen angezeigt. Die Frage stelle sich aber, so der Blick, wer der Weltwoche die geheimen Unterlagen zugestellt habe.

In der Tat leitete die Bundesanwaltschaft in der Folge ein Verfahren und den Antrag auf einen Sonderermittler ein. Viel zu schreiben gab auch die Frage, ob es für ein Bundesratsmitglied opportun sei, die Staatslimousine für private Zwecke zu nutzen, falls Berset dies überhaupt getan haben sollte. Nachdem die Bundeskanzlei auf das Aide-mémoire verwies, das als eine Art Handlungsanleitung für Bundesratsmitglieder dient und die Nutzung der Bundesratsfahrzeuge auch für Privatzwecke explizit erlaubt, wurde dieses Thema freilich nicht weiter verfolgt. Neben der Frage, ob es sich hier um eine letztlich abgeschlossene Privatangelegenheit handle, oder ob sie als politisch zu taxieren sei, öffnete sich freilich auch ein intermedialer Streit: Die Weltwoche warf dem Ringier-Verlag, aber auch SRF vor, über die «Affäre Berset» zu wenig zu berichten und sie zu decken. Bei der NZZ am Sonntag sei ein vorbereiteter Bericht gar «unterdrückt» worden, wusste die Weltwoche zu berichten.

Mitte Oktober 2021 wurden die Resultate der Untersuchung der AB-BA vorgelegt: Die Strafbehörden hätten korrekt gehandelt und eine Privilegierung Alain Bersets habe nicht vorgelegen, so das Fazit des Berichts. In der Zwischenzeit waren die GPK beider Räte allerdings zum Schluss gekommen, dass eine Untersuchung des Falls nur schon deshalb angezeigt sei, um die von der Weltwoche vorgebrachte Kritik zu klären. Ziel der GPK-Untersuchung war herauszufinden, ob staatliche Mittel für die Lösung privater Probleme Bersets verwendet worden waren und ob der Einsatz der polizeilichen Sondereinheit Tigris verhältnismässig gewesen war. Zudem beschloss die AB-BA mit Christoph Rüedi einen Sonderstaatsanwalt mit der Untersuchung der Indiskretionen, also der Weitergabe von Dokumenten an die Weltwoche zu beauftragen.

In der Folge wurde es erneut ruhig um den Erpressungsfall. Im Mai 2022 stellte Sonderstaatsanwalt Rüedi das Verfahren ein, weil es keine Anhaltspunkte gebe dafür, dass Angestellte der Bundesanwaltschaft Dokumente an die Weltwoche weitergegeben hätten. Möglich sei, dass die Zeitung die Akten von der verurteilten Frau erhalten habe, was aber nicht strafbar sei. Nicht abschliessend abgeklärt werden konnte, ob die Akten von der Bundespolizei – der dritte Akteur, der Zugang zu den Akten hatte – weitergegeben worden waren.

Mitte Juni 2022 legten dann die GPK ihren Bericht zu den «Abklärungen zur versuchten Erpressung von Bundesrat Alain Berset» vor. Darin wurden sämtliche Vorwürfe entkräftet. Die Kommissionen hatten Einblick in die Strafakten, die auch der Weltwoche vorgelegen hatten und teilten die Einschätzung der Weltwoche laut Bericht nicht: Die Bundesanwaltschaft habe Berset keine Vorzugsbehandlung gewährt; der Einsatz der Bundespolizei sei nicht unverhältnismässig gewesen; die eingesetzte Arbeitszeit von Stabsmitarbeitenden zur Abwehr der Erpressungsdrohung sei angemessen gewesen; die private Nutzung der Bundesratslimousine sei legal gewesen; die Verdächtigung, Alain Berset habe Bundesmittel für private Zwecke eingesetzt, sei unbegründet.

Noch immer liessen die Medien freilich nicht locker. Für Stirnrunzeln sorgte insbesondere, dass der Mailverkehr zwischen dem ehemaligen Generalsekretär Lukas Bruhin und der Erpresserin gelöscht worden und der GPK deshalb nicht zur Einsicht vorgelegt worden war. Während die Weltwoche fand, Berset hätte damit das «Parlament hinters Licht geführt», sah der Tages-Anzeiger den Innenminister zwar «reingewaschen, aber nicht fein raus».

Erpressung von Bundesrat Alain Berset

Mitte Mai 2022 nahm die Schweizer Stimmbevölkerung in der Volksabstimmung zum Frontex-Referendum die Beteiligung der Schweiz am Ausbau der EU-Agentur an. Mit einem Ja-Anteil von 71.5 Prozent und Ja-Mehrheiten in allen 26 Kantonen fiel das Resultat – bei einer tiefen Stimmbeteiligung von knapp 40 Prozent – sehr deutlich aus. Das klare Ergebnis hatte sich – wenn auch nicht in dieser Deutlichkeit – schon im Vorfeld des Abstimmungssonntags abgezeichnet. Meinungsumfragen von Tamedia und der SRG ergaben Anfang Mai einen Zustimmungswert von 64 Prozent (Tamedia) beziehungsweise 69 Prozent (SRG) für die Frontex-Vorlage, die laut Umfrageinstituten thematisch wenig persönliche Betroffenheit bei den Stimmenden auslöste. Selbst unter Sympathisantinnen und Sympathisanten der SP fand sich – trotz der Nein-Parole der Partei – eine Mehrheit für Annahme der Vorlage und auch bei Personen, die mit den Grünen sympathisierten, wollte eine Mehrheit mit Ja abstimmen. Der Tages-Anzeiger kritisierte nach der Abstimmung die Parteileitungen der SP und der Grünen für ihre unklare Kommunikation. Denn eigentlich seien sie ja nicht gegen die Kooperation mit der EU an und für sich gewesen. Statt mit einer Nein-Parole zu versuchen, die parteiinternen Flügel zu befrieden, hätten sich die beiden Parteien für ein differenziertes Ja mit Kompensationsmassnahmen bei der Flüchtlingsaufnahme einsetzen sollen, so die Empfehlung der Zeitung.
Trotz der hohen Zustimmungsrate wurde das Resultat in den Medien vielfach mit einem kritischen Unterton versehen. So meinte Marie Juillard im Namen der siegreichen Operation Libero gegenüber Le Temps, dass es nach dem Ja nichts zu feiern gebe, denn schliesslich würden Menschen an den Schengengrenzen umkommen. Trotzdem zeigte man sich bei der Operation Libero mit dem Resultat zufrieden, welches die Unterstützung der Schweiz für die Kooperation mit Europa zeige. FDP-Präsident Thierry Burkart (fdp, AG) freute sich derweil über ein klares Ja zur Sicherheit der Schweiz in Zeiten des Ukraine-Kriegs. Ein Nein hätte der Europapolitik der Schweiz geschadet, resümierte Burkart. Sein Parteikollege Damien Cottier (fdp, NE) räumte hingegen ein, dass die Abwägung zwischen Sicherheit und Menschenrechten schwierig gewesen sei. Er drückte jedoch seine Hoffnung aus, dass die Schweiz ihre humanitären Werte den anderen europäischen Staaten vermitteln könne. François Pointet (glp, VD), Mitglied des Vorstands der Grünliberalen Schweiz, verstand das Abstimmungsresultat eher als Zeichen für den Bundesrat, die Blockade in den Beziehungen mit der EU aufzuheben und diese zu intensivieren. Ins gleiche Horn bliesen EU-Botschafter Petros Mavromichalis und der Europaabgeordnete Andreas Schwab, die das Ja als Vertrauensvotum für den Schengenraum und für den Mehrwert der Kooperation mit der EU auffassten. Für Bundesrat Maurer war indes klar, dass das Ja der Stimmbevölkerung ein Ja zur Sicherheit gewesen sei. Das Land werde Frontex stärker unterstützen und sich für die Grundrechte einsetzen, zitierte ihn La Liberté.
Die Gegnerinnen und Gegner der Vorlage, darunter die Schweizer Flüchtlingshilfe, die Grünen und die SP, forderten im Nachgang der Abstimmung, dass sich die Schweiz für mehr Transparenz und demokratische Kontrolle einsetzen müsse. Sibel Arslan (basta, BS) bemängelte, dass die Schweiz seit zehn Jahren im Frontex-Verwaltungsrat sitze, ohne sich für diese Anliegen einzusetzen. Ada Marra (sp, VD) kündigte an, dass auch die SP mehr Transparenz vom Bundesrat in Sachen Frontex verlangen werde. Die grüne Ständerätin Lisa Mazzone (gp, GE) störte sich gegenüber 24heures hingegen daran, dass der Bundesrat die Abstimmung auf die Schengen-Frage reduziert habe, obwohl die Gegnerschaft der Vorlage nie aus dem Schengen-Abkommen habe aussteigen wollen. Sie monierte, dass die Auswirkungen eines Neins von den Befürwortenden der Vorlage übertrieben dargestellt worden seien. Auch La Liberté kritisierte den Bundesrat für dessen Rolle im Abstimmungskampf: Medienanfragen seien oft negativ beantwortet worden und das Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit habe sogar einen bereits genehmigten Artikel von Le Temps zensieren lassen.
Amnesty International verlangte vom Bundesrat, sich gegenüber Frontex für die Sicherheit von Geflüchteten einzusetzen, illegale Abschiebungen zu verurteilen und Mechanismen einzuführen, um Frontex zur Rechenschaft ziehen zu können, berichtete Le Temps. Daniel Graf, der das Referendum durch seine Stiftung für direkte Demokratie unterstützt und bei der Unterschriftensammlung mit seinem Netzwerk «wecollect» mitgewirkt hatte, sprach gegenüber dem Blick trotz der Niederlage von einem Erfolg. Die Schweizerinnen und Schweizer hätten als einzige Bevölkerung Europas zum Ausbau der Frontex-Agentur Stellung nehmen können.


Abstimmung vom 15. Mai 2022

Beteiligung: 39.98%
Ja: 1'523'005 (71.5%), (Stände 23)
Nein: 607'673 (28.5%), (Stände 0)

Parolen:
- Ja: EVP, FDP, GLP, Lega, Mitte, SVP (1*), Economiesuisse, Konferenz der Kantonsregierungen, Schweizerischer Arbeitgeberverband, Schweizerischer Gewerbeverband, TravailSuisse, Operation Libero, Europäische Bewegung Schweiz, IG Agrarstandort Schweiz, Interpharma, Swissmem, Gastrosuisse, Schweizer Tourismus-Verband, Allianz Sicherheit Schweiz
- Nein: SP (4*), GPS, EDU (2*), GPS, PdA, SD, Schweizerischer Gewerkschaftsbund, VPOD, Migrant Solidarity Network, Gruppe für eine Schweiz ohne Armee, Flüchtlingsparlament Schweiz, Caritas, SolidaritéS, BastA!, Demokratische Juristinnen und Juristen der Schweiz, Klimastreik Schweiz, Piratenpartei Ensemble à Gauche
- Stimmfreigabe: Schweizerische Flüchtlingshilfe, verschiedene SP-Kantonalparteien (AI, AR, GL, JU, SZ)
* Anzahl abweichende Kantonalsektionen in Klammern

Übernahme und Umsetzung der Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Europäische Grenz- und Küstenwache (Frontex; BRG 20.064)
Dossier: Beteiligung der Schweiz am Ausbau von Frontex

Der Abstimmungskampf zum Referendum gegen den Ausbau des Schweizer Beitrags an die EU-Grenzschutzagentur Frontex wurde in der Westschweizer Öffentlichkeit schon im Januar 2022 lanciert, noch bevor das Referendum zustande gekommen war. In einem Meinungsbeitrag in Le Temps beschrieben Ständerätin Lisa Mazzone (gp, GE) und eine Flüchtlingshelferin die Zustände auf dem Mittelmeer und in Libyen und wiesen vor allem auf die Menschenrechtsverletzungen durch Frontex hin. Wenige Tage darauf meldete sich FDP-Ständerat Damian Müller (fdp, LU) im gleichen Medium zu Wort und kritisierte seine Ratskollegin dafür, in ihrem Beitrag keine Alternativen anzubieten und stattdessen Frontex kategorisch abzulehnen. Er argumentierte überdies, dass fehlende Mittel für Frontex dazu führen könnten, dass es in Europa und der Schweiz zu einer Explosion «irregulärer Überfahrten» von Wirtschaftsmigrantinnen und -migranten kommen würde. Der Frontex-Beitrag sei essentiell, um ein Mindestmass an Kontrolle der Migrationsströme sicherzustellen. Zudem brauche man darüber hinaus eine verstärkte Entwicklungshilfe in den Ursprungsländern der Flüchtenden in Kombination mit besseren Grenzkontrollen durch die Nachbarländer Libyens.

Die deutschsprachigen Medien griffen das Thema erst im Februar grossflächig auf, nachdem das Referendumskomitee am 20. Januar knapp 58'360 Unterschriften – davon 54'377 gültige – eingereicht hatte. Diskutiert wurde in den Medien insbesondere über mögliche interne Konflikte innerhalb der SP und der SVP. Bei der SP orteten die Medien einen Widerspruch zwischen der Ablehnung von Frontex und dem Wunsch nach Beibehaltung des Schengen-Abkommens, bei der SVP hingegen zwischen dem parteilichen Ziel einer restriktiven Migrationspolitik, und somit der Unterstützung von Frontex, bei gleichzeitiger Ablehnung aller Arten von EU-Verträgen. Der Blick sah die «Linke» gar in der «EU-Falle» sitzen, da die Schweiz bei einem Nein nicht nur aus dem Schengen-Dublin-System ausgeschlossen würde, sondern sich in diesem Fall auch die bilateralen Beziehungen mit der EU dramatisch verschlechtern würden. Dabei waren die Auswirkungen einer Ablehnung auf den Verbleib im Schengen-Raum jedoch umstritten. Gemäss EJPD-Vorsteherin Karin Keller-Sutter würde durch ein Nein zum Frontex-Ausbau ein Beendigungsverfahren für das Schengen-Abkommen ausgelöst, welches bei einer fehlenden Einigung nach sechs Monaten den Ausschluss der Schweiz aus Schengen/Dublin zur Folge hätte. Dieser Einschätzung widersprach jedoch der emeritierte Rechtsprofessor Rainer J. Schweizer in der NZZ. Demnach könne der Ausschluss der Schweiz aus Schengen/Dublin nicht gemäss der Guillotineklausel von 2004 vonstatten gehen, da die Schweiz seither rund 370 Rechtsakte der EU übernommen habe. Dies würde folglich einen umfassenden Austrittsvertrag nach dem Vorbild des Brexit-Vertrags vonnöten machen. Dieser Meinung schloss sich die SP (sowie auch die Grünen) an. Ergänzend präsentierte etwa SP-Ständerat Daniel Jositsch (sp, ZH) einen Plan B in Form einer parlamentarischen Initiative, falls die Schweizer Stimmbevölkerung den Frontex-Ausbau tatsächlich ablehnen sollte. Darin schlug er vor, das Schweizer Kontingent der von der UNO anerkannten Flüchtlinge innerhalb der 90 Tage bis zum Schengen-Ausschluss auf 4'000 zu erhöhen, sozusagen als humanitäre flankierende Massnahme zum Frontex-Ausbau. Da die SP die Unterstützung an den Frontex-Ausbau an diese Bedingung gekoppelt hatte, könnte die Schweiz nach der Aushandlung dieser Erhöhung den Frontex-Beitrag dann trotzdem freigeben.
Die Nein-Parole beschloss die SP an ihrem Parteitag mit grosser Mehrheit, wenngleich einzelne Parteiexponentinnen und -exponenten wie Nationalrat Eric Nussbaumer (sp, BL) sich nur halbherzig anschliessen mochten. In den Befragungen im Vorfeld der Abstimmung zeichnete sich jedoch eine SP-interne Spaltung ab: Die Sympathisierenden der SP wollten der Vorlage gemäss einer Ende April durchgeführten Tamedia-Vorumfrage entgegen dem Kurs des Parteipräsidiums und des Parteitags mit fast 53 Prozent zustimmen. Ähnliches spielte sich bei den Grünen ab, bei denen 48 Prozent der Sympathisierenden trotz Nein-Parole der Partei eine Ja-Stimme in Aussicht stellten, wogegen 44 Prozent der Parteileitung zu folgen gedachten. Auch bei den traditionell SP-nahen Organisationen zeigten sich die Auswirkungen dieses inhaltlichen Dilemmas, wie CH Media berichtete. Obwohl das Sekretariat des Gewerkschaftsbundes seinem Vorstand und den Mitgliedern in einem internen Papier Stimmfreigabe vorgeschlagen hatte, da «ein Interessenkonflikt zwischen einer menschenwürdigen europäischen Flüchtlingspolitik und der Personenfreizügigkeit im Rahmen von Schengen» vorliege, beschloss der SGB-Vorstand die Nein-Parole. Hingegen entschied sich der Gewerkschaftsbund gemäss Mediensprecher Gaillard jedoch dagegen, den Abstimmungskampf des Referendumskomitees mitzufinanzieren. Auch andere NGOs wie die SFH, die traditionell die Anliegen der SP unterstützten, taten sich mit der Parolenfassung schwer. SFH-Direktorin Miriam Behrens befürchtete, dass die Schweiz bei einem Nein nicht mehr an der Verbesserung der europäischen Migrationspolitik mitwirken könnte. Andererseits könnte der Ausbau der EU-Agentur die Kontrolle der Mitgliedstaaten erschweren, in deren Kompetenzbereich die meisten Verstösse fielen. Amnesty International verzichtete darauf, sich am Abstimmungskampf zu beteiligen, da die im Referendum betroffenen Bestimmungen nicht die konkreten Bedingungen von Schutzsuchenden oder die Verteidigung der Menschenrechte beträfen.

Am anderen Ende des politischen Spektrums hatte die SVP ebenfalls mit der Beschlussfassung zu kämpfen. Obwohl die Vorlage zum Ausbau des Schweizer Beitrags an Frontex aus dem Departement von SVP-Bundesrat Ueli Maurer stammte, lehnten sie mehrere einflussreiche SVP-Mitglieder von Anfang an ab, darunter Esther Friedli (svp, SG), Lukas Reimann (svp, SG), Marcel Dettling (svp, SZ)) und Marco Chiesa (svp, TI), oder wechselten nach der parlamentarischen Phase aus dem Ja- ins Nein-Lager (Céline Amaudruz (svp, GE) und Roger Köppel (svp, ZH)). Die Südostschweiz berichtete, dass sich die Parteibasis eine Nein-Parole wünsche, was eine unheilige Allianz mit der SP und den Grünen bedeuten würde. Die Vertreterinnen und Vertreter des Nein-Lagers innerhalb der SVP wollten die Gelder lieber an der eigenen Grenze investieren, als diese der Frontex, deren Nutzlosigkeit sich gezeigt habe, zur Verfügung zu stellen. Die Befürworterinnen und Befürworter setzten sich hingegen für mehr Grenzschutz an den EU-Aussengrenzen und weniger «illegale Migration» ein. Es lag daher an der neunköpfigen Parteileitung, eine Empfehlung auszuarbeiten, deren Mitglieder hatten in der Schlussabstimmung im Parlament aber unterschiedliche Positionen vertreten. Die Partei beschloss schliesslich Anfang April 2022 die Ja-Parole und folgte damit nicht zuletzt der Empfehlung ihres verantwortlichen Bundesrats Ueli Maurer.
Bei der Parolenfassung weniger schwer taten sich die Mitte und die FDP, deren Delegiertenversammlungen im Januar (Mitte) und Februar (FDP) klare Ja-Parolen ausgaben.

Mitte März trat erstmals das Referendumskomitee «No Frontex» an die Öffentlichkeit. Das Komitee lehnte nicht nur die Erhöhung des Beitrags, sondern die Grenzschutzagentur als Ganzes ab, weil diese «ohne jegliche demokratische Kontrolle der Mitgliedstaaten» agiere, berichtete die Tribune de Genève. Mitte April versuchten die Frontex-Gegnerinnen und -Gegner mit Demonstrationen und anderen öffentlichen Anlässen, die Stimmbevölkerung für die Thematik zu sensibilisieren.

In der Folge äusserten sich aber auch zahlreiche Befürworterinnen und Befürworter öffentlich zu Wort. Während sich die Frontex-Gegnerinnen und -Gegner auf humanitäre Argumente stützten, wandten sich Wirtschaftsorganisationen mit ökonomischen Bedenken an die Öffentlichkeit. So gründete der Tourismussektor im April ein Ja-Komitee, da dieser bei einer Ablehnung der Vorlage den Ausschluss aus dem Schengen-Visa-Raum befürchtete. Dadurch bräuchten Touristen aus Fernmärkten ein separates Visum für einen Aufenthalt in der Schweiz, was die Attraktivität einer Schweiz-Reise drastisch senken würde, begründete STV-Direktor Philipp Niederberger die Ängste der Branche. Hotelleriesuisse rechnete mit Einbussen von bis zu CHF 188 Mio. pro Jahr und der Bundesrat erwartete jährliche Ausfälle von jährlich maximal CHF 500 Mio. Franken für den Schweizer Tourismus. Doch nicht nur wirtschaftliche Bedenken wurden vorgebracht, KKJPD-Präsident Fredy Fässler (sp, SG) warnte davor, bei einem Nein zum Frontex-Beitrag vom Sicherheitssystem der EU abgehängt zu werden, was für die Polizeiarbeit hochproblematisch wäre.

Ebenfalls im April, also knapp einen Monat vor der Abstimmung, wurde bekannt, dass OLAF – die Antibetrugsbehörde der EU – in einem geheimen Bericht mehrfache Verfehlungen durch Frontex-Verwaltungsräte festgestellt hatte. Die Frontex-Spitze um Direktor Fabrice Leggeri sei demnach in Mobbing und illegale Pushbacks – also in illegale Ausweisungen oder Rückschiebungen von Migrantinnen und Migranten unmittelbar vor oder nach dem Grenzübertritt, ohne dass diese die Möglichkeit hatten, einen Asylantrag zu stellen – verwickelt gewesen. Nach Veröffentlichung dieser Vorwürfe verweigerte der Haushaltsausschuss des EU-Parlaments Frontex die Décharge. Auch der Vorsitzende des Frontex-Verwaltungsrats, Marko Gasperlin, gab in einem Blick-Interview zu Protokoll, dass in bestimmten Fällen «absolut falsch gehandelt» worden sei, auch wenn das Frontex-System im Grossen und Ganzen funktioniere. Zwei Wochen vor dem Abstimmungstermin bat der umstrittene Frontex-Chef Fabrice Leggeri seinen Rücktritt an, der vom Verwaltungsrat gleichentags akzeptiert wurde. Leggeri wurde nicht nur für die zahlreichen nachgewiesenen Pushbacks verantwortlich gemacht, er wurde auch des Missmanagements und des Mobbings bezichtigt. Unklar war, wie sich diese Nachricht auf die Volksabstimmung auswirken würde. Einerseits bestätige der Rücktritt die Kritik an der Grenzagentur, andererseits sei er Zeugnis einer gewissen Reformbereitschaft, argumentierte der Tages-Anzeiger. Letzterer Interpretation schloss sich das EFD an. Eine Sprecherin erklärte, dass Frontex nun das angeschlagene Vertrauen zurückgewinnen könne und dass sich gezeigt habe, dass die Aufsichtsmechanismen funktionierten.

Eine Tamedia-Meinungsumfrage vom 4. Mai machte jeglichen Anflug von Spannung hinsichtlich des Ausgangs der Abstimmung zunichte, denn eine grosse Mehrheit der Befragten (64%) wollte ein Ja an der Urne einlegen. Auf eine deutliche Annahme der Vorlage am 15. Mai deuteten nicht nur die Meinungsumfragen, sondern auch die Auswertung der Zeitungs- und Inserateanalyse von Année Politique Suisse hin. Während das Ja-Lager in den untersuchten Printmedien rund 120 Inserate publizieren liess, fand quasi keine Gegenkampagne statt (ein einzelnes Kontra-Inserat während der ganzen Untersuchungsperiode). Die Pro-Inserate warnten vor allem davor, dass ein Nein die Sicherheit der Schweiz, die Reisefreiheit und die Schweizer Wirtschaft bedrohen würde. Einen direkten Zusammenhang zum oftmals genannten Ausschluss der Schweiz aus Schengen/Dublin machten nur 35 Prozent der Inserate, also deutlich weniger als drei Jahre zuvor beim Referendum zur Umsetzung der EU-Waffenrichtlinie.

Übernahme und Umsetzung der Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Europäische Grenz- und Küstenwache (Frontex; BRG 20.064)
Dossier: Beteiligung der Schweiz am Ausbau von Frontex

Le conflit en Ukraine, et les sanctions occidentales envers la Russie, a mis sous le feu des projecteurs le rôle du gaz dans le mix énergétique helvétique. Dans un premier temps, certains acteurs, avec par exemple la ville de Zurich, ont annoncé vouloir boycotter le gaz russe, immédiatement et jusqu'à la fin du conflit. Néanmoins, plusieurs experts en énergie ont rapidement indiqué l'impossibilité pratique d'une telle mesure. En effet, la traçabilité sur le marché gazier n'est pas encore effective. Il est donc possible de connaître la quantité de gaz russe qui entre en Europe, mais pas celle qui est ensuite orientée vers la Suisse.
Ces discussions de boycott ont également mis en exergue la différence de dépendance envers le gaz russe entre la Suisse alémanique et la Suisse romande. Dans les faits, la Suisse alémanique s'approvisionne majoritairement auprès du fournisseur allemand Uniper qui est fortement dépendant du pipeline Nord Stream 1, qui est lui-même fortement alimenté par le gaz russe. A l'opposé, la Suisse romande s'approvisionne essentiellement chez le fournisseur français Engie qui possède un portefeuille de gaz plus diversifié. En Suisse romande, seulement 25 pour cent du gaz proviendrait de la Russie, alors que pour la Suisse allemande ce total dépasserait les 50 pour cent d'après des estimations.
Si le risque de pénurie de gaz à court-terme a été écarté par les experts en énergie ainsi que par le Conseil fédéral, le gouvernement a rapidement enclenché ses relais diplomatiques pour renforcer sa sécurité d'approvisionnement en gaz. D'un côté, le conseiller fédéral Ueli Maurer a profité de sa visite à Doha pour discuter de la livraison de gaz naturel liquéfié à la Suisse. La concrétisation de ces négociations sera menée par la société Gaznat. D'un autre côté, la conseillère fédérale Simonetta Sommaruga a saisi l'opportunité de son voyage diplomatique aux Pays-Bas pour renforcer la collaboration dans le domaine des énergies renouvelables. Ainsi, la Suisse a conclu avec six autres pays européens (Allemagne, Autriche, Belgique, Luxembourg et Pays-Bas) un accord sur l'approvisionnement en gaz pour l'hiver 2022/2023. La Suisse pourra bénéficier des installations de stockage en gaz de ces pays. Cette décision était cruciale pour la Suisse car le pays ne possède pas d'installations de stockage de grande ampleur pour le gaz. Finalement, le Conseil fédéral a levé les interdictions découlant du droit des cartels afin de permettre aux acteurs de la branche d'effectuer des achats groupés pour renforcer l'approvisionnement en gaz.

Guerre en Ukraine et approvisionnement en gaz
Dossier: Krieg in der Ukraine - Folgen für die Energiepolitik

In der Frühjahrssession 2022 gelangte das Abkommen mit der Europäischen Gemeinschaft über Zollerleichterungen und Zollsicherheit (ZESA) in den Ständerat, nachdem die WAK-SR im Vorfeld einstimmig dessen Annahme beantragt hatte. Bundesrat Maurer verwies auf den grossen administrativen Aufwand, den sich die Schweiz durch das Abkommen erspare. Mit dieser Anpassung werde das Abkommen zudem in den Ausbau des digitalen Transformationsprogramms DaziT integriert. Maurer freute sich offen darüber, dass die Lösungsfindung mit der EU sehr zügig vorangehen könne, wenn beide Seiten die gleichen Interessen verträten. Das Geschäft war unumstritten und wurde von der kleinen Kammer wie schon vom Nationalrat einstimmig angenommen.
Auch die Schlussabstimmungen einige Tage danach waren eine klare Angelegenheit. Beide Räte nahmen die Änderung des Abkommens einstimmig an.

Abkommen mit der Europäischen Gemeinschaft über Zollerleichterungen und Zollsicherheit

Auch 2021 wurden die traditionellen von-Wattenwyl-Gespräche von der Covid-19-Pandemie beeinträchtigt. Nicht nur, weil die Gesundheitskrise zentraler Gegenstand aller vier Veranstaltungen war, sondern auch, weil die Gespräche wie schon teilweise im Jahr zuvor allesamt nicht im namensgebenden Von-Wattenwyl-Haus, sondern im mehr Platz bietenden Bernerhof stattfanden.
Im Beisein von Bundespräsident Guy Parmelin, den Bundesräten Alain Berset und Ignazio Cassis sowie Bundeskanzler Walter Thurnherr diskutierten die Spitzen der Regierungsparteien im Februar die aktuelle Lage, die steigenden Fallzahlen und mögliche Massnahmen, darunter die anlaufende Impfkampagne. Ebenfalls besprochen wurden die Digitalisierung der Verwaltung, insbesondere im Gesundheitsbereich, aber auch die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie auf Arbeitsmarkt und Unternehmen. Die Regierung informierte zudem über den Stand der Europapolitik.
Auch im Mai trafen sich Bundespräsident, Gesundheitsminister, Aussenminister, Bundeskanzler und Parteipräsidien im Bernerhof, um erneut über die Gesundheits- und Wirtschaftslage sowie über das Europadossier zu diskutieren. Die Stabilisierung der Fallzahlen und die Fortschritte bei der Impfung der Bevölkerung – rund 10 Prozent hatten bereits eine Impfung erhalten – liessen die Diskussion erster Öffnungsschritte zu, welche auch dank der Einführung des Covid-Zertifikats möglich werden sollten. Gegenstand der Gespräche waren zudem die verschiedenen Massnahmen, die der Bund aufgrund der pandemiebedingten wirtschaftlichen Probleme ergriffen hatte. Bisher waren zur Bewältigung der Gesundheitskrise Ausgaben von rund CHF 40 Mrd. beschlossen worden. Der Aussenminister informierte über die «weiterhin substanziellen Differenzen» bei den Verhandlungen mit der EU im institutionellen Rahmenabkommen. Schliesslich wurde die China-Strategie diskutiert, die der Bundesrat im Frühjahr 2021 vorgelegt hatte.
Auch die traditionellerweise im Herbst in Form einer Klausur mit dem Gesamtbundesrat organisierten Von-Wattenwyl-Gespräche fanden im Bernerhof statt. Und wieder standen Covid-19 und Europa auf der Traktandenliste. Die gesundheitliche Lage hatte sich in der Zwischenzeit wieder verdüstert – auch weil die Impfquote nach wie vor tief war, worüber sich die Teilnehmenden der Gespräche austauschten. Im Europadossier plädierte der Bundesrat auf eine rasche Freigabe des Kohäsionsbeitrags. Weiteres zentrales Diskussionsthema war das Vorhaben der OECD, einen weltweiten Mindestsatz für Unternehmenssteuern in der Höhe von 15 Prozent einzuführen. Aufgrund der Ablehnung des CO2-Gesetzes im vergangenen Juni 2021 an der Urne, wollte der Bundesrat möglichst rasch eine Basis für eine neue Vorlage schaffen und informierte über erste entsprechende Gespräche mit Verbänden und Parteien.
Mitte November – auch die vierte Gesprächsrunde fand im Bernerhof statt – standen neben Gesundheits- und Europapolitik auch die «Corona-Schulden» auf dem Programm, weshalb neben Bundespräsident Guy Parmelin und Alain Berset auch Finanzminister Ueli Maurer und erneut Bundeskanzler Walter Thurnherr mit den Regierungsparteispitzen diskutierten. Angesichts des anbrechenden Winters, der nach wie vor zu tiefen Impfrate und einer neuen, ansteckenden Virusvariante wurde mit einem Anstieg der Fallzahlen gerechnet und entsprechende Massnahmen diskutiert. Finanzminister Ueli Maurer informierte über die Schulden in Höhe von CHF 25 Mrd., mit denen der Bundesrat bis Ende 2022 rechnete. Sparprogramme oder Steuererhöhungen könnten mit einer Anpassung des Finanzhaushaltsgesetzes vermieden werden, wie der Bundesrat bereits im Sommer vorgeschlagen hatte. Die angestrebte positivere Dynamik der Beziehungen zur EU war in den Gesprächen im November ebenso Gegenstand wie die Migrationssituation – in den ersten 10 Monaten waren rund ein Drittel mehr Asylgesuche gestellt worden als im Vorjahr – und eine mögliche Strommangellage, die mit einem «Konzept Spitzenlast-Gaskraftwerk» vermieden werden soll.

Von-Wattenwyl-Gespräche seit 2013

Der Bundesrat unterbreitete dem Parlament im August 2021 den Entwurf des Bundesbeschlusses zur Änderung des Abkommens mit der Europäischen Gemeinschaft über Zollerleichterungen und Zollsicherheit (ZESA). In seiner Botschaft erklärte der Bundesrat, dass gewisse Neuerungen der EU-Zollsicherheitsmassnahmen eine Aktualisierung des Abkommens mit der EU, das aus dem Jahr 2009 datiert, nötig machen würden. Im Rahmen des Zollsicherheitsraums mit der EU, zu dem die Schweiz gehört, wenden alle Parteien gleichwertige Zollsicherheitsvorschriften an und verzichten untereinander auf Zollsicherheitsmassnahmen. Gegenüber Drittstaaten würden jedoch im Import- und Exportverkehr Vorabanmeldungen von Sicherheitsdaten verlangt, die für die Erstellung von Risikoanalysen genutzt werden, führte die Botschaft aus. Da in der EU 2013 der neue Unionszollkodex in Kraft trat, müsse die Schweiz das ZESA anpassen, um die Gleichwertigkeit mit dem EU-Recht zu gewährleisten. Dadurch werde auch die Zollsicherheit im internationalen Warenverkehr erhöht, die Zoll-Kooperation mit der EU verbessert und die Digitalisierung der Zollprozesse fortgesetzt. Eine Übernahme sei auch notwendig, weil sonst eine Sicherheitslücke entstehen könne, auf die eine andere Vertragspartei mit Ausgleichsmassnahmen reagieren dürfte; beispielsweise könnte die EU die Schweiz wie einen Drittstaat behandeln und Vorabanmeldungen für den ganzen Schweizer Warenverkehr mit der EU voraussetzen. Konkret umfasste die Anpassung die Beteiligung der Schweiz am Import Control System 2 der EU, das in drei Etappen implementiert werden soll und den Zielen des Transformationsprogramms DaziT der EZV entspreche, teilte der Bundesrat mit. Da aufgrund einer Neuerung der EU im Bereich des Flugverkehrs bereits im März 2021 eine angepasste Rechtsgrundlage für das bilaterale Verhältnis habe vorliegen müssen, wende man den vorliegenden Beschluss des gemischten Ausschusses bereits seit dem 15. März 2021 vorläufig an. Der Bundesrat hatte auf eine Vernehmlassung der Änderung des ZESA verzichtet, weil die Position der interessierten Kreise bereits 2009 im Rahmen der Einführung des ZESA erfasst worden waren und es sich beim neuen Beschluss nur um eine Aktualisierung desselben handle.
Der Nationalrat nahm sich in der Wintersession 2021 des Beschlusses an, der von der APK-NR einstimmig zur Annahme empfohlen worden war. Kommissionssprecher Regazzi (mitte, TI) nannte drei Gründe für den einstimmigen Entscheid der Kommission: Erstens sei die Aktualisierung das Resultat einer einvernehmlichen Verhandlung des gemischten Wirtschaftsausschusses. Zweitens sende die Annahme dieser Änderung der EU ein wichtiges Zeichen, dass die Schweiz weiterhin «dabei» sei. Drittens bringe die Änderung der Schweiz Vorteile, was für die Kommission das wichtigste Argument gewesen sei. Bundesrat Maurer machte die grosse Kammer darauf aufmerksam, dass es sich eher um eine technische Formalität handle, die das Exportgeschäft für die Wirtschaft stark vereinfache – die ansonsten notwendigen Voranmeldungen seien logistisch gar nicht zu bewältigen. Der Nationalrat zeigte sich überzeugt und nahm den Bundesbeschluss einstimmig an.

Abkommen mit der Europäischen Gemeinschaft über Zollerleichterungen und Zollsicherheit

Wie jedes Jahr trat die Vereinigte Bundesversammlung auch 2021 Mitte Wintersession zusammen, um das neue Bundespräsidium zu wählen. Da jeweils im Turnus das Vizepräsidium zum Präsidium gemacht wird, interessiert weniger die Personalie als vielmehr das Wahlresultat. Die 156 Stimmen, die Ignazio Cassis als neuer Bundespräsident erhielt – von den 237 eingelangten Wahlzetteln blieben 36 leer, 4 waren ungültig und 41 enthielten andere Namen (14 für Karin Keller-Sutter, 11 für Alain Berset, 16 für Diverse) –, waren im langjährigen Vergleich unterdurchschnittlich (im Schnitt erhielten die Gewählten seit 2000 174 Stimmen).
Werden alle Resultate seit 2000 betrachtet, erhielt Micheline Calmy-Rey 2011 mit 106 Stimmen am wenigsten und Ueli Maurer 2018 mit 201 Stimmen am meisten Unterstützung. Cassis ist der fünfte Tessiner, der zum Bundespräsidenten gekürt wird (1991/1998: Flavio Cotti; 1971: Nello Celio; 1943/1948: Enrico Celio; 1915/1920/1927/1932/1937: Giuseppe Motta; zwar Bundesrat aus dem Tessin, aber nie Bundespräsident waren Stefano Franscini, Giovanni Battista Pioda und Giuseppe Lepori).
In seiner Rede, die er mit «Wir lassen uns nicht spalten» betitelte, versprach der frisch gekürte Bundespräsident, sich für Freiheit, Einheit und Zusammenhalt einzusetzen. Die Pandemie brauche Geduld, aber «der Kampf zwischen Menschen und Mikroben», der die Menschen «seit Anbeginn der Zeit» begleite, sei stets von den Menschen gewonnen worden. Dabei sei wichtig, sich darauf zu besinnen, was das Land eine, und nicht zuzulassen, dass die wachsende Ungeduld hinsichtlich Covid-Massnahmen zu mehr Polarisierung führe. Einen besonderen Dank richtete Cassis an seine Frau: «Grazie per la forza, grazie per la pazienza con cui mi accompagnate e sostenete in questa missione.» Der neue Bundespräsident dankte auch seinem scheidenden Vorgänger, Guy Parmelin, der in dieser unsicheren Zeit mit Ruhe und Bescheidenheit dem ganzen Land Gehör geschenkt habe. In den Medien erhielt Parmelin gute Noten für sein ausklingendes Präsidialjahr. Er sei zu Beginn unterschätzt worden, urteilte etwa der Blick, habe sich aber in «wundersamer Wandlung» zum «Staatsmann» entwickelt – so der Tages-Anzeiger. Er habe als Bundespräsident überzeugt, weil er unterschätzt worden sei, urteilte die NZZ.
Auch Cassis erhielt zu Beginn seines Amtsjahres keine medialen Vorschusslorbeeren. Das Präsidialjahr sei vielleicht die «letzte Chance», etwas gegen seine Unbeliebtheit zu machen und so seinen Bundesratssitz auch nach den eidgenössischen Wahlen 2023 verteidigen zu können, schrieb der Tages-Anzeiger. Auch 24heures urteilte, dass Cassis dieses Jahr nutzen müsse, um zu überzeugen. Wenn er es schaffe, an seiner Kommunikation zu arbeiten und aus der Reserve zu kommen, könne er sich vielleicht von seiner besseren Seite zeigen, prognostizierte Le Temps. Ob ihm dies allerdings gelinge, wenn die Bevölkerung aufgrund von Covid-19 immer mehr gespalten sei, sei fraglich. Das schlechte Resultat zeige zudem, dass er wohl vor allem in der Ratslinken wenig Rückhalt habe, was sein Amt nicht leichter mache, so die Westschweizer Zeitung. Dass «der Arzt [...] den Weinbauer» ablöse, könne für das Pandemiemanagement durchaus auch ein «Glücksfall» sein, hoffte die Aargauer Zeitung.
Zum Vizepräsidenten des Bundesrats wurde ebenfalls turnusgemäss Alain Berset gewählt. Auch er erhielt mit 158 Stimmen ein unterdurchschnittliches Resultat, erhielten doch die Vizepräsidien seit 2000 im Schnitt 163 Stimmen (mit 205 am meisten Stimmen hatte Didier Burkhalter für das Vizepräsidialjahr 2013 erhalten, mit 122 am wenigsten Ueli Maurer für das Jahr 2012). Bei seiner ersten Vizepräsidentschaftswahl im Dezember 2016 hatte der SP-Innenminister noch starke 187 Stimmen erhalten.

2022 – Ignazio Cassis
Dossier: Wahlen des Bundespräsidiums

Einen Tag nach dem Ständerat machte sich auch der Nationalrat an die Beratung des Voranschlags der Eidgenossenschaft 2022 mit integriertem Aufgaben- und Finanzplan 2023-2025. Sarah Wyss (sp, BS) und Daniel Brélaz (gp, VD) präsentierten dem Rat das Budget aus Sicht der Mehrheit der FK-NR: Der Bundesrat habe ordentliche Ausgaben in der Höhe von 77.7 Mrd. und ausserordentliche Ausgaben von CHF 3.0 Mrd. vorgesehen. Bei ordentlichen Einnahmen von CHF 77.1 Mrd. und ausserordentlichen Einnahmen von CHF 1.5 Mrd. bleibe damit aufgrund der Schuldenbremse ein struktureller Überschuss und somit ein Handlungsspielraum von CHF 44 Mio. Die Kommissionsmehrheit plane «kleinere Adjustierungen» mit Mehrausgaben von CHF 273 Mio. Bei 12 Mehrheitsanträgen zur Schaffung von Differenzen zum Ständerat lagen der grossen Kammer in der Folge auch etwa 40 Minderheitsanträge vor, grösstenteils von der SVP- oder der SP- und der Grünen-Fraktion. Differenzen zum Erstrat schuf der Nationalrat dabei jedoch nur wenige, zeigte sich dabei aber mehrheitlich grosszügiger als der Erstrat.

In der Eintretensdebatte hoben die Fraktionssprecherinnen und -sprecher erneut die spezielle Situation aufgrund der noch immer nicht ganz überstandenen Corona-Pandemie hervor, beurteilten diese aber sehr unterschiedlich. So sprach etwa Lars Guggisberg (svp, BE) von einer «düsteren» Situation aufgrund des grossen Anstiegs der Nettoschulden, während FDP-Sprecher Alex Farinelli (fdp, TI) zwar das Defizit beklagte, aber auch den langfristigen Nutzen der entsprechenden Ausgaben hervorhob. Optimistischer zeigten sich die übrigen Kommissionssprechenden. Michel Matter (glp, GE) schätzte etwa die Situation der Schweiz als «solide» ein, Alois Gmür (mitte, SZ) zeigte sich erfreut über die insgesamt gute Situation der Schweizer Wirtschaft, verwies jedoch auch auf die noch immer stark leidenden Branchen. Ursula Schneider Schüttel (sp, FR) und Felix Wettstein (gp, SO) strichen schliesslich die im Vergleich zum Ausland «gute Schuldensituation» (Schneider Schüttel) heraus. Finanzminister Maurer bat den Rat im Hinblick auf den härter werdenden «internationale[n] Konkurrenz- und Verdrängungskampf» um Zurückhaltung bei zusätzlichen Ausgaben.

Mit den mahnenden Worten des Finanzministers in den Ohren startete der Nationalrat in die Detailberatung von Block 1 zu Beziehungen zum Ausland und zur Migration. Hier schuf er zwei Differenzen zum Ständerat: So wollte die Kommissionsmehrheit den Kredit zuhanden des SECO für Darlehen und Beteiligungen an Entwicklungsländer gegenüber dem bundesrätlichen Vorschlag um CHF 10 Mio. erhöhen und damit die Reduktion gegenüber dem Vorjahr rückgängig machen. Der Bundesrat habe bei der Sifem, der Entwicklungsfinanzierungsgesellschaft des Bundes, bereits 2020 CHF 10 Mio. zusätzlich zur Milderung der Corona-Probleme eingeschossen – diese sollen nun kompensiert werden, erklärte Minderheitensprecher Egger (svp, SG), der den Kürzungsantrag vertrat, die Differenz zum Vorjahr. Da dieser Nachtragskredit damals aber vollständig kompensiert worden sei, erachtete die Kommissionsmehrheit diese Kürzung nicht als angebracht und setzte sich im Rat mit 107 zu 74 Stimmen (bei 4 Enthaltungen) durch. Ohne Minderheitsantrag erhöhte der Nationalrat zudem auf Antrag seiner Kommission den Sollwert für die Mindestanzahl Freihandelsabkommen für die Finanzplanjahre 2024 und 2025. Der Bundesrat hatte hier für die Finanzplanjahre jeweils 34 Freihandelsabkommen vorgesehen, die Kommission erhöhte diese Zahl auf 35 (2024) respektive 36 (2025).
Im Vorfeld der Budgetdebatte hatte der Vorschlag der APK-NR, dass die Schweiz eine dritte Kohäsionsmilliarde sprechen und sich damit quasi eine Beteiligung an verschiedenen Projekten, unter anderem an Horizon, erkaufen könne, für mediale Aufmerksamkeit gesorgt. Auf Antrag der APK-NR beantragte die Mehrheit der FK-NR nun dem Nationalrat, eine dritte Beteiligung der Schweiz an der Erweiterung der EU 2019-2024 in der Höhe von CHF 953.1 Mio. freizugeben, diese aber von einer bis Ende Juni 2022 unterzeichneten Assoziierungsvereinbarungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union zur Teilnahme an verschiedenen laufenden EU-Programmen abhängig zu machen. Eine Minderheit Guggisberg beantragte in Übereinstimmung mit dem Bundesrat die Streichung dieses zusätzlichen Kreditpostens. Finanzminister Maurer bat den Rat eindringlich darum, darauf zu verzichten, da man sich «mit einer solchen Aufstockung in Brüssel eher blamieren würde […]. Die Erwartungen in Brüssel sind völlig anderer Natur; sie bestehen nicht darin, dass wir hier einfach etwas bezahlen, und dann läuft alles.» Mit 93 zu 84 Stimmen (bei 6 Enthaltungen) folgte der Nationalrat der Minderheit. Die (fast) geschlossen stimmenden Fraktionen der SVP und der FDP.Liberalen sowie die Mehrheit der Mitte-Fraktion setzten sich in dieser Frage durch.
Ansonsten lagen in diesem Block verschiedene Minderheitenanträge von linker und rechter Ratsseite für Aufstockungen und Kürzungen vor, die jedoch allesamt erfolglos blieben, etwa eine Aufstockung des Budgets des EDA für humanitäre Aktionen zugunsten des Engagements in Afghanistan und den umliegenden Ländern (Minderheit Friedl: sp, SG), eine Erhöhung des Kredits für zivile Konfliktbearbeitung und Menschenrechte (Minderheit Badertscher: gp, BE) und einen erneuten Beitrag von CHF 300'000 an den Access to Tools Accelerator (Minderheit Friedl) sowie auf der anderen Seite eine Reduktion der Beiträge an multilaterale Organisationen, an die Entwicklungszusammenarbeit und an die Länder des Ostens (Minderheiten Grin: svp, VD).

Im zweiten Block zu den Themen «Kultur, Bildung, Forschung und Sport» schuf der Nationalrat keine Differenzen zum Erstrat. Er folgte dem Ständerat bei seiner Aufstockung des Kredits für Sportverbände und andere Organisationen um CHF 660'000, mit der – wie in den Planungsgrössen vermerkt wurde – eine unabhängige nationale Anlauf- und Meldestelle für Misshandlungen im Schweizer Sport geschaffen werden sollte. Eine Minderheit Sollberger (svp, BL) unterlag mit ihrem Antrag auf Streichung der Aufstockung mit 112 zu 69 Stimmen (bei 4 Enthaltungen). Auch die vom Ständerat vorgenommenen Aufstockungen beim Bundesamt für Meteorologie und Klimatologie hiess der Nationalrat entgegen zweier Minderheitsanträge Egger deutlich gut (129 zu 55 Stimmen bei 1 Enthaltung respektive 129 zu 56 Stimmen). Abgelehnt wurden in der Folge auch verschiedene Streichungsanträge Nicolet (svp, VD), Schilliger (fdp, LU) und Sollberger bei den Covid-19-Leistungsvereinbarungen zur Kultur, bei der Covid-19-Soforthilfe für Kulturschaffende und Kulturvereine im Laienbereich sowie bei den Covid-19-Finanzhilfen.

Verschiedene Differenzen zum Erstrat entstanden hingegen im dritten Block zur sozialen Wohlfahrt und Gesundheit. So erhöhte der Nationalrat auf Antrag der Kommissionsmehrheit die Gelder für die Familienorganisationen bei den Krediten des BSV, die Finanzhilfen unter anderem zur Elternbildung oder zur familienergänzenden Kinderbetreuung beinhalten, im Voranschlags- und den Finanzplanjahren um CHF 1 Mio. Der Bundesrat und eine Minderheit Guggisberg hatten die Ablehnung der Aufstockung beantragt, zumal für eine solche Unterstützung auch institutionelle Voraussetzungen geschaffen werden müssten. Auch den Kredit für den Kinderschutz und die Kinderrechte erhöhte die grosse Kammer um CHF 390'000, um damit die privatrechtliche Stiftung «Ombudsstelle Kinderrechte Schweiz» zu finanzieren, deren Schaffung eine angenommene Motion Noser (fdp, ZH; Mo. 19.3633) verlangt hatte. Der Bundesrat hatte sich gegen diese Aufstockung gestellt, zumal die rechtliche Grundlage für diesen Kredit noch nicht bestehe. «Wir können ja nicht Gelder einsetzen, wenn wir dafür keine legale Grundlage haben», betonte Finanzminister Maurer. Kommissionssprecher Brélaz argumentierte hingegen, man können nicht «tout contrôler pendant deux-trois ans», bevor man damit beginnt, die Gelder einzusetzen.
Abgelehnt wurden in diesem Block Anträge auf Kreditkürzungen bei der Gleichstellung von Frau und Mann, die eine Minderheit Sollberger beantragt hatte. Eine Plafonierung gegenüber dem Vorjahr hätte gemäss Sollberger «keinen Einfluss auf weniger oder mehr Gleichstellung». Ebenfalls erfolglos blieb ein Antrag Glarner (svp, AG) auf Streichung des Beitrags an ein spezifisches Projekt des Vereins Netzcourage sowie ein Minderheitsantrag Nicolet zur Änderung der Planungsgrössen zur Bundesfinanzierung der Covid-19-Tests: Diese sollte nur solange gewährt werden, wie die Covid-19-Zertifikatspflicht gilt. Auch ein Minderheitsantrag Schilliger, der die Leistungen des Erwerbsersatzes mit Verweis auf die vierte Revision des Covid-19-Gesetzes nur bis Ende Juni 2022 gewähren und die Covid-19-Situation anschliessend neu beurteilt wissen wollte, fand keine Mehrheit.

Auch im vierten Block zu Landwirtschaft, Tourismus und Steuern wich der Nationalrat in einem Punkt von den Entscheiden des Ständerates ab: Bei der Nachmeldung für ein Tourismus-Recovery-Programm von CHF 17 Mio. wollte die Kommission die Gelder zu je 50 Prozent für Marketingkampagnen von Schweiz Tourismus und für Entlastungszahlungen an touristische Partnerorganisationen verwenden. Der Bundesrat und der Ständerat hatten keine entsprechenden Einschränkungen vorgenommen, weshalb gemäss den beiden Kommissionssprechenden wie üblich zwei Drittel in die gesamtschweizerischen Marketingkampagnen fliessen würden. Jedoch sei eine Werbekampagne in Südafrika momentan – auch aus ökologischer Sicht – nicht «unbedingt gerade unser Hauptziel», betonte Kommissionssprecherin Wyss. Stillschweigend stimmte der Nationalrat diesem Antrag seiner Kommission zu.
Hingegen folgte der Nationalrat dem Ständerat in diesem Block bei der Erhöhung der Zulagen für die Milchwirtschaft und den Beihilfen für den Pflanzenbau. Eine Minderheit Munz (sp, SH) hatte beantragt, auf erstere Erhöhung zu verzichten und dem Bundesrat zu folgen. Der Bundesrat wolle die Verkehrsmilchzulage erhöhen, aber die Verkäsungszulage senken, da Letztere aufgrund von Fehlanreizen zu einer zu grossen Menge Käse von geringer Qualität führe. Die von der Kommission beantragte Erhöhung zugunsten der Verkäsungszulage würde folglich die bisherige Marktverzerrung noch zementieren. Finanzminister Maurer wies überdies darauf hin, dass man entsprechende Erhöhungen – falls nötig – lieber erst mit den Nachtragskrediten vorlegen würde, wenn man die dazugehörigen Zahlen kenne. Mit 105 zu 61 Stimmen (bei 20 Enthaltungen) sprach sich der Nationalrat jedoch für die Erhöhung aus. Die ablehnenden Stimmen stammten grösstenteils von der SP-, einer Mehrheit der GLP- und einer Minderheit der FDP.Liberalen-Fraktion, die Enthaltungen grösstenteils von der Grünen-Fraktion.
Auch in diesem Block blieben zwei Minderheitsanträge erfolglos: Eine Minderheit I Fischer (glp, LU) und eine Minderheit II Gysi (sp, SG) unterlagen mit Anträgen auf Erhöhungen bei der direkten Bundessteuer respektive bei der Mehrwertsteuer, beim Globalbudget der ESTV sowie in den Finanzplanjahren. Die zusätzlichen Mittel sollten zur Schaffung von je fünf zusätzlichen Steuerkontrollstellen und somit zur Erhöhung des Steuerertrags eingesetzt werden und sich so mittelfristig quasi selbst finanzieren.

Im fünften Block zu Verkehr, Umwelt, Energie und Raumplanung entschied sich der Nationalrat bezüglich zweier Punkte zum Bundesamt für Energie anders als der Ständerat. Letzterer hatte den Kredit für das Globalbudget des BFE sowie für das Programm EnergieSchweiz gegenüber dem bundesrätlichen Entwurf erhöht. Die Mehrheit der FK-NR beantragte nun bei beiden Kreditposten eine zusätzliche Erhöhung um CHF 2.9 respektive CHF 8.3 Mio., wobei die zusätzlichen Gelder beim Globalbudget zur Finanzierung des durch die Erhöhung beim Programm EnergieSchweiz begründeten Aufwands eingesetzt werden sollten. Damit wollte die Kommission gemäss ihrem Sprecher Brélaz in den wenigen Bereichen, in denen die Finanzierung entsprechender Projekte über das Bundesbudget läuft, nach der Ablehnung des CO2-Gesetzes erste Massnahmen zum Klimaschutz treffen. Eine Minderheit Egger sprach sich gegen die Erhöhung aus, zumal im Energiebereich zuerst die Problematik der Stromversorgungslücke gelöst werden müsse. Finanzminister Maurer wehrte sich vor allem dagegen, nach der Ablehnung des CO2-Gesetzes einzelne Punkte «quasi durch die Hintertüre einfach wieder aufs Tapet» zu bringen. Mit 115 zu 67 Stimmen (bei 4 Enthaltungen) hiess der Nationalrat die Erhöhung jedoch gut, abgelehnt wurde sie von einer Mehrheit der SVP-, der Hälfte der Mitte- und einer Minderheit der FDP.Liberalen-Fraktion.
Erhöht gegenüber dem bundesrätlichen Antrag wurde auch der Kredit für das Globalbudget des ARE. Hier hatte der Ständerat zuvor entschieden, CHF 100'000 mehr für das Projekt Swiss Triple Impact, ein Förderprogramm zur Erreichung von nachhaltigen Entwicklungszielen, einzusetzen, und der Nationalrat folgte ihm mit 115 zu 69 Stimmen (bei 1 Enthaltung). Der Finanzminister hatte die Erhöhung bei einem Sach- und Betriebsaufwand des ARE von CHF 9 Mio. als unnötig erachtet. Auch bei der Aufstockung der Einlage des BIF folgte der Nationalrat seinem Schwesterrat: Hier soll der Maximalbetrag und somit zusätzlich CHF 233 Mio. eingestellt werden, um sicherzustellen, dass auch zukünftig genügend Geld für den Bahnverkehr vorhanden ist, betonte Kommissionssprecherin Wyss. Dies erachteten der Bundesrat und eine Minderheit Schilliger als nicht notwendig, da der Fonds genügend stark geäufnet sei. Mit 125 zu 59 Stimmen (bei 2 Enthaltungen) folgte der Nationalrat jedoch der kleinen Kammer.
Abgelehnt wurden hingegen ein Kürzungsvorschlag einer Minderheit Egger bei den Umweltschutzmassnahmen des BAZL – Egger hatte argumentiert, die Erhöhung beruhe lediglich auf der Vermutung des BAZL, dass es zukünftig mehr Umweltschutzgesuche geben könne – sowie ein Einzelantrag Rüegger (svp, OW) zur Aufstockung des Kredits des BAFU um CHF 6 Mio., mit der nach der Ablehnung des revidierten Jagdgesetzes die durch Wölfe verursachten Schäden abgegolten und der zusätzliche Aufwand entschädigt werden sollten.

Im sechsten Block zum Themenbereichen Eigenaufwand und Schuldenbremse schlug eine Kommissionsmehrheit in Übereinstimmung mit dem Ständerat vor, verschiedene Kredite beim Bundesamt für Verkehr ausserordentlich zu verbuchen, um so die zuvor vorgenommene Erhöhung der BIF-Einlage finanzieren zu können. Anders als der Ständerat beabsichtigte die Mehrheit der FK-NR zudem, eine Nachmeldung des Bundesrates im Bereich Covid-19-Arzneimittel und -Impfleistungen in der Höhe von CHF 57 Mio. ausserordentlich zu verbuchen – da man noch zusätzliche Ausgaben beschlossen habe, könne nur so die Schuldenbremse eingehalten werden, begründete Kommissionssprecher Brélaz den Vorschlag. Eine Minderheit Schwander (svp, SZ) wehrte sich gegen diese Umbuchungen, da sie gegen die Schuldenbremse und das Finanzhaushaltsgesetz verstossen würden. Diese Meinung teilte auch der Finanzminister, ihm ging das Parlament «mit [seiner] Interpretation [des FHG] hier zu weit», auch wenn die Interpretation der Gesetze keine exakte Wissenschaft sei. Der Nationalrat stimmte den Umbuchungen jedoch mit 133 zu 50 Stimmen respektive 133 zu 49 Stimmen zu.
Eine weitere Differenz schuf der Nationalrat stillschweigend bezüglich der Planungsgrössen beim VBS: Dort soll eine neue Planungsgrösse dafür sorgen, dass die Bruttomietkosten ab 2025 um 2 Prozent gesenkt und damit gemäss Kommissionssprecherin Wyss CHF 400 Mio. jährlich «freigespielt» werden sollen.
Erfolglos blieben die Minderheitsanträge Sollberger und Strupler (svp, TG), welche die Kredite für das Bundespersonal gegenüber dem bundesrätlichen Vorschlag um CHF 1.8 Mio. (2022, Minderheit Sollberger) respektive um CHF 10.9 Mio. (2023), CHF 117 Mio. (2024) und CHF 265 Mio. (2025, alle Minderheit Strupler) reduzieren wollten. Damit hätte auf zusätzliche Stellen für die Strategie Social Media/Digitalisierung verzichtet (Sollberger) respektive «das ungebremste Personalwachstum beim Bund» gebremst werden (Strupler) sollen. Zuvor hatte bereits der Ständerat die Ausgaben im Voranschlags- und den Finanzplanjahren um CHF 21 Mio. reduziert. Mit 131 zu 52 Stimmen respektive 133 zu 50 Stimmen lehnte der Nationalrat die beiden Anträge ab, folgte damit dem Bundesrat und schuf eine weitere Differenz zum Erstrat. Erfolglos blieb auch ein Kürzungsantrag Egger beim Ressourcenpool des Generalsekretariats UVEK.

Mit der Bereinigung des Entwurfs, bei welcher der Nationalrat seiner Kommission in fast allen Punkten gefolgt war, hatte der Nationalrat den Ausgabenüberschuss von CHF 2.08 Mrd. (Bundesrat) respektive CHF 2.32 Mrd. (Ständerat) auf CHF 2.36 Mrd. erhöht – durch die Umbuchung einzelner zusätzlicher Ausgaben auf das Amortisationskonto (ausserordentliche Ausgaben Bundesrat: CHF 3.03 Mrd., Ständerat: CHF 3.25 Mrd., Nationalrat: CHF 3.30 Mrd.) konnte die Schuldenbremse jedoch eingehalten werden. Mit 130 zu 44 Stimmen (bei 7 Enthaltungen) nahm der Nationalrat den Voranschlag 2022 an. Die ablehnenden Stimmen stammten von Mitgliedern der SVP-Fraktion und von Stefania Prezioso (egsols, GE), die Enthaltungen ausschliesslich von Mitgliedern der SVP-Fraktion. Letztere sprachen sich teilweise auch gegen die übrigen Bundesbeschlüsse aus, dennoch nahm der Nationalrat den Bundesbeschluss Ib über die Planungsgrössen im Voranschlag für das Jahr 2022, den Bundesbeschluss III über die Entnahmen aus dem Bahninfrastrukturfonds für das Jahr 2022 und den Bundesbeschluss IV über die Entnahmen aus dem Nationalstrassen- und Agglomerationsverkehrsfonds für das Jahr 2022 jeweils deutlich an.

Voranschlag 2022 mit integriertem Aufgaben- und Finanzplan 2023-2025 (BRG 21.041)
Dossier: Bundeshaushalt 2022: Voranschlag und Staatsrechnung

Am 24. November 2021 genehmigte der Bundesrat das MoU mit der EU bezüglich des zweiten Schweizer Beitrags an ausgewählte EU-Mitgliedstaaten, nachdem beide Parlamentskammern den seit 2019 blockierten Beitrag Ende September 2021 freigegeben hatten. Schon Mitte November hatten Bundespräsident Cassis und EU-Kommissar Sefčovič bei ihrem Treffen die auf technischer Ebene erzielte Einigung begrüsst. Für den Bundesrat stelle die Freigabe ein «weiteres positives Signal» an die EU dar, wie er in seiner Medienmitteilung verlauten liess. Das Memorandum beinhalte die wichtigsten Eckwerte des zweiten Schweizer Beitrags wie dessen Höhe, die Aufteilung auf die Partnerländer, die thematischen Prioritäten und die Prinzipien für die Zusammenarbeit und die Umsetzung. Die Unterzeichnung erfolge aber erst, wenn die EU ihre internen Genehmigungsverfahren abgeschlossen habe. Dennoch beschloss der Bundesrat bereits, die Verhandlungen mit den Partnerländern aufzunehmen.
Tags zuvor hatte die APK-NR beschlossen, in der Wintersession 2021 im Rahmen der Debatte zum Voranschlag 2022 einen Antrag auf eine Erhöhung der Kohäsionsmilliarde um CHF 953 Mio. einzureichen, mit dem sie den Beitrag beinahe verdoppeln wollte. Diese Aufstockung sollte mit Konditionen verbunden sein, beispielsweise sollte die EU der Schweiz in mehreren Kooperationsabkommen wie Horizon, Digital Europe, ITER (Internationaler Thermonuklearer Experimental-Reaktor), Euratom und Erasmus+ entgegenkommen. Die NZZ schätzte die Chancen des Antrags als sehr gering ein. Schliesslich setze sich bei Differenzen zwischen den Räten bei Budgetprozessen automatisch die Version mit dem tieferen Betrag durch und bei den Aussenpolitikerinnen und Aussenpolitikern der kleinen Kammer käme die Idee eher schlecht an. Damian Müller (fdp, LU) – Präsident der APK-SR – warnte in der NZZ denn auch vor derartig unüberlegten «Ideen nach dem Prinzip Hoffnung, ohne Strategie und ohne Konzept». In der Budgetdebatte setzte sich die Kommissionsminderheit dann, zur Erleichterung von Finanzminister Maurer, mit 93 zu 84 Stimmen (bei 6 Enthaltungen) durch und versenkte die Idee einer Erhöhung.

Bundesrat genehmigt MoU mit der EU bezüglich des zweiten Schweizer Beitrags an ausgewählte EU-Mitgliedstaaten
Dossier: Schweizer Beitrag an die erweiterte EU

In der Herbstsession 2021 beschäftigte sich die grosse Kammer als Zweitrat mit der Weiterentwicklung von Frontex und der Revision des AIG. Seit 2016 wurde die Grenz- und Küstenwache der EU in personeller und technischer Hinsicht systematisch aufgerüstet, um die Herausforderungen im Grenz- und Rückkehrbereich besser bewältigen zu können. Da es sich dabei um eine Schengen-Weiterentwicklung handelt, muss sich auch die Schweiz daran beteiligen, wobei die Beitragszahlungen gemäss dem geltenden Kostenschlüssel von CHF 14 Mio. pro Jahr bis 2027 auf CHF 61 Mio. pro Jahr steigen werden und sich der personelle Aufwand von 24 auf maximal 39 Personen erhöht. Während die zur Diskussion stehende Änderung des Asylgesetzes in der Kommission und im Rat nicht wirklich umstritten war, entspann sich eine grössere Debatte um die Übernahme der Frontex-Verordnung.
Dabei lagen dem Nationalrat zahlreiche Minderheitsanträge aus dem links-grünen Lager vor. So bat Alois Gmür (mitte, SZ) den Nationalrat im Namen der Mehrheit der SiK-NR, einen Minderheitsantrag Seiler Graf (sp, ZH), der die Zahl der alle zwei Jahre aufgenommenen Resettlement-Flüchtlinge in Verbindung mit der Vorlage von 1'500-2'000 auf 4'000 erhöhen wollte, abzulehnen. Eine derartige Erhöhung müsse vorgängig mit den Kantonen abgestimmt werden, argumentierte Gmür. Die Kommissionsmehrheit wehrte sich gegen eine solche Verknüpfung von Sicherheits- und Asylpolitik. Auch einen zweiten Minderheitsantrag von Fabian Molina (sp, ZH) empfahl die Kommissionsmehrheit zur Ablehnung. Fabian Molina hatte vorgeschlagen, dem Strafgesetzbuch einen Artikel hinzuzufügen, durch den Personen mit Geld- oder Freiheitsstrafen sanktioniert würden, wenn sie Asylsuchende mit Gewalt oder Gewaltandrohung daran hinderten, in einem Schengen-Staat ein Asylgesuch zu stellen. Kommissionssprecher Cattaneo (fdp, TI) argumentierte, dass das Strafgesetz diesen Tatbestand bereits regle. Nationalrätin Marti (sp, BL) forderte in einem dritten Minderheitsantrag die Sistierung des Geschäfts, zumal das EU-Parlament Frontex zahlreiche Grundrechtsverletzungen und mangelnde Transparenz vorwerfe und man erst nach Umsetzung der notwendigen Anpassungen über einen finanziellen Beitrag entscheiden solle. Eine weitere Kommissionsminderheit Fivaz (gp, NE) ging noch weiter als Marti und reichte einen Antrag auf Nichteintreten auf den Bundesbeschluss zur Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstandes ein. Fivaz kritisierte, dass die EU mit der Ausweitung der Frontex-Mittel im Begriff sei, eine «regelrechte Armee» aufzubauen.
Nationalrätin Priska Seiler Graf äusserte sich im Namen der SP-Fraktion dezidiert zu dieser Vorlage und machte klar, dass die SP Vorlagen zum Ausbau der «Festung Europa» nicht mehr zustimmen werde, wenn keine humanitären Ausgleichsmassnahmen vorgesehen seien. Sie kündigte an, ihre Fraktion werde bei einer Ablehnung des Minderheitenantrags zur Aufstockung des Resettlement-Kontingents geschlossen gegen die Vorlage stimmen. Überraschend ambivalent zeigte sich die SVP-Fraktion, welche bis anhin sämtliche Schengen-Vorlagen konsequent abgelehnt hatte. Die Vorlage sei für seine Fraktion «nicht ganz einfach», gab Pirmin Schwander (svp, SZ) unumwunden zu. Einerseits gehe es um einen Volksentscheid von 2005, den es zu achten gelte, andererseits um die Neutralitätsfrage und die humanitäre Tradition der Schweiz. Man habe schon 2005 gewusst, dass mit Frontex und Schengen die eigenständige Asyl- und Ausländerpolitik der Schweiz verloren gingen. Er liess verlauten, dass man die Änderung des AIG ablehne, sich bei der Frontex-Vorlage aber nicht einig geworden sei.
Bundesrat Ueli Maurer entgegnete den Kritikern und Kritikerinnen der Vorlage, dass die EU mit der Einsetzung von 40 Grundrechtsbeobachterinnen und -beobachtern auf die mangelhafte Rechtssicherheit der Asylbewerbenden reagiert und damit die Anliegen der Ratslinken weitgehend erfüllt habe. Der Ausbau diene auch der Einhaltung der Grundrechte und der Transparenz und nur durch eine Teilnahme an Frontex könne die Schweiz zur Qualitätssicherung und -verbesserung beitragen, weshalb auch eine Sistierung nichts bringe. Den Minderheitsantrag Seiler Graf lehne der Bundesrat ab, da es beim vorliegenden Geschäft um Schengen und Sicherheit und nicht um Dublin und Asylpolitik gehe – man solle nicht verschiedene Vorlagen vermischen. Er argumentierte, eine Ablehnung des Minderheitsantrags sei damit auch kein Nein zur Asylpolitik, denn zum Resettlement gäbe es eine allgemeine Zustimmung.
Schliesslich lehnte der Nationalrat den Sistierungsantrag Marti mit 116 zu 64 Stimmen ab und beschloss mit 155 zu 35 Stimmen, auf das Geschäft einzutreten, womit auch Fabien Fivaz mit seinem Minderheitsantrag scheiterte. Die Anpassung des Asylgesetzes, mit der die Art und Weise der Kooperation mit Frontex in einer eigenen AIG-Bestimmung festgelegt werden soll, wurde mit 136 zu 56 Stimmen gegen den Widerstand der SVP angenommen. Bei der Abstimmung über den Minderheitsantrag Seiler Graf zur Erhöhung des Resettlement-Kontingents setzten sich die Fraktionen der SVP, FDP und Mitte mit 106 Nein-Stimmen gegenüber 86-Ja Stimmen durch. Auch der Minderheitsantrag Molina blieb chancenlos und wurde mit 124 zu 68 Stimmen versenkt. In der Gesamtabstimmung nahm der Nationalrat die Frontex-Vorlage mit 108 zu 75 Stimmen (bei 10 Enthaltungen) an. Die Gegenstimmen stammten hauptsächlich von der SP- und der Grünen-Fraktion, die Enthaltungen ausschliesslich von der SVP-Fraktion.
In der Schlussabstimmung nahm der Nationalrat die Änderung des Asylgesetzes mit 129 zu 55 Stimmen (bei 1 Enthaltung) und der Ständerat einstimmig an. Bei der Annahme der Frontex-Vorlage wurde es im Nationalrat mit 88 zu 80 Stimmen (bei 28 Enthaltungen) unerwartet knapp. Grund dafür waren die vielen Enthaltungen der SVP-Fraktion. Im Ständerat fiel das Resultat mit 30 Ja- zu 14 Nein-Stimmen deutlicher aus.

Übernahme und Umsetzung der Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Europäische Grenz- und Küstenwache (Frontex; BRG 20.064)
Dossier: Beteiligung der Schweiz am Ausbau von Frontex

Ein «Harakiri für die Presse» seien ihre «Fake News über den Rücktritt von Ueli Maurer» gewesen, urteilte die Weltwoche über eine recht eindrückliche Zeitungsente Ende Oktober 2021. Zwar gab es in den Medien spätestens seit dem siebzigsten Geburtstag Maurers Ende 2020 immer wieder Spekulationen über eine mögliche Demission des SVP-Finanzministers. Bereits Ende 2020 hatten von Maurer etwas überraschend vorgenommene Personalrochaden im Finanzdepartement (Sonntagsblick) oder Informationen von «bundesratsnahe[n] Quellen» (Blick) zu Spekulationen um einen Rücktritt geführt. Letztere Quellen hatten angegeben, Maurer trete zurück, sollte das Rahmenabkommen mit der EU durchkommen, um dann den Widerstand der SVP anzuführen (Weltwoche). Maurer selber schloss damals freilich in Interviews nicht aus, 2023 gar noch eine weitere Legislatur anzuhängen.
Ende Oktober 2021 brachte die Aargauer Zeitung in einem Online-Artikel erneut das Gerücht in Umlauf, Ueli Maurer werde tags darauf zurücktreten. Sie stützte sich dabei auf einen nicht genannten Nationalrat, der zu Protokoll gab, dass es «klare Anzeichen dafür [gebe], dass die Bundesratssitzung vom Freitagmorgen anders ablaufen werde als gewöhnlich». Weil Maurer am Vortag nicht am SVP-Fraktionsausflug teilgenommen habe, scheine eine Demission naheliegend, urteilte daraufhin der Blick. Am folgenden Tag übernahmen sämtliche Leitmedien – mit Ausnahme der NZZ – die Meldung und vermuteten, dass der Finanzchef gleichentags seinen Rücktritt wohl auf Ende 2021 ankündigen werde. Der Tages-Anzeiger und die Aargauer Zeitung präsentierten gar mögliche Nachfolgerinnen und Nachfolger Maurers und porträtierten Albert Rösti (svp, BE), Franz Grüter (svp, LU), Gregor Rutz (svp, ZH) oder Natalie Rickli (ZH, svp) als Favoritinnen und Favoriten. Auch bei der SP tuschle man über mögliche Rücktritte, ging die Aargauer Zeitung gar noch einen Schritt weiter. Le Temps vermutete, dass es Maurer müde sei, seine Kritik an den Corona-Massnahmen wegen des Kollegialprinzips zurückhalten zu müssen.
Allerdings blieb die von den zahlreich anwesenden Medienschaffenden erwartete Rücktrittsankündigung nach der Bundesratssitzung aus. Dies sei keine «Sternstunde des Journalismus» gewesen, bilanzierte der Sonntagsblick. Die Aargauer Zeitung sprach von Gerüchten, die sich «zerschlugen». Maurer habe zudem stets gesagt, nur auf das Ende einer Legislatur zurücktreten zu wollen. Auch die NZZ meldete sich zu Wort. In einem Interview in der NZZ am Sonntag erklärte Maurer, dass ein Rücktritt «kein Thema» sei. Ausgiebig sezierte die Neue Zürcher Zeitung die «Zeitungsente des Jahres», wie sie vom Nebelspalter betitelt wurde. Am Freitag nach dem ersten Gerücht seien in der Schweizerischen Mediendatenbank über drei Dutzend Beiträge zum Rücktritt registriert worden und die grüne Fraktion habe gar eigens eine Sondersitzung einberufen, um darauf «vorbereitet» zu sein, einen Bundesratssitz anzugreifen. Als Ursprung des Gerüchts machte die NZZ einen Journalisten des Tages-Anzeigers aus, der mehrere Nationalratsmitglieder über mögliche Nachfolger Maurers befragt habe, was diese wohl zur irrigen Meinung geführt habe, der Finanzminister trete zurück. Denkbar sei auch, dass die SVP das Gerücht gestreut habe, um die eigenen Kandidierenden zu testen, so die NZZ. Die Weltwoche vermutete hingegen, dass SP-Politikerinnen und -Politiker darin eine Chance gewittert hätten, mit dem Gerücht von der «Affäre Berset» abzulenken.

Rücktritt von Ueli Maurer?