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Die Ankündigung der ersten von insgesamt vier von-Wattenwyl-Gesprächen im Jahr 2022 im Februar 2022 glich derjenigen des Vorjahres. Nicht nur der Ort war aufgrund der Covid-19-Pandemie noch immer nicht das namengebende Von-Wattenwyl-Haus, sondern erneut der Bernerhof, sondern auch die hauptsächlichen Traktanden der Gespräche zwischen den Parteispitzen und einer Bundesratsdelegation – im Februar bestehend aus dem frisch gekürten Bundespräsidenten und Aussenminister Ignazio Cassis, Gesundheitsminister Alain Berset und Energieministerin Simonetta Sommaruga sowie dem Bundeskanzler Walter Thurnherr – waren gleich wie im Vorjahr. Diskutiert wurde nämlich über die sich langsam entspannende gesundheitspolitische Lage sowie das in seiner neuen Stossrichtung formulierte Ziel der Regierung, die bilateralen Beziehungen zur EU zu stabilisieren. Einen weiteren aussenpolitischen Diskussionspunkt stellte der geplante Sitz der Schweiz im UNO-Sicherheitsrat (2023–2024) dar. Simonetta Sommaruga informierte über die geplanten Vorhaben zur Senkung der Treibhausgasemissionen auf Netto-Null bis 2050 (Revision des CO2-Gesetzes und Schaffung des Bundesgesetzes über sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien).
Im Mai 2022 fanden die Gespräche nach über zwei Jahren wieder im Von-Wattenwyl-Haus statt. Und auch die Themen hatten sich innert Monaten aufgrund der aktuellen weltpolitischen Lage mit dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs stark verschoben. Bundespräsident Ignazio Cassis, Simonetta Sommaruga, Guy Parmelin sowie Walter Thurnherr diskutierten mit den Vertretungen der Bundesratsparteien über die aussenpolitischen, wirtschaftlichen und energiepolitischen Auswirkungen des Konflikts. Konkrete Diskussionsgegenstände waren die neutralitätspolitische Ausrichtung der Schweiz, die Konferenz zum Wiederaufbau der Ukraine in Lugano, der weltweite Teuerungsdruck und die Energieversorgungssicherheit – neben dem bereits im Februar diskutierten Stromversorgungsgesetz, dessen Umsetzung beschleunigt werden sollte, informierte die Energieministerin dabei über die geplanten Massnahmen zur Gasversorgungssicherheit.
Wie vor der Covid-19-Pandemie üblich traf sich die Landesregierung für die Von-Wattenwyl-Gespräche im Herbst in corpore und in Klausur mit den Parteispitzen. Neben dem Krieg und seinen Auswirkungen standen die Versorgungssicherheit, die Finanzplanung, wirtschaftspolitische Folgen der Inflation, die gesundheitspolitische Lage sowie einmal mehr die Europapolitik auf der Traktandenliste. In der bundesrätlichen Bilanz zu sechs Monaten Krieg nahm Justizministerin Karin Keller-Sutter Stellung zu den Migrationsbewegungen und dem Schutzstatus S, der rund 62'000 Personen gewährt worden sei; Verteidigungsministerin Viola Amherd betonte ihrerseits den Wandel der «europäischen Sicherheitsarchitektur» und die Bedeutung multilateraler Organisationen auch für die Schweiz; Aussenminister Ignazio Cassis berichtete über die Lugano-Konferenz. Die energetische Versorgungssicherheit wurde von Energieministerin Simonetta Sommaruga erörtert. Massnahmen seien etwa eine Wasserkraftreserve, Einrichtung von Reservekraftwerken und Plänen zur Bewältigung einer möglichen Gasmangellage; die Stromversorgung sei momentan aber sichergestellt. Wirtschaftsminister Guy Parmelin erklärte die steigenden Energiepreise zur Hauptursache für die ansteigende Inflation, die zwar mit 3.4 Prozent unter dem europäischen Mittel liege, aber auch in der Schweiz auf die Kaufkraft drücke. Über die schwierige Lage der Bundesfinanzen, denen ab 2024 strukturelle Defizite in Milliardenhöhe drohten, berichtete Finanzminister Ueli Maurer. Auch in der sich momentan beruhigenden Situation in der Covid-19-Pandemie gehe es weiterhin darum, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern, gab Gesundheitsminister Alain Berset zu bedenken. Schliesslich informierte Aussenminister Ignazio Cassis auch über die Sondierungsgespräche mit der EU: Es bestünden weiterhin erhebliche Differenzen.
Die vierte Gesprächsrunde der Von-Wattenwyl-Gespräche fand am 11. November statt. Die Bundesratsparteispitzen liessen sich dabei über die Reise von Bundespräsident Ignazio Cassis in die Ukraine und die Weiterführung des Schutzstatus S informieren. Erneut wurde auch über die Massnahmen zur Verhinderung einer Strommangellage diskutiert, darunter etwa das Reservekraftwerk in Birr oder der Rettungsschirm für systemkritische Stromunternehmungen, aber auch über den Verzicht, Unternehmen oder Private aufgrund der hohen Energiepreise oder der Inflation zu unterstützen. Auch die laufenden Sondierungsgespräche mit der EU, die «besorgniserregende Haushaltsentwicklung» und die nach wie vor angespannte gesundheitspolitische Lage waren wie schon im Herbst Gegenstand der Diskussionen.

Von-Wattenwyl-Gespräche seit 2013

Jahresrückblick 2022: Aussenpolitik

Nach der Corona-Pandemie und dem institutionellen Rahmenabkommen 2020 und 2021 wurde das Jahr 2022 nun von einem gänzlich neuen Thema dominiert: Der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine löste in der Schweiz nicht nur Diskussionen zum Sanktionswesen aus, sondern auch eine Grundsatzdebatte zur Schweizer Neutralitätspolitik. Die APS-Zeitungsanalyse für das Jahr 2022 zeigt – im Vergleich zu den Vorjahren – das Aufkommen komplett neuer Themenschwerpunkte wie «Neutralität» und «Sanktionen» in der Medienberichterstattung (vgl. Abbildung 2 der Analyse im Anhang). Wenig überraschend zeigen sich Ausschläge in der Artikelzahl zum Thema Aussenpolitik im Februar und März rund um den Kriegsausbruch in der Ukraine. Zwar nahm der prozentuale Anteil der Berichte dazu in den folgenden Monaten ab, hielt sich aber bis in den Herbst hinein auf einem hohen Niveau.

Das Jahr 2022 begann aussenpolitisch mit einem grossen Paukenschlag, dem Kriegsausbruch in der Ukraine Ende Februar, der den Bundesrat gemäss Medien völlig auf dem falschen Fuss erwischte. Noch im Januar hatten sich die Aussenminister Russlands und der USA in Genf getroffen, um die angespannte Lage an der russisch-ukrainischen Grenze zu deeskalieren. Aussenminister Cassis hatte damals von einer «freundschaftlichen, aber konzentrierten Stimmung» gesprochen. Der Angriff Russlands auf die Ukraine im Donbass löste im Parlament, wie auch in der Bevölkerung heftige Reaktionen aus. Stände- und Nationalrat verabschiedeten wenige Tage nach Kriegsausbruch eine Erklärung, mit der sie einen sofortigen Waffenstillstand verlangten, und übten in der Folge Druck auf den Bundesrat aus, wirtschaftliche Sanktionen der EU zu übernehmen. Nach mehreren verbalen Verurteilungen des Vorgehen Russlands als völkerrechtswidrig und aufgrund des massiven Drucks aus dem In- und Ausland beschloss der Bundesrat am 27. Februar die Übernahme der Sanktionspakete der EU gegen Russland. Bundespräsident Cassis wurde in der Folge nicht müde zu betonen, dass die Schweiz ihre Neutralität mit dieser Art der Sanktionsübernahme beibehalte. In den folgenden Wochen und Monaten übernahm die Schweiz sämtliche Ausweitungen der Sanktionen der EU gegen Russland – und später auch gegen Belarus. Fast zeitgleich zur Übernahme des EU-Sanktionsregimes gab die Regierung bekannt, die ukrainische Bevölkerung mit Hilfsgütern zu unterstützen. Ein erstes Paket in Höhe von CHF 8 Mio. wurde in raschen Abständen durch weitere Hilfsgüterlieferungen und die finanzielle Unterstützung von humanitären Organisationen ergänzt. Im Bereich der Guten Dienste unterstützte die Schweiz den Reform- und Wiederaufbauprozess in der Ukraine mithilfe der von langer Hand geplanten Ukraine Recovery Conference, die im Juli in Lugano stattfand. Die seit 2017 jährlich stattfindende Ukraine Reform Conference wurde angesichts des Kriegsgeschehens umbenannt und inhaltlich neu ausgerichtet.

Der Erlass und die Übernahme von Sanktionen stellten nicht nur den Bundesrat, sondern auch das Parlament vor neue Fragen und hielten dieses auf Trab. Davon zeugen nicht nur die parlamentarischen Vorstösse zum Thema, sondern auch die intensiven Debatten, die im Rahmen der Anpassung des Embargogesetzes geführt wurden. Eine bereits im Jahr 2019 eingereichte parlamentarische Initiative zur Einführung einer Rechtsgrundlage für gezielte Sanktionen bei schweren Menschenrechtsverletzungen und Korruption durch hochrangige Politiker und Politikerinnen erhielt aufgrund der geopolitischen Umstände besondere Relevanz. Zwar wurde diese vom Ständerat abgelehnt, doch trug sie massgeblich zu einer umfassenden Debatte innerhalb des Parlaments über das Schweizer Sanktionswesen bei. Im Mai 2022 verlangte die APK-NR vom Bundesrat mittels einer Kommissionsmotion die Entwicklung einer kohärenten, umfassenden und eigenständigen Sanktionspolitik. Der reine Nachvollzug von EU- und UNO-Sanktionen genügten nach Ansicht der Kommission nicht, um die Landesinteressen der Schweiz in den Bereichen Sicherheit, Versorgungssicherheit und Rechtsstaatlichkeit zu gewährleisten.

Eng mit den Überlegungen zur Sanktionsthematik verknüpft war die Frage, inwiefern die Schweiz diese mit ihrer Neutralität respektive mit ihrer Neutralitätspolitik vereinbaren könne. Während die SVP die Schweizer Neutralität durch die übernommenen EU-Sanktionen als bedroht erachtete, liess Alt-Bundesrat Blocher bezüglich der Sanktionsübernahme verlauten: «Wer hier mitmacht, ist eine Kriegspartei.» Derweil wünschte sich die APK-SR vom Bundesrat in einem Postulat mehr Klarheit und Orientierung in der Neutralitätspolitik. Diese Forderung versprach der Bundesrat durch einen aktualisierten Neutralitätsbericht – der letzte stammte aus dem Jahr 1993 – zu erfüllen. Aussenminister Cassis scheiterte jedoch Anfang September mit der Konzeptionierung der von ihm geprägten «kooperativen Neutralität», als der Gesamtbundesrat den Neutralitätsbericht zurückwies. Erst Ende Oktober verabschiedete die Regierung den Bericht in Erfüllung des Postulats und beschloss, an der Neutralitätspraxis aus dem Jahr 1993 festzuhalten. Im gleichen Monat kündigte die neu gegründete nationalkonservative Gruppierung «Pro Schweiz» an ihrer Gründungsversammlung die Lancierung einer Volksinitiative an, mit der sie die «immerwährende bewaffnete Neutralität» der Schweiz in der Verfassung festschreiben will.

Wenn auch nicht im gleichen Ausmass wie in den Jahren zuvor, sorgten aber auch im Jahr 2022 die bilateralen Beziehungen mit der EU für einige Schlagzeilen. Insbesondere die vom Bundesrat im Januar vorgestellte neue Stossrichtung für das Verhandlungspaket mit der EU sorgte aufgrund des gewählten sektoriellen Ansatzes vielerorts für Kopfschütteln, nicht zuletzt bei EU-Vertreterinnen und -Vertretern selbst. Auch das Parlament kämpfte weiterhin mit den Nachwehen des gescheiterten Rahmenabkommens und beschäftigte sich mit der Vielzahl der 2021 eingereichten parlamentarischen Vorstösse, deren Forderungen von einer nachhaltigen Zusammenarbeit mit der EU, über einen EWR-Beitritt bis zum EU-Beitritt reichten. Der vom Bundesrat versprochene Europabericht, welcher eine Vielzahl der Vorstösse hätte beantworten sollen, liess indes auf sich warten. Im März schwebte überdies die Abstimmung über das Frontex-Referendum wie ein Damoklesschwert über der sowieso schon belasteten Beziehung mit der EU. Ein Nein hätte unter Umständen den Ausschluss aus dem Schengen/Dublin-Abkommen nach sich ziehen können. Zwar verschwanden entsprechende Diskussionen nach dem deutlichen Ja im März 2022 rasch, ein im Sommer publik gewordener Briefwechsel zwischen EU-Vize-Kommissionspräsident Maros Sefčovič und Staatssekretärin Livia Leu warf jedoch ein erneut negatives Licht auf den Stand der bilateralen Verhandlungen. Daraus ging hervor, dass auf beiden Seiten weiterhin Unklarheiten über die jeweiligen Forderungen und roten Linien existierten. Etwas Versöhnlichkeit zeigte das Parlament im März, als es einer Aktualisierung des Abkommens mit der Europäischen Gemeinschaft über Zollerleichterungen und Zollsicherheit zustimmte, sowie in der Herbstsession mit der Annahme zweier Vorlagen zur Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands. Auch die Anpassungen der Systeme ETIAS und VIS waren in beiden Räten ungefährdet.

Im Gegensatz zu den stagnierenden Beziehungen zur EU zeigte sich die Schweiz sehr aktiv im Umgang mit einzelnen Partnerländern. Das Verhältnis zum Vereinigten Königreich wurde im Frühling 2022 unter anderem durch ein Mobilitätsabkommen für Dienstleistungserbringende, ein Sozialversicherungsabkommen und durch einen Präsidialbesuch von Bundespräsident Cassis in London gestärkt. Ebenfalls im Frühjahr reiste Cassis wenige Wochen nach der Annahme des neuen Grenzgängerabkommens mit Italien im Parlament nach Italien, um sich unter anderem mit dem italienischen Aussenminister Luigi di Maio zu treffen. Generell zeigte sich Cassis in seiner Doppelrolle als Aussenminister und Bundespräsident sehr reise- und gesprächsfreudig. Das belegen unter anderem Staatsbesuche in Österreich und der Tschechischen Republik, Polen und Moldawien, Japan, Niger und dem Vatikan, aber auch Gespräche mit dem Aussenminister der VAE und der slowakischen Präsidentin Zuzana Čaputová.
In seiner Chinapolitik musste der Bundesrat 2022 innenpolitisch mehrere Dämpfer hinnehmen: Das Parlament stimmte gegen seinen Willen mehreren Motionen zu, mit denen die wirtschaftlichen Beziehungen mit China und der Whole-of-Switzerland-Ansatz anders ausgestaltet werden sollen.
Auf multinationaler Ebene stach insbesondere die erfolgreiche Wahl der Schweiz als nichtständiges Mitglied des UNO-Sicherheitsrats im Juni hervor. Darüber hinaus beschloss das Parlament, dass sich die Schweiz weiterhin an der internationalen Währungshilfe beteiligen soll, und verabschiedete einen Verpflichtungskredit in Höhe von CHF 10 Mrd. bis 2028, der als Notreserve bei starken Störungen des internationalen Währungssystems eingesetzt werden kann.

Jahresrückblick 2022: Aussenpolitik
Dossier: Jahresrückblick 2022

Ende Oktober 2022 kündigte das EDA eine Auslandreise von Bundespräsident Cassis nach Rumänien an, in deren Rahmen er sich mit dem rumänischen Präsidenten Klaus Werner Iohannis, Premierminister Nicolae Ciuca und mehreren Parlamentsmitgliedern hätte treffen sollen. Dieser für Anfang November vorgesehene Besuch wurde kurz darauf jedoch aus terminlichen Gründen auf Dezember verlegt. Erst am 12. Dezember reiste Cassis begleitet von den Nationalrätinnen und Nationalräten Roduit (mitte, VS), Page (svp, FR), Walder (gp, GE) und Weber (glp, VD) – allesamt Mitglieder der parlamentarischen Freundschaftsgruppe Schweiz-Rumänien – nach Bukarest. Die beiden Delegationen tauschten sich über den Krieg in der Ukraine, die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU und die verstärkte Partnerschaft mit Rumänien durch den zweiten Schweizer Beitrag im Rahmen der Kohäsionszahlung aus. Gemeinsam mit dem rumänischen Finanzminister Adrian Câciu unterzeichnete Cassis anschliessend das Abkommen über die Umsetzung des zweiten Schweizer Beitrags.

Reise von Bundespräsident Cassis nach Rumänien
Dossier: Staatsbesuche im Ausland 2022

Am 29. und 30. November 2022 reiste der italienische Präsident Sergio Mattarella für einen offiziellen Staatsbesuch in die Schweiz. Er wurde von Bundespräsident Cassis, den Bundesrätinnen Amherd und Sommaruga sowie von Bundesrat Parmelin in Bern empfangen. In der Folge führte er am ersten Besuchstag bilaterale Gespräche mit der Schweizer Delegation. Unter anderem wurde diskutiert, wie die Kooperation in den Bereichen Energie, Innovation, Forschung und in den wirtschaftlichen Beziehungen in Zukunft vertieft werden könnte. Laut Medienmitteilung seien auch die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU zur Sprache gekommen, zudem habe der Bundesrat dargelegt, wie man diese aus Sicht der Schweiz weiterentwickeln wolle. Weitere Themen seien die Zusammenarbeit bei Migrationsfragen innerhalb Europas und die Sicherheitslage aufgrund des Kriegs in der Ukraine gewesen. Am zweiten Besuchstag reisten Mattarella und Cassis an die ETH in Zürich, um sich über Innovation und Unternehmertum auszutauschen.

Staatsbesuch von Italiens Präsident Sergio Mattarella
Dossier: Staatsbesuche und öffentliche Besuche in der Schweiz seit 1990

Ende November 2022 wurden Bundespräsident Cassis und seine Gattin Paola Rodoni Cassis in Belgien von König Philippe und Königin Mathilde zu einem zweitägigen Staatsbesuch empfangen. In seiner Rede betonte Cassis die Gemeinsamkeiten der beiden Länder, insbesondere die Mehrsprachigkeit und den Föderalismus, sowie die damit einhergehenden Herausforderungen.
Der Bundespräsident traf sich am ersten Besuchstag auch mit seinem belgischen Pendant, Premierminister Alexander De Croo zu einem offiziellen Gespräch, bei dem sich die beiden über die bilateralen Beziehungen ihrer Länder in wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Hinsicht, den Krieg in der Ukraine, die europäische Energieversorgung und die Sicherheitslage Europas unterhielten. Darüber hinaus drehte sich das Gespräch um die Schweizer Europapolitik und die thematischen Schwerpunkte des Schweizer Einsitzes im UNO-Sicherheitsrat. Auch die Themen Bildung, Forschung und direkte Demokratie wurden abgedeckt. Danach tauschte sich Cassis mit den Präsidentinnen der beiden Kammern des belgischen Parlaments und mit dem Bürgermeister von Brüssel aus. Am zweiten Tag des Staatsbesuchs reiste die Schweizer Delegation in den französischsprachigen Landesteil Wallonien.

Bundespräsident Cassis in Belgien
Dossier: Staatsbesuche im Ausland 2022

In der Sommersession 2022 beriet der Nationalrat über die Motion Minder (parteilos, SH), die die Erarbeitung einer Strategie für eine nachhaltige Zusammenarbeit Schweiz-EU verlangte. Die APK-NR sei zum Schluss gekommen, dass nach dem Abbruch der Verhandlungen über das Rahmenabkommen eine klare mittel- und langfristige Strategie nötig sei, erklärte deren Sprecherin Elisabeth Schneider-Schneiter (mitte, BL). Die Schweiz müsse eine «möglichst weitgehende Beteiligung am EU-Binnenmarkt verbunden mit Kooperationen in ausgewählten Interessenbereichen» unter Bewahrung ihrer politischen Eigenständigkeit anstreben. Für diese Art der Zusammenarbeit habe sich der bilaterale Weg bewährt und solle fortgesetzt werden, empfahl Schneider-Schneiter. Nicolas Walder (gp, GE), ebenfalls Kommissionssprecher, zeigte sich erfreut, dass sich auch Mitglieder der SVP-Fraktion Sorgen über eine fehlende Strategie des Bundesrats gegenüber der EU machten. Walder kritisierte den sektoralen Ansatz, den der Bundesrat präsentiert hatte, der eher der Verzögerung weiterer Verhandlungen zu dienen scheine. Die vorliegende Motion gehe auf mehrere Postulate zurück, die vom Bundesrat allesamt einen Europabericht gefordert hatten, welcher aber noch immer nicht vorliege. Die Kommission habe aufgrund der noch immer fehlenden Strategie daher ohne Gegenstimme den Vorstoss unterstützt und fordere den grossen Rat auf, dies ebenfalls zu tun.
Aussenminister Cassis wandte sich beschwichtigend an den Nationalrat und beteuerte, dass der Bundesrat mit der Erarbeitung des genannten Berichts beschäftigt sei. Er verwies zudem darauf, dass der Bundesrat die Eckwerte, innerhalb derer er die Beziehungen zur EU gestalten wolle, bereits im Februar 2022 definiert habe. Dennoch beantragte er die Annahme der Motion. Da keine anderslautenden Anträge vorlagen, wurde der Vorstoss stillschweigend angenommen.

Parlamentarische Vorstösse in Reaktion auf den Abbruch der Verhandlungen über das institutionelle Rahmenabkommen (Po. 13.3151, Po. 14.4080, Po. 17.4147, Po. 21.3618, Po. 21.3654, Po. 21.3667, Po. 21.3678, Mo. 21.4184, Po. 21.4450, Po. 22.3172, BRG. 23.052)
Dossier: Institutionelles Rahmenabkommen
Dossier: Entwicklung der bilateralen Beziehungen mit der EU nach dem Scheitern des Rahmenabkommens

Eine knappe Mehrheit der APK-NR forderte im Februar 2022 dringliche Massnahmen zu Gunsten des Schweizer BFI-Standorts. Die Kommission wollte den Bundesrat damit beauftragen, Verhandlungen mit der EU über eine spezifische Vereinbarung aufzunehmen, welche für eine umgehende Assoziierung der Schweiz als Drittland an die EU-Programme Horizon Europe, Digital Europe, ITER, Euratom sowie Erasmus+ sorgt. In dieser Vereinbarung sollen auch die Grundsätze für weitere Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU geregelt werden. Zudem soll dieser Weg vor einem Entscheid über Ergänzungs- und Ersatzmassnahmen eingeschlagen werden. Im Gegenzug soll der Bund eine einmalige Erhöhung des Schweizer Kohäsionsbeitrages vorsehen. Anlass für diese Motion war unter anderem eine gemeinsame Resolution von scienceindustries, dem ETH-Rat und von swissuniversities, welche auf die negativen Konsequenzen der fehlenden Assoziierung für den Schweizer Forschungs- und Innovationsplatz hinwies. Eine Minderheit der APK-NR um Elisabeth Schneider-Schneiter (mitte, BL) beantragte die Ablehnung der Motion. Auch der Bundesrat konnte sich nicht mit dem Vorstoss anfreunden. Zwar verfolge auch die Regierung das Ziel, die Assoziierung an die EU-Programme voranzutreiben; die Schweiz habe jedoch bis anhin schon alles Mögliche unternommen, um die entsprechenden Verhandlungen zu starten. Es fehle letztlich am Willen der EU, welche die Assoziierung der Schweiz an die EU-Rahmenprogramme im BFI-Bereich von den allgemeinen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU abhängig mache. Die Frage der Assoziierung solle daher vielmehr im Rahmen des strukturierten politischen Dialogs angesprochen werden.
In der Sommersession 2022 betonte Fabian Molina (sp, ZH) seitens der Kommissionsmehrheit, dass der Schweizer BFI-Bereich stark unter der Nicht-Assoziierung an die BFI-Rahmenprogramme der EU leide. Der Bundesrat habe im Februar 2022 seinen neuen Verhandlungsansatz für die künftigen Beziehungen Schweiz-EU vorgestellt. Der Schweizer BFI-Bereich könne aber nicht so lange warten, bis dieser Ansatz greife; die Vollassoziierung müsse rasch geschehen. Wenn im Jahr 2022 keine Lösung mehr gefunden würde, hätten «so gut wie alle Forschungsprojekte aufgrund der bestehenden Periodizität ohne Schweizer Beteiligung begonnen». Der Aussage von Fabian Molina entgegnete Minderheitensprecherin Elisabeth Schneider-Schneiter, dass die EU klargemacht habe, dass sie zuerst die offenen Fragen, beispielsweise bezüglich der dynamischen Rechtsübernahme oder der Rolle des EuGH geklärt haben wolle, bevor über weitere Abkommen gesprochen werde. Es sei nun am Bundesrat, diese Fragen mit der EU zu klären, seitens des Parlaments seien bereits genügend Ideen und Anträge vorgelegt worden. Auch Aussenminister Ignazio Cassis beantragte die Ablehnung der Motion. Schon fast verzweifelt äusserte er die rhetorische Frage, wie mit jemandem verhandelt werden könne, der nicht verhandeln wolle. Das Parlament könne so viele Motionen annehmen, wie es wolle, in der Realität wolle die EU aber momentan keinen Schritt auf die Schweiz zugehen.
In der anschliessenden Abstimmung kam es zu einer Pattsituation. Mit Stichentscheid der Ratspräsidentin Irène Kälin (gp, AG) wurde die Motion sodann mit 93 zu 92 Stimmen bei 6 Enthaltungen angenommen. Zustimmung erhielt die Motion von der SP-, der Grünen- und der GLP-Fraktionen sowie von einzelnen Mitgliedern der Mitte- und der FDP.Liberalen-Fraktionen.

Dringliche Massnahmen zu Gunsten des Schweizer Forschungs-, Bildungs- und Innovationsstandorts (Mo. 22.3012)
Dossier: Erasmus und Horizon

In der Sommersession 2022 nahm der Nationalrat Kenntnis vom Aussenpolitischen Bericht 2021. APK-NR-Sprecher Hans-Peter Portmann (fdp, ZH) bedankte sich bei Aussenminister Cassis für den «aussagekräftigen Bericht und für die mehrheitlich kohärente Umsetzung der aussenpolitischen Strategie des Bundesrates». In Bezug auf den Abbruch der Verhandlungen über das Rahmenabkommen habe der Bundesrat im Bericht erläutert, dass nur in zwei zentralen Bereichen des Abkommens substanzielle Differenzen – beim Lohnschutz und der Auslegung des Freizügigkeitsabkommens – bestanden hätten, wobei die EU nicht bereit gewesen sei, der Schweiz die nötigen Ausnahmen zu gewähren. Eine Minderheit der Kommission unterstütze den Abbruchsentscheid des Bundesrats, obwohl sie nie zu dieser Entscheidung konsultiert worden sei, teilte Portmann mit. Die Mehrheit der Kommission habe sich sehr kritisch darüber geäussert, dass sich der Bundesrat in seinem Bericht – rund zehn Monate nach Verhandlungsabbruch – nach wie vor optimistisch zeige, dass die Freigabe des geschuldeten Kohäsionsbeitrags und der autonome Nachvollzug von EU-Recht zu einer Stabilisierung der bilateralen Beziehungen führen könnten. Portmann monierte, dass diesen Aussagen eine «totale Fehleinschätzung seitens des Bundesrates zugrunde liegt», der die Erosion der bilateralen Verträge nicht wahrhaben wolle.
Ein weiteres Kapitel des Berichts widmete sich dem Thema «Frieden und Sicherheit». Darin ging es vor allem um das Engagement der Schweiz auf multilateraler Ebene, unter anderem in der UNO. Angesichts der erfolgreichen Wahl in den UNO-Sicherheitsrat wünschten sich verschiedene Kommissionsmitglieder, dass die Schweiz weiterhin an der Reform für eine UNO ohne Vetorecht arbeite und dazu beitrage, eine Vereinigung von mittelgrossen und kleinen Staaten mit ähnlich gelagerten Anliegen und Wertehaltungen zu schaffen, so Portmann. Weitere Minderheiten der APK-NR forderten vom Bundesrat die Unterzeichnung des Atomwaffenverbotsvertrags und eine aktivere Politik im UNO-Menschenrechtsrat. Trotz der durchaus auch kritischen Stimmen beantragte die APK-NR den Bericht einstimmig zur Kenntnisnahme. Denis de la Reussille (pda, NE), ebenfalls Kommissionssprecher, lobte seinerseits den Bericht und hob die Bedeutung der Armutsbekämpfung und des Zugangs zu Wasser in den kommenden Jahren hervor.
Verschiedene Fraktionssprecherinnen und -sprecher drückten anschliessend ihren Unmut über den Abbruch der InstA-Verhandlungen mit der EU und die daraus erwachsenen negativen Konsequenzen in Form von fehlender Teilnahme an wichtigen Kooperationsprogrammen wie Erasmus und Horizon aus. Sie kritisierten auch die fehlenden Bemühungen des Bundesrats, die Beziehungen schnellstmöglich zu verbessern, beispielsweise durch die Aushandlung eines neuen Rahmenabkommens.
Bundesrat Cassis fühlte sich angesichts der insgesamt doch eher positiven Einschätzungen des Berichts in der Wahl eines neuen methodischen Ansatzes innerhalb des EDAs bestätigt, wie er in der Folge erklärte. Dieser neue Ansatz beinhaltete einerseits die engere Kooperation zwischen den sieben Departementen bei der Gestaltung der Aussenpolitik, die er zu Beginn der Legislatur in der Aussenpolitischen Strategie 2020-2023 angekündigt hatte, und andererseits die Entscheidung, den aussenpolitischen Bericht möglichst knapp zu halten. Zur Kritik an der EU-Politik des Bundesrats bezog der Bundespräsident hingegen keine Stellung. Der Nationalrat nahm den Bericht auf Antrag seiner Kommission zur Kenntnis.

Aussenpolitischer Bericht 2021
Dossier: Aussenpolitische Berichte (ab 2009)

Ende Mai 2022 führte ein Staatsbesuch Bundespräsident Cassis in die Tschechische Republik und nach Österreich. Begleitet von Nationalrätin Bulliard-Marbach (mitte, FR) und Ständerat Sommaruga (sp, GE), beides Mitglieder der APK-NR respektive der APK-SR, tauschte sich Cassis in Prag mit dem tschechischen Aussenminister Lipavsky über den Krieg in der Ukraine und dessen Auswirkungen auf die europäische Sicherheitsarchitektur aus. Da die Tschechische Republik im Juli 2022 den EU-Ratsvorsitz übernehmen sollte, traf sich der Bundespräsident auch mit dem Minister für europäische Angelegenheiten Mikuláš Bek, um die neue Stossrichtung des Bundesrats für das Verhandlungspaket mit der EU zu erläutern. Die Schweizer Delegation reiste im Anschluss nach Wien weiter, wo sie sich mit Rafael Grossi, dem Generaldirektor der IAEO traf. Im Zentrum der Gespräche standen die russischen Angriffe auf ukrainische Nuklearanlagen und die dadurch entstandenen Risiken für Mensch und Umwelt. Die beiden Seiten betonten wie wichtig es sei, die Sicherheit und Sicherung solcher Anlagen unter allen Umständen zu gewährleisten und Bundespräsident Cassis erwähnte die Schweizer Prioritäten im Rahmen der Zehnten Überprüfungskonferenz des Vertrags über die Nichtverbreitung von Kernwaffen.

Aussenminister Cassis in Tschechien und Österreich
Dossier: Staatsbesuche im Ausland 2022

Mitte Mai 2022 empfing Bundespräsident Ignazio Cassis die slowakische Präsidentin Zuzana Čaputová in Bern. Dabei handelte es sich um den ersten Staatsbesuch eines slowakischen Staatsoberhaupts in der Schweiz seit der Unabhängigkeit der Slowakischen Republik 1993. Hauptthema der Gespräche, an denen auch Bundesrätin Karin Keller-Sutter teilnahm, war der Krieg in der Ukraine und dessen Folgen. Der Schweizer Aussenminister erklärte die Politik und das Engagement der Schweiz im Rahmen des Konflikts und betonte – mit Blick auf die Ukraine Recovery Conference in der Schweiz –, dass derartige Aufbauinitiativen untereinander koordiniert werden müssten. Die beiden Regierungsmitglieder betonten zudem, dass die Schweiz den bilateralen Weg mit der EU stabilisieren und weiterentwickeln wolle, wozu auch die Fortführung der solidarischen Partnerschaft mit den europäischen Staaten und der EU zur Förderung von Sicherheit, Frieden und Demokratie gehöre. Bundespräsident Cassis erläuterte in diesem Kontext die neue Stossrichtung für ein Verhandlungspaket mit der EU und die beiden Delegationen diskutierten die angestrebte Assoziierung der Schweiz an Horizon Europe und Erasmus+, sowie den zweiten Kohäsionsbeitrag, zu dessen Empfängern auch die Slowakei gehört. Auch die Lage im westlichen Balkan und die Migration wurden thematisiert, wobei Justizministerin Keller-Sutter die Wichtigkeit einer koordinierten europäischen Asyl- und Migrationspolitik, die über die gegenwärtige Flüchtlingskrise hinausgehen müsse, hervorhob. Die Delegationen würdigten auch die Strategien der beiden Länder, die beide über grosse Berggebiete verfügen und damit vom Klimawandel besonders betroffen sind, im Bereich der Klima- und Umweltpolitik und die Zusammenarbeit ihrer Forschungs- und Bildungsstätten.

Staatsbesuch der slowakischen Präsidentin Čaputová
Dossier: Staatsbesuche und öffentliche Besuche in der Schweiz seit 1990

Ende April 2022 eröffnete Bundespräsident Cassis den erstmals durchgeführten Innovationstag, der die Vernetzung zwischen den Regionen und die grenzübergreifende Kooperation von Innovationszentren beleuchten soll. Der Erstanlass führte auf einer Zugfahrt von Zürich nach Mailand und gipfelte in bilateralen Gesprächen mit den italienischen Behörden. Nach einem Besuch des Innovationsparks in Dübendorf und des Technoparks Tessin in Manno reiste Cassis zur Eröffnung des «House of Switzerland Milano» nach Mailand. Dort traf sich der Aussenminister bei einer Paneldiskussion über die Zukunft der Innovation mit seinem italienischen Pendant Luigi di Maio und dem Minister für technologische Innovation, Vittorio Colao. Das House of Switzerland diente als temporäre länderübergreifende Netzwerk- und Kommunikationsplattform, in der Wirtschaftsvertretende beider Ländern Kontakte knüpfen können, unter anderem um die Innovationsräume «Greater Zurich Area», das Tessin und die Lombardei miteinander zu verbinden.
Im Zentrum der Gespräche mit di Maio stand der Krieg in der Ukraine, wobei Cassis das humanitäre Engagement der Schweiz, die Aufnahme von Schutzsuchenden und die Sanktionen gegen Russland und Belarus hervorhob. Er betonte auch die gemeinsamen Werte, welche die Schweiz mit der EU verbänden, und bekräftigte, dass die Schweiz an der Fortführung des bilateralen Wegs interessiert sei. In diesem Kontext stellte er auch das neue Verhandlungspaket des Bundesrats vor. Mit dem italienischen Innovationsminister sprach Cassis über die jeweiligen Länderstrategien zur digitalen Transformation und deren Auswirkungen auf die globale Governance. Auch die Stärkung der UNO, die Bedeutung der Wissenschaftsdiplomatie und die Rolle der GESDA-Stiftung wurden thematisiert.

Bundespräsident Cassis trifft Aussenminister di Maio in Mailand

Anfang April 2022 nahm Bundespräsident Cassis am jährlichen Fünfertreffen der deutschsprachigen Aussenministerinnen und Aussenminister im Fürstentum Liechtenstein teil. Gemeinsam mit Annalena Baerbock, Alexander Schallenberg, Dominique Hasler und Jean Asselborn besprach Aussenminister Cassis die Lage in der Ukraine, die geopolitischen Auswirkungen und die durch die russischen Angriffshandlungen ausgelöste humanitäre Krise. Im Anschluss nutzten die fünf Aussenminister und Aussenministerinnen den Anlass, um einen gemeinsamen Appell an Russland zu richten. Sie forderten Russland dazu auf, alle Kampfhandlungen in der Ukraine sofort zu beenden und die Truppen vom ukrainischen Hoheitsgebiet abzuziehen. Darüber hinaus verurteilten sie die massiven und systematischen Verletzungen des humanitären Völkerrechts, insbesondere die Angriffe auf Zivilpersonen. Laut dem Schweizer Bundespräsidenten setzen sich alle fünf Länder als Teil einer gemeinsamen europäischen Wertegemeinschaft für Frieden, Stabilität, Sicherheit und Wohlstand ein. Cassis nutzte die Gelegenheit zudem, um seinen Amtskolleginnen und -kollegen die Schweizerische Neutralitätspolitik zu erläutern und diese über den Stand des Europadossiers zu informieren. Er strich hierbei vor allem die kürzlich veröffentlichte Stossrichtung für ein Verhandlungspaket mit der EU heraus.

Deutschsprachige Aussenminister richten gemeinsamen Appell an Russland
Dossier: Schweizer Reaktion auf die russischen Aggressionen in der Ukraine (ab 2014)

In der Frühjahrssession 2022 kam es zur Ablehnung der Motion Molina (sp, ZH; Mo. 21.3811) über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union. Motionär Molina verwies angesichts des Kriegs in der Ukraine auf die Tatsache, dass die Schweiz seit jeher von der europäischen Einigung profitiert habe, nicht nur durch den Zugang zum Binnenmarkt, sondern auch aufgrund der gemeinsamen Sicherheitspolitik der EU. Trotz der engen Verbindungen und der gemeinsamen Lebens-, Wirtschafts- und Bildungsräume bestünde in der Schweiz seit dem EWR-Nein von 1992 ein «irrationales Europatrauma ohne reale Grundlage». Dieses gelte es zu überwinden und sich mit dem Beitritt zur EU langfristig an deren Weiterentwicklung zu beteiligen. Der im Rat anwesende Aussenminister Cassis beantragte im Namen des Bundesrats die Ablehnung der Motion. Der bilaterale Weg sei nach wie vor die idealste Möglichkeit, um die europapolitischen Ziele der Schweiz – eine weitgehende Beteiligung am Binnenmarkt in Verbindung mit Kooperationen in ausgewählten Interessenbereichen und unter Aufrechterhaltung eines grösstmöglichen Handlungsspielraums – zu erreichen. Man wolle nun zunächst die neue Schweizer Agenda gemeinsam mit der EU sondieren und auf Basis dieser Aussprache neue Verhandlungen aufnehmen. Cassis kündigte auch die bevorstehende Publikation eines umfassenden Europaberichts an, in dem die verschiedenen Integrationsmodelle, darunter auch der EU-Beitritt, auf ihren Nutzen und ihre Zweckmässigkeit überprüft würden. Schliesslich erinnerte er die grosse Kammer daran, dass sich bei einem EU-Beitritt jene Fragen, die die Verhandlungen über das InstA hatten scheitern lassen, erneut stellen würden. Der Nationalrat lehnte die Motion in der Folge mit 117 zu 40 Stimmen (bei 30 Enthaltungen) ab. Die Ja-Stimmen stammten von der SP- und der Grünen-Fraktion. Zahlreiche Mitglieder der Fraktionen der SP, der Grünen und der Grünliberalen sowie je ein Mitglied der FDP.Liberalen- und der Mitte-Fraktion enthielten sich jedoch ihrer Stimme.

Parlamentarische Vorstösse in Reaktion auf den Abbruch der Verhandlungen über das institutionelle Rahmenabkommen (Po. 13.3151, Po. 14.4080, Po. 17.4147, Po. 21.3618, Po. 21.3654, Po. 21.3667, Po. 21.3678, Mo. 21.4184, Po. 21.4450, Po. 22.3172, BRG. 23.052)
Dossier: Institutionelles Rahmenabkommen
Dossier: Entwicklung der bilateralen Beziehungen mit der EU nach dem Scheitern des Rahmenabkommens

Im September 2020 wollte Roland Fischer (glp, LU) den Bundesrat mittels einer Motion dazu bringen, die Botschaft zum Rahmenabkommen bis Ende 2020 zuhanden des Parlaments zu verabschieden. Der Bundesrat habe im Dezember 2018 Kenntnis vom Verhandlungsergebnis genommen und danach eine Konsultation durchgeführt, jedoch nur Klarstellungen und keine Nachverhandlungen beschlossen. Das Parlament habe sich in den vergangenen zwei Jahren nicht ordentlich mit dem Rahmenabkommen befassen können, was demokratiepolitisch problematisch sei, begründete der Motionär sein Anliegen. Der Bundesrat beantragte die Ablehnung der Motion und argumentierte in seiner Stellungnahme, dass er nach der Konsultation der Sozialpartner und Kantone im November 2020 seine Positionen festgelegt und die Wiederaufnahme der Gespräche angekündigt habe. Er werde das InstA nur dann unterzeichnen, wenn für die offenen Punkte zufriedenstellende Lösungen gefunden würden. Erst danach würde er die geforderte Botschaft verabschieden und sie dem Parlament unterbreiten.
In der Frühjahrssession 2022 und damit knapp eineinhalb Jahre später gelangte der Vorstoss in den Nationalrat. Motionär Fischer räumte ein, dass die Frist der Motion aufgrund der unterdessen abgebrochenen Verhandlungen über das Rahmenabkommen «etwas entrückt» sei. Trotzdem seien die institutionellen Fragen, die das Rahmenabkommen hätte klären sollen, weiterhin aktuell. Fischer kritisierte den Bundesrat dafür, eine horizontale Lösung der institutionellen Fragen (also ein Rahmenabkommen 2.0) «vorschnell» ausgeschlossen zu haben. Er bezweifelte, dass die EU den vertikalen Ansatz des Bundesrats – die Lösung der institutionellen Fragen separat in den einzelnen Abkommen statt allgemeingültig wie im Rahmenabkommen – goutieren würde. Daher schlug er vor, seine Motion so zu interpretieren, dass sie vom Bundesrat auch die Erarbeitung einer horizontalen Lösung für die anstehenden Verhandlungen verlange. Er forderte den Bundesrat ausserdem dazu auf, das Verhandlungsergebnis anschliessend dem Parlament vorzulegen und «es nicht wieder eigenmächtig zu versenken». Bundesrat Cassis erachtete die Motion nach dem Ende der Verhandlungen über das Rahmenabkommen für gegenstandslos, weshalb er Ablehnung des Vorstosses beantragte. Diesem Vorschlag folgte der Nationalrat mit 104 zu 49 Stimmen (bei 34 Enthaltungen). Die Fraktionen der SVP, der FDP.Liberalen und der Mitte stimmten beinahe geschlossen dagegen, die Grünliberalen und die Grünen dafür, während sich eine Mehrheit der SP-Fraktionsmitglieder der Stimme enthielt.

Rahmenabkommen bis Ende 2020 dem Parlament übergeben

Ständerätin Heidi Z'graggen (mitte, UR) reichte im Dezember 2021 ein Postulat ein, mit dem sie den Bundesrat dazu aufforderte, den geplanten Bericht zu den Beziehungen mit der EU um eine Analyse der Schweizer Leistungen für die EU zu ergänzen. Ebenjener Bericht wird derzeit in Erfüllung der Postulate Aeschi (svp, ZG; Po. 13.3151), Naef (sp, ZH; Po. 17.4147), Cottier (fdp, NE; Po. 21.3654), der Grünen Fraktion (Po. 14.4080, Po. 21.3667), der SP-Fraktion (Po. 21.3618) und der Motion Minder (parteilos, SH; Po. 21.4184) erarbeitet. Heidi Z'graggen argumentierte, dass man für die künftige Verhandlungsstrategie die durch die Schweiz erbrachten Leistungen quantifizieren müsse. Teil der Quantifizierung sei beispielsweise der Beitrag der Schweiz zum BIP des EU-Binnenmarkts. Neben einer Analyse der Export- und Importleistungen erwartete die Postulantin auch eine Übersicht über die Leistungen im Bereich des alpenquerenden Transitverkehrs und des Stromtransits; über die Abschöpfungen der höheren Kaufkraft in der Schweiz durch EU-Unternehmen; über die Leistungen der Schweiz für Grenzgängerinnen und Grenzgänger; über die Kosten der Personenfreizügigkeit bezüglich Wohnungspreisen, Umweltgütern, Staustunden und Sozialwerken; über die durch EU-Studierende anfallenden Kosten; sowie über allfällige Sozialleistungstransfers.
Der Bundesrat beantragte im Februar 2022 die Annahme des Postulats. Man werde die Leistungen der Schweiz an die EU soweit machbar und sinnvoll in den Bericht aufnehmen.
In der Frühjahrssession 2022 bat Ständerat Noser (fdp, ZH) darum, diese Kostenevaluation in Form von Bilanzen aufzuzeigen und nicht als einseitige Betrachtung. Schliesslich gebe es auch eine Nutzenbetrachtung, beziehungsweise die Kosten einer Nichtmitgliedschaft, was die geforderte Analyse jedoch sehr kompliziert mache. Er mahnte auch, dass man die europapolitische Kooperation nicht mit einer «Buchhaltermentalität» lösen könne. Auch Aussenminister Cassis rief den Ständerat dazu auf, realistische Erwartungen an den Tag zu legen. Man könne die effektiven Leistungen der Schweiz in vielen Fällen nicht genau bemessen, ein Beispiel dafür sei der Bau der NEAT. Der Ständerat nahm das Postulat einstimmig an.

Die Leistungen für die EU analysieren und quantifizieren (Po. 21.4450)

Ende Februar 2022 präsentierte der Bundesrat seine neue Stossrichtung für das Verhandlungspaket mit der EU. Die offenen Punkte, die sich nicht zuletzt bei den Verhandlungen über das institutionelle Rahmenabkommen gezeigt hätten, wolle man mit einem sektoriellen Ansatz in den einzelnen Binnenmarktabkommen separat lösen. Dazu gehörten die dynamische Rechtsübernahme, die Streitbeilegung, sowie Ausnahmen und Schutzklauseln. Den horizontalen Ansatz – ein übergeordneter Streitlösungsmechanismus für alle Abkommen – des gescheiterten Rahmenabkommens betrachtete der Bundesrat nicht länger als valable Option. Als weitere mögliche Bestandteile des Pakets nannte der Bundesrat mehrere neue Binnenmarktabkommen in den Bereichen Strom und Lebensmittel, sowie Assoziierungsabkommen in den Bereichen Forschung, Gesundheit und Bildung. Die Republik attestierte dem Bundesrat dabei geschicktes Taktieren, denn eine grössere Verhandlungsmasse biete «mehr Spielraum für ein Geben und Nehmen». Auch eine Institutionalisierung der Schweizer Kohäsionszahlungen wurde von der Exekutive in den Raum gestellt. Auf der Grundlage des neuen Beschlusses sollen Sondierungsgespräche mit der EU aufgenommen werden. Parallel dazu liefen die Arbeiten zu den Regelungsunterschieden zwischen dem EU-Recht und dem Schweizer Recht weiter. Das EJPD war schon kurz nach dem Verhandlungsabbruch über das InstA im Mai 2021 damit beauftragt worden, Differenzen zwischen dem EU-Recht und der schweizerischen Rechtsordnung zu eruieren. Ende Juni 2021 lag eine erste Auslegeordnung der Regelungsunterschiede vor, woraufhin in einem zweiten Schritt ermittelt werden sollte, in welchen Bereichen autonome Angleichungen im Interesse der Schweiz wären. Bundesrätin Karin Keller-Sutter teilte an der Medienkonferenz zur neuen Stossrichtung mit, dass sich ihr Departement dabei auf fünf Marktzugangsabkommen der Bilateralen I fokussiert und ein Konzept mit 17 Handlungsoptionen erarbeitet habe. Alt-Staatssekretär Gattiker habe eine «Analyse und Bewertung der ermittelten Spielräume» durchgeführt und werde diese im Gespräch mit den Kantonen und Sozialpartnern vertiefen, teilte der Bundesrat in seiner Pressemitteilung mit.

Der neue Ansatz der Schweiz löste in den Medien kollektives Stirnrunzeln aus, hatte doch EU-Kommissar Sefčovič nach dem Treffen mit Aussenminister Cassis im November 2021 dem Tages-Anzeiger gegenüber klar gemacht, dass man institutionelle Fragen nicht «von Fall zu Fall» lösen könne, sondern ein Rahmenabkommen dafür benötige. Der Blick merkte an, dass Bundespräsident Cassis nicht habe erklären können, weshalb sich diese Auffassung unterdessen geändert haben soll. Stattdessen schicke man Staatssekretärin Leu nach Brüssel, «um zu sondieren, ob sich die Meinung dort geändert hat», so der Blick. Auch die parallel zu den Sondierungsgesprächen mit der EU geführte Verhandlung mit den Sozialpartnern und den Kantonen beäugte der Blick kritisch. Karin Keller-Sutter äusserte sich den Medien gegenüber diesbezüglich aber zuversichtlich und betonte, dass man damit verschiedene Differenzen von vornherein eliminieren wolle. Die Le Temps bezeichnete den neuen Ansatz des Bundesrats als «Bilaterale III», auch wenn der Begriff in der Pressekonferenz nicht gefallen sei. Sie äusserte auch die Vermutung, dass der sektorielle Ansatz – mit dem die Streitbeilegung durch den EuGH umgangen werden soll – Brüssel verärgern dürfte. Aussenminister Cassis erklärte gegenüber derselben Zeitung, dass man auf detaillierte Vorschläge verzichtet habe, um Staatssekretärin Leu mehr Handlungsspielraum zu verschaffen.
Die Reaktionen der Parteien und anderer Interessengruppen auf die neuen Vorschläge des Bundesrats fielen gemischt aus. Für die FDP stelle der sektorielle Ansatz die vielversprechendste Lösungsvariante dar, hielt Parteipräsident Thierry Burkart (fdp, AG) fest. SP-Ständerat Carlo Sommaruga (sp, GE) erachtete den Vorschlag als eher unrealistisch und Foraus-Co-Direktor Darius Farman sowie NEBS-Präsident und SP-Nationalrat Eric Nussbaumer (sp, BL) kritisierten das Fehlen eines Zeitplans scharf. Die SVP befürchtete hingegen die Unterwerfung der Schweiz unter EU-Recht und EU-Richter und kündigte daher Widerstand gegen die Pläne des Bundesrats an.
Petros Mavromichalis, der EU-Botschafter in der Schweiz, begegnete dem neuen Vorgehen der Schweiz mit viel Skepsis. Er begrüsste zwar die Ankündigung des Bundesrats, alle offenen Fragen angehen zu wollen, bezweifelte aber die Machbarkeit des sektoriellen Ansatzes. Er stellte im Interview mit der Republik auch klar, dass die Personenfreizügigkeit für die EU untrennbar mit dem Binnenmarkt verbunden sei und daher ebenfalls der dynamischen Rechtsangleichung und dem juristischen Streitbeilegungsmechanismus unterliegen müsse. Für ihn wirke es, «als ob die Schweiz mit sich selber verhandeln würde und es kein Gegenüber gäbe». Auch die EU habe Erwartungen und Bedürfnisse, weshalb die Debatte nicht nur nach Innen gerichtet werden dürfe.

Neue Stossrichtung des Bundesrats in der Europapolitik
Dossier: Entwicklung der bilateralen Beziehungen mit der EU nach dem Scheitern des Rahmenabkommens

Da die geplanten Gespräche in Wien Ende Januar 2022 aufgrund einer Covid-Infektion von Karl Nehammer nicht hatten stattfinden können, empfingen Bundespräsident Cassis und Bundesrätin Keller-Sutter den österreichischen Bundeskanzler stattdessen Mitte Februar im aargauischen Zofingen zum Staatsbesuch. Der Besuch stellte bereits das dritte hochrangige Treffen zwischen der Schweiz und Österreich im Jahr 2022 dar, was den Wunsch der Nachbarländer zeige, ihre Beziehungen weiter zu stärken, wie das EDA mitteilte. Im Zentrum des Besuchs standen Gespräche zur Umsetzung der Strategischen Partnerschaft zwischen der Schweiz und Österreich, die Bekämpfung der Covid-19-Pandemie, die Beziehungen der Schweiz zur EU und die Zusammenarbeit mit Österreich im Westbalkan, sowie die Lage in Osteuropa. Da auch Justizministerin Keller-Sutter anwesend war, wurden ebenso die Reform der Schengen/Dublin-Systeme, sowie die bilaterale Kooperation in den Bereichen Migration und Sicherheit besprochen.

Staatsbesuch des österreichischen Bundeskanzlers Nehammer

Im Januar 2022 gab das EDA bekannt, dass Bundespräsident Cassis nach Wien und Berlin reisen werde, um sich dort mit den Bundespräsidenten Österreichs, Alexander van der Bellen, und Deutschlands, Frank-Walter Steinmeier, zu treffen. Auf der neujährlichen Tour zur nachbarschaftlichen Beziehungspflege machte Cassis am 13. Januar in Wien halt. Damit führte er die jahrelang gepflegte «Erstbesuchs-Tradition» fort, gemäss welcher der oder die frisch gewählte Schweizer Bundespräsidentin nach Österreich reist. Die bilateralen Gespräche behandelten vornehmlich die Strategische Partnerschaft zwischen der Schweiz und Österreich von 2021 – welche eine Vertiefung der Kooperation beim politischen Austausch zum Westbalkan oder der Umsetzung der Agenda 2030 vorsieht – die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU, die Lage in Belarus, die Pandemiebewältigung und die Spannungen in der Ostukraine. Cassis nahm die Gelegenheit wahr, um Österreich zur Ukraine-Reformkonferenz im Juli 2022 in Lugano einzuladen. Vor seiner Weiterreise traf der Bundespräsident zudem den neuen Vorsitzenden der OSZE Zbigniew Rau, der gleichzeitig polnischer Aussenminister ist. Ihm stellte Cassis den Schweizer OSZE-Aktionsplan 2022-2025 vor. Auf der Rückreise von Wien nahm Cassis an der 50. Internationalen Bodenseekonferenz teil, wo er sich mit dem Liechtensteiner Regierungschef Risch traf.
Am 20. Januar traf sich Cassis in Berlin mit Bundespräsident Steinmeier, Bundeskanzler Scholz und Aussenministerin Baerbock zu gemeinsamen Gesprächen. Einen Tag vor dem Treffen hatte der Bundesverband der Deutschen Industrie die «schnelle Wiederaufnahme konstruktiver Gespräche» zwischen der Schweiz und der EU gefordert. Im Kontext der Diskussionen über Umwelt- und Klimaschutz hob Cassis die Wichtigkeit von Solidarität und Zusammenarbeit zwischen den europäischen Nachbarn hervor. Weitere Themen waren die Sicherheitslage in Europa, transatlantische Beziehungen, die Situation an der ukrainisch-russischen Grenze, die Integration weiterer Westbalkan-Staaten in die EU und die Kooperation der beiden Länder auf multilateraler Ebene. Auch die deutsche Regierung lud Cassis zur Teilnahme an der Ukraine-Reformkonferenz ein. Nach dem Treffen erläuterte Cassis gegenüber den Medien, dass er auf seine Erklärung zur Schweizer Europapolitik Signale der Ermunterung wahrgenommen habe. Zwar habe er nicht das Gefühl, dass die neue deutsche Regierung der Schweiz mehr oder weniger Goodwill entgegenbringe als die bisherige, doch die Betroffenheit habe sich verändert, zitierte die NZZ den Bundespräsidenten. Die negative Eskalation nach dem Verhandlungsabbruch habe die wirtschaftlichen Beziehungen zu den Nachbarstaaten gestört.

Bundespräsident Cassis reiste nach Wien und Berlin
Dossier: Staatsbesuche im Ausland 2022

Auch 2021 wurden die traditionellen von-Wattenwyl-Gespräche von der Covid-19-Pandemie beeinträchtigt. Nicht nur, weil die Gesundheitskrise zentraler Gegenstand aller vier Veranstaltungen war, sondern auch, weil die Gespräche wie schon teilweise im Jahr zuvor allesamt nicht im namensgebenden Von-Wattenwyl-Haus, sondern im mehr Platz bietenden Bernerhof stattfanden.
Im Beisein von Bundespräsident Guy Parmelin, den Bundesräten Alain Berset und Ignazio Cassis sowie Bundeskanzler Walter Thurnherr diskutierten die Spitzen der Regierungsparteien im Februar die aktuelle Lage, die steigenden Fallzahlen und mögliche Massnahmen, darunter die anlaufende Impfkampagne. Ebenfalls besprochen wurden die Digitalisierung der Verwaltung, insbesondere im Gesundheitsbereich, aber auch die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie auf Arbeitsmarkt und Unternehmen. Die Regierung informierte zudem über den Stand der Europapolitik.
Auch im Mai trafen sich Bundespräsident, Gesundheitsminister, Aussenminister, Bundeskanzler und Parteipräsidien im Bernerhof, um erneut über die Gesundheits- und Wirtschaftslage sowie über das Europadossier zu diskutieren. Die Stabilisierung der Fallzahlen und die Fortschritte bei der Impfung der Bevölkerung – rund 10 Prozent hatten bereits eine Impfung erhalten – liessen die Diskussion erster Öffnungsschritte zu, welche auch dank der Einführung des Covid-Zertifikats möglich werden sollten. Gegenstand der Gespräche waren zudem die verschiedenen Massnahmen, die der Bund aufgrund der pandemiebedingten wirtschaftlichen Probleme ergriffen hatte. Bisher waren zur Bewältigung der Gesundheitskrise Ausgaben von rund CHF 40 Mrd. beschlossen worden. Der Aussenminister informierte über die «weiterhin substanziellen Differenzen» bei den Verhandlungen mit der EU im institutionellen Rahmenabkommen. Schliesslich wurde die China-Strategie diskutiert, die der Bundesrat im Frühjahr 2021 vorgelegt hatte.
Auch die traditionellerweise im Herbst in Form einer Klausur mit dem Gesamtbundesrat organisierten Von-Wattenwyl-Gespräche fanden im Bernerhof statt. Und wieder standen Covid-19 und Europa auf der Traktandenliste. Die gesundheitliche Lage hatte sich in der Zwischenzeit wieder verdüstert – auch weil die Impfquote nach wie vor tief war, worüber sich die Teilnehmenden der Gespräche austauschten. Im Europadossier plädierte der Bundesrat auf eine rasche Freigabe des Kohäsionsbeitrags. Weiteres zentrales Diskussionsthema war das Vorhaben der OECD, einen weltweiten Mindestsatz für Unternehmenssteuern in der Höhe von 15 Prozent einzuführen. Aufgrund der Ablehnung des CO2-Gesetzes im vergangenen Juni 2021 an der Urne, wollte der Bundesrat möglichst rasch eine Basis für eine neue Vorlage schaffen und informierte über erste entsprechende Gespräche mit Verbänden und Parteien.
Mitte November – auch die vierte Gesprächsrunde fand im Bernerhof statt – standen neben Gesundheits- und Europapolitik auch die «Corona-Schulden» auf dem Programm, weshalb neben Bundespräsident Guy Parmelin und Alain Berset auch Finanzminister Ueli Maurer und erneut Bundeskanzler Walter Thurnherr mit den Regierungsparteispitzen diskutierten. Angesichts des anbrechenden Winters, der nach wie vor zu tiefen Impfrate und einer neuen, ansteckenden Virusvariante wurde mit einem Anstieg der Fallzahlen gerechnet und entsprechende Massnahmen diskutiert. Finanzminister Ueli Maurer informierte über die Schulden in Höhe von CHF 25 Mrd., mit denen der Bundesrat bis Ende 2022 rechnete. Sparprogramme oder Steuererhöhungen könnten mit einer Anpassung des Finanzhaushaltsgesetzes vermieden werden, wie der Bundesrat bereits im Sommer vorgeschlagen hatte. Die angestrebte positivere Dynamik der Beziehungen zur EU war in den Gesprächen im November ebenso Gegenstand wie die Migrationssituation – in den ersten 10 Monaten waren rund ein Drittel mehr Asylgesuche gestellt worden als im Vorjahr – und eine mögliche Strommangellage, die mit einem «Konzept Spitzenlast-Gaskraftwerk» vermieden werden soll.

Von-Wattenwyl-Gespräche seit 2013

Jahresrückblick 2021: Aussenpolitik

Nach dem Jahr 2020, das auch im Bereich der Aussenpolitik mehrheitlich von der Covid-19-Pandemie dominiert worden war, kehrten 2021 wieder andere Themen ins Scheinwerferlicht zurück. Allen voran gewannen die Beziehungen zur EU aufgrund unvorhergesehener Ereignisse an Salienz. Die Zeitungsanalyse 2021 von Année Politique Suisse unterstreicht diese Entwicklung eindrücklich: Zeitungsartikel zu den Beziehungen zwischen der Schweiz und Europa machten im vergangenen Kalenderjahr rund die Hälfte aller Artikel im Themenbereich Aussenpolitik aus (vgl. Abbildung 2 der APS-Zeitungsanalyse 2021 im Anhang).

Hauptgrund für die Prominenz der bilateralen Beziehungen in den Medien dürfte das Ende der Verhandlungen über das Rahmenabkommen mit der EU im Mai 2021 gewesen sein. Zwar widerspiegelte der mediale Tonfall nach dem Treffen zwischen Bundespräsident Parmelin und EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen Ende April die Hoffnung, dass sich die Verhandlungen in eine weitere Runde würden retten können, doch die Reaktionen aus Politik und Wirtschaft zeigten die verhärteten Fronten in der Diskussion in der Schweiz auf. Auch das Parlament übte Ende April/Anfang Mai zunehmend Druck auf den Bundesrat aus, endlich neue Ansätze in die seit längerem blockierten Verhandlungen zu bringen. Ein Abbruch der Verhandlungen schien für den Bundesrat schliesslich angesichts der bestehenden Differenzen unvermeidlich, wobei die einseitige Entscheidung von der EU überhaupt nicht begrüsst wurde. Verschiedene politische und zivilgesellschaftliche Akteure wie die SP und die Operation Libero drängten nach dem Verhandlungsabbruch auf neue Lösungsansätze, der polarisierendste zielte gar auf einen EU-Beitritt ab. Eine in der Folge rasch ergriffene Massnahme betraf die seit 2019 blockierte zweite Kohäsionsmilliarde, die auf Initiative des Bundesrats in der Herbstsession von beiden Räten freigegeben wurde. Nachdem dieser zweite Schweizer Beitrag aufgrund der Nichtverlängerung der Börsenäquivalenz 2019 blockiert worden war, erhoffte sich der Bundesrat von der Freigabe nun die Assoziierung an Horizon Europe.

Die Verschlechterung der Beziehungen zur EU hatte sich zu Beginn des Jahres noch nicht unbedingt abgezeichnet. Im März hatte der Bundesrat die Botschaft zur Prümer Zusammenarbeit und dem Eurodac-Protokoll veröffentlicht und damit die Grundlage für eine vertiefte Kooperation mit der EU in Sachen Kriminalitätsbekämpfung gelegt. Diese waren in den beiden Räten unbestritten und wurden einstimmig angenommen. Auch ein weiteres Geschäft im Rahmen der Schengen-Weiterentwicklung, die Interoperabilität zwischen den EU-Informationssystemen, fand im Ständerat eine grosse Mehrheit. Etwas umstrittener gestalteten sich die Ratsdebatten über die Schweizer Beteiligung an der Weiterentwicklung von Frontex und über eine dafür nötige Revision des AIG. Da die Räte und die vorberatenden Kommissionen der EU-Migrationspolitik kritisch gegenüberstanden, brachten sie Ausgleichsmassnahmen in die Vorlage ein, um der humanitären Tradition der Schweiz gerecht zu werden. In der Folge wurde vor allem über deren Ausgestaltung diskutiert und weniger über den Frontex-Beitrag, der personelle und finanzielle Mittel umfasste und aufgrund der drohenden Beendigung der Schengen-Assoziierung bei einer Nichtübernahme unbestritten schien.

Deutlich positiver als die EU-Politik liest sich die Bilanz der Schweiz im Hinblick auf die Kooperation mit einzelnen europäischen Staaten. Die bilateralen Beziehungen zum Vereinigten Königreich im Nachgang des Brexit nahmen 2021 weiter Form an. Im Januar nahm der Ständerat als Zweitrat eine Motion Cottier (fdp, NR) an, die eine vertiefte Handelsbeziehung im Rahmen der «Mind the Gap-Strategie» des Bundesrats verlangte. Zudem veröffentlichte der Bundesrat im Juni die Botschaft zum Abkommen mit dem Vereinigten Königreich über die Mobilität von Dienstleistungserbringenden, durch das die Schweiz einen vereinfachten Zugang zum britischen Arbeitsmarkt erhalten soll. Dieses nahm die kleine Kammer in der Wintersession einstimmig an. Auch die Nutzung des französischen Satellitensystems «Composante Spatiale Optique» wurde von beiden Räten ohne grösseren Widerstand angenommen.

Auch in der Aussenwirtschaftspolitik ereignete sich im vergangenen Jahr einiges, angefangen mit der Abstimmung über das Freihandelsabkommen mit Indonesien, welches die Schweizer Bevölkerung im März mit 51.6 Prozent Ja-Stimmen knapper als erwartet annahm. Deshalb werteten auch die unterlegenen Gegner und Gegnerinnen des Abkommens dieses Resultat als Erfolg, insbesondere im Hinblick auf das Freihandelsabkommen mit dem Mercosur, welches gemäss geltender Gesetzgebung automatisch dem fakultativen Referendum unterstellt werden soll. Erwähnenswert war im Kontext des Aussenhandels auch die Anpassung des Embargogesetzes, durch die das Einfuhrverbot von Feuerwaffen, Waffenbestandteilen, Munition und weiteren Gütern aus Russland und der Ukraine fortgeführt werden konnte und die es dem Bundesrat erlaubt, in vergleichbaren Situationen nicht mehr die Bundesverfassung für ein Embargo bemühen zu müssen.

Deutlich weniger Veränderungen als in anderen Jahren gab es bei den Beziehungen zu internationalen Organisationen. Hervorzuheben ist hier die Sistierung des UNO-Migrationspakts durch den Ständerat, welcher die Ergebnisse der Subkommissionen der aussenpolitischen Kommissionen zum Thema «Soft Law» abwarten wollte. Ebenfalls von Bedeutung waren die Bewilligung der von der WAK-SR geforderten ständigen parlamentarischen Delegation bei der OECD durch die beiden Räte in der Herbstsession und die Ratifikation der ILO-Übereinkommen 170 und 174.

Einen Bedeutungsaufschwung erlebten die bilateralen Beziehungen der Schweiz mit China, was sich in einer Vielzahl an parlamentarischen Vorstössen äusserte. Auslöser für die rege Tätigkeit des Parlaments war die mit Spannung erwartete Publikation der Schweizer China-Strategie im März. Diese wurde unter anderem für ihren unklaren Umgang mit den chinesischen Menschenrechtsverletzungen kritisiert, weshalb die aussenpolitischen Kommissionen der Räte selbst aktiv wurden. Bereits vor Veröffentlichung der China-Strategie hatte die APK-NR in der Frühjahrssession einen Bericht zur Umsetzung des bilateralen Menschenrechtsdialogs eingefordert – mit diesem sollte die China-Strategie beurteilt werden. Auch die Situation der tibetischen Exilgemeinschaft in der Schweiz, die laut APK-NR unter der zunehmenden Einflussnahme Chinas leidet, wurde in der Frühjahrssession thematisiert. Kurz darauf engagierte sich die APK-NR auch in diesem Themenfeld: Mittels Motion forderte sie einen stärkeren Fokus der Schweiz auf die Förderung der Menschenrechte in China, der auch in der Schweizer China-Strategie zum Ausdruck kommen sollte. Die Motion wurde vom Nationalrat zwar befürwortet, aber vom Ständerat abgelehnt. Die APK-NR war es auch, die den Bundesrat im Sommer mit einem Postulat ins Schwitzen brachte, das die Prüfung von vertieften Beziehungen mit Taiwan – unter anderem auf politischer Ebene – forderte, was ganz und gar nicht zur Ein-China-Politik der Schweiz passte und vom Bundesrat daher abgelehnt wurde. Anders sah dies der Nationalrat, der das Postulat überwies. Etwas allgemeiner ging die APK-SR vor, die in einer von ihrem Rats bereits unterstützten Motion eine Institutionalisierung des zwischenstaatlichen Austauschs und der Koordination von Schweizer Akteuren mit China verlangte, um die politische Kohärenz der China-Politik sicherzustellen.

Zu kleineren Ausschlägen in der APS-Zeitungsanalyse 2021 führten zudem die Guten Dienste der Schweiz (vgl. Abbildung 1). Im Juni fand in Genf das viel beachtete Treffen zwischen US-Präsident Biden und dem russischen Präsidenten Putin statt, das von den Bundesräten Cassis und Parmelin genutzt wurde, um die Bedeutung des internationalen Genfs als Standort für interdisziplinäre Kooperation hervorzuheben. Im August verstärkte sich die Berichterstattung in diesem Themenbereich aufgrund der durch die Machtübernahme der Taliban ausgelösten Krise in Afghanistan. In deren Wirren evakuierte die Schweiz ihr DEZA-Kooperationsbüro in Kabul und vergab den lokalen Mitarbeitenden der Schweizer Aussenstellen insgesamt 230 humanitäre Visa. Im Bereich der Menschenrechte hatte der Bundesrat noch vor diesen beiden Grossereignissen die Leitlinien Menschenrechte 2021-2024 publiziert.

Die vorübergehenden Lockerungen der globalen Corona-Massnahmen machte sich im EDA vor allem anhand der Auslandreisen von Aussenminister Cassis bemerkbar. Nach einem mageren 2020 schien der EDA-Vorsteher 2021 einiges nachzuholen und reiste in mehrere Länder, die im Fokus der Schweizer MENA-Strategie standen, darunter Algerien, Mali, Senegal, Gambia, Irak, Oman, Libanon, Libyen und Saudi-Arabien. Von besonderer Bedeutung war der Staatsbesuch in der Ukraine, den Cassis zum Anlass nahm, um den Vorbereitungsprozess für die Ukraine-Reformkonferenz 2022 einzuläuten.

Jahresrückblick 2021: Aussenpolitik
Dossier: Jahresrückblick 2021

Der Ständerat behandelte in der Wintersession ein Postulat der grünen Baselbieter Ständerätin Maya Graf. Sie wollte damit vom Bundesrat einen Bericht verlangen zur Frage, welche Optionen es für die «verbindliche Beteiligung der Kantone» an bestimmten aussenpolitischen Entscheidungen gibt. Namentlich sollte es um Entscheidungen gehen, die direkte Auswirkungen auf die Exportbranchen der Kantone, auf essenzielle Wirtschaftszweige der Schweiz, auf den Bildungs- und Forschungsstandort oder auf den täglichen grenzüberschreitenden Austausch haben. Die Postulantin begründete ihren Vorstoss damit, dass in vielen Themenfeldern der Bedarf nach grenzüberschreitenden Regelungen sowie nach einer dynamischen Rechtsübernahme wachse, wie etwa die – einige Monate vor der Einreichung des Postulats abgebrochenen – Verhandlungen über ein Rahmenabkommen mit der EU gezeigt hätten. Ein vermehrter Einbezug der Kantone dränge sich deshalb auf, denn eine verstärkte aussenpolitische Zusammenarbeit erfordere erstens eine breitere innenpolitische Legitimation und betreffe zweitens auch kantonale Kompetenzen und Aufgabenbereiche stark. Mit Graf und ihren sechs Mitunterzeichnenden standen Ständeratsmitglieder aus sieben verschiedenen Grenzkantonen und vier verschiedenen Fraktionen hinter dem Postulat.
Der Bundesrat beantragte die Ablehnung des Vorstosses, denn die Mitwirkungsrechte der Kantone seien in der Bundesverfassung und im Bundesgesetz über die Mitwirkung der Kantone an der Aussenpolitik des Bundes schon ausreichend geklärt: Grundsätzlich sei die Aussenpolitik Sache des Bundes, er müsse aber die Kantone bei der Vorbereitung von Entscheiden, die deren Zuständigkeiten oder wesentlichen Interessen betreffen, einbeziehen. Dies geschehe insbesondere mit dem Instrument der Anhörung. Die Stellungnahmen der Kantone seien für den Bund zwar nicht verbindlich, er müsse sie aber berücksichtigen und den Kantonen bei abweichenden Entscheiden seine Gründe darlegen. Was das Rahmenabkommen betreffe, habe der Bundesrat im Übrigen die Annahme der gleichlautenden Motionen 19.3167 und 19.3170 beantragt, die für den Fall einer Unterzeichnung des Abkommens eine gesetzliche Grundlage für ein Mitsprachrecht der Kantone bei der dynamischen Übernahme von EU-Recht gefordert hätten.
Bei den Verhandlungen im Ständerat in der Wintersession 2021 betonte die Postulantin Maya Graf, dass die Aussenpolitik in der heutigen hochgradig verflochtenen Welt und in einer föderalen Demokratie nicht einfach Sache des Bundes sein könne. Die Kantone seien nicht reine Umsetzungsinstanzen international verhandelter Themen, sondern bei zahlreichen Themen in ihren eigenen Kompetenzbereichen betroffen, so etwa in der Gesundheitspolitik, der Verkehrspolitik oder der Energiepolitik. Blosse Anhörungen seien vor diesem Hintergrund nicht ausreichend, zumal bereits die Bundesverfassung festhalte, dass der Bund bei der Aussenpolitik «Rücksicht auf die Zuständigkeiten der Kantone [nehmen] und ihre Interes­sen [wahren]» müsse und dass die Kantone dann, «wenn sie in ihren Zuständigkeiten betroffen sind, [...] in geeigneter Weise an internationalen Verhandlungen mit[wirken].» Eine solche besondere Betroffenheit liege insbesondere bei stark vernetzten Grenzkantonen oft vor. Letztlich verlange das Postulat bloss einen Bericht über die Möglichkeiten zur Umsetzung dessen, was bereits in der Verfassung stehe.
Unterstützung erhielt Graf von den Mitte-Vertretern Charles Juillard (mitte, JU) und Benedikt Würth (mitte, SG). Juillard fand, dass sich die Frage des angemessenen Einbezugs der Kantone keineswegs auf das Rahmenabkommen beschränkt habe, sondern sich auch in Zukunft bei vielen weiteren Abkommen stellen werde. Würth betonte, die Mitwirkung der Kantone sei eine Kompensation dafür, dass die Aussenpolitik dazu tendiere, Themen national zu steuern, die eigentlich auf kantonaler Ebene angesiedelt sind. Das Gesetz regle bisher aber nur den Einbezug der Kantone bei Verhandlungen klar. Aussenpolitik finde jedoch auch dann statt, wenn – wie derzeit nach der Beerdigung des Rahmenabkommens – keine Verhandlungen liefen. Der vom Postulat geforderte Bericht solle deshalb zeigen, wie die Kantone auch in einer solchen Situation besser einbezogen werden können. In der Vergangenheit habe es beispielsweise immer wieder Diskussionen dazu gegeben, wie der Bundesrat die Kantone bei Sondierungen einzubeziehen hat, die im Vorfeld von Verhandlungen stattfinden; hier seien durchaus noch Fragen offen.
Aussenminister Ignazio Cassis vertrat sodann den Ablehnungsantrag des Bundesrats. Er gab Würth Recht, dass die Mitwirkung der Kantone bei der generellen Aussenpolitik heute weniger klar geregelt sei als bei Verhandlungen. Allerdings gebe es Gefässe wie den föderalistischen Dialog oder den Europa-Dialog, über welche die Kantone mitwirken könnten und ein ständiger Austausch gepflegt werde. Bei den Beziehungen mit der EU kämen noch zwei weitere Mechanismen hinzu, in denen die Kantone und der Bund bereits kooperierten: erstens die sogenannte kleine Aussenpolitik, also die grenzüberschreitende Zusammenarbeit auf subnationaler Ebene; zweitens gebe es drei Mitarbeitende im EDA, die von der KdK delegiert und bezahlt werden, die aber vollwertig in die Arbeiten der EDA-Abteilung Europa in Bern sowie in Brüssel integriert seien. Ohnehin seien die Kantone auch in der Aussenpolitik die wichtigsten institutionellen Partner des Bundesrats, und dieser könne faktisch «kaum etwas tun, wenn die Kantone dagegen sind». Eine Auslegeordnung in einem Bericht könne man immer machen, aber der Bundesrat sehe beim Einbezug der Kantone keinen Handlungsbedarf – anders wäre dies bei einem Wechsel zu einer dynamischen Übernahme von EU-Recht gewesen, doch dies stehe nach dem Scheitern des Rahmenabkommens nun ja nicht mehr auf der Tagesordnung.
In der Abstimmung folgte schliesslich eine hauchdünne Mehrheit des Ständerats dem Bundesrat – mit 22 Nein- zu 21 Ja-Stimmen bei einer Enthaltung wurde das Postulat abgelehnt.

Verbindliche Beteiligung der Kantone an der aussenpolitischen Entscheidungsfindung des Bundesrates (Po. 21.4192)
Dossier: Mitwirkung der Kantone in der Aussenpolitik

Am 24. November 2021 genehmigte der Bundesrat das MoU mit der EU bezüglich des zweiten Schweizer Beitrags an ausgewählte EU-Mitgliedstaaten, nachdem beide Parlamentskammern den seit 2019 blockierten Beitrag Ende September 2021 freigegeben hatten. Schon Mitte November hatten Bundespräsident Cassis und EU-Kommissar Sefčovič bei ihrem Treffen die auf technischer Ebene erzielte Einigung begrüsst. Für den Bundesrat stelle die Freigabe ein «weiteres positives Signal» an die EU dar, wie er in seiner Medienmitteilung verlauten liess. Das Memorandum beinhalte die wichtigsten Eckwerte des zweiten Schweizer Beitrags wie dessen Höhe, die Aufteilung auf die Partnerländer, die thematischen Prioritäten und die Prinzipien für die Zusammenarbeit und die Umsetzung. Die Unterzeichnung erfolge aber erst, wenn die EU ihre internen Genehmigungsverfahren abgeschlossen habe. Dennoch beschloss der Bundesrat bereits, die Verhandlungen mit den Partnerländern aufzunehmen.
Tags zuvor hatte die APK-NR beschlossen, in der Wintersession 2021 im Rahmen der Debatte zum Voranschlag 2022 einen Antrag auf eine Erhöhung der Kohäsionsmilliarde um CHF 953 Mio. einzureichen, mit dem sie den Beitrag beinahe verdoppeln wollte. Diese Aufstockung sollte mit Konditionen verbunden sein, beispielsweise sollte die EU der Schweiz in mehreren Kooperationsabkommen wie Horizon, Digital Europe, ITER (Internationaler Thermonuklearer Experimental-Reaktor), Euratom und Erasmus+ entgegenkommen. Die NZZ schätzte die Chancen des Antrags als sehr gering ein. Schliesslich setze sich bei Differenzen zwischen den Räten bei Budgetprozessen automatisch die Version mit dem tieferen Betrag durch und bei den Aussenpolitikerinnen und Aussenpolitikern der kleinen Kammer käme die Idee eher schlecht an. Damian Müller (fdp, LU) – Präsident der APK-SR – warnte in der NZZ denn auch vor derartig unüberlegten «Ideen nach dem Prinzip Hoffnung, ohne Strategie und ohne Konzept». In der Budgetdebatte setzte sich die Kommissionsminderheit dann, zur Erleichterung von Finanzminister Maurer, mit 93 zu 84 Stimmen (bei 6 Enthaltungen) durch und versenkte die Idee einer Erhöhung.

Bundesrat genehmigt MoU mit der EU bezüglich des zweiten Schweizer Beitrags an ausgewählte EU-Mitgliedstaaten
Dossier: Schweizer Beitrag an die erweiterte EU

Mitte November 2021 kündigte das EDA an, Bundesrat Cassis werde in den nächsten Tagen nach Slowenien, Saudi-Arabien und Libyen reisen. In Slowenien – welches zu dem Zeitpunkt den Vorsitz im Rat der EU innehatte – unterhielt sich Cassis mit dem slowenischen Aussenminister Logar vornehmlich über die Europapolitik der Schweiz. Wie bereits bei seinem Arbeitsbesuch in Brüssel hob Cassis hervor, dass die Schweiz einen strukturierten politischen Dialog mit der EU aufnehmen wolle. Aussenminister Cassis erwähnte auch die Freigabe der zweiten Kohäsionsmilliarde, zu deren Empfängern auch Slowenien gehört. Ausserdem sprach er das Engagement der Schweiz im Westbalkan zur Förderung von Stabilität, Sicherheit und Demokratie an und lud Slowenien zur Ukraine-Reformkonferenz 2022 ein. Sein slowenisches Pendant betonte die Wichtigkeit, die Partnerschaft mit der Schweiz im Rahmen des slowenischen Vorsitzes weiter auszubauen.
Der Dialog mit dem saudischen Aussenminister Prinz Faisal bin Farhan bin Abdullah bis Faisal Al Saud und dem saudischen Staatsminister für auswärtige Angelegenheiten, Adel Aljubeir, umfasste das Schweizer Schutzmachtmandat, die Stabilität und Sicherheit in der Region, die wirtschaftliche Zusammenarbeit, die nachhaltige Entwicklung und nicht zuletzt die Menschenrechte. Cassis betonte, dass sich die Schweiz im Rahmen der Umsetzung der MENA-Strategie 2021-2024 für mehr politische Stabilität und Sicherheit einsetze, unter anderem indem sie seit 2018 die Interessen Saudi-Arabiens im Iran und umgekehrt vertritt. Mit Bezug auf den Jemen-Krieg forderte der Aussenminister die saudische Delegation auf, den Waffenstillstand und die Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen zu unterstützen, sowie das humanitäre Völkerrecht einzuhalten. Im Bereich der ökonomischen Kooperation lobte Cassis die wirtschaftlichen und sozialen Reformen, die Saudi-Arabien in seiner «Vision 2030» umgesetzt hatte. Diese böten neben einem grossen Potenzial für die Schweizer Wirtschaft auch die Möglichkeit, einen konstruktiven Dialog über Menschenrechte, die Todesstrafe und die Meinungsfreiheit zu führen. Die Schweizer Delegation interessierte sich auch für die Stellung der Frau in der saudischen Gesellschaft und Wirtschaft. Daher traf sich der EDA-Vorsteher ebenfalls mit Vertreterinnen aus Politik, Wirtschaft und Sport, um sich ein Bild über die Situation der Frauen in Saudi-Arabien zu machen.
Den Abschluss der Reise bildete der Staatsbesuch in Libyen, wo sich Cassis mit Premierminister Abdelhamid Dabeiba, dem Vorsitzenden des Präsidialrats Mohamed Menfi und der Aussenministerin Najla Mangoush zu Gesprächen traf. Dabei betonte er, dass die Schweiz im Hinblick auf die Wahlen vom Dezember die vom «Libyschen Politischen Dialogforum» festgelegte Roadmap für den Wahlprozess unterstütze. Auch die Schwerpunkte der MENA-Strategie für Libyen – Migration, Entwicklung der Menschenrechte und die humanitäre Lage im Land — wurden angesprochen. Innerhalb des UNO-Friedensprozesses für Libyen bemühe sich die Schweiz um eine nachhaltige Stabilisierung und Aussöhnung des Landes, so Cassis. Schliesslich berieten die beiden Gesprächsparteien auch über die Wiedereröffnung der Schweizer Botschaft, die 2014 aufgrund der Kampfhandlungen in Libyen aufgegeben worden war.

Bundesrat Cassis Dienstreise nach Slowenien, Saudi-Arabien und Libyen
Dossier: Staatsbesuche im Ausland 2021

Ende Oktober 2021 berichtete der Tages-Anzeiger, dass Aussenminister Cassis Mitte November für einen Arbeitsbesuch nach Brüssel reisen werde, um sich ein erstes Mal mit dem neuen EU-Verantwortlichen für das Schweiz-Dossier – Maroš Sefčovič – zu treffen. Wie Cassis selbst auf Twitter bekannt gab, diente das Treffen dazu, sich gegenseitig kennen zu lernen und über die Zukunft der bilateralen Beziehungen zu sprechen. Wie der Tagesanzeiger berichtete, sei aus EU-Kreisen zu vernehmen, dass die Schweiz nach dem Abbruch der Verhandlungen über das Rahmenabkommen bei der EU an Priorität eingebüsst habe, daran habe auch die Freigabe der zweiten Kohäsionsmilliarde wenig geändert. Etwas anders präsentierte sich die Erwartungshaltung des Bundesrats. Im Vorfeld des Arbeitsbesuchs äusserte sich Cassis in einem Interview mit der NZZ zur EU-Politik der Schweiz und erwartete nach dem positiven Signal der Schweiz mit dem Kohäsionsbeitrag nun eine Reaktion der EU. Darüber hinaus gab er sich jedoch sehr bedacht und warnte, dass man «nicht noch einmal in die gleiche Falle» wie 2013 tappen dürfe, als die Schweiz «Verhandlungen nach dem Prinzip Hoffnung» aufgenommen habe und sich nicht sicher gewesen sei, was sie wolle und zu welchem Preis. Auf die Frage, ob die Schweiz im Gegenzug für den nächsten Kohäsionsbeitrag die Assoziierung bei der Forschungszusammenarbeit fordere, antwortete Cassis, dass man diese «Logik der gegenseitigen Bedingungen» beenden wolle. Cassis dämpfte in seinem NZZ-Interview die Erwartungen an das bevorstehende Treffen und erklärte, man brauche «Zeit, um ohne Druck innenpolitisch unsere Prioritäten zu klären».
Unterdessen drückten immer mehr Parteien und Vertretende aus der Zivilgesellschaft und Wirtschaft ihre Unzufriedenheit mit dem Vorgehen des Bundesrats aus. Dessen dreiteilige Strategie – Kohäsionsmilliarde freigeben, politischen Dialog stärken, einseitige Anpassung von Schweizer Recht – dürfte erst 2024 zu weiteren Verhandlungen führen, konstatierte die Aargauer Zeitung. Sie berichtete auch, dass ungenannte kritische Stimmen Cassis vorwerfen würden, sich vor den Wahlen 2023 nicht «die Finger an diesem toxischen Dossier» verbrennen zu wollen. Das dauere vielen Parteien, darunter den Grünen und den Grünliberalen, und Interessensgruppen, unter anderem der Operation Libero, zu lange. Ständerat Würth (mitte, SG) forderte vom Bundesrat vor allem angesichts der Probleme bei der Forschungskooperation und der Stromversorgung schnellere Lösungen.
Einige Tage vor dem Arbeitsbesuch von Ignazio Cassis reiste Bundespräsident Parmelin nach Brüssel, wo er sich mit Amtskollegen der EFTA- und EU-Staaten traf. Gegenüber den anwesenden Medienschaffenden erklärte er die Vollassoziierung am Forschungsprogramm Horizon Europe als Hauptziel der kommenden Gespräche zwischen der Schweiz und der EU. Das könnte sich als schwierig erweisen, hielt der Tages-Anzeiger fest, denn die EU verknüpfe Kooperationsfragen neuerdings auch mit den institutionellen Marktzugangsfragen, was zu einer schwierigen Verhandlungslage führe. Hinsichtlich regelmässiger Kohäsionszahlungen in der Zukunft meinte Parmelin, dass man alles diskutieren könne. Das Treffen zwischen Cassis und seinem EU-Ansprechpartner sei eine «erste Kontaktmöglichkeit», der Gesamtbundesrat werde zu einem späteren Zeitpunkt konkrete Vorschläge machen müssen, wie es nach dem InstA-Aus weitergehen soll.

Das Treffen zwischen Cassis und Sefčovič fand am 15. November statt und wie angekündigt wurde insbesondere über die Assoziierung an Horizon 2021-2027 und Erasmus+ gesprochen. Cassis bezeichnete diesbezüglich die Verknüpfung von Marktzugangs- und Kooperationsabkommen als kontraproduktiv und unverständlich. In Bezug auf die Freigabe des zweiten Kohäsionsbeitrags zeigte sich Sefčovič erfreut und die beiden Parteien einigten sich auf technischer Ebene auf ein Memorandum of Understanding über das weitere Vorgehen. Das sei ein positives Zeichen, stellte die NZZ fest, habe doch die EU im Vorfeld regelmässige Zahlungen als «Eintrittsticket» für den Binnenmarkt verlangt, während die Schweiz die Zahlungen als freiwilligen Beitrag für die osteuropäischen Staaten verstanden habe. Abschliessend bekräftigten beide Seiten die Bedeutung der bilateralen Beziehungen und hoben den Willen zu einer konstruktiven Zusammenarbeit hervor. Man einigte sich darauf, am Rande des WEF 2022 über eine bis dahin zu erarbeitende Standortbestimmung und eine gemeinsame Agenda zu diskutieren, um strittige Punkte wie die Streitbeilegung und die Rechtsübernahme angehen zu können.
Die Schweizer Medien reagierten mit gemischten Gefühlen auf die Ergebnisse des Treffens. Die lange Dauer der Besprechung – statt der geplanten Stunde erstreckte sich das Gespräch schliesslich über zwei Stunden – wurde unterschiedlich interpretiert: wahlweise als gutes Zeichen oder als Folge neuer Probleme. Der Tages-Anzeiger sah in der harten Wortwahl des EU-Kommissars im Nachgang des Treffens ein Zeichen für die nach wie vor angespannte Beziehung. Bezeichnend dafür sei auch die Feststellung von Ignazio Cassis, dass man die vergangenen Monate unterschiedlich wahrgenommen habe. Der Tages-Anzeiger mutmasste auch, dass das angekündigte Treffen am WEF als neue Frist der EU verstanden werden könne, insbesondere weil Sefčovič ankündigte, dass man dann sehen werde, ob aufseiten der Schweiz ein «ernsthafter politischer Wille» vorhanden sei. Sefčovič machte auf jeden Fall deutlich, dass der abrupte Abbruch der Verhandlungen zu einer Vertrauenskrise geführt habe und die EU vom Bundesrat ein «klares politisches Signal» erwarte, bevor man über Fragen wie die Teilnahme an Horizon Europe nachdenken könne. Gegenüber dem Tages-Anzeiger hielt Sefčovič am horizontalen Verhandlungsansatz der EU fest und lehnte es ab, institutionelle Fragen für jedes Abkommen einzeln zu lösen: Die Roadmap, die am WEF besprochen werden soll, müsse folglich die Schlüsselfragen zur dynamischen Rechtsübernahme, den Staatsbeihilfen, der Streitschlichtung und einem Mechanismus für regelmässige Kohäsionsbeiträge angehen. Die NZZ gab sich dementsprechend pessimistisch und stellte fest, dass man in den bilateralen Beziehungen etwa gleich weit sei wie vor Abbruch der Verhandlungen, beide Seiten würde immer noch aneinander vorbeireden. Diese Kritik machte sie auch an Cassis' abweichender Darstellung des Treffens fest. Dieser meinte beispielsweise, das Parlament habe mit der Freigabe der Kohäsionsmilliarde bereits das stärkstmögliche Signal gesendet und der Bundesrat würde bis Januar 2022 nichts darüber hinaus tun. In Bezug auf die offengebliebenen Fragen der Personenfreizügigkeit habe er seinem Gegenüber klar gemacht, dass man diesbezüglich nicht weiterkommen werde, denn schliesslich habe die Schweiz nicht zuletzt aufgrund dieser Differenzen die Verhandlungen über das Rahmenabkommen abgebrochen.

Aussenminister Cassis reiste für einen Arbeitsbesuch nach Brüssel
Dossier: Beziehungen Schweiz–EU, institutionelle Frage

Ende Oktober 2021 gaben die Operation Libero und die Grünen bekannt, gemeinsam eine Volksinitiative zur Europapolitik lancieren zu wollen. Die Initiative solle dem Bundesrat vorgeben, wie die bilateralen Beziehungen der Schweiz mit der EU zu gestalten seien, liess die Operation Libero in ihrer Medienmitteilung verlauten. Grüne und Operation Libero hofften zu diesem Zeitpunkt, ihre Allianz noch erweitern zu können. Gegenüber der Sonntagszeitung äusserten Vertreterinnen und Vertreter der GLP, der SP und der Europäischen Bewegung zu Beginn ein gewisses Interesse, während die Präsidenten der Mitte und der FDP.Liberalen das Vorhaben bereits zu diesem Zeitpunkt klar ablehnten. FDP-Präsident Thierry Burkart (fdp, AG) bezeichnete dieses in der NZZ als «Operation Eigengoal», mit dem die Verhandlungsposition des Bundesrats geschwächt würde. Seine Partei setze sich zwar für den Erhalt der bilateralen Beziehungen ein, doch der Bundesrat müsse die Beziehungen zur EU ganzheitlich betrachten und die Verhandlungsmasse vergrössern, indem man beispielsweise weitere Abkommen verhandle.

Die Sonntagszeitung zitierte in ihrer Berichterstattung zur Initiativankündigung aus einem ihr vorliegenden Entwurf des Initiativtexts. Demnach sollte der Bundesrat dazu verpflichtet werden, für «eine gesicherte Beteiligung am Binnenmarkt und in weiteren Politikbereichen der EU» zu sorgen und zu diesem Zweck innert dreier Jahre nach Annahme der Initiative ein Projekt für ein Kooperationsabkommen mit der EU auszuhandeln, das die bestehenden bilateralen Verträge sichert und neue Abkommen ermöglicht. In welcher Form der Bundesrat diesen Auftrag erfüllt, wollten die Initiantinnen und Initianten der Regierung überlassen; denkbar seien etwa eine Art «Bilaterale III», ein neuer Anlauf für ein institutionelles Rahmenabkommen, ein neuartiges Kooperationsabkommen oder ein EU-Beitritt. Operation Libero begründete die Dringlichkeit des Anliegens mit den gravierenden Auswirkungen des gescheiterten Rahmenabkommens. Die eingeschränkte Beteiligung von Schweizer Universitäten an EU-Forschungsprojekten wie auch die drohende Energieknappheit seien Folgen der abgebrochenen Verhandlungen und würden den Wohlstand und die Lebensqualität der Schweizer Bevölkerung bedrohen, zitierte «LeTemps» die Bewegung. Man wolle der Zivilgesellschaft dazu verhelfen, an der politischen Debatte teilzunehmen und Einfluss auf das Rahmenabkommen ausüben zu können.

Im Frühjahr 2022 berichteten die Sonntagszeitung und die Aargauer Zeitung, dass die angekündigte Initiative stark ins Stocken geraten sei und die Präsentation des Initiativtexts verschoben werde. Mehrere anfangs noch interessierte Partner, darunter die GLP, die Europäische Bewegung und die SP, hätten sich unterdessen von der Initiative distanziert und zahlreiche Wirtschaftsverbände hätten dem Anliegen bereits bei dessen Ankündigung eine Abfuhr erteilt. Sanija Ameti, Co-Präsidentin der Operation Libero – gestand ein, dass man sich nach einem halben Jahr eine breite pro-europäische Allianz erhofft habe. Den möglichen Initiativ-Partnern warf sie vor, kein Interesse an einer langfristigen Europa-Strategie zu haben und sich vor den eidgenössischen Wahlen nicht mit konkreten Lösungsvorschlägen exponieren zu wollen. SP-Co-Präsident Cédric Wermuth (sp, AG) setzte sich gegen diesen Vorwurf zur Wehr. Das Initiativanliegen – einen neuen Anlauf für die Beziehungen zur EU zu lancieren – sei bereits erfüllt, denn seit Herbst 2021 habe sich diesbezüglich viel getan. Tatsächlich reiste Aussenminister Ignazio Cassis im November 2021 für einen Arbeitsbesuch nach Brüssel und im Januar 2022 präsentierte der Gesamtbundesrat die neue Stossrichtung für das Verhandlungspaket mit der EU. In der Frühjahrssession 2022 hatte der Nationalrat zudem einer parlamentarischen Initiative der APK-NR (Pa. Iv. 21.480) Folge gegeben, mithilfe derer ein Bundesgesetz für die Weiterführung und Erleichterung der Beziehungen mit der EU eingeführt werden soll. Und selbst ein Postulat, welches die Prüfung eines EWR-Beitritts verlangte (Po. 21.3678), wurde von Bundesrat und Nationalrat durchgewinkt. Diese positiven Signale hätten dafür gesorgt, dass das Parlament die weitere Arbeit des Bundesrats abwarten wolle. GLP-Präsident Jürg Grossen (glp, BE) merkte denn auch an, dass «das Instrument der Initiative und das Timing» nicht stimmten. Sanija Ameti wollte die Initiative indes noch nicht beerdigen, sondern deren Beratung weiterführen. Sofern der Ständerat die vom Nationalrat angenommene parlamentarische Initiative (Pa. Iv. 21.480) ebenfalls annehme, könne man jedoch darüber nachdenken, ob es die Volksinitiative noch brauche.

Volksinitiative zur Europapolitik der Operation Libero und der Grünen