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Jahresrückblick 2022: Aussenpolitik

Nach der Corona-Pandemie und dem institutionellen Rahmenabkommen 2020 und 2021 wurde das Jahr 2022 nun von einem gänzlich neuen Thema dominiert: Der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine löste in der Schweiz nicht nur Diskussionen zum Sanktionswesen aus, sondern auch eine Grundsatzdebatte zur Schweizer Neutralitätspolitik. Die APS-Zeitungsanalyse für das Jahr 2022 zeigt – im Vergleich zu den Vorjahren – das Aufkommen komplett neuer Themenschwerpunkte wie «Neutralität» und «Sanktionen» in der Medienberichterstattung (vgl. Abbildung 2 der Analyse im Anhang). Wenig überraschend zeigen sich Ausschläge in der Artikelzahl zum Thema Aussenpolitik im Februar und März rund um den Kriegsausbruch in der Ukraine. Zwar nahm der prozentuale Anteil der Berichte dazu in den folgenden Monaten ab, hielt sich aber bis in den Herbst hinein auf einem hohen Niveau.

Das Jahr 2022 begann aussenpolitisch mit einem grossen Paukenschlag, dem Kriegsausbruch in der Ukraine Ende Februar, der den Bundesrat gemäss Medien völlig auf dem falschen Fuss erwischte. Noch im Januar hatten sich die Aussenminister Russlands und der USA in Genf getroffen, um die angespannte Lage an der russisch-ukrainischen Grenze zu deeskalieren. Aussenminister Cassis hatte damals von einer «freundschaftlichen, aber konzentrierten Stimmung» gesprochen. Der Angriff Russlands auf die Ukraine im Donbass löste im Parlament, wie auch in der Bevölkerung heftige Reaktionen aus. Stände- und Nationalrat verabschiedeten wenige Tage nach Kriegsausbruch eine Erklärung, mit der sie einen sofortigen Waffenstillstand verlangten, und übten in der Folge Druck auf den Bundesrat aus, wirtschaftliche Sanktionen der EU zu übernehmen. Nach mehreren verbalen Verurteilungen des Vorgehen Russlands als völkerrechtswidrig und aufgrund des massiven Drucks aus dem In- und Ausland beschloss der Bundesrat am 27. Februar die Übernahme der Sanktionspakete der EU gegen Russland. Bundespräsident Cassis wurde in der Folge nicht müde zu betonen, dass die Schweiz ihre Neutralität mit dieser Art der Sanktionsübernahme beibehalte. In den folgenden Wochen und Monaten übernahm die Schweiz sämtliche Ausweitungen der Sanktionen der EU gegen Russland – und später auch gegen Belarus. Fast zeitgleich zur Übernahme des EU-Sanktionsregimes gab die Regierung bekannt, die ukrainische Bevölkerung mit Hilfsgütern zu unterstützen. Ein erstes Paket in Höhe von CHF 8 Mio. wurde in raschen Abständen durch weitere Hilfsgüterlieferungen und die finanzielle Unterstützung von humanitären Organisationen ergänzt. Im Bereich der Guten Dienste unterstützte die Schweiz den Reform- und Wiederaufbauprozess in der Ukraine mithilfe der von langer Hand geplanten Ukraine Recovery Conference, die im Juli in Lugano stattfand. Die seit 2017 jährlich stattfindende Ukraine Reform Conference wurde angesichts des Kriegsgeschehens umbenannt und inhaltlich neu ausgerichtet.

Der Erlass und die Übernahme von Sanktionen stellten nicht nur den Bundesrat, sondern auch das Parlament vor neue Fragen und hielten dieses auf Trab. Davon zeugen nicht nur die parlamentarischen Vorstösse zum Thema, sondern auch die intensiven Debatten, die im Rahmen der Anpassung des Embargogesetzes geführt wurden. Eine bereits im Jahr 2019 eingereichte parlamentarische Initiative zur Einführung einer Rechtsgrundlage für gezielte Sanktionen bei schweren Menschenrechtsverletzungen und Korruption durch hochrangige Politiker und Politikerinnen erhielt aufgrund der geopolitischen Umstände besondere Relevanz. Zwar wurde diese vom Ständerat abgelehnt, doch trug sie massgeblich zu einer umfassenden Debatte innerhalb des Parlaments über das Schweizer Sanktionswesen bei. Im Mai 2022 verlangte die APK-NR vom Bundesrat mittels einer Kommissionsmotion die Entwicklung einer kohärenten, umfassenden und eigenständigen Sanktionspolitik. Der reine Nachvollzug von EU- und UNO-Sanktionen genügten nach Ansicht der Kommission nicht, um die Landesinteressen der Schweiz in den Bereichen Sicherheit, Versorgungssicherheit und Rechtsstaatlichkeit zu gewährleisten.

Eng mit den Überlegungen zur Sanktionsthematik verknüpft war die Frage, inwiefern die Schweiz diese mit ihrer Neutralität respektive mit ihrer Neutralitätspolitik vereinbaren könne. Während die SVP die Schweizer Neutralität durch die übernommenen EU-Sanktionen als bedroht erachtete, liess Alt-Bundesrat Blocher bezüglich der Sanktionsübernahme verlauten: «Wer hier mitmacht, ist eine Kriegspartei.» Derweil wünschte sich die APK-SR vom Bundesrat in einem Postulat mehr Klarheit und Orientierung in der Neutralitätspolitik. Diese Forderung versprach der Bundesrat durch einen aktualisierten Neutralitätsbericht – der letzte stammte aus dem Jahr 1993 – zu erfüllen. Aussenminister Cassis scheiterte jedoch Anfang September mit der Konzeptionierung der von ihm geprägten «kooperativen Neutralität», als der Gesamtbundesrat den Neutralitätsbericht zurückwies. Erst Ende Oktober verabschiedete die Regierung den Bericht in Erfüllung des Postulats und beschloss, an der Neutralitätspraxis aus dem Jahr 1993 festzuhalten. Im gleichen Monat kündigte die neu gegründete nationalkonservative Gruppierung «Pro Schweiz» an ihrer Gründungsversammlung die Lancierung einer Volksinitiative an, mit der sie die «immerwährende bewaffnete Neutralität» der Schweiz in der Verfassung festschreiben will.

Wenn auch nicht im gleichen Ausmass wie in den Jahren zuvor, sorgten aber auch im Jahr 2022 die bilateralen Beziehungen mit der EU für einige Schlagzeilen. Insbesondere die vom Bundesrat im Januar vorgestellte neue Stossrichtung für das Verhandlungspaket mit der EU sorgte aufgrund des gewählten sektoriellen Ansatzes vielerorts für Kopfschütteln, nicht zuletzt bei EU-Vertreterinnen und -Vertretern selbst. Auch das Parlament kämpfte weiterhin mit den Nachwehen des gescheiterten Rahmenabkommens und beschäftigte sich mit der Vielzahl der 2021 eingereichten parlamentarischen Vorstösse, deren Forderungen von einer nachhaltigen Zusammenarbeit mit der EU, über einen EWR-Beitritt bis zum EU-Beitritt reichten. Der vom Bundesrat versprochene Europabericht, welcher eine Vielzahl der Vorstösse hätte beantworten sollen, liess indes auf sich warten. Im März schwebte überdies die Abstimmung über das Frontex-Referendum wie ein Damoklesschwert über der sowieso schon belasteten Beziehung mit der EU. Ein Nein hätte unter Umständen den Ausschluss aus dem Schengen/Dublin-Abkommen nach sich ziehen können. Zwar verschwanden entsprechende Diskussionen nach dem deutlichen Ja im März 2022 rasch, ein im Sommer publik gewordener Briefwechsel zwischen EU-Vize-Kommissionspräsident Maros Sefčovič und Staatssekretärin Livia Leu warf jedoch ein erneut negatives Licht auf den Stand der bilateralen Verhandlungen. Daraus ging hervor, dass auf beiden Seiten weiterhin Unklarheiten über die jeweiligen Forderungen und roten Linien existierten. Etwas Versöhnlichkeit zeigte das Parlament im März, als es einer Aktualisierung des Abkommens mit der Europäischen Gemeinschaft über Zollerleichterungen und Zollsicherheit zustimmte, sowie in der Herbstsession mit der Annahme zweier Vorlagen zur Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands. Auch die Anpassungen der Systeme ETIAS und VIS waren in beiden Räten ungefährdet.

Im Gegensatz zu den stagnierenden Beziehungen zur EU zeigte sich die Schweiz sehr aktiv im Umgang mit einzelnen Partnerländern. Das Verhältnis zum Vereinigten Königreich wurde im Frühling 2022 unter anderem durch ein Mobilitätsabkommen für Dienstleistungserbringende, ein Sozialversicherungsabkommen und durch einen Präsidialbesuch von Bundespräsident Cassis in London gestärkt. Ebenfalls im Frühjahr reiste Cassis wenige Wochen nach der Annahme des neuen Grenzgängerabkommens mit Italien im Parlament nach Italien, um sich unter anderem mit dem italienischen Aussenminister Luigi di Maio zu treffen. Generell zeigte sich Cassis in seiner Doppelrolle als Aussenminister und Bundespräsident sehr reise- und gesprächsfreudig. Das belegen unter anderem Staatsbesuche in Österreich und der Tschechischen Republik, Polen und Moldawien, Japan, Niger und dem Vatikan, aber auch Gespräche mit dem Aussenminister der VAE und der slowakischen Präsidentin Zuzana Čaputová.
In seiner Chinapolitik musste der Bundesrat 2022 innenpolitisch mehrere Dämpfer hinnehmen: Das Parlament stimmte gegen seinen Willen mehreren Motionen zu, mit denen die wirtschaftlichen Beziehungen mit China und der Whole-of-Switzerland-Ansatz anders ausgestaltet werden sollen.
Auf multinationaler Ebene stach insbesondere die erfolgreiche Wahl der Schweiz als nichtständiges Mitglied des UNO-Sicherheitsrats im Juni hervor. Darüber hinaus beschloss das Parlament, dass sich die Schweiz weiterhin an der internationalen Währungshilfe beteiligen soll, und verabschiedete einen Verpflichtungskredit in Höhe von CHF 10 Mrd. bis 2028, der als Notreserve bei starken Störungen des internationalen Währungssystems eingesetzt werden kann.

Jahresrückblick 2022: Aussenpolitik
Dossier: Jahresrückblick 2022

Jahresrückblick 2022: Rechtsordnung

Im Jahr 2022 standen im Themenbereich Rechtsordnung mehrere grosse zivil- und strafrechtliche Gesetzesrevisionen auf der Agenda, so etwa die beiden langjährigen Grossprojekte zur Verbesserung der Praxistauglichkeit der Straf- und der Zivilprozessordnung. Beide Gesetze waren in den 2000er-Jahren geschaffen worden, um die bis dahin verschiedenen kantonalen Verfahrensregeln schweizweit zu vereinheitlichen. Knapp zehn Jahre nach Inkrafttreten wurden die beiden Prozessordnungen – nicht zuletzt in Reaktion auf zahlreiche parlamentarische Vorstösse – einer Gesamtschau unterzogen und wo nötig überarbeitet.

Bei der Revision der Strafprozessordnung, die im Sommer 2022 abgeschlossen wurde, blieb der ganz grosse Wurf nach umfangreichen Debatten letztlich aus. Mit seinem Hauptanliegen, der Einschränkung der Teilnahmerechte, konnte der Bundesrat nicht beide Parlamentskammern überzeugen, weshalb die heutige Regelung bis auf Weiteres unverändert bestehen bleibt. Die Regierung hatte mit der Möglichkeit, Beschuldigte unter gewissen Umständen von den Einvernahmen mitbeschuldigter Personen auszuschliessen, verhindern wollen, dass mehrere Beschuldigte ihre Aussagen einander anpassen können. Das in der juristischen Praxis festgestellte Problem, das gemäss Bundesrätin Karin Keller-Sutter einer der Hauptauslöser für die Vorlage gewesen war, blieb damit ungelöst. Dennoch wurden an der Strafprozessordnung viele punktuelle Neuerungen vorgenommen, etwa bei den Grundlagen zur Erstellung von DNA-Profilen oder bei den Verfahrensrechten. Das vom links-grünen Lager aufs Tapet gebrachte Konzept der restaurativen Gerechtigkeit wurde zwar im Zuge dieser Revision noch abgelehnt, ist aber damit nicht vom Tisch: Mit der Annahme einer entsprechenden Motion der RK-SR beauftragten die eidgenössischen Räte den Bundesrat, eine Gesetzesgrundlage zur Verankerung der «justice restaurative» in der Strafprozessordnung auszuarbeiten.

Bei der Revision der Zivilprozessordnung schlug das Parlament die wichtigsten Pflöcke ein, wenngleich Ende 2022 noch einige Differenzen bestanden. So wurden verschiedene Massnahmen getroffen, um die Prozesskosten zu senken und so den Zugang zum Gericht zu erleichtern. Zudem sollten Erleichterungen in der Verfahrenskoordination sowie die Stärkung des Schlichtungsverfahrens die Effizienz der Prozesse steigern. Im Parlament waren vor allem die Frage der zulässigen Verfahrenssprachen an kantonalen Gerichten sowie eine Lockerung der Voraussetzungen für vorsorgliche Massnahmen gegen Medien hoch umstritten. Gegen den Willen des Bundesrats setzten die eidgenössischen Räte durch, dass es einfacher sein soll, die Veröffentlichung von rufschädigenden Medienberichten mittels superprovisorischer Verfügung vorläufig zu verhindern. Erfolgreich war der Bundesrat hingegen mit seinem Ansinnen, die Einrichtung internationaler Handelsgerichte in den Kantonen zu fördern: Den Kantonen ist es künftig freigestellt, in internationalen Handelsstreitigkeiten an ihren Gerichten auch Englisch und alle Schweizer Landessprachen als Verfahrenssprachen zuzulassen.

Begleitet von einer regen gesellschaftlichen Debatte begannen die eidgenössischen Räte die Beratung der Revision des Sexualstrafrechts. Der aus der Harmonisierung der Strafrahmen herausgetrennte Entwurf war in der Vernehmlassung grundsätzlich positiv aufgenommen worden und der Reformbedarf war auch in der Gesellschaft nahezu unbestritten. In einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage hielten nur 13 Prozent der Befragten die geltenden Normen für ausreichend. Mit dem neuen Sexualstrafrecht soll etwa der Straftatbestand der Vergewaltigung neu definiert werden, so dass nicht mehr nur Frauen davon betroffen sein können und dass keine Nötigung mehr vorausgesetzt wird. Hauptstreitpunkt war sowohl im Parlament als auch ausserhalb, ob anstelle von abgenötigten sexuellen Handlungen neu Handlungen «gegen den Willen» des Opfers oder «ohne Einwilligung» des Opfers unter Strafe stehen sollen. Während sich der Bundesrat und der Ständerat als Erstrat für die sogenannte Widerspruchslösung («Nein heisst Nein») aussprachen, schwenkte der Nationalrat als Zweitrat auf die Zustimmungslösung – die in der gesellschaftlichen Debatte lautstark geforderte «Nur-Ja-heisst-Ja»-Variante – um. Der Ball liegt 2023 wieder beim Ständerat. Wie die APS-Zeitungsanalyse zeigt, war die Reform des Sexualstrafrechts ein Treiber der medialen Debatte im Bereich Rechtsordnung: Über den Jahresverlauf waren im April, im Juni sowie gegen Ende Jahr drei kleine Spitzen in der Medienaufmerksamkeit zu verzeichnen, als jeweils die Stellungnahme des Bundesrats und die Behandlung in den beiden Parlamentskammern aktuell waren.

Im Bereich Innere Sicherheit trat Anfang Juni 2022 das Bundesgesetz über präventiv-polizeiliche Massnahmen zur Terrorismusbekämpfung (PMT) in Kraft. Obwohl sich Bundesrat und Parlament bei der Ausarbeitung des PMT-Gesetzes aus Menschenrechtsbedenken gegen die Präventivhaft als zusätzliche Massnahme entschieden hatten, beschäftigte diese die eidgenössischen Räte auch nach Inkrafttreten des Gesetzes weiter. Eine 2020 eingereichte parlamentarische Initiative, die eine gesicherte Unterbringung für staatsgefährdende Personen forderte, wurde erst in der Wintersession 2022 erledigt. Derselbe Casus Belli – die fragliche Vereinbarkeit mit den Menschenrechten – lag auch der umstrittenen Abschreibung einer Motion zur Ausweisung von Terroristinnen und Terroristen in Folterstaaten zugrunde. Ein rechtsbürgerlicher Teil des Parlaments wollte sich nicht damit abfinden, dass der Bundesrat die Motion nicht umgesetzt hatte. Die Regierung hatte argumentiert, dass eine Umsetzung nicht opportun sei, da die Motion den Bruch von zwingendem Völkerrecht gefordert habe. Beide Räte stimmten letztlich aber der Abschreibung zu.

Mit Ausnahme des Sexualstrafrechts bewegte sich die Medienberichterstattung über den Bereich Rechtsordnung recht gleichförmig auf eher tiefem Niveau übers Jahr 2022 (vgl. Abbildung 1: Anteil Zeitungsberichte pro Monat). Insgesamt erhielt der Bereich Rechtsordnung im Jahr 2022 deutlich weniger mediale Aufmerksamkeit als in den Vorjahren (vgl. Abbildung 2: Anteil Zeitungsberichte pro Jahr). Zum einen stand 2022 keine Volksabstimmung im Bereich Rechtsordnung an und die in den vergangenen Jahren virulente Diskussion über die Corona-Massnahmen war 2022 deutlich weniger relevant. Zum anderen vereinnahmten der Ukraine-Krieg und die damit verbundenen Debatten über die Aufnahme von Flüchtenden, über Sanktionen und Neutralität sowie über eine drohende Energiekrise einen Grossteil der Medienaufmerksamkeit. Der Bereich Rechtsordnung war davon nur marginal tangiert.

Jahresrückblick 2022: Rechtsordnung
Dossier: Jahresrückblick 2022

Ende Mai 2022 traf sich eine Delegation des Bundesrates zum bereits zweiten Mal nach dem Treffen im März mit allen im Parlament vertretenen Parteien im Hotel Bellevue in Bern zu einem Gespräch über den Krieg in der Ukraine und dessen Folgen für die Schweiz. Der Bundesrat erläuterte den Parlamentarierinnen und Parlamentariern, dass sich die Schweizer Antwort auf den russischen Angriffskrieg auf vier Pfeiler stütze, namentlich Recht, Solidarität, Sicherheit und Gute Dienste. Diskutiert wurde nicht nur die anstehende Ukraine Recovery Conference in Lugano, sondern auch die Schweizer Auslegung der Neutralität und der Neutralitätsbericht, den der Bundesrat angekündigt hatte. Die bundesrätliche Delegation legte die sicherheitspolitischen Folgen des Krieges dar, wobei auch der Zusatzbericht des VBS zum Sicherheitspolitischen Bericht 2021 angesprochen wurde. Dieser befasse sich mit der Möglichkeit einer verstärkten internationalen Kooperation in der Sicherheitspolitik, verriet der Bundesrat. Auch zur Beschaffung der F-35A-Jets, zur Migrationspolitik angesichts der ukrainischen Schutzsuchenden und der Energie- und Wirtschaftspolitik stand die Regierung den Parteien Rede und Antwort.

Anfang Juni beurteilte der Bundesrat mehrere umstrittene Kriegsmaterial-Geschäfte. Unter anderem lagen der Schweiz Anfragen von Deutschland (Munition und Radschützenpanzer) und Dänemark (Radschützenpanzer) zur Weitergabe von Kriegsmaterial an die Ukraine vor. Die Regierung lehnte beide Gesuche aufgrund der geltenden Ausfuhrkriterien gemäss Kriegsmaterialgesetz und des neutralitätsrechtlichen Gleichbehandlungsgebots ab. Der Bundesrat stellte jedoch klar, dass Kriegsmaterial-Zulieferungen an europäische Rüstungsunternehmen weiterhin möglich seien, auch wenn die Gefahr bestehe, dass einige der gelieferten Komponenten in Kriegsmaterial verbaut in die Ukraine gelangen könnten. Das Kriegsmaterialgesetz sehe vor, dass sich Schweizer Unternehmen an den internationalen Wertschöpfungsketten beteiligen können, jedoch dürfe gemäss bundesrätlicher Praxis der Anteil der Schweizer Einzelteile am Endprodukt eine gewisse Warenwertschwelle nicht überschreiten. Da zwei weitere Gesuche aus Deutschland (Panzerfaustkomponenten) und Italien (Flugabwehrkomponenten) diese Vorgaben einhielten, wurden sie vom Bundesrat bewilligt.

Eine Woche später beschloss die Landesregierung die Übernahme eines weiteren EU-Sanktionspakets gegen Russland (sechstes Sanktionspaket), das ein Embargo auf Rohöl und gewisse Erdölerzeugnisse aus Russland umfasste. Nebst dem Kauf wurden auch die Einfuhr, Durchfuhr und der Transport in und durch die Schweiz untersagt. Auch die Erbringung entsprechender Dienstleistungen, darunter Versicherungs- und Rückversicherungsdienstleistungen für den Erdöltransport, waren damit nicht mehr erlaubt. Im Finanzbereich wurden diverse Dienstleistungen für die russische Regierung oder für in Russland niedergelassene juristische Personen und Organisationen verboten. Auch ein Werbeverbot, das Medien wie Russie Today oder Sputnik betraf, war im Sanktionsbündel enthalten. Das WBF habe die notwendigen Massnahmen getroffen, um die EU-Sanktionen in Schweizer Recht zu überführen, so die Regierung in ihrer Medienmitteilung. Das WBF habe zudem weitere russische und belarussische Personen und Organisationen auf die Sanktionsliste gesetzt und den Ausschluss von vier russischen und belarussischen Banken aus dem Nachrichtensystem SWIFT bewilligt. Auch die Liste der mit einem Ausfuhrverbot belegten Militär- und Technologiegüter wurde ergänzt.

Über einen Monat später, Anfang August, sah sich die Landesregierung angesichts der «anhaltenden russischen Militäraggression» gezwungen, weitere EU-Sanktionen gegen Russland («Paket zur Aufrechterhaltung und Anpassung») zu verabschieden, deren Umsetzung sie zeitlich oder materiell für dringlich befunden hatte. Es handelte sich hierbei primär um das Verbot, Gold und Golderzeugnisse aus Russland zu kaufen, einzuführen oder zu transportieren, wobei auch Dienstleistungen im Kontext dieser Güter verboten wurden. Um zur Bekämpfung der weltweiten Ernährungs- und Energiekrisen beizutragen, führte der Bundesrat einige Ausnahmebestimmungen ein, unter anderem richteten sich die Verbote nicht gegen Transaktionen im Zusammenhang mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen und der Lieferung von Öl in Drittländer. Ende August übernahm die Schweiz dann auch die technischen Massnahmen des gleichen Sanktionspakets, unter anderem das Verbot, Einlagen entgegenzunehmen, oder Verbote im Zusammenhang mit Ratingdiensten. Auch die Vergabe von öffentlichen Aufträgen an russische Staatsangehörige und in Russland niedergelassene Organisationen wurden übernommen, nachdem der Bundesrat zuvor behördliche Abklärungen zu dieser Frage in Auftrag gegeben hatte.

Da die EU ihr Visumserleichterungsabkommen mit Russland Anfang September vollständig suspendierte, tat ihr dies die Schweiz wenige Wochen später gleich. Damit setzte sie das seit 2009 bestehende Abkommen vorübergehend ausser Kraft, russische Staatsangehörige konnten jedoch weiterhin über das ordentliche Visaverfahren ein Visum beantragen. Bereits im Frühling 2022 hatte die Schweiz Visaerleichterungen für gewisse Personengruppen, unter anderem russische Diplomatinnen und Diplomaten, aufgehoben.

Ende September verkündete der russische Präsident Wladimir Putin die Annexion der von Russland teilweise besetzten Gebiete der Ukraine. Der Bundesrat verurteilte diesen Schritt als «schwerwiegende Verletzung des Völkerrechts» und anerkannte diese Aneignung nicht. Er rief Russland dazu auf, das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte einzuhalten und einen raschen und ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe auf dem gesamten ukrainischen und dem von Russland besetzten Territorium zu gewährleisten, da der bevorstehende Winter humanitäre Hilfe für die Bevölkerung notwendig mache. In Zusammenhang mit der russischen Annexion hiess das WBF Mitte Oktober die Sanktionierung von 30 weiteren russischen Personen und Organisationen gut. Betroffen waren vor allem Personen, die in die von Russland organisierten Referenden in ukrainischen Regionen involviert waren. Damit stimmte die Schweizer Sanktionsliste zu diesem Zeitpunkt mit derjenigen der EU überein.

Obwohl die EU ihr achtes Sanktionspaket bereits Anfang Oktober 2022 verabschiedet hatte, zog die Schweiz erst Ende November des gleichen Jahres vollständig nach. Mit diesem Paket schuf die Schweiz eine Rechtsgrundlage für die Einführung von Preisobergrenzen für russisches Rohöl und Erdölprodukte sowie für Einschränkungen für weitere Eisen- und Stahlprodukte, Luft- und Raumfahrtgüter und weitere wirtschaftlich bedeutende Güter. Zudem wurde die Erbringung von Dienstleistungen in den Bereichen IT, Architektur, Rechtsberatung, Ingenieurwesen an die russische Regierung oder an russische Unternehmen verboten. Nebst den Massnahmen des achten Sanktionspakets erliess der Bundesrat ein Rüstungsgüterembargo gegen Russland, welches aufgrund der Schweizer Neutralität in Teilen auch auf die Ukraine anwendbar war.

Kurz vor Jahresende kündigte der Bundesrat Mitte Dezember erneut die Übernahme eines Sanktionspakets der EU an, wobei dieses vor allem Anpassungen in Bezug auf die Preisobergrenze für Rohöl und Erdölerzeugnisse mit sich brachte – die entsprechenden Bestimmungen stimmten nun mit derjenigen der EU überein. Eine Woche zuvor hatte das WBF bereits die rechtlichen Grundlagen für die Umsetzung ins Schweizer Recht geschaffen und weitere Personen den Schweizer Finanzsanktionen unterstellt.

Die Schweiz übernimmt die EU-Sanktionen gegen Russland
Dossier: Schweizer Reaktion auf die russischen Aggressionen in der Ukraine (ab 2014)
Dossier: Die Schweizer Neutralität

In der Wintersession 2022 erledigte der Ständerat die Motion Regazzi (mitte, TI), die forderte, dass Terroristinnen und Terroristen in ihre Herkunftsländer ausgewiesen werden, unabhängig davon, ob diese als sicher gelten oder nicht. Die SPK-SR hatte ihrem Rat einstimmig beantragt, es dem Nationalrat gleichzutun und den Vorstoss abzuschreiben, was dieser stillschweigend tat. Im Ratsplenum dankte Kommissionssprecher Hans Stöckli (sp, BE) dem Bundesrat für die «sehr gute Botschaft», in der die Regierung dargelegt hatte, weshalb die Motion rechtlich nicht umsetzbar sei. Die Kommission teile die Meinung des Bundesrates vollumfänglich – sie hatte schon 2019 vergeblich für deren Ablehnung plädiert. Das Non-Refoulement-Gebot sei Teil des zwingenden Völkerrechts, von dessen Verpflichtungen sich die Schweiz nicht etwa durch Kündigung von Verträgen befreien könne. Damit sei der Widerspruch zum Anliegen der Motion «unüberbrückbar», erläuterte Stöckli.

Ausweisung von Terroristinnen und Terroristen in ihre Herkunftsländer, unabhängig davon, ob sie als sicher gelten oder nicht (Mo. 16.3982)

Nachdem der Ständerat in der Herbstsession 2022 nicht auf das Geschäft eingetreten war, kamen das Übereinkommen Nr. 190 der internationalen Arbeitsorganisation und ein Bericht zur Jahrhunderterklärung in der darauffolgenden Wintersession in den Nationalrat. Wie bereits in der kleinen Kammer forderte eine Minderheit der vorberatenden RK-NR, angeführt von Pirmin Schwander (svp, SZ), nicht auf das Geschäft einzutreten. Die Minderheit störte sich wie bereits jene im Ständerat an der fehlenden Vernehmlassung, da sie aufgrund der unklaren Rechtsbegriffe durchaus Änderungen der Gesetzesgebungen befürchtete. Kommissionssprecherin Judith Bellaiche (glp, ZH) wies in Bezug auf die Bedenken des Ständerats darauf hin, dass das Übereinkommen in gewissen Bereichen so offen formuliert sei, dass die Schweiz ausreichend Handlungsspielraum bei der Umsetzung besitze. Eine ordentliche Vernehmlassung sei in diesem Fall zudem nicht notwendig, da die Sozialpartner an der Erarbeitung des Übereinkommens beteiligt gewesen seien und die Vernehmlassung demnach keine neuen Erkenntnisse mit sich brächte. Sie beschwichtigte die Kommissionsminderheit, dass das Übereinkommen inhaltlich weitgehend mit dem schweizerischen Rechtsverständnis übereinstimme, auch wenn gewisse kritisierte Begrifflichkeiten «nicht in jedem Punkt identisch sind». Die Fraktionssprecher und -sprecherinnen der SP, Mitte, Grünen, FDP und GLP sprachen sich allesamt für eine Zustimmung zum Bundesbeschluss aus. Mit 121 zu 48 Stimmen (bei 3 Enthaltungen) trat die grosse Kammer auf das Geschäft ein. Im Anschluss stimmte der Nationalrat mit 124 zu 49 Stimmen (bei 4 Enthaltungen) dem Bundesbeschluss zur Genehmigung des Übereinkommens zu und schuf damit eine Differenz zum Ständerat.

Übereinkommen Nr. 190 und Bericht über die Erklärung zum hundertjährigen Bestehen der internationalen Arbeitsorganisation (BRG 22.045)

Mit 145 zu 33 Stimmen bei 2 Enthaltungen überwies der Nationalrat in der Wintersession 2022 die Motion der RK-SR für einen verbesserten Nationalen Aktionsplan gegen Menschenhandel. Eine Minderheit Addor (svp, VS) hatte die Ablehnung der Motion beantragt, weil sich die vorberatende RK-NR dagegen ausgesprochen hatte, die Motion dahingehend auszuweiten, dass sich der neue NAP zusätzlich auch der illegalen Schleusung von Migrantinnen und Migranten widmen sollte. Wie Bundesrätin Karin Keller-Sutter erklärte, sei der neue NAP zwischenzeitlich fertig erarbeitet und vom EJPD, der KKJPD und der SODK genehmigt worden. Er befinde sich bei Bund, Kantonen und Gemeinden bereits in Umsetzung, woran auch eine Ablehnung der Motion nichts mehr ändern würde.

Verbesserter Nationaler Aktionsplan gegen Menschenhandel (Mo. 22.3369)

Im November 2022 reichten die Aussenpolitischen Kommissionen beider Räte zwei fast gleichlautende Kommissionsmotionen zur Unterstützung der iranischen Zivilgesellschaft ein. Während sowohl die APK-NR (Mo. 22.4278) als auch die APK-SR (Mo. 22.4274) den Bundesrat damit beauftragen wollten, angemessene Massnahmen zu ergreifen, um die iranische Zivilgesellschaft in ihrem Kampf für Frauen- und Menschenrechte zu unterstützen, forderte die nationalrätliche Motion zusätzlich die vollständige Übernahme der EU-Sanktionen gegen Mitglieder des iranischen Regimes. Beide Kommissionen begründeten ihre Vorstösse damit, dass das iranische Regime mit physischer Gewalt gegen die zivilgesellschaftlichen Proteste vorgehe und iranische NGOs daher finanziell und durch weitere geeignete Massnahmen unterstützt werden müssten.
Eine Kommissionsminderheit Nidegger (svp, GE) in der APK-NR und eine Kommissionsminderheit Chiesa (svp, TI) in der APK-SR beantragten, die Motionen abzulehnen. Auch der Bundesrat sprach sich für die Ablehnung beider Motionen aus, da die Schweiz bereits mit mehreren diplomatischen Interventionen auf bilateraler und multilateraler Ebene auf die jüngsten Entwicklungen reagiert habe. Das EDA führe zudem einen Menschenrechtsdialog mit dem Iran und spreche dabei auch Einzelfälle von Menschenrechtsverletzungen gezielt und offen an. Eine Unterstützung von zivilgesellschaftlichen Organisationen sei mit erheblichen Risiken verbunden, da Vergeltungsmassnahmen gegen diese Organisationen ergriffen werden könnten, argumentierte der Bundesrat weiter. Die Schweiz arbeite gemäss dem Vorsorgeprinzip mit internationalen Organisationen zusammen, unter anderem unterstütze das EDA Projekte des UNICEF und des OHCHR im Bereich der Jugendjustiz. Die Schweizer Botschaft in Teheran fördere zudem NGO-Projekte in den Bereichen Entwicklung, humanitäre Hilfe und menschliche Sicherheit zugunsten der iranischen Bevölkerung. Der Bundesrat gewichte schliesslich die besondere Rolle der Schweiz mit ihren Schutzmachtmandaten höher als den möglichen Effekt zusätzlicher Sanktionen gegen den bereits stark sanktionierten Iran.

Während der Ständerat die Motion seiner APK in der Frühjahrssession mit 20 zu 19 Stimmen (bei 1 Enthaltung) aufgrund der Gegenstimmen der FDP-, SVP- und einiger Mitte-Mitglieder knapp ablehnte, beschloss der Nationalrat mit 105 zu 65 Stimmen (bei 4 Enthaltungen) gegen den Willen der SVP- und der FDP-Fraktion die Annahme der Motion seiner Kommission. Im Ständerat standen vor allem die wichtige Rolle der Schweiz mit ihren Schutzmachtmandaten im Iran und der privilegierte diplomatische Zugang zum Regime im Vordergrund. Auch in der nationalrätlichen Debatte wurden diese Bedenken aufgeworfen, verfingen aber bei der Ratsmehrheit nicht. Nationalrat Walder (gp, GE) warnte etwa davor, dass der Iran nicht davon ausgehen dürfe, dass ihm die Gewährung von Schutzmachtmandaten eine Vorzugsbehandlung durch die Schutzmächte garantiere. Die Menschenrechtsbilanz des Iran sei seit Jahren dramatisch und ein Verzicht auf weitere Sanktionen könnte als Unterstützung des Regimes interpretiert werden.

Kommissionsmotionen zur Unterstützung der iranischen Zivilgesellschaft (Mo. 22.4278 & Mo. 22.4274)

Mitte November 2022 kündigte das EDA eine Reise von Bundespräsident Cassis nach Malta mit einer anschliessenden Teilnahme am Frankophoniegipfel in Djerba an. Am 18. November traf sich Bundespräsident Cassis mit dem maltesischen Aussenminister Ian Borg, um sich mit ihm über die bilateralen Beziehungen und die nichtständigen Sitze der beiden Länder im UNO-Sicherheitsrat zu unterhalten. Die beiden Kleinstaaten hatten sich zum Ziel gesetzt, gemeinsam für die Eindämmung der Folgen des Klimawandels als Konfliktursache und für die Förderung der Rolle der Frauen als Friedensakteurinnen zu kämpfen. Darüber hinaus wurde die Zusammenarbeit im digitalen Bereich gewürdigt. Die beiden Staaten hatten 2002 die DiploFoundation gegründet, eine NGO in Genf, die kleine und mittlere Staaten im Bereich der digitalen Diplomatie unterstützt. Anlässlich des 20-jährigen Jubiläums nahm Cassis am Summit on Digital Diplomacy and Governance teil. Am Rande des Treffens unterzeichneten die beiden Parteien das bilaterale Abkommen zur Umsetzung des zweiten Schweizer Beitrags an ausgewählte EU-Mitgliedstaaten.

Am Frankophoniegipfel im tunesischen Djerba nahmen rund 30 Staats- und Regierungschefinnen und -chefs teil. Hauptthema des Gipfels war die Digitalisierung und die Vielfalt des frankophonen Raums. Cassis betonte in seiner Rede die Bedeutung neuer Technologien bei der Verbesserung öffentlicher Dienstleistungen und der Lebensbedingungen armer Menschen. Die Frankophonie – die Gesamtheit der französischsprachigen Länder – könne mithilfe der Digitalisierung einen wichtigen Beitrag zur Umsetzung der Ziele der Agenda 2030 leisten, führte Cassis aus. Wie schon beim Staatsbesuch in Malta, wurde über die Stärkung der Rolle von Frauen und Jugendlichen in Friedens- und Entwicklungsprozessen gesprochen. Bundespräsident Cassis ging dabei vor allem auf deren Eingliederung durch Bildung und Beschäftigung ein und erwähnte diesbezüglich die Expertise der Schweiz in den Bereichen Bildung und Berufsbildung, die diese auch in der internationalen Zusammenarbeit einbringe. Der Bundespräsident warb an dem Anlass auch für das internationale Genf, insbesondere dessen Vorreiterrolle im Bereich der digitalen Gouvernanz.

Bundespräsident Cassis auf Malta und am Frankophoniegipfel in Djerba

Am 11. und 12. November 2022 nahm Bundespräsident Ignazio Cassis am 5. Pariser Friedensforum teil und traf sich am Rande der Veranstaltung mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Am Friedensforum nahmen Staats- und Regierungschefs und -chefinnen, Ministerinnen und Minister sowie Vertreterinnen und Vertreter internationaler Organisationen, der Zivilgesellschaft und der Wirtschaft teil. Auf dem Programm standen die Auswirkungen globaler Krisen, die Suche nach Lösungen für den Klimaschutz und die Entwicklung eines sicheren digitalen Umfelds. Beim anschliessenden Treffen mit Macron würdigten die beiden Seiten die Beziehungen ihrer Länder und deren grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Auch über den Krieg in der Ukraine, die Winterhilfszahlungen der Schweiz in Höhe von CHF 100 Mio. an die Ukraine sowie über die Sicherheitslage in Europa sprach der Bundespräsident mit Macron. Bundesrat Cassis tauschte sich mit dem französischen Staatsoberhaupt zudem über den Schweizer Einsitz als nichtständiges Mitglied im UNO-Sicherheitsrat bis 2024 aus. Cassis betonte, dass sich die Schweiz für einen nachhaltigen Frieden, den Schutz der Zivilbevölkerung, Klimasicherheit und einen effizienten Sicherheitsrat einsetzen wolle. Der Aussenminister versicherte Macron, dass es das erklärte Ziel des Gesamtbundesrats sei, den bilateralen Weg mit der EU zu stabilisieren, und verwies dabei auf die intensiven Sondierungsgespräche, welche die Schweiz derzeit mit der EU führe. In der im Oktober 2022 von Macron initiierten Europäischen Politischen Gemeinschaft sehe die Schweiz eine zusätzliche Chance, den Austausch unter den europäischen Partnern zu stärken, so Cassis.

Ignazio Cassis am Pariser Friedensforum und Treffen mit Emmanuel Macron

Anfang November 2022 gab das EDA die Teilnahme von Bundespräsident Cassis und Bundesrätin Sommaruga an der UNO-Klimakonferenz COP27 in Sharm el-Sheik bekannt. Hauptthema der Konferenz sei die Frage, wie das bereits existierende Ziel, die Erderwärmung auf 1.5 Grad zu begrenzen, erreichbar bleibe. Dazu sollten neue Beschlüsse zur Umsetzung des Pariser Übereinkommens gefasst werden. Die Schweiz engagiere sich für mehr Investitionen in den Klimaschutz sowie für die Erarbeitung konkreter Beschlüsse, welche sich auf die Länder und Sektoren mit den grössten Emissionen konzentrierten, so das EDA. Bundespräsident Cassis hielt am Eröffnungsanlass eine Rede, in der er unter anderem Finanzierungshilfen für den Globalen Umweltfonds (CHF 155.4 Mio.), den Sonderfonds Klimaänderungen (CHF 11.8 Mio.) und den Fonds für die am wenigsten entwickelten Länder (CHF 16 Mio.) ankündigte. Am Rande der Konferenz unterzeichnete er ein bilaterales Klimaabkommen mit Marokko. Des Weiteren nahm er an einer Diskussion zum Thema Ernährungssicherheit und Klima teil und sprach mit dem Premierminister von Grossbritannien, der Premierministerin Italiens, den Ministerpräsidenten Schwedens und der Palästinensischen Autonomiegebiete sowie mit den Präsidenten von Slowenien, Rumänien und Israel. Bundesrätin Sommaruga reiste erst am 16. November nach Ägypten, um mit weiteren Umweltministern und -ministerinnen hochrangige Gespräche auf politischer Ebene zu führen.

Teilnahme von Bundespräsident Cassis und Bundesrätin Sommaruga an der UNO-Klimakonferenz COP27
Dossier: Staatsbesuche im Ausland 2022

Anfang November 2022 gab der Bundesrat bekannt, dass das WBF gemeinsam mit dem EDA entschieden habe, die Lieferung iranischer Drohnen nach Russland zu sanktionieren. Damit übernehme die Schweiz die Sanktionen der EU gegen drei iranische Militärangehörige und eine Firma, welche an der Entwicklung und Lieferung von Drohnen an Russland beteiligt gewesen sein sollen. Diese Drohnen seien anschliessend im Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine eingesetzt worden. Die sanktionierten Subjekte durften damit nicht mehr in die EU oder die Schweiz einreisen, mit ihnen durften keine Geschäfte gemacht werden und allfällige Vermögen in der Schweiz konnten eingefroren werden. Gleichzeitig gaben beide Departemente aber auch bekannt, dass man die weiteren – im Zusammenhang mit den gegenwärtigen Protesten – erlassenen EU-Sanktionen gegenüber dem Iran nicht übernehmen wolle. Nach der Tötung von Jina Mahsa Amini in iranischem Polizeigewahrsam am 16. September 2022 war es im Iran zu landesweiten Demonstrationen gekommen, welche die iranische Regierung gewaltsam hatte niederschlagen lassen. Die EU sanktionierte daraufhin elf Personen und vier Organisationen, die sowohl mit dem Tod der jungen Iranerin als auch mit der Protestbekämpfung in Verbindung gebracht wurden. Der Bundesrat rechtfertigte den Verzicht auf die Übernahme dieser Sanktionen damit, dass die Schweiz den Tod von Amini als eines der ersten Länder auf höchster Stufe mit dem Iran thematisiert und eine «rasche, unabhängige und unparteiische Aufklärung gefordert» habe. Auch die Gewaltanwendung gegen Protestierende habe man verurteilt und den Iran auf bilateraler und multilateraler Ebene zur Einhaltung seiner menschenrechtlichen Verpflichtungen aufgefordert. Diese Massnahmen erachtete der Bundesrat als ausreichend. Zudem übernehme die Schweiz fünf Schutzmachtmandate im oder für den Iran, welche ebenfalls in die Abwägung miteingeflossen seien. Die bereits bestehenden Finanz-, Reise- und Gütersanktionen wollte der Bundesrat hingegen weiterhin aufrechterhalten.
Der emeritierte Rechtsprofessor Thomas Cottier erklärte die Zurückhaltung des Bundesrats im Tages-Anzeiger damit, dass die Schweiz bisher noch nie «thematische Menschenrechtssanktionen» – also Sanktionen gegen Staaten, die auf ihrem Gebiet Menschenrechte nicht einhalten – erlassen habe. Dementsprechend wäre eine Übernahme aller EU-Sanktionen ein Paradigmenwechsel mit Präzedenzcharakter gewesen. In der Folge hätte man diese auf weitere Staaten anwenden müssen, da die EU derartige Sanktionen beispielsweise auch gegen China erlassen habe.

Der Entscheid des Bundesrats sorgte für einige rote Köpfe in der Schweizer Parteienlandschaft. Marianne Binder-Keller (mitte, AG) forderte im Tages-Anzeiger mehr Unterstützung der Demokratiebewegung im Iran und kritisierte die nur teilweise erfolgte Sanktionsübernahme. SP-Nationalrat Fabian Molina (sp, ZH) bezeichnete den Bundesratsentscheid gar als «Skandal», für den es rechtlich keinen Grund gebe. Auch in der Bevölkerung formierte sich Widerstand gegen die offizielle Haltung der Schweiz: In Bern protestierten kurz darauf tausende Personen auf dem Bundesplatz gegen das iranische Regime und forderten eine Wende in der Schweizer Iran-Politik. Die grüne Nationalrätin Natalie Imboden (gp, BE), die ebenfalls an den Protesten teilnahm, kritisierte, dass sich die Schweiz hinter ihren Schutzmachtmandaten verstecke.

Bundesrat verhängt Sanktionen gegen den Iran
Dossier: Von der Schweiz ergriffene Sanktionen gegen andere Staaten

Im Oktober 2022 reisten die Bundesräte Ueli Maurer und Guy Parmelin gemeinsam mit Nationalbankpräsident Thomas Jordan nach Washington. Grund für die gemeinsame Reise war nebst der Jahrestagung des IWF und der Weltbank ein im Vorfeld stattfindendes Treffen der Finanzministerinnen und Finanzminister sowie der Notenbankgouverneure- und gouverneurinnen der G20-Staaten. Inhaltich beschäftigte man sich während dieser Treffen mit globalen wirtschaftlichen Herausforderungen und dem daraus resultierenden Handlungsbedarf. Im Zentrum standen die Folgen des Ukraine-Kriegs und die Inflationsdynamik, die den Aufschwung der Weltwirtschaft bremsten, die Armutsbekämpfung erschwerten und die Verschuldungssituation vieler Länder verschärften. Die Schweiz versprach dem IWF einen Beitrag für einen Resilienzfonds zur Bekämpfung des Klimawandels mittels wirtschaftspolitischer Massnahmen. Des Weiteren setzten sich die Schweizer Vertreter im Rahmen des Weltbank-Austauschs dafür ein, mehr Geld für die Bewältigung des Klimawandels zu mobilisieren. Am G20-Treffen setzte sich die Schweizer Delegation dafür ein, dass die Rechtssicherheit der betroffenen Unternehmen bei der Umsetzung der Besteuerung der digitalisierten Wirtschaft gewährleistet wird.

Bundesrat Ueli Maurer und Bundesrat Guy Parmelin an der Jahrestagung des IWF und der Weltbank (2022)
Dossier: Staatsbesuche im Ausland 2022

Ende 2020 forderten fast hundert Regierungen, angeführt von Indien und Südafrika, zusammen mit zahlreichen NGOs eine temporäre Aussetzung der Patente auf Covid-19-Impfstoffen. Dies soll einen Technologietransfer und somit einen schnelleren und günstigeren Zugang zu den entsprechenden Impfstoffen für Menschen in Ländern mit niedrigerem Einkommen ermöglichen. Möglich sei eine solche Aussetzung aufgrund einer seit 1995 bestehenden Ausnahmeregel im TRIPS-Abkommen für geistiges Eigentum der WTO. Im Januar 2021 wandten sich verschiedene Schweizer NGOs in einem offenen Brief mit der Forderung an den Bundesrat, einen entsprechenden Antrag bei der WTO-Sitzung im Februar 2021 zu unterstützen. Dies sei auch im Sinne der Schweiz, zumal die Pandemie nur gemeinsam besiegt werden könne. Im September 2021 reichte der Kanton Jura überdies eine Standesinitiative ein, in der er ebenfalls ein entsprechendes Engagement der Schweiz forderte.

In den Medien wurde dieser Problematik ein gewisses Verständnis entgegengebracht. So seien zum Beispiel 80 Prozent der ersten Milliarde Impfdosen in den reichen Ländern verwendet worden – dort werde überdies 25-mal schneller geimpft als in den Ländern mit niedrigeren Einkommen. Reiche Länder mit 16 Prozent der Weltbevölkerung hätten zudem über die Hälfte der Impfstoffe aufgekauft, während in 100 Ländern noch keine Person geimpft worden sei. Schliesslich seien im Juni 2021 90 Prozent der Impfungen in den G20-Staaten erfolgt und nur 0.3 Prozent in den Staaten mit den niedrigsten Einkommen. Als besonders stossend wurde dies in den Medien in Anbetracht der hohen Kursgewinne und Umsätze der mit der Impfung beschäftigen Unternehmen erachtet.
Zu Wort kamen in den Medien aber auch die Pharmaunternehmen und -verbände, welche die Forderung ablehnten. So sei die Entwicklung der Impfstoffe einerseits das Verdienst der Unternehmen, andererseits sei eine Aussetzung der Patente kontraproduktiv, weil es dadurch zukünftig an Investitionen fehlen würde – so werde die entsprechende Forschung nur aufgrund der Verdienstaussichten fremdfinanziert. Darüber hinaus reiche der Erhalt eines Patents zur Produktion nicht aus – anschliessend stelle sich das Problem der fehlenden Rohstoffe und Herstellungskapazitäten.
Die Medien zeigten sich grösstenteils von letzterer Argumentation überzeugt, vereinzelt wurde jedoch auch darauf hingewiesen, dass die Covid-19-Impfstoffe zu einem grossen Teil von Staaten mitfinanziert worden seien – insbesondere durch die USA. Die WOZ ergänzte, dass die Impferfolge zu einem grossen Teil auch auf jahrzehntelanger öffentlich finanzierter Forschung beruhten. Zudem seien gemäss SP-Nationalrat Molina (sp, ZH) etwa in Indien und Südafrika durchaus Produktionskapazitäten vorhanden. Als Alternative wurde vor allem die Verteilung der Impfstoffe durch die Covax-Initiative für einen gerechten Zugang zu Covid-19-Impfstoffen hervorgehoben. Diese funktioniere jedoch nicht, weil die Industriestaaten die meisten Impfstoffe aufkaufen würden und somit für die übrigen Staaten mangels zu niedriger Produktion keine Impfstoffe übrig blieben, erwiderte erneut die WOZ.

Im Februar 2021 sprach sich die Schweizer Delegation beim WTO-Treffen für die Aufrechterhaltung der Patente aus, genauso wie die Delegationen der meisten EU-Staaten und der USA. Im Mai 2021 wurde jedoch bekannt, dass die US-Regierung ihre Meinung in der Zwischenzeit geändert hatte und eine zeitlich begrenzte Aufhebung der Patente befürwortete. Dazu wäre jedoch eine einstimmige Entscheidung der WTO nötig, wie die Medien berichteten. Im Anschluss an diese Meldung aus den USA brachen die Aktienkurse von Biontech, Curevac und Moderna gemäss NZZ ein.

Am World Health Summit der G20 im Mai 2021 blieb eine Entscheidung zu den Patenten aus, jedoch versprachen die Pharmaunternehmen Pfizer, Moderna und Johnson&Johnson eine vermehrte, teilweise vergünstigte Lieferung von Covid-19-Impfstoffen in die Staaten mit tieferen Einkommen. Nachdem Ende 2021 die 12. WTO-Ministerkonferenz Corona-bedingt verschoben werden musste, wurde es in den Medien trotz verschiedener erneuter Aufrufe von NGOs still um die Forderung.

Im Oktober 2022 sprach sich die SGK-SR gegen die Forderung des Kantons Jura aus, zumal die Impfkapazitäten in der Zwischenzeit stark gesteigert worden waren, während die Nachfrage nach dem Impfstoff abnahm.

Sollen Patente für Covid-19-Impfstoffe zugunsten ärmerer Länder ausgesetzt werden?

Anfang Oktober 2022 reiste Bundespräsident Cassis an das erste Treffen der «Europäischen Politischen Gemeinschaft» in Prag. Diese neuartige Konferenz wurde gemäss EDA dazu geschaffen, Verbindungen zwischen Staaten innerhalb und ausserhalb Europas zu schaffen und den politischen Dialog sowie die Zusammenarbeit in Europa zu fördern. Bundespräsident Cassis sah in diesem Format eine «willkommene Möglichkeit für einen direkten und informellen Austausch mit anderen europäischen Ländern». Initiiert wurde der Anlass bereits im Frühjahr 2022 vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron, in der Folge nahmen der Europäische Rat und die tschechische EU-Ratspräsidentschaft die Idee auf und organisierten das Treffen in Prag. Hauptthemen des informellen Austauschs waren die Sicherheit und Stabilität, Energie, Klima sowie die wirtschaftliche Situation in Europa. Insgesamt nahmen 44 Staatsoberhäupter am Treffen teil, nebst den EU-Mitgliedsländern waren 17 weitere Länder vertreten. Ausser Russland und Belarus waren fast alle Länder eingeladen, die zum weit gefassten europäischen Raum zählen, darunter auch Aserbaidschan und Armenien. Die Aargauer Zeitung bezeichnete den Anlass daher etwas pauschal als «Anti-Putin-Gipfel», der zeige, wie isoliert der russische Präsident in Europa sei. In Zukunft sollen laut EDA ein bis zwei solcher Treffen pro Jahr stattfinden, alternierend in EU- und Nicht-EU-Staaten. Ignazio Cassis nutzte die Gelegenheit, um sich am Rande der Veranstaltung bilateral mit den Regierungschefs von Frankreich, Belgien, Spanien, Italien und Portugal zu treffen. Gemeinsam mit dem griechischen Premierminister Kyriakos Mitsotakis leitete Cassis zudem einen runden Tisch zum Thema «Energie, Klima und Wirtschaft».
Im Vorfeld des Treffens hatten sich verschiedene Parlamentarierinnen und Parlamentarier zur Schweizer Teilnahme geäussert. Damian Müller (fdp, LU) bezeichnete das Treffen gegenüber Le Temps als Chance für die Schweiz, um sich mit europäischen Partnern zu vernetzen und Verständnis für die Position der Schweiz im Hinblick auf die anstehenden Verhandlungen mit der EU zu schaffen. Auch Mitte-Parteipräsident Gerhard Pfister (mitte, ZG) begrüsste den Austausch zur Stärkung der innereuropäischen Sicherheitskoordinierung. Carlo Sommaruga (sp, GE) warnte hingegen davor, die europäische Zukunft der Schweiz in der politischen Gemeinschaft zu sehen. Wichtig für die Schweiz sei eine starke Partnerschaft mit der EU selber, da diese die Wirtschaft und Bevölkerung des Landes stark beeinflusse, mahnte der SP-Ständerat.
Wenige Tage nach dem Treffen besuchte Bundespräsident Cassis den Europarat in Strassburg, wo er der parlamentarischen Versammlung des Europarates die Ziele und Visionen der Schweiz für die Zukunft der Organisation vorstellte. Der Besuch von Cassis war der erste eines Bundespräsidenten respektive einer Bundespräsidentin nach Flavio Cotti 1991. Im Rahmen verschiedener bilateraler Treffen mit Vertreterinnen und Vertretern des Europarats betonte der Bundespräsident die Bedeutung der Arbeit der parlamentarischen Versammlung des Europarats.

Treffen der «Europäischen Politischen Gemeinschaft»
Dossier: Staatsbesuche im Ausland 2022

In der Herbstsession 2022 mussten die beiden Räte erneut über die Fristverlängerung der Motion Marty (fdp, TI) «Die UNO untergräbt das Fundament unserer Rechtsordnung» entscheiden. Marty hatte 2009 vom Bundesrat gefordert, der UNO mitzuteilen, dass die Schweiz UNO-Resolutionen im Namen der Terrorismusbekämpfung nicht mehr umsetzen werde, sofern diese nicht gewisse rechtsstaatliche Kriterien erfüllten. Die APK-NR hatte ihrem Rat im Juni 2022 mit 18 zu 3 Stimmen (bei 1 Enthaltung) die Fristverlängerung beantragt, die APK-SR hatte es ihr im August 2022 mit 7 zu 0 Stimmen (bei 1 Enthaltung) gleichgetan.

Im Ständerat verlangte eine Minderheit Minder (parteilos, SH) die Abschreibung der Motion, da keine Hoffnung mehr bestehe, dass der Bundesrat die Motion wunschgemäss umsetzen könne. Die Schuld dafür sah Minder jedoch nicht beim Bundesrat, sondern verortete diese vielmehr bei der UNO, die ihre «eigenen Regeln» habe. Die Schweiz könne sich bei künftigen Resolutionen in Sachen Terrorismus im UNO-Sicherheitsrat direkt im Sinne der Motion einbringen oder das Motionsanliegen gegenüber der EU im Kontext der Sanktionen gegen Russland ansprechen. Auch Aussenminister Cassis forderte die kleine Kammer dazu auf, die Motion abzuschreiben, da sich die Schweiz so oder so für die Stärkung der Ombudsperson und der Rechtsstaatlichkeit bei der UNO einsetzen werde. Der Ständerat beschloss jedoch mit 21 zu 16 Stimmen die erneute Fristverlängerung der Motion.
Wenige Tage später tat es ihr der Nationalrat mit 126 zu 64 Stimmen (bei 1 Enthaltung) gleich. Auch hier hatte sich eine Minderheit Pfister (mitte, ZG) für die Abschreibung der Motion eingesetzt, da das Motionsanliegen bei der UNO formell umgesetzt worden sei. Pfister empfand zudem den Titel als unpassend, nun da die Schweiz kurz davor stehe, Einsitz in den UNO-Sicherheitsrat zu nehmen. Eine Mehrheit der APK-NR vertrat jedoch die Auffassung, dass trotz der erfolgreichen Arbeit des Ombundsmannes weiterhin Mängel in Bezug auf die Achtung der Menschenrechte und Verfahrensgarantien bei der UNO bestünden, wie ihre Sprecherin Sibel Arslan (basta, BS) erklärte.

Non-application des sanctions de l'ONU dans le cadre de la lutte contre le terrorisme (Mo. 09.3719)

Im Juni 2022 verlangte Nationalrat Nicolas Walder (gp, GE) vom Bundesrat einen Bericht über die Attraktivität und Effizienz des internationalen Genf für Aktivitäten und Organisationen im Zusammenhang mit Friedensprozessen. Dieser solle eine Übersicht über die in Genf angesiedelten Aktivitäten und Organisationen im Zusammenhang mit Friedensprozessen sowie eine Analyse der momentanen Entwicklungen im Bereich der Mediation und Friedenskonsolidierung beinhalten. Zudem forderte Walder eine Evaluation der innovativen Initiativen im Bereich der Friedensförderung und eine Einschätzung dazu, welche Instrumente der Bund entwickeln könnte, um die Entfaltung solcher Initiativen mit mehreren Stakeholdern zu begünstigen und deren Verankerung in Genf zu fördern. Der Bundesrat beantragte die Annahme des Postulats, da dessen Anliegen in der geplanten Strategie«Multilateralismus und Gaststaat» erfüllt werde. In der Herbstsession 2022 wurde das Postulat von Andreas Glarner (svp, AG) bekämpft.

Attraktivität und Effizienz des internationalen Genf für Aktivitäten und Organisationen im Zusammenhang mit Friedensprozessen stärken (Po. 22.3585)
Dossier: Internationales Genf

Die parlamentarische Initiative 20.504 zur Strafbarkeit von Folter habe ihn, so erklärte Ständerat Mathias Zopfi (gp, GL) seine Beweggründe im Ständeratsplenum, zur Feststellung veranlasst, dass die darin aufgezeigte Strafbarkeitslücke nicht nur die Folter betreffe: Auch andere vorsätzliche Verstösse gegen Bestimmungen des zwingenden Völkerrechts – beispielsweise Sklaverei oder illegale Rückschiebungen – könnten im geltenden Recht nur geahndet werden, wenn sie im Zusammenhang eines bewaffneten Konflikts stehen. Ein Straftatbestand für Verstösse gegen zwingendes Völkerrecht ohne Zusammenhang mit einem bewaffneten Konflikt fehle in der Schweizer Rechtsordnung allerdings. Mit einem Postulat forderte Zopfi den Bundesrat daher auf zu prüfen, ob diese Strafbarkeitslücken tatsächlich bestehen, und darzulegen, wie sie allenfalls durch Anpassungen im Strafrecht geschlossen werden könnten. Der Bundesrat beantragte das Postulat zur Annahme, obgleich er keine solchen Strafbarkeitslücken erkenne, wie er in seiner Stellungnahme ausführte. Verbrechen gegen die Menschlichkeit seien nicht nur im Kontext eines bewaffneten Konflikts, sondern auch im Rahmen eines ausgedehnten und systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung strafbar. Ausserdem richte sich das zwingende Völkerrecht nicht in erster Linie an Individuen, sondern an Staaten. Dennoch erklärte sich die Regierung bereit, die aufgeworfenen Fragen zu prüfen, damit sichergestellt sei, dass das schweizerische Strafrecht «eine effektive Umsetzung des geltenden Völkerrechts» erlaube. In der Herbstsession 2022 überwies der Ständerat das Postulat stillschweigend.

Strafbarkeit von vorsätzlichen Verstössen gegen zwingendes Völkerrecht (Po. 22.3857)

Une majorité de la Commission de politique extérieure du Conseil national (CPE-CN) estime que la Suisse doit accroître ses efforts de transparence des flux financiers. Face à l'actuelle évolution de la finance mondiale, avec notamment l'introduction d'une imposition minimale pour les entreprises, la Suisse doit s'interroger au plus vite non seulement sur son rôle de relais de la gestion de fortune mondiale, mais aussi en tant que siège de nombreuses entreprises multinationales. Pour être précis, la CPE-CN recommande d'établir un rapport qui se focalise sur la déclaration des ayant droits économiques, la publication des rapports pays par pays des entreprises multinationales, et la publication des décisions fiscales anticipées. D'après la majorité de la CPE-CN, des mesures proactives permettraient de garantir la réputation de la place financière et donc de renforcer la confiance des investisseurs. Une minorité, emmenée par huit députés et députées PLR et UDC, a proposé de rejeter le postulat.
Le Conseil fédéral s'est opposé au postulat. De son point de vue, la Suisse a participé activement à l'élaboration de standards internationaux pour lutter contre le manque de transparence dans la finance internationale. Il a notamment cité les nombreuses adaptations des bases légales liées au blanchiment d'argent et au financement du terrorisme ainsi que l'échange automatique de renseignements relatifs aux comptes financiers (EAR). Ueli Maurer, ministre des Finances, a également rappelé que le Groupe d'action financière (GAFI) avait salué, en 2020, les efforts de la Suisse dans la lutte contre le blanchiment d'argent.
En chambre, le postulat a été adopté par 100 voix contre 85 et 2 abstentions. Le camp rose-vert a réussi à convaincre la majorité des députés et députées du groupe du Centre qui ont fait pencher la balance en faveur du postulat. En effet, le plaidoyer de la minorité n'a convaincu que 6 voix du groupe du Centre, en plus des voix PLR et UDC.

Transparence des flux financiers (Po. 22.3394)

In der Herbstsession 2022 folgte der Nationalrat mit 103 zu 69 Stimmen bei 4 Enthaltungen dem Antrag des Bundesrates und stimmte der Abschreibung der Motion Regazzi (mitte, TI) für eine «Ausweisung von Terroristinnen und Terroristen in ihre Herkunftsländer, unabhängig davon, ob sie als sicher gelten oder nicht», zu. Die vorberatende SPK-NR hatte ihrem Rat mit 14 zu 9 Stimmen empfohlen, dem Antrag des Bundesrates stattzugeben. Neben der im bundesrätlichen Bericht ausführlich dargelegten rechtlichen Unmöglichkeit, die Motion umzusetzen, betonte die Kommissionsmehrheit, beim Grundrechtsschutz dürfe nicht mit zweierlei Mass gemessen werden: «Ein wahrer Rechtsstaat muss auch seine Feindinnen und Feinde rechtskonform und gemäss seinen Werten behandeln», schrieb sie in der Medienmitteilung. Im Ratsplenum erklärte Kommissionssprecher Kurt Fluri (fdp, SO), der Bundesrat habe sich darüber hinaus bereit erklärt, im Umgang mit verurteilten Terroristinnen und Terroristen, die aufgrund des Non-Refoulement-Gebots nicht ausgeschafft werden können, alle rechtlich zulässigen Mittel zur Wahrung der Sicherheit der Schweiz auszuschöpfen. Justizministerin Karin Keller-Sutter ergänzte, man prüfe im Einzelfall, ob vom Herkunftsstaat die diplomatische Zusicherung erlangt werden kann, dass die betroffene Person weder gefoltert noch unmenschlich behandelt wird, sodass eine völkerrechtskonforme Ausschaffung dennoch möglich ist. Zudem werde auch jeweils geprüft, ob die Person in einen anderen Staat als ihren Herkunftsstaat weggewiesen werden kann. Gleichzeitig betonte sie, die Schweiz habe in letzter Zeit mit dem Nachrichtendienstgesetz, den Strafbestimmungen gegen Terrorismus und den präventiv-polizeilichen Massnahmen ein besseres Instrumentarium erhalten, um «mit den Personen, die wir in der Schweiz behalten müssen, umgehen zu können». Momentan handle es sich um fünf Personen, die die Schweiz aufgrund des Non-Refoulement-Gebots nicht ausschaffen könne, so die Bundesrätin.
Eine Minderheit um SVP-Nationalrat Gregor Rutz (ZH) wollte die Motion trotzdem nicht abschreiben. Es könne nicht sein, dass verurteilte Terroristinnen und Terroristen in der Schweiz blieben, und er sei nicht zufrieden damit, «dass der Bundesrat uns sagt, das ginge nicht», so Rutz. Es sei «eine Frage des gesunden Menschenverstandes», dass «wir [...] doch nicht mit unserer Rechtsordnung Leute schützen [können], die diese Rechtsordnung missbrauchen, um sie zu zerstören». Der Bundesrat müsse «noch einmal über die Bücher», denn es gebe «Möglichkeiten, wie man dieses Anliegen umsetzen kann». Einen Vorschlag, wie eine solche Umsetzung aussehen könnte, lieferte der Minderheitsvertreter dem Ratsplenum jedoch nicht. Seine Ansicht teilten die geschlossen stimmende SVP-Fraktion, die grosse Mehrheit der Mitte-Fraktion sowie FDP-Vertreterin Jacqueline de Quattro (VD), was in der grossen Kammer aber nicht zu einer Mehrheit reichte.

Ausweisung von Terroristinnen und Terroristen in ihre Herkunftsländer, unabhängig davon, ob sie als sicher gelten oder nicht (Mo. 16.3982)

Mitte September 2022 reiste Bundespräsident Cassis zum Staatsbegräbnis von Königin Elisabeth II. nach London und anschliessend an die UNO-Generalversammlung nach New York. Am 20. September hielt der Aussenminister eine Eröffnungsrede vor der UNO-Generalversammlung, in der er sich für die Einhaltung des Völkerrechts, den Weltfrieden und die internationale Sicherheit stark machte. Er kündigte an, dass sich die Schweiz als nichtständiges Mitglied des Sicherheitsrats in der Periode 2023/24 für den Erhalt von Frieden und Sicherheit einsetzen werde. Angesichts der vielfältigen Krisen der Gegenwart seien vor allem die «gezielte Stärkung des Multilateralismus und die Rückbesinnung auf seine Kernaufgaben» essentiell, um Lösungen für die Zukunft zu finden. In diesem Kontext hob Cassis auch die Rolle der Schweiz als Vermittlerin, Gastgeberin von internationalen Konferenzen und Trägerin von Schutzmachtmandaten hervor und warb für das internationale Genf als Zentrum der multilateralen Diplomatie. Am Rande der Generalversammlung leitete der Bundespräsident zusammen mit dem nigrischen Präsidenten Mohamed Bazoum die Geberkonferenz für den «Global community Engagement and Resilience Fund», welcher Initiativen gegen gewalttätigen Extremismus finanziert. Er nahm auch an der siebten Geberkonferenz für den Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria teil, an der er einen Schweizer Beitrag in Höhe von CHF 64 Mio. in Aussicht stellte. Auch die Übergabe der Schweizer Ratifikationsurkunde für die Änderung des Römer Statuts fand in New York statt: Auf Initiative der Schweiz wurde das Aushungern der Zivilbevölkerung in Bürgerkriegen international unter Strafe gestellt.
Des Weiteren traf sich Cassis mit dem iranischen Präsidenten Seyyed Ebrahim Raisi, dem georgischen Premierminister Irakli Garibashvili, dem ecuadorianischen Präsidenten Gullermo Lasso Mendoza, dem bosnischen Vorsitzenden des Staatspräsidiums Šefik Džaferović, dem amerikanischen Präsidenten Joe Biden und dem Präsidenten des IKRK, Peter Maurer.

Bundespräsident Cassis am Staatsbegräbnis von Königin Elisabeth II. und an der UNO-Generalversammlung (2022)
Dossier: Staatsbesuche im Ausland 2022

Auf Antrag seiner staatspolitischen Kommission entschied der Ständerat stillschweigend, einer Standesinitiative des Kantons Genf zum Stopp der Rückführungen von Asylsuchenden in Länder, die gegen Menschenrechte verstossen, keine Folge zu geben. Unter anderem argumentierte die SPK-SR, dass das Ziel des Vorstosses in der schweizerischen Asylpolitik bereits zur Genüge durchgesetzt werde. Somit wird als nächstes die SPK-NR über den Vorstoss beraten.

Nein zu Rückführungen von Asylsuchenden in Länder, in denen die Menschenrechte mit Füssen getreten werden (Kt.Iv. 21.309)

In der Herbstsession 2022 beriet der Ständerat über die parlamentarische Initiative Molina (sp, ZH) zur Einführung einer Rechtsgrundlage für gezielte Sanktionen bei schweren Menschenrechtsverletzungen und Korruption durch hochrangige Politiker und Politikerinnen. Damian Müller (fdp, LU) erläuterte der kleinen Kammer die Geschichte des Geschäfts, dem von der APK-NR im Januar 2021 Folge gegeben worden war. Die APK-SR hatte der Initiative zwar im April 2021 nicht zugestimmt, da die APK-NR aber daran festgehalten hatte und der Nationalrat die Initiative in der Folge ebenfalls angenommen hatte, musste sich die APK-SR erneut damit befassen. Kommissionssprecher Müller erklärte, dass die Kommission die Differenzbereinigung beim Embargogesetz habe abwarten wollen und daher die Beratung des Geschäfts verschoben hatte. Da man bei der Beratung des Embargogesetzes verneint habe, eine Rechtsgrundlage für eigenständige Sanktionen schaffen zu wollen, mache es in den Augen der Kommissionsmehrheit auch keinen Sinn, der Initiative Folge zu geben. Eine Minderheit Jositsch (sp, ZH) beantragte dem Rat dennoch, der Initiative Folge zu geben, da durch die persönliche Sanktionierung einzelner hochrangiger Personen negative Konsequenzen für die Zivilbevölkerung vermieden werden könnten. Jositsch erklärte, dass die Initiative – wie der ähnlich ausgestaltete Minderheitsantrag Sommaruga (sp, GE) zum Embargogesetz – eine Ombudsstelle zur Wahrung der rechtsstaatlichen Prinzipien vorsehe. Er erwarte jedoch nicht, dass dies den Ständerat umstimmen würde. Damit behielt er Recht und der Ständerat gab der Initiative mit 28 zu 13 Stimmen keine Folge, womit das Geschäft erledigt war.

Einführung einer Rechtsgrundlage für gezielte Sanktionen bei schweren Menschenrechtsverletzungen und Korruption durch hochrangige Politiker und Politikerinnen (Pa.Iv. 19.501)

Im Mai 2022 verabschiedete der Bundesrat seine Botschaft zur Ratifizierung des Übereinkommens Nr. 190 der internationalen Arbeitsorganisation sowie einen Bericht über die Erklärung zum hundertjährigen Bestehen der ILO für die Zukunft der Arbeit. Das besagte Übereinkommen aus dem Jahr 2019 enthalte die erste international vereinbarte Definition von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt, erklärte der Bundesrat. Es verpflichte alle ILO-Mitgliedstaaten, das Recht auf eine Arbeitswelt ohne Gewalt und Belästigung zu achten, zu fördern und zu verwirklichen. Ausserdem umfasse es eine Reihe von Massnahmen zur Erreichung dieses Ziels, darunter Prävention und ein gesetzliches Verbot von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt; Abhilfemassnahmen für Opfer von Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz und gegebenenfalls Sanktionen.
Der Bundesrat erklärte im Rahmen der Botschaft, dass die Schweiz das Übereinkommen ratifizieren könne, da dieses nicht dem derzeitigen Schweizer Recht entgegenstehe und man es sowieso bereits erfülle. Die ebenfalls 2019 veröffentlichte Jahrhunderterklärung der ILO müsse zwar nicht dem Parlament vorgelegt werden, jedoch habe man das schon bei früheren Erklärungen so gehandhabt, um die beiden Räte über die Tätigkeiten der ILO zu informieren. Die Erklärung, mit der sich die Staaten zu mehr Investitionen in das Humankapital, die Institutionen der Arbeitswelt und in menschenwürdige und nachhaltige Arbeit bekennen, ziehe ebenfalls keine neuen Verpflichtungen für die Schweiz nach sich. Sowohl der Bericht als auch die Ratifikation der Botschaft würden von den Sozialpartnern unterstützt.

Der Ständerat befasste sich in der Herbstsession 2022 mit dem Übereinkommen, wobei eine Minderheit der RK-SR nicht auf das Geschäft eintreten wollte. Minderheitssprecher Philippe Bauer (fdp, NE) und sein Ratskollege Beat Rieder (mitte, VS) ärgerten sich darüber, dass der Bundesrat das Übereinkommen nicht in eine breite Vernehmlassung gegeben habe. Philippe Bauer befürchtete, dass die Ratifikation des Abkommens den zukünftigen Handlungsspielraum der Schweiz im Arbeitsrecht einschränken könnte. Beat Rieder bemängelte zudem, dass das Übereinkommen von «unbestimmten Gesetzesbegriffen» wimmle, weshalb auch er sich für eine ausführliche Vernehmlassung einsetzte.
Kommissionssprecher Sommaruga (sp, GE) wies seine Kommissionskollegen darauf hin, dass sie eigentlich eine Rückweisung an den Bundesrat anstelle von Nichteintreten fordern sollten, und plädierte dafür, den Entscheid über die Rückweisung dem Nationalrat zu überlassen. Er argumentierte, dass man einen Vertrag ratifizieren sollte, wenn der Schweizer Rechtsrahmen dessen Anforderungen bereits erfülle, denn damit verdeutliche die Schweiz ihre Position auf multilateraler Ebene und leiste einen Beitrag zur Errichtung eines staatenübergreifenden Schutzniveaus. Bundesrat Parmelin versuchte, die Bedenken der Minderheit zu zerstreuen, und versicherte, dass das Fehlen einer Konsultation bei Übereinkommen der ILO gang und gäbe sei, da die Sozialpartner jeweils bei der Erarbeitung des Übereinkommens mitwirkten. Der Bundesrat warnte, dass eine Nichtratifizierung dem Image und der Glaubwürdigkeit der Schweiz schaden würde. Die kleine Kammer nahm anschliessend zwar Kenntnis vom Bericht der ILO, trat aber mit 24 zu 20 Stimmen nicht auf die Vorlage ein. Die ablehnenden Stimmen stammten von Mitgliedern der FDP-, SVP- und einem Grossteil der Mitte-Fraktion.

Übereinkommen Nr. 190 und Bericht über die Erklärung zum hundertjährigen Bestehen der internationalen Arbeitsorganisation (BRG 22.045)

Im September 2022 gab die RK-SR einer parlamentarischen Initiative Gredig (glp, ZH) zur Bekämpfung von Zwangsarbeit durch die Ausweitung der Sorgfaltspflicht mit 8 zu 5 Stimmen Folge. Die Kommission war jedoch der Meinung, dass ihre Schwesterkommission, welche nun mit der Ausarbeitung einer entsprechenden Vorlage betraut ist, die Entwicklungen in der EU bezüglich des neuen EU-Lieferkettengesetzes abwarten solle: Der indirekte Gegenvorschlag zur Konzernverantwortungsinitiative könne allenfalls vollständig an das neue EU-Recht angepasst werden und dabei die Bekämpfung der Zwangsarbeit beinhalten.

Bekämpfung von Zwangsarbeit durch die Ausweitung der Sorgfaltspflicht (Pa. Iv. 21.427)

Im Februar 2022 präsentierte die EU-Kommission den Entwurf eines neuen Lieferkettengesetzes – die «Konzernverantwortungsinitiative à la Brüssel», wie die Aargauer Zeitung das Massnahmenpaket bezeichnete. Das von der Kommission vorgestellte Gesetzespaket ähnelte der am Ständemehr gescheiterten Konzernverantwortungsinitiative aus dem Jahr 2020 in vielen Punkten. So sollen grössere Firmen mit Sitz in der EU für Menschenrechtsverletzungen entlang ihrer Wertschöpfungskette haftbar gemacht werden können. Zudem sollen Pflichten zur Sorgfaltsprüfung eingeführt werden, wonach Menschenrechts- sowie Umweltvorschriften durch die Unternehmen periodisch überwacht und Verstösse beseitigt werden müssen. Diese Regelungen sollen gemäss dem Entwurf für Unternehmen gelten, die mehr als 500 Mitarbeitende beschäftigen und einen jährlichen Umsatz von über EUR 150 Mio. erwirtschaften. Für Unternehmen im Textil- und Rohstoffhandel sollen bereits ab tieferen Kennzahlen Massnahmen nötig sein. Das Massnahmenpaket würde dabei nebst Firmen, die ihren Sitz in der EU haben, auch Firmen in Drittstaaten wie der Schweiz betreffen, die den genannten Umsatz im EU-Raum erwirtschaften. Wie die NZZ berichtete, seien aber durch die geplanten Massnahmen nicht nur Schweizer Grossunternehmen betroffen, die im EU-Raum im genannten Umfang Handel betreiben, sondern auch KMU, die grössere Unternehmen im EU-Raum belieferten. Denn Zulieferer müssten wohl künftig die Auflagen der grossen EU-Abnehmer erfüllen und damit faktisch die Massnahmen ebenfalls implementieren.
Wie Befürworterinnen und Befürworter der Konzernverantwortungsinitiative in den Medien erklärten, habe der Bundesrat bei der Abstimmung argumentiert, dass die Schweiz die geforderten Massnahmen nicht im Alleingang implementieren könne. Mit dem vorliegenden Entwurf der EU-Kommission liege nun ein EU-weites Massnahmenpaket vor und die Schweiz dürfe den Anschluss in der Implementierung griffiger Massnahmen nicht verpassen, warnte etwa die Genfer Ständerätin Lisa Mazzone (gp) gegenüber «24Heures».
Länder wie Frankreich (seit 2017), die Niederlande (seit 2019) oder Deutschland (seit 2021) kennen bereits beschränkte, gesetzliche Sorgfaltspflichten für Unternehmen. EU-weit bestehen derzeit vor allem für den Holzhandel sowie für den Umgang mit Mineralien aus Konfliktgebieten gewisse Sorgfaltspflichten. Mit dem vorliegenden Entwurf möchte die Kommission europaweit Unternehmen bezüglich ihrer sozialen Verantwortung in der globalisierten Welt stärker in die Pflicht nehmen.

Konzernverantwortung EU-Regel: Lieferkettengesetz
Dossier: Volksinitiative «Für verantwortungsvolle Unternehmen»