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Bedeutend medienwirksamer vollzog sich der Wechsel im Bistum Basel. Bischof Vogel, im Vorjahr als Hoffnungsträger einer verjüngten Kirche gewählt, gab anfangs Juni überraschend seinen sofortigen Rücktritt bekannt. Den Grund dafür - die Beziehung zu einer Frau, die zu einer Schwangerschaft führte - stellte er in den Zusammenhang mit den enormen menschlichen Anforderungen, welche an den geistlichen Führer des Bistums Basel gestellt werden, dem rund 1.1 Mio. Katholiken angehören und welches das Gebiet von zehn Kantonen umfasst.

Bistum Basel

Fünf Jahre nach seinem Entscheid im Kruzifix-Streit von Cadro (TI) musste sich das Bundesgericht erneut mit der Präsenz von kirchlichen Emblemen in öffentlichen Räumen beschäftigen. Diesmal ging es um die Klage eines Anwaltes gegen den Kanton Freiburg, der forderte, dass die Kruzifixe aus den Gerichtssälen sowie aus all jenen öffentlichen Räumen zu entfernen seien, in denen die Angestellten nicht ausdrücklich das Gegenteil wünschen. Das Bundesgericht wies die Klage aus formalrechtlichen Gründen ab, worauf der Kläger das Verfahren an die europäische Menschenrechtskommission weiterzog.

Kruzifix-Streit

Aber auch Politiker wurden in dieser Richtung aktiv. Bereits zwei Monate vor dem Appell der Bischofskonferenz hatte Nationalrat Leuba (lp, VD) den Bundesrat in einer Interpellation aufgefordert, die Abschaffung des Bistumsartikels voranzutreiben. Leuba argumentierte, der Artikel widerspreche dem von den Stimmbürgern am 25. September angenommenen Anti-Rassismusgesetz, das ausdrücklich auch die Diskriminierung aus Gründen der Religionszugehörigkeit unter Strafe stellt. In seiner Antwort bestritt der Bundesrat zwar, dass der Bistumsartikel einen Fall von Diskriminierung im Sinn der internationalen Konvention gegen den Rassismus darstelle. Er räumte aber ein, dass diese Bestimmung mit der Regelung der konfessionellen Konflikte an Bedeutung verloren habe, weshalb er sich bereit erklärte, bei einer Totalrevision der Bundesverfassung die Aufhebung des Artikels zu beantragen, wie dies bereits eine überwiesene Motion des Nationalrates von 1972 verlangt hatte.

Nicht bis zu einer Totalrevision der Bundesverfassung möchte der Aargauer Ständerat Huber (cvp) warten. In der Wintersession reichte er eine parlamentarische Initiative für eine ersatzlose Streichung von Art. 50 Abs. 4 BV ein.

Abschaffung des Bistumsartikels in der Bundesverfassung nicht geglückt (Ip. 94.3421 und Pa. Iv. 94.433)

Die Diskussion über den Bistumsartikel in der Bundesverfassung kam erneut in Gang. Angesichts der Arbeitsüberlastung der Schweizer Bischöfe, welche immer häufiger zu gesundheitsbedingten vorzeitigen Rücktritten führt, forderte der Präsident der Schweizerischen Bischofskonferenz eine baldige Restrukturierung vor allem der drei grossen Diözesen Basel, Chur und Freiburg-Lausanne-Genf. Bereits 1982 hatte eine von der Bischofskonferenz eingesetzte Projektkommission die Schaffung von drei neuen Bistümern mit Sitz in Genf, Zürich und Luzern vorgeschlagen, was bei den anderen Konfessionen teilweise kritisch aufgenommen worden war. Gemäss Verfassung (Art. 50 Abs. 4) muss der Bund die Errichtung neuer Bistümer auf schweizerischem Gebiet genehmigen. Diese Bestimmung, welche auf die vom Kulturkampf geprägte Totalrevision der Bundesverfassung von 1874 zurückgeht, wird von den Katholiken als diskriminierende Anomalie empfunden, weshalb der Präsident der Bischofskonferenz erneut die baldige Abschaffung des Bistumsartikels verlangte.

Bistumsartikel in der Bundesverfassung erneut kritisiert

Ende 1993 deponierte der Waadtländer PdA-Abgeordnete Zisyadis eine Motion, mit welcher er den Bundesrat aufforderte, eine Fachstelle für Religionsfragen zu schaffen, die beobachtet, wo die Kirchen, aber auch Sekten und andere Religionsgemeinschaften stehen und wie und in welchem Mass sie die gesellschaftliche Entwicklung prägen und beeinflussen. In seiner schriftlichen Stellungnahme zur Motion, welche im Berichtsjahr noch nicht vom Plenum behandelt wurde, lehnte der Bundesrat die Schaffung einer deratigen Stelle aus Gründen der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen ab. Nach dem Sektendrama von Cheiry (FR) und Granges-sur-Salvan (VS), bei dem in einer Art Endzeitaktion 48 Mitglieder eines obskuren Sonnentemplerordens ihr Leben verloren, doppelte Zisyadis mit einer Interpellation nach. In seiner Antwort bedauerte der Bundesrat diese Tragödie, vertrat aber die Ansicht, dass auch ein Bundesamt für Religionsfragen ein solches Geschehen nicht hätte verhindern können. Aus diesem Grund sah er keine Veranlassung, auf seine ursprüngliche Stellungnahme zurückzukommen.

Fachstelle für Religionsfragen gefordert

Überraschend trat im Herbst auch der Oberhirte des Bistums St. Gallen, Otmar Mäder zurück. St. Gallen ist wie Basel eine der wenigen Diözesen der Welt, in denen der Bischof nicht von Rom ernannt, sondern von einem lokalen Gremium gewählt wird, wobei allerdings - anders als in Basel - die Kandidaten bereits vor der Wahl der Zustimmung des Vatikans bedürfen. Bis zur Bestellung des neuen Bischofs wurde die Diözese einem Administrator unterstellt.

Otmar Mäder als Bischof von St. Gallen zurückgetreten

Nach den Auseinandersetzungen um die Ernennung des Churer Bischofs Wolgang Haas kam der Wahl eines neuen Bischofs in der Diözese Basel - mit 10 Kantonen und 1,1 Mio Katholiken das grösste Schweizer Bistum - besondere Bedeutung zu. Aufgrund des Konkordates von 1828, welches dem Domkapitel und den Regierungen der betroffenen Kantone weltweit einmalige Rechte bei der Wahl eines Bischofs zugesteht, konnte davon ausgegangen werden, dass sich so umstrittene Vorkommnisse wie bei der Einsetzung von Haas nicht wiederholen würden. Die Wahl verlief denn auch ungestört und ohne laute Töne. Gewählt - und vom Papst bestätigt - wurde der Stadtberner Pfarrer und Dekan Hansjörg Vogel, der in Kirchenkreisen als profiliert und aufgeschlossen gilt.

Gleichzeitig mit der Bestätigung Vogels ernannte der Papst den eher als traditionalistisch eingeschätzten Walliser Priester Pierre Burcher zum neuen Weihbischof des Bistums Freiburg-Lausanne-Genf.

Domkapitel des Bistums Basel pocht auf seine Rechte bei der Wahl des Bischofs

In der Kontroverse um den Churer Bischof Wolfgang Haas zeigte sich der Papst erstmals offensichtlich auf Ausgleich bedacht. Mit dem Jesuiten Peter Henrici und dem Marianisten Paul Vollmar stellte er Haas zwei Weihbischöfe zur Seite, von denen sich die Kirchenbasis eine offenere Haltung erhoffte. Die Bischofskonferenz der Schweizer Katholiken nahm diese Ernennung sehr positiv auf und verband sie mit der Zuversicht, dass damit in das arg gebeutelte Bistum Chur, zu dem auch die Innerschweiz sowie der Kanton Zürich gehören, wieder etwas Ruhe einkehren werde. Bischof Haas tat sich dann allerdings schwer mit der Definition des Pflichtenhefts der neuen Weihbischöfe. Schliesslich wurde bekanntgegeben, dass Henrici und Vollmar Generalvikare für das ganze Bistum sein und in dieser Funktion die bisher von Haas gegen den Willen der Ortskirche eingesetzten Generalvikare ablösen werden.

Churer Bischof Wolfgang Haas

Im Tessin wurde eine neue Runde im Kruzifix-Streit eingeläutet. Nachdem das Bundesgericht 1990 entschieden hatte, ein derart symbolträchtiger Wandschmuck verstosse in Schulstuben gegen Art. 27 Abs. 3 BV, welcher einen konfessionell neutralen Unterricht in den öffentlichen Schulen garantiert, geriet nun der kantonale Parlamentssaal in Bellinzona ins Visier der Freidenker. In einer 1989 eingereichten Petition kritisierten sie, es sei unziemlich, dass das Parlament seine Funktion im Zeichen religiöser Symbole wahrnehme. Das Tessiner Kantonsparlament lehnte die Petition mit 51 zu 15 Stimmen bei drei Enthaltungen klar ab und sprach sich damit deutlich für die Beibehaltung des religiösen Wandschmuckes aus.

Freidenker gehen gegen religiösen Wandschmuck im Tessiner Parlament vor

Die von der schweizerischen Bischofskonferenz erwogene Möglichkeit, die Kontroverse um Bischof Haas durch eine Abtrennung des Kantons Zürich — und eventuell auch der Innerschweiz — vom Bistum Chur (beispielsweise in Form einer apostolischen Administratur) zu entschärfen, wurde von Rom vorläufig verworfen. Ohne die offizielle Stellungnahme des Vatikans abzuwarten, erklärte der Vorsitzende der Glaubenskongregation und enge Vertraute des Papstes, Kardinal Rauber, Haas werde im Amt bleiben, und er sehe keine juristische oder institutionelle Lösung des Konfliktes. Auch in der Schweiz war der Vorschlag verschiedentlich als Scheinlösung kritisiert worden, die verkenne, dass es sich hier nicht um eine Gebietsfrage, sondern um ein personelles Problem in Gestalt des äusserst konservativen, der Glaubensgemeinschaft "Opus Dei" nahestehenden Haas handle.

Mögliche Abtrennung des Kantons Zürich und der Innerschweiz vom Bistum Chur

Die eskalierenden Spannungen im Bistum Chur veranlassten den Bundesrat nach Rücksprache mit den betroffenen Kantonsregierungen gegen Ende Jahr erstmals, in dieser Angelegenheit offiziell in Rom vorstellig zu werden. Der Sonderbotschafter beim Vatikan übermittelte dem Papst eine Botschaft, in welcher die Landesregierung der Sorge der sieben Bistumskantone (Graubünden, Glarus, Zürich, Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden) Ausdruck verlieh. Der Bundesrat bezog in der Intervention selber aber keine Stellung, da er die Affäre Haas nach wie vor als innerkirchliche Angelegenheit betrachtet.

Churer Bischof Wolfgang Haas

In einem von der Römisch-katholischen Zentralkonferenz (RKZ) — der Vereingung der Kantonalkirchen — in Auftrag gegebenen Gutachten kamen namhafte Juristen, Politikwissenschafter und Theologen zum Schluss, die Einsetzung von Haas als Weihbischof mit Nachfolgerecht sei 1988 in Verletzung völkerrechtlicher und innerkirchlicher Bestimmungen erfolgt. Insbesondere seien die Konkordatsrechte des Kantons Schwyz verletzt und gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstossen worden. Sie vertraten die Ansicht, eine Reform der Bischofswahlen dränge sich zwingend auf, da sonst entsprechend umstrittene Ernennungen in den Bistümern Basel und St. Gallen folgen könnten.

Die katholische Bischofskonferenz, welche nach wie vor ihre Hoffnungen in eine persönliche Intervention des Papstes setzt, distanzierte sich vom Gutachten der RKZ, welcher sie vorwarf, damit ihre Kompetenzen überschritten zu haben. Die Bündner Regierung gab ihrerseits ein Gutachten in Auftrag.

Churer Bischof Wolfgang Haas

Im Herbst eröffnete Bischof Corecco in Lugano eine internationale theologische Fakultät. Da der Tessiner Prälat der autoritär-konservativen Bewegung "Comunione e Liberazione" angehört, wurde allgemein befürchtet, dass damit neben Chur eine weitere traditionalistische Bastion errichtet werde.

Eröffnung einer internationalen theologischen Fakultät in Lugano

Nachdem bereits die meisten Kantone der Churer Diözese ihren jährlichen Beitrag an die Bistumskasse sistiert haben, riefen die Zürcher und Innerschweizer Dekane die Pfarreien dazu auf, das diesjährige Opfer für das Churer Priesterseminar und die angegliederte theologische Fakultät nicht mehr einzuziehen, da sie es angesichts der bischöflichen Umgestaltung der Churer Ausbildungsstätte in eine Traditionalistenschule nicht mehr verantworten könnten, Studenten des Bistums nach Chur zu schicken. Der Zahlungsboykott blieb allerdings ohne grosse Auswirkungen, weil die Bistumsbeiträge nur rund einen Fünftel des Diözesansbudgets ausmachen und sich zudem nicht alle Bistumsstände und Pfarreien am Boykott beteiligten.

Das theologische Seminar Dritter Bildungsweg, welches Haas aus Chur verbannt hat, soll ab Mitte 1993 in Luzern seinen Lehrbetrieb aufnehmen. Zudem strich neu auch die Bündner Landeskirche ihren Beitrag an die Bistumskasse.

Churer Bischof Wolfgang Haas

Eine grossangelegte Nationalfondsstudie über die religiöse Ausrichtung der Wohnbevölkerung in der Schweiz entkräftete die bisher allgemein vertretene Säkularisierungsthese. Die Bindung an die traditionellen Kirchen nimmt zwar stetig ab, doch führt dies nicht zum Atheismus, sondern zu einer individuell gefärbten Religiosität, welche sich aus verschiedenen, auch ausserchristlichen Quellen zusammensetzt. Die Studie erlaubte auch die Feststellung, dass sich Spuren des einstigen konfessionellen Milieus, welches vor allem auf katholischer Seite bis in die Mitte der sechziger Jahre recht geschlossen war, heute praktisch nur noch im Abstimmungsverhalten und in der parteipolitischen Landschaft der Schweiz niederschlagen. Auch bei der wachsender Distanz zu der Kirche kann die Verankerung in einer Partei wie der CVP zunächst erhalten bleiben. Zumindest scheint sich die Lockerung der Kirchenbindung erst mit einer Phasenverzögerung auf die Politik auszuwirken.

Nationalfondsstudie über die religiöse Ausrichtung der Wohnbevölkerung

Der "Fall Haas" beschäftigte den Nationalrat in der Frühjahrssession, wo mehrere diesbezügliche Vorstösse behandelt wurden. In den meisten Wortmeldungen wurde dabei dem Bundesrat vorgeworfen, beim Vatikan zu wenig energisch die demokratischen Rechte der katholischen Landeskirche verteidigt zu haben. Bundespräsident Felber verwies in diesem Zusammenhang auf die Kantonshoheit in Glaubensfragen und die entsprechend limitierten Möglichkeiten der Bundesbehörden. Er versicherte aber, dass der Bundesrat der Kurie seine Besorgnis über die Vorgänge im Bistum Chur deutlich ausgedrückt habe. Die im Vorjahr vorgenommene Ernennung eines Botschafters in Sondermission beim Heiligen Stuhl sei erfolgt, um inskünftig ohne den Umweg über den Nuntius die Interessen der Schweizer Katholiken in Rom vorbringen zu können. Mit Ausnahme prononciert protestantischer Vertreter, welche dem Bundesrat mangelndes Fingerspitzengefühl im Umgang mit der reformierten Kirche vorwarfen, sich für eine Abberufung des Sonderbotschafters einsetzten oder gar mit einer Volksinitiative auf Trennung von Kirche und Staat drohten, stimmte der Rat der Politik des Bundesrates zu und überwies mit klarer Mehrheit ein Postulat Pini (fdp, TI), welches eine Normalisierung der diplomatischen Beziehungen zum Kirchenstaat anregt.

Churer Bischof Wolfgang Haas

Dies scheint allerdings nicht für die Kontroverse um den äusserst umstrittenen, dem Opus Dei nahestehenden Churer Bischof Wolfgang Haas zu gelten, dessen Einsetzung führende Kirchenjuristen nach wie vor für widerrechtlich halten. Die Schweizer Bischöfe wurden mehrfach im Vatikan vorstellig und gaben ihrer Sorge über die unhaltbaren Zustände in der Diözese Chur Ausdruck, die durchaus zu einer Kirchenspaltung führen könnten. Der Papst schickte zwar einen Vermittler in die Schweiz und kündigte konkrete Schritte an, liess aber keinen Zweifel daran, dass mit einer Abberufung Haas nicht gerechnet werden könne.

In den Kantonen, die zum Bistum Chur gehören, traten nach dem Amtsantritt von Haas rund doppelt so viele Katholiken aus der Kirche aus wie in den Jahren zuvor.

Churer Bischof Wolfgang Haas

Die Ernennung eines Schweizer Botschafters in Sondermission beim Vatikan muss zweifelsohne in Zusammenhang mit der Affäre Haas gesehen werden. Die Schweiz stellte bislang für den Heiligen Stuhl einen Ausnahmefall dar: Im Zuge des Kulturkampfes war es 1870 zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen der Schweiz und dem Vatikan gekommen, ein Zustand, der sich erst 1920 mit der Wiedereröffnung einer Nuntiatur wieder halbwegs normalisierte. Die Schweiz hatte es jedoch nie für nötig erachtet, ihrerseits einen Botschafter beim Heiligen Stuhl zu ernennen, so dass die Beziehungen in beiden Richtungen über den in Bern akkreditierten Nuntius liefen. Noch im Vorjahr hatte es der Bundesrat bei der Behandlung eines Postulates Portmann (cvp, GR) abgelehnt, aufgrund der Entwicklungen im Bistum Chur, die er als innerkatholisches Problem einstufte, eine Normalisierung der diplomatischen Beziehungen in Erwägung ziehen zu wollen. Im Berichtsjahr kam der Bundesrat nun aber offenbar doch zur Einsicht, dass angesichts der Spannungen zwischen dem Vatikan und den Schweizer Katholiken ein ständiger Kontakt durch intensiv gestaltete diplomatische Beziehungen für beide Seiten nur von Nutzen sein könne. Mit der Ernennung eines Botschafters in Sondermission, der zwischen Bern und Rom pendeln wird, verfügt die Regierung nun über ein diplomatisches Instrument, um den Vatikan umgehend, direkt und auf politischer Ebene über die Stimmung in der Schweiz zu informieren.

Mit der Ernennung eines Botschafters in Sondermission erfüllte der Bundesrat auch den Wunsch des Tessiner FDP-Nationalrats Pini, der die Regierung in einem in der Sommersession eingereichten Postulat ersucht hatte, die Möglichkeiten einer Normalisierung der diplomatischen Beziehungen mit dem Vatikan zu prüfen.

Ernennung eines Schweizer Botschafters in Sondermission beim Vatikan

Eine Repräsentativbefragung zum Thema "Kirche in der Schweiz" liess klar den Wunsch nach Trennung von Kirche und Staat und nach Nichteinmischung der Kirchen in die politischen Angelegenheiten zum Ausdruck kommen. Während die rechtliche Abgrenzung von Kirche und Staat bei Katholiken und Protestanten, bei Deutsch- und Westschweizern etwa gleich stark befürwortet wurde, äusserten die Romands besonders deutlich, dass sie eine Intervention der Kirchen in die Belange der Tagespolitik ablehnen. Eine Umfrage unter den Unterwalliser Katholiken zeigte ebenfalls eine wachsende Distanz zu den kirchlichen Institutionen. Zu ähnlichen Ergebnissen kam eine Umfrage unter den Genfer Protestanten. Eine schlechte Prognose stellte die Bevölkerung der Kirche der Zukunft: rund 70% der Befragten vertraten die Ansicht, die Bedeutung der Kirchen werde in der Schweiz immer mehr abnehmen.

Befragung nach Trennung von Kirche und Staat

Zu einer der im selben Jahr durchgeführten Repräsentativbefragung entgegengesetzten Meinung über das politische Engagement der Kirchen kamen die Autoren des Berichtes "Kirche – Gewissen des Staates?", den die Bernische Regierung ausgehend von einer Motion aus dem Jahr 1987 in Auftrag gegeben hatte. Die Verfasser kamen zum Schluss, dass die Kirche zu politischen Stellungnahmen nicht nur berechtigt, sondern – zumindest aus theologischer Sicht – sogar verpflichtet sei. Zum Vorwurf, die Kirchen betrieben Parteipolitik, so etwa in der umstrittenen Asylfrage, zeigten die Autoren auf, dass im Vordergrund der offiziellen kirchlichen Verlautbarungen ethische Grundwerte wie die Achtung der Menschenwürde und die dazugehörige Gewährleistung der Menschenrechte sowie die internationale Solidarität stehen, die alle biblisch vielfach abgestützt sind. Das Problem bestehe nicht darin, meinten sie, dass sich die Kirche oder einzelne ihrer Vertreter kritisch zur Politik äusserten, sondern darin, dass das lange Zeit selbstverständliche Mindestmass an allgemeinem, auch politischem Konsens in immer mehr Bereichen zerfalle.

Bericht "Kirche – Gewissen des Staates?"

Die Schweizer Katholiken sahen in der Ernennung des Bischofs von Sitten, Heinrich Schwery, zum Kardinal einen Vertrauensbeweis Roms in die Schweizer Kirche und einen Hinweis darauf, dass der Papst deren Anliegen ernst nehme.

Heinrich Schwery

Ende März starb in Martigny (VS) der Traditionalist und Alt-Erzbischof Marcel Lefèbvre, der wegen seiner Gründung eines integristischen Priesterseminars in Ecône (VS) und der Weihung von vier Bischöfen 1988 von Rom exkommuniziert worden war.

Tod von Alt-Erzbischof Marcel Lefebvre

Die verschiedenen zum Tessiner Kruzifixstreit hängigen Interpellationen wurden von den eidgenössischen Räten behandelt. Dass sich zumindest der Nationalrat nicht in diese heikle rechtliche Frage einmischen will, wurde klar, als er den Antrag des Interpellanten Ruckstuhl (cvp, SG) auf Diskussion der bundesrätlichen Antwort ablehnte. Etwas länger wurde die Angelegenheit im Ständerat aufgrund einer Interpellation Danioth (cvp, UR) debattiert. Insbesondere wurde die Frage aufgeworfen, wie weit Bundesrat und Parlament bei der Beurteilung ähnlicher Fälle an das Urteil aus Lausanne gebunden wären, und ob es sich beim Kruzifix um ein allgemein christliches oder ein spezifisch katholisches Symbol handle. Bundesrat Koller bekräftigte noch einmal die Auffassung der Regierung, wonach es ihr nicht zustehe, Entscheide des Bundesgerichts zu kritisieren, vertrat aber dennoch die Meinung, das Urteil müsse sich auf Klassenzimmer öffentlicher Schulen beschränken und dürfe keinesfalls eine Verbannung der christlichen Symbole aus dem öffentlichen Leben bedeuten.

Tessiner «Kruzifix-Streit»

In der römisch-katholischen Kirche, besonders im Bistum Chur, wollten sich die Wogen nicht glätten lassen, die bei der 1988 erfolgten Ernennung von Wolfgang Haas zum Weihbischof mit Nachfolgerecht aufgebrandet waren. Bischof Vonderach stellte sich zwar unverdrossen hinter ihn und behauptete, die Ernennung Haas sei hauptsächlich durch die Schuld der Medien zu einem kontroversen Ereignis geworden, doch konnte dies die Akzeptanz von Weihbischof Haas an der Kirchenbasis kaum fördern.

Um die Rechtmässigkeit des Vorgehens Roms im Fall Haas entbrannte unterdessen ein ausgedehnter Juristenstreit, in dem die rechtlichen Bedenken gegenüber der Entscheidung des Vatikans schwer ins Gewicht fielen. Der Kanton Schwyz weigerte sich weiterhin, die Wahl Haas anzuerkennen und bat den Bundesrat, beim Heiligen Stuhl zu intervenieren und die Rücknahme des Nachfolgerechts zu erwirken. Öl aufs Feuer goss in dieser emotional aufgeheizten Stimmung der ebenfalls als sehr konservativ eingestufte päpstliche Nuntius in Bern, Mgr Rovida, welcher laut einer – später zwar dementierten – Indiskretion die Ansicht vertreten haben soll, dass der Papst in jedem Fall das Recht zur Ernennung eines Weihbischofs mit Nachfolgerecht habe, auch dort, wo ein Konkordat der Ortskirche die Mitsprache sichert, in der Schweiz also in den Bistümern Basel (mit Sitz in Solothurn) und St. Gallen. Obgleich der Nuntius auf seinen Äusserungen nicht behaftet werden konnte, schien dem Bundesrat die Angelegenheit doch als heikel genug, um die Direktion für Völkerrecht anzuweisen, die diesbezüglichen rechtlichen Fragen zu prüfen. Nachdem bereits das Domkapitel Basel den Nuntius hatte wissen lassen, die Ernennung eines Weihbischofs mit Nachfolgerecht würde klar als Konkordatsverletzung betrachtet, traf sich ein EDA-Mitarbeiter mit Mgr Rovida: Der Inhalt des Gesprächs wurde zwar nicht veröffentlicht, doch konnte angenommen werden, der Bundesrat habe dem Nuntius dieselbe Antwort erteilt wie das Basler Domkapitel.

Prominente Unterstützung erhielten die ob diesen Vorgängen und Äusserungen besorgten römisch-katholischen Kreise durch 163 zum Teil namhafte katholische Theologieprofessoren aus der BRD, Österreich, den Niederlanden und der Schweiz, die im Anschluss an weitere umstrittenen Bischofsweihen in Köln, Wien, Feldkirch und Salzburg gemeinsam eine papstkritische «Kölner Erklärung» publizierten. In dem Thesenpapier («Wider die Entmündigung – für eine offene Katholizität») warfen sie dem Papst Machtmissbrauch bei der Ernennung von Bischöfen und bedeutende Eingriffe in die Freiheit von Lehre und Forschung vor. Sie kritisierten die unzulässige Geltendmachung seiner lehramtlichen Kompetenz – damit sind die pointierten, «dogmatischen» Äusserungen Johannes Paul II. zur Geburtenregelung gemeint – und die Missachtung des Geistes der Öffnung, wie ihn das zweite Vatikanische Konzil gebracht hatte, was zu einer Gefährdung der Ökumene führe.

Kontroverse um Bischof Wolfgang Haas

Wenn man sich in der SP darüber uneins war, ob und wieweit man mit bürgerlichen Parteien zusammenarbeiten könne, so sah sich die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) von der Frage nach ihrem Standort im Spannungsfeld zwischen rechts und links bedrängt. Die Polarisierung in der schweizerischen Politik – und die in CVP-Kreisen wachsende Tendenz zu einem konservativeren Kurs – hatte schon 1978 zu einer Reaktivierung der christlichsozialen Linken geführt. Diese verfügt traditionellerweise auf Landes- wie auf Kantonsebene über eigene, mehr oder weniger stark ausgebildete Organisationen. Ihr Dachverband, die Christliche Sozialbewegung der Schweiz, beschloss zu Anfang des Jahres, ein hauptamtliches Sekretariat einzurichten; zugleich trat er mit einem Informationsblatt («Der Funke») hervor.

An einer Delegiertenversammlung der CVP im Februar, die zur Erinnerung an die zehn Jahre zuvor beschlossene Parteireform wieder in Solothurn abgehalten wurde, kamen die inneren Spannungen zur Sprache; dabei forderte Parteipräsident Hans Wyer, selber ein Christlichsozialer, eine bessere Verwurzelung der CVP in der Arbeiterschaft. Dem entsprach man durch eine Verstärkung der Christlichsozialen im Parteipräsidium; im Herbst folgte eine Statutenrevision, die den «Vereinigungen» innerhalb der Partei die direkte Abordnung von Vertretern in die Delegiertenversammlung zugestand. (Die einzige «Vereinigung» bildet bisher die Christlichsoziale Parteigruppe. Die Revision anerkannte auch die CVP-Vertreter in der Bundesversammlung wieder als Delegierte, wodurch das 1970 eingeführte demokratische Repräsentationsprinzip eingeschränkt wurde.)
Die massgebenden Exponenten des christlichsozialen Flügels postulierten höchstens eine Rückkehr zur konservativ-christlichsozialen Doppelorganisation, wie sie vor 1970 bestanden hatte (so etwa Guido Casetti, Präsident des CNG).
Ein Schritt in dieser Richtung wurde in Genf getan, wo sich nach einem rechtsgerichteten Groupement des indépendants auch ein Groupement chrétien-social bildete. Die Genfer CVP weist bereits Gruppen der Bauern, der Jugend, der Frauen und der Ausserkantonalen auf.

In Freiburg kam es dagegen zu einer eigentlichen Spaltung: Die bisher mit der CVP verbundenen Christlichsozialen des deutschsprachigen Sensebezirks vereinigten sich mit dem 1966 entstandenen Parti indépendant chrétien-social zu einer selbständigen Formation; dadurch erscheint die noch immer dominierende Stellung der Partei im katholischen Stammland an der Saane ernstlich bedroht. (Zur Christlichsozialen Partei zählen 10 von 130 Grossratsmitgliedern.)

Der Anspruch der CVP, auf eidgenössischem Boden eine eigenständige Politik der Mitte zu verfolgen, erschien namentlich linken Kritikern nicht eingelöst. Vor allem wurde auf eine eher konservative Haltung der christlichdemokratischen Ständeräte hingewiesen. Wegen der Beschränkung des Mitbestimmungspostulats auf die Betriebsebene sowie wegen der Zustimmung zum Saisonarbeiterstatut kamen aber auch Nationalräte unter Beschuss, in der Saisonnierfrage sogar aus den eigenen Reihen.

Progressiver wirkte demgegenüber ein von der Partei veröffentlichtes Entwicklungshilfekonzept, das u.a. Vorkehren gegen die Kapitalflucht aus der Dritten Welt vorsah (v.a. das radikalere Konzept der Jungen CVP).

Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) 1980