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Jahresrückblick 2022: Institutionen und Volksrechte

Spätestens seit dem Rücktritt von Ueli Maurer als Bundesrat Ende September dominierte die Suche nach seiner Nachfolgerin oder seinem Nachfolger den Themenbereich «Institutionen und Volksrechte» (vgl. Abbildung 1 der APS-Zeitungsanalyse). Mit dem Rücktritt von Simonetta Sommaruga Ende November standen im Dezember 2022 gleich zwei Bundesratsersatzwahlen an. Maurer hatte seinen Rücktritt mit dem Wunsch begründet, noch einmal etwas Neues machen zu wollen, und Simonetta Sommaruga hatte sich entschieden, in Folge eines Schlaganfalles ihres Mannes ihr Leben neu auszurichten. Wie bei Bundesratsersatzwahlen üblich, überboten sich die Medien mit Spekulationen, Expertisen, Interpretationen und Prognosen. Bei der SVP galt die Kandidatur von Hans-Ueli Vogt (svp, ZH), der sich 2021 aus der Politik zurückgezogen hatte, als Überraschung. Dennoch zog ihn die SVP-Fraktion anderen Kandidatinnen und Kandidaten vor und nominierte ihn neben dem Favoriten Albert Rösti (svp, BE) als offiziellen Kandidaten. Bei der SP sorgte der sehr rasch nach der Rücktrittsrede von Simonetta Sommaruga verkündete Entscheid der Parteileitung, mit einem reinen Frauenticket antreten zu wollen, für Diskussionen. Die medialen Wogen gingen hoch, als Daniel Jositsch (ZH) dies als «Diskriminierung» bezeichnete und seine eigene Bundesratskandidatur verkündete. Die SP-Fraktion entschied sich in der Folge mit Elisabeth Baume-Schneider (sp, JU) und Eva Herzog (sp, BS) für zwei Kandidatinnen. Zum Nachfolger von Ueli Maurer wurde bereits im 1. Wahlgang Albert Rösti mit 131 von 243 gültigen Stimmen gewählt. Hans-Ueli Vogt hatte 98 Stimmen erhalten (Diverse: 14). Für die SP zog Elisabeth Baume-Schneider neu in die Regierung ein. Sie setzte sich im dritten Wahlgang mit 123 von 245 gültigen Stimmen gegen Eva Herzog mit 116 Stimmen durch. Daniel Jositsch hatte in allen drei Wahlgängen jeweils Stimmen erhalten – deren 6 noch im letzten Umgang. Die Wahl der ersten Bundesrätin aus dem Kanton Jura wurde von zahlreichen Beobachterinnen und Beobachtern nicht nur als Überraschung gewertet, sondern gar als Gefahr für das «Gleichgewicht» der Landesregierung kommentiert (Tages-Anzeiger). Die rurale Schweiz sei nun in der Exekutive übervertreten, wurde in zahlreichen Medien kritisiert.

Der Bundesrat stand aber nicht nur bei den Wahlen im Zentrum des Interesses. Diskutiert wurde auch über Vor- und Nachteile einer Erhöhung der Zahl der Regierungsmitglieder, wie sie eine parlamentarische Initiative Pa.Iv. 19.503 forderte – es war bereits der sechste entsprechende Vorstoss in den letzten 30 Jahren. Die Begründungen hinter den jeweiligen Anläufen variieren zwar über die Zeit – der neueste Vorstoss wollte «die Konkordanz stärken», also mehr Spielraum für parteipolitische aber auch für gendergerechte Vertretung schaffen – die Projekte nahmen bisher aber stets denselben Verlauf: Auch in diesem Jahr bevorzugte das Parlament den Status quo.
Verbessert werden sollte hingegen die Krisenorganisation des Bundesrates. Dazu überwiesen beide Kammern gleichlautende Motionen und Postulate der GPK beider Räte, die Rechtsgrundlagen für einen Fach-Krisenstab sowie eine Gesamtbilanz der Krisenorganisation des Bundes anhand der Lehren aus der Corona-Pandemie verlangten.

Auch das Parlament sollte als Lehre aus der Pandemie krisenresistenter gemacht werden. Aus verschiedenen, von Parlamentsmitgliedern eingereichten Ideen hatte die SPK-NR eine einzige Vorlage geschnürt, die 2022 von den Räten behandelt wurde. Dabei sollten aber weder der Bundesrat in seiner Macht beschränkt, noch neue Instrumente für das Parlament geschaffen werden – wie ursprünglich gefordert worden war. Vielmehr sah der Entwurf Möglichkeiten für virtuelle Sitzungsteilnahme im Falle physischer Verhinderung aufgrund höherer Gewalt und die Verpflichtung des Bundesrates zu schnelleren Stellungnahmen bei gleichlautenden dringlichen Kommissionsmotionen vor. Umstritten blieb die Frage, ob es statt der heutigen Verwaltungsdelegation neu eine ständige Verwaltungskommission braucht. Der Nationalrat setzte sich für eine solche ein, der Ständerat lehnte sie ab – eine Differenz, die ins Jahr 2023 mitgenommen wird.
Nicht nur die Verwaltungskommission, auch die Schaffung einer ausserordentlichen Aufsichtsdelegation war umstritten. Die vom Nationalrat jeweils mit grosser Mehrheit unterstützte Idee, dass es neben der PUK und den Aufsichtskommissionen ein mit starken Informationsrechten ausgerüstetes Gremium geben soll, das als problematisch beurteilte Vorkommnisse in der Verwaltung rasch untersuchen könnte, war beim Ständerat stets auf Unwille gestossen. Auch nach einer Einigungskonferenz konnten sich die Räte nicht auf eine Lösung verständigen, woraufhin der Ständerat das Anliegen versenkte, zumal er die bestehenden Instrumente und Akteure als genügend stark erachtete.

Seit vielen Jahren Zankapfel zwischen den Räten ist die Frage nach der Höhe der Löhne in der Bundesverwaltung. In diesem Jahr beendete der Ständerat eine beinahe sechsjährige Diskussion dazu, indem er auf eine entsprechende Vorlage der SPK-SR auch in der zweiten Runde nicht eintrat, obwohl der Nationalrat deutlich für eine Obergrenze von CHF 1 Mio. votiert hatte. Die SPK-NR sorgte in der Folge mit einer neuerlichen parlamentarischen Initiative für ein Verbot von «goldenen Fallschirmen» für Bundeskader dafür, dass diese Auseinandersetzung weitergehen wird.

In schöner Regelmässigkeit wird im Parlament auch die Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit diskutiert. Zwei entsprechende Motionen wurden in diesem Jahr von der Mehrheit des Ständerats abgelehnt, da das aktuelle System, in welchem die Letztentscheidung dem direktdemokratischen Element und nicht der Judikative überlassen wird, so gut austariert sei, dass ein Verfassungsgericht nicht nötig sei. Freilich ist sich das Parlament der Bedeutung der obersten Bundesgerichte durchaus bewusst. Ein Problem stellt dort seit einiger Zeit vor allem die chronische Überlastung aufgrund der hohen Fallzahlen dar. Daher werde gemäss Justizministerin Karin Keller-Sutter mittelfristig eine Modernisierung des Bundesgerichtsgesetzes geprüft, kurzfristig sei eine Entlastung aber nur durch eine Erhöhung der Zahl der ordentlichen Richterinnen und Richter zu erreichen. Eine entsprechende parlamentarische Initiative der RK-NR hiessen beide Kammern gut, allerdings jeweils gegen die geschlossen stimmende SVP-Fraktion, die in der Erhöhung lediglich «Flickwerk» sah.

Die mittels direktdemokratischer Abstimmungen verhandelte Schweizer Politik zeigte sich 2022 einigermassen reformresistent. Nachdem im Februar gleich beide zur Abstimmung stehenden fakultativen Referenden (Gesetz über die Stempelabgaben und Medienpaket) erfolgreich waren, wurde in den Medien gar spekuliert, ob die Bundespolitik sich nun vermehrt auf Blockaden einstellen müsse. Allerdings passierten dann im Mai und im September 4 von 5 mittels Referenden angegriffenen Bundesbeschlüsse die Hürde der Volksabstimmung (Filmgesetz, Organspende, Frontex, AHV21). Einzig die Revision des Verrechnungssteuergesetzes wurde im September an der Urne ausgebremst. 2022 war zudem die insgesamt 25. Volksinitiative erfolgreich: Volk und Stände hiessen die Initiative «Kinder und Jugendliche ohne Tabakwerbung» gut. Die beiden anderen Volksbegehren (Massentierhaltungsinitiative, Initiative für ein Verbot von Tier- und Menschenversuchen) wurden hingegen abgelehnt.

Dass in der Schweizer Politik manchmal nur ganz kleine Schritte möglich sind, zeigen die erfolglosen Bemühungen, den Umfang an Stimm- und Wahlberechtigten zu erhöhen. Der Nationalrat lehnte zwei Vorstösse ab, mit denen das Stimmrecht auf Personen ohne Schweizer Pass hätte ausgeweitet werden sollen. Auch die Wahrscheinlichkeit, dass das Stimmrechtsalter in naher Zukunft auf 16 gesenkt werden wird, hat sich im Jahr 2022 eher verringert: Zwar wies eine knappe Mehrheit des Nationalrats den Abschreibungsantrag für eine parlamentarische Initiative, welche eine Senkung des Alters für das aktive Stimmrecht verlangt und welcher 2021 beide Kammern Folge gegeben hatten, ab und wies sie an die SPK-NR zurück, damit diese eine Vorlage ausarbeitet. In zwei Kantonen wurde die Senkung des Stimmrechtsalters im Jahr 2022 an der Urne aber deutlich verworfen: in Zürich im Mai mit 64.8 Prozent Nein-Stimmenanteil, in Bern im September mit 67.2 Prozent Nein-Stimmenanteil.

Allerdings fielen 2022 auch Entscheide, aufgrund derer sich das halbdirektdemokratische System der Schweiz weiterentwickeln wird. Zu denken ist dabei einerseits an Vorstösse, mit denen Menschen mit Behinderungen stärker in den politischen Prozess eingebunden werden sollen – 2022 nahmen etwa beide Kammern eine Motion an, mit der Einrichtungen geschaffen werden, die helfen, das Stimmgeheimnis für Menschen mit Sehbehinderung zu gewährleisten. Zudem gaben National- und Ständerat einer parlamentarischen Initiative für die Barrierefreiheit des Live-Streams der Parlamentsdebatten Folge, damit auch hörgeschädigte Menschen diesen folgen können. Andererseits verabschiedete der Bundesrat die Verordnung zu den künftigen Transparenzbestimmungen bei Wahlen und Abstimmungen. Ob und wie die erstmals für die eidgenössischen Wahlen 2023 bzw. für das Finanzjahr 2023 vorzulegenden Kampagnen- und Parteibudgets die politischen Debatten beeinflussen werden, wird sich weisen.

Jahresrückblick 2021: Institutionen und Volksrechte
Dossier: Jahresrückblick 2022

Zwei Themen dominierten die mediale Diskussion im Jahr 2022 hinsichtlich Lobbying: Eine Auswertung des Vereins «Lobbywatch» zur Anzahl bezahlter Mandate von Parlamentsmitgliedern sowie – damit verknüpft – die Kritik am für den Bundesrat kandidierenden und später zum Nachfolger von Ueli Maurer gekürten Albert Rösti bzw. seinen zahlreichen Mandaten.

Lobbywatch, ein Verein, der nach eigenen Aussagen durch Offenlegung von Interessenbindungen von Parlamentsmitgliedern mehr Transparenz in die Politik bringen will, veröffentlichte Ende Oktober 2022 eine Liste, auf der die Parlamentsmitglieder hinsichtlich ihrer bezahlten Mandate rangiert wurden. Seit 2019 müssen Parlamentarierinnen und Parlamentarier ihre ausserparlamentarischen, entschädigten und ehrenamtlichen Tätigkeiten offenlegen. Lobbywatch zog für seine Rangliste nicht bloss diese öffentlich einsehbaren Dokumente bei, auf denen von den aktuellen 246 Parlamentsmitgliedern insgesamt 2'363 Interessenbindungen vermerkt waren, sondern nach eigenen Angaben auch Einträge im Handelsregister und weitere, «eigene Recherchen». Die Medien interessierten sich sehr für diese Liste, insbesondere für die Spitzenplätze. Dort befanden sich Ruth Humbel (mitte, AG) mit 21 bezahlten Mandaten, gefolgt von Peter Schilliger (fdp, LU) mit 18 Mandaten und ex aequo mit jeweils 16 Mandaten Martin Schmid (fdp, GR), Beat Walti (fdp, ZH), Erich Ettlin (mitte, OW) und Albert Rösti (svp, BE). Ruth Humbel sei die «Ämtli-Königin», berichtete in der Folge etwa der Blick über die Rangliste.
Die Auswertung zeigte weiter, dass insgesamt jedes dritte Mandat entlohnt wurde. Ehrenamtliche, also unbezahlte Tätigkeiten seien bei Parlamentsmitgliedern im linken ideologischen Spektrum verbreiteter als auf bürgerlicher Seite, so die Studie dazu. Fast jedes zweite Mandat in der Mitte-EVP- und in der SVP-Fraktion werde gegen Entgelt erbracht; total wurden in der Mitte-EVP-Fraktion 245 und in der SVP-Fraktion 186 bezahlte Mandate gezählt. In der FDP-Fraktion betrug der Anteil bezahlter Mandate an allen Mandaten laut Lobbywatch 38 Prozent (total 218 bezahlte Mandate), bei der GLP 33 Prozent (45 bezahlte Mandate), bei der SP 25 Prozent (118 bezahlte Mandate) und bei den Grünen 23 Prozent (64 bezahlte Mandate).

Die Auswertung von Lobbywatch stiess allerdings auch auf Kritik. Ruth Humbel beklagte sich etwa im Blick, dass bei ihr falsch gezählt worden sei. Sie habe offiziell lediglich sieben Mandate inne; die in der Studie aufgelisteten weiteren Mandate erbringe sie ehrenamtlich oder es handle sich um Vereinsmitgliedschaften. Lobbywatch weise bei ihr zudem auch Mandate von Untergesellschaften auf (z.B. Concordia Beteiligungen AG, Stiftung Concordia), obwohl sie nur für das Hauptmandat (Concordia-Krankenkasse) entlohnt werde. Zudem sei die Auswertung «unfair», weil nicht zwischen der Höhe der Bezahlung differenziert werde. So werde ihr Mandat bei Vitaparcours, für das sie lediglich CHF 150 pro Jahr erhalte, gleich bewertet und gezählt wie alle anderen Mandate, die weitaus höher entlohnt würden. Humbel kündigte in der Aargauer Zeitung gar zivilrechtliche Schritte an. Auch Maja Riniker (fdp, AG) forderte den Verein vergeblich auf, Korrekturen an ihren Einträgen vorzunehmen.
Die NZZ kritisierte «den schalen Beigeschmack», den die Liste aufgrund der von Humbel im Blick erwähnten Unzulänglichkeiten hinterlasse. Eifrige «Ämtlisammler» stünden «zu Unrecht am Pranger», so die NZZ. Die Liste nähre zudem die gängigen Vorurteile. Interessenbindungen seien nicht eine Frage von Machtungleichgewicht und klandestinem Einfluss, sondern für das Milizparlament wichtig, weil Parlamentsmitglieder dadurch an Expertise in wichtigen Fachbereichen gewännen.
Lobbywatch argumentierte anfänglich, man habe alle Mandate gezählt, weil diese jeweils auch die Verfolgung unterschiedlicher Interessen anzeigten. Ein paar Tage später musste der Verein jedoch zurückkrebsen. Man habe bei Ruth Humbel in der Tat versehentlich auch sieben ehrenamtliche Ämter mitgezählt, wurde bekannt gegeben. Sie habe also nicht 21, sondern 14 bezahlte Mandate. Lobbywatch entschuldigte sich offiziell für die entstandenen Unannehmlichkeiten. Neu an der Spitze der Liste stand nun also Peter Schilliger, wie die Medien berichtigten.

Einigen Wirbel löste die Liste auch im Rahmen der Bundesratsersatzwahlen 2022 aus. Dass Albert Rösti, der Kronfavorit auf die Nachfolge von Ueli Maurer, so viele Mandate innehatte, führte zu Diskussionen über eine allfällige Abhängigkeit von verschiedenen Interessengruppen in der Regierung. Der «prince du lobbyisme», wie Le Temps Albert Rösti bezeichnete, bzw. die Breite seiner verschiedenen Mandate könne aber auch als Zeichen seiner Verankerung in bürgerlich-konservativen Kreisen gelesen werden, so Le Temps weiter. Albert Rösti verteidigte sich in der Zeitung auch selber: Weil man keine kompromittierenden Dinge über ihn finde, würde man vor allem seine Mandate zum Thema machen. Das störe ihn aber nicht, weil er, wie andere auch, Milizparlamentarier mit verschiedenen Einkommensquellen sei; das seien bei ihm sein Nationalratsmandat, sein Amt als Gemeindepräsident von Uetendorf und als Präsident von Auto-Schweiz. Würde er zum Bundesrat gewählt, werde er selbstverständlich alle Mandate niederlegen, so Rösti in Le Temps.

Lobbying 2022
Dossier: Lobbyismus im Bundeshaus

Im Kanton Glarus verloren die Grünen Ende 2022 zwei Aushängeschilder an die GLP: Bloss ein halbes Jahr nach den Landratswahlen traten die Landrätinnen Priska Müller Wahl und Nadine Landolt Rüegg zur GLP über. Als Begründung nannten sie an einer Medienkonferenz «unterschiedliche Ansichten betreffend Organisation, Ressourceneinsatz und demokratischen Entscheiden», ohne weiter ins Detail gehen zu wollen. Inhaltliche Differenzen seien jedenfalls nicht ausschlaggebend gewesen, wie auch die Grünen in ihrer Stellungnahme betonten. Die Kantonalpartei erklärte, dass die beiden altgedienten Ländrätinnen «offenbar den Generationenwechsel, der mit dem neuen Vorstand eingeleitet werden konnte, und den damit verbundenen neuen und pragmatischen Stil nicht mittragen wollten».
Im Glarner Kontext war der Schritt insofern ein Novum, als damit erstmals in dem Kanton grüne Amtsträgerinnen zur GLP wechselten: Anders als in anderen Kantonen war die Glarner GLP 2013 nicht als Abspaltung der Grünen gegründet worden, sondern durch «Christlichsoziale, die in der CVP offenbar keine Zukunft mehr sahen», wie die Glarner Nachrichten schrieben; auch danach sei es «bis jetzt nicht zu Übertritten von grünen Schwergewichten gekommen».

Die Landratsfraktion der Grünen schrumpfte mit dem Doppelwechsel von 8 auf 6 Mitglieder, die Vertretung der GLP wuchs hingegen von 3 auf 5. Die Glarner Grünliberalen konnten damit erstmals eine eigene Fraktion bilden, nachdem sie bei den Wahlen 2022 ihr erklärtes Ziel, Fraktionsstärke zu erreichen, noch verpasst und sogar einen Sitz eingebüsst hatten.
Mit dem Entstehen der neuen Fraktion hatte das Glarner Kantonsparlament zu entscheiden, wie mit zwei widersprüchlichen Vorgaben der Landratsverordnung umzugehen sei: Diese schreibt einerseits vor, dass in jeder Kommission jede Fraktion mit mindestens einem Sitz vertreten sein soll, andererseits sehen die Regeln eine Besetzung der Kommissionssitze lediglich zu Legislaturbeginn vor. Eine knappe Landratsmehrheit lehnte eine vorgezogene Neuverteilung der Kommissionssitze schliesslich ab; die Nein-Stimmen kamen von der SVP und der FDP, welche bei einer Neuverteilung Mandate hätten abgeben müssen. Damit blieben bis zum Ende der Legislatur 2026 zwei Kommissionen ohne Vertretung der Grünliberalen und eine Kommission ohne Vertretung der Grünen, weil die beiden Parteiwechslerinnen ihre Kommissionssitze von den Grünen zu den Grünliberalen mitnahmen.

Parteiaustritte bei den Grünen

Auf Antrag der RK-NR beschloss der Nationalrat in der Wintersession 2022, die Behandlungsfrist für eine parlamentarische Initiative von Hans Egloff (svp, ZH) um zwei Jahre zu verlängern. Egloff wollte mit seiner Initiative erreichen, dass Anfangsmietzinse nur noch bei Notlage des Mieters oder der Mieterin angefochten werden können. Der Nationalrat hatte vor zwei Jahren bereits einmal die Frist für die Behandlung verlängert. Dass sie in der Zwischenzeit keinen Entwurf ausgearbeitet hatte, begründet die Kommission damit, dass sie erst noch das Ergebnis der vom Bund lancierten Diskussionen mit den Sozialpartnern zum Mietrecht habe abwarten wollen. Nachdem diese im Sommer 2022 gescheitert waren, beschloss die Kommission, die Umsetzung der Initiative – zusammen mit einer weiteren Initiative Egloff – an die Hand zu nehmen. Sie habe der Verwaltung bereits den Auftrag erteilt, verschiedene Umsetzungsvarianten auszuarbeiten. Eine Minderheit rund um Christian Dandrès (sp, GE) sprach sich derweil für eine Abschreibung der Initiative aus. Sie führe zu weniger Anfechtungen von Anfangsmietzinsen und damit zu steigenden Mieten. Die Kommissionsmehrheit vermochte sich jedoch auch im Rat durchzusetzen. Die grosse Kammer stimmte mit 128 zu 64 Stimmen, bei einer Enthaltung, für die Fristverlängerung.

Anfechtung des Anfangsmietzinses nur bei Notlage des Mieters (Pa.Iv. 16.451)
Dossier: Mietzinse: Bestimmung der Missbräuchlichkeit und Anfechtung

Im Ständerat gab es keine nennenswerte Opposition gegen den Entwurf der RK-NR für eine Erhöhung der Zahl der ordentlichen Richterinnen und Richter am Bundesgericht. Eintreten war unbestritten und Kommissionssprecher Carlo Sommaruga (sp, GE) berichtete, dass die RK-SR mit 11 zu 1 Stimme der Meinung sei, dass das Bundesgericht mit dieser einfachen Massnahme entlastet werden müsse, da die Arbeitsbelastung am obersten Gericht stetig zunehme. Die Massnahme sei zudem bereits im Budget 2023 integriert, so dass die zwei neuen Personen – das Gericht soll von 38 auf 40 vollamtliche Richterinnen und Richter aufgestockt werden – bereits in der Frühjahrssession 2023 gewählt und im darauffolgenden Sommer ihr Amt antreten könnten. Bundesrätin Karin Keller-Sutter wies darauf hin, dass die Aufstockung kurzfristig helfe, mehr Personalressourcen zu schaffen; langfristig müsse aber eine Modernisierung des Bundesgerichtsgesetzes in Angriff genommen werden – ein Vorhaben, das 2020 am Widerstand der Räte gescheitert war. Sollte die Arbeitsbelastung in Zukunft wieder abnehmen, sei es die Aufgabe des Parlaments, die Zahl der Richterinnen und Richter erneut anzupassen. Mit 29 zu 3 Stimmen (1 Enthaltung) nahm auch der Ständerat die Verordnung an. Wie schon in der grossen Kammer kam die Opposition auch in der kleinen Kammer von der SVP.
Auch in den Schlussabstimmungen änderte sich daran nichts: Der Nationalrat stimmte mit 140 zu 52 Stimmen (3 Enthaltungen) und der Ständerat mit 37 zu 6 Stimmen (1 Enthaltung) für die Erhöhung der Anzahl Gerichtsstellen.

Erhöhung der Zahl der ordentlichen Richterinnen und Richter am Bundesgericht (Pa.Iv. 22.427)
Dossier: Anzahl Richterinnen- und Richterstellen an den eidgenössischen Gerichten

Weil die Ständeratswahlen im Kanton Jura mittels Proporzwahlsystem durchgeführt werden, brauchte es für die Nachfolge von Elisabeth Baume-Schneider (sp, JU), die in den Bundesrat gewählt worden war, keine Ersatzwahlen, wie dies in anderen Kantonen (mit Ausnahme des Kantons Neuenburg, der ebenfalls ein Proporzwahlsystem für seine Kantonsvertretung kennt) üblich ist. Stattdessen rückte die bei den eidgenössischen Wahlen 2019 Zweitplatzierte auf der SP-Liste in den Ständerat nach. Bei dieser Zweitplatzierten handelte es sich um Mathilde Crevoisier Crelier (sp, JU), die damit «aus dem politischen Nichts [...] direkt ins Stöckli» marschiere, wie der Tages-Anzeiger berichtete. Die Sozialdemokratin, für die die Wahl von Elisabeth Baume-Schneider in die Landesregierung eine grosse Überraschung gewesen sei, sass als Präsidentin der lokalen SP seit 2012 im Stadtparlament von Pruntrut und war 2022 in die Stadtregierung gewählt worden. Als Übersetzerin im Generalsekretariat des EDI ist sie mit der nationalen Politik vertraut. Diesen Beruf musste sie in der Folge allerdings aufgeben, weil Parlamentsmitglieder nicht gleichzeitig der Bundesverwaltung angehören dürfen. Nach kurzer Bedenkzeit legte sie auch ihre lokalpolitischen Ämter nieder, um sich ganz auf ihr Ständeratsmandat zu konzentrieren und es im Herbst als Bisherige zu verteidigen. Sie müsse praktisch ihr ganzes Leben umkrempeln, urteilte der Tages-Anzeiger.
In der Tat wurde Mathilde Crevoisier Crelier bereits in der letzten Woche der Wintersession 2022, also nur gut eine Woche nach der Wahl ihrer Listenkollegin in den Bundesrat, im Ständerat vereidigt. Die neue Ständerätin des Kantons Jura legte das Gelübde ab. Nach dem Rücktritt von Christian Levrat (sp, FR) und der entsprechenden Ersatzwahl von Isabelle Chassot (mitte, FR) zur neuen Ständerätin des Kantons Freiburg im Jahr 2021 stellte das Nachrücken der jurassischen Sozialdemokratin die zweite Mutation im Ständerat in der aktuellen Legislatur dar.

Mutationen 2022
Dossier: Mutationen im nationalen Parlament

Ein Jahr später als ursprünglich geplant, beugte sich der Ständerat über die parlamentarische Initiative von Beat Rieder (mitte, VS), die ein Verbot für bezahlte Mandate im Zusammenhang mit der Einsitznahme in parlamentarische Kommissionen forderte. Die SPK-SR, die der Initiative wie auch ihre Schwesterkommission zuerst noch Folge gegeben hatte, empfahl sie nun einstimmig zur Abschreibung. In ihrer Medienmitteilung begründete die Kommission diese Kehrtwende in einem ersten Punkt damit, dass sich bei der Diskussion des an und für sich unterstützenswerten Anliegens gezeigt habe, dass eine verfassungskonforme Umsetzung nicht möglich sei, weil die Ratsmitglieder nicht nur ungleich behandelt, sondern auch in ihrer wirtschaftlichen Freiheit eingeschränkt würden. Den zweiten Punkt machte in der Ratsdebatte Daniel Jositsch (sp, ZH) deutlich: Es gebe eigentlich nur zwei Möglichkeiten – ein Berufsparlament, bei dem sämtliche anderen Tätigkeiten neben dem Parlamentsmandat verboten wären, oder eben ein Milizparlament, bei dem die Mandatsträgerinnen und -träger verschiedene Interessen und Kenntnisse ins Parlament brächten. Eine dritte Möglichkeit, wie sie die parlamentarische Initiative Rieder verlange, sei aber eben nicht möglich.
Gegen die Abschreibung setzte sich der Initiant selber ein: Beat Rieder argumentierte, dass er nicht das Milizsystem abschaffen, sondern das Vertrauen darein stärken wolle, weil sein Vorschlag die «offenkundigsten Interessenkollisionen» verhindern wolle. Freilich sei es stets schwierig, in der Gesetzgebung klare Definitionen vorzunehmen, dies gelte auch für seinen Vorschlag. Das dürfe aber kein Argument gegen eine neue Regelung sein. Auch das Argument der Ungleichbehandlung sei nicht wirklich stichhaltig, so Rieder. Es gehe einzig darum, zu entscheiden, ob man ein Mandat in einem Sachbereich annehmen oder in der entsprechenden Kommission sitzen wolle. Das sei eine freie individuelle Entscheidung und habe mit Rechtsungleichheit nichts zu tun, es werde ja niemand in seinen Rechten eingeschränkt. Rieder stiess zwar mit dieser Argumentation auf Sympathie – sieben Ratsmitglieder aus allen Lagern unterstützten ihn –, die total 8 Stimmen standen aber einer Mehrheit von 34 Stimmen gegenüber, die dem Antrag der Kommission folgten und die Initiative (bei 2 enthaltenden Stimmen) abschrieben.

Lobbying und Kommissionsarbeit (Pa.Iv. 19.414)
Dossier: Lobbyismus im Bundeshaus

In der Wintersession 2022 überwiesen sowohl der Ständerat (Mo. 22.4250) als auch der Nationalrat (Mo. 22.4249) eine jeweils gleichlautende Motion zur Erhöhung der Obergrenze für Gerichtsgebühren. Die von den beiden GPK eingereichten Vorstösse verlangten, dass die eidgenössischen Gerichte nach oben flexible Grenzen für Gerichtsgebühren ansetzen dürfen. Bei ihrer Prüfung der jetzigen Gebühren hätten die GPK festgestellt, dass die momentan geltenden Höchstansätze (CHF 200'000 beim Bundesgericht, CHF 100'000 bei Bundesanwaltschaft und Bundesstrafgericht, CHF 50'000 beim Bundesverwaltungsgericht) nicht genügten, wenn es um sehr hohe Streitwerte oder sehr komplexe Verfahren gehe. Es gehe nicht darum, die Gerichtsgebühren generell zu erhöhen, sondern lediglich darum, bei Spezialfällen Obergrenzen adäquat anzusetzen, begründeten die GPK ihre Vorstösse. Zwar waren bereits 2017 zwei ähnliche und ebenfalls gleichlautende Motionen angenommen worden, die im Rahmen der Revision des Bundesgerichtsgesetzes hätten umgesetzt werden sollen. Da die Räte diese Revision allerdings abgelehnt hätten, sei das Anliegen der flexiblen Obergrenze bisher nicht umgesetzt worden.
Der Bundesrat beantragte die Annahme der Motionen, wie er es bereits 2017 getan hatte, und erinnerte daran, dass bei der Umsetzung eine Motion Hefti (fdp, GL; Mo. 19.3228) und ein Postulat Caroni (fdp, AR; Po. 20.4399) berücksichtigt werden müssten.
Während die Motion im Ständerat ohne Diskussion durchgewunken wurde, lag im Nationalrat ein schriftlicher Antrag von Pirmin Schwander (svp, SZ) vor, der die Ablehnung der Motion beantragte. Es sei eine «Kernaufgabe des Staates» einen «niederschwelligen Zugang» zu den Gerichten zu garantieren. Höhere Gebühren würden aber auch höhere Gerichtskosten bedeuten, was den Zugang zu den Gerichten einschränke. Diesem Argument folgten 46 Fraktionskolleginnen und -kollegen Schwanders und ein Mitglied der FDP-Fraktion. Sie standen einer Mehrheit von 130 Stimmen gegenüber (6 Enthaltungen). Somit galten beide Motionen als angenommen.

Erhöhung der Obergrenze für Gerichtsgebühren (Mo. 22.4250 und Mo. 22.4249)

Einer Motion des Ständerates Piero Marchesi (svp, TI), wonach der Grundsatz des Lebensmittelpunkts als zentrales Kriterium für die Erteilung oder Erneuerung einer Aufenthaltsbewilligung berücksichtigt werden soll, stimmte der Ständerat in der Wintersession 2022 stillschweigend zu. Bundesrat und Nationalrat hatten sich bereits zuvor für den Vorstoss ausgesprochen.

Grundsatz des Lebensmittelpunkts bei der Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen berücksichtigen (Mo. 21.4076)

Als «formalistischen Leerlauf» bezeichnete Hans Stöckli (sp, BE) den aktuellen Rechtsmittelweg im Falle einer Beschwerde zu einer eidgenössischen Abstimmung. In der Tat sind Beanstandungen zuerst an eine Kantonsregierung zu richten, die dann in der Regel einen formellen Nichteintretensentscheid wegen Nichtzuständigkeit fällen muss, der in der Folge beim Bundesgericht angefochten werden kann. Stöckli forderte mittels Motion eine Revision des Bundesgesetzes über die politischen Rechte, mit der neue Rechtsmittelwege für Abstimmungsbeschwerden geschaffen werden sollen, die den Zeitverlust beseitigen. Es sei zielführender, wenn eine Abstimmungsbeschwerde, die ein Kanton nicht beurteilen kann – z.B. der Antrag auf Ungültigerklärung eines Abstimmungsentscheids oder auf Rüge von Falschinformation durch die Bundesbehörden –, direkt ans Bundesgericht gelangen könne.
In der Wintersession 2022 wies Bundeskanzler Walter Thurnherr im Ständerat darauf hin, dass das Bundesgericht bereits mehrmals gerügt habe, dass das aktuelle Beschwerdeverfahren nicht zweckmässig sei. Der Bundesrat beantrage auch deshalb die Annahme der Motion. Es müsse bei der Umsetzung allerdings berücksichtigt werden, dass die Kantone nicht gänzlich ausgenommen würden, seien sie doch durchaus zuständig bei beanstandeten Unregelmässigkeiten hinsichtlich Vorbereitung und Durchführung von Urnengängen (z.B. Versand von Stimmmaterial, Auszählung der Stimmen). Der Ständerat überwies die Motion stillschweigend an den Nationalrat.

Abstimmungsbeschwerden – neuer Rechtsmittelweg (Mo. 22.3933)

Nur wenige Tage nach der Wahl seines Büros für 2022/2023 musste der Ständerat bereits eine Ersatzwahl vornehmen. Für die Ende November 2022 zur zweiten Vizepräsidentin gewählte, aber nur wenige Tage später zur neuen Bundesrätin gekürte Elisabeth Baume-Schneider wurde auf Vorschlag der SP-Fraktion Eva Herzog (sp, BS) gewählt – ausgerechnet also jene SP-Vertreterin, die in besagten Bundesratswahlen als zweite offizielle Kandidatin unterlegen war. Herzog erhielt 39 von 42 möglichen Stimmen – drei Wahlzettel waren leer geblieben. Die Wahl der Sozialdemokratin sorgte dafür, dass das Präsidium im Ständerat in Frauenhand blieb – Ständeratspräsidentin Brigitte Häberli-Koller (mitte, TG) und Vizepräsidentin Lisa Mazzone (gp, GE) besetzten die ersten beiden Positionen. 2024/2025 wird somit voraussichtlich erstmals eine Sozialdemokratin das höchste Amt in der kleinen Kammer ausüben. Zwar stellte die SP bisher insgesamt neun Ständeratspräsidenten, darunter war aber noch nie eine Frau.
Der Blick wusste zu berichten, dass aus der SP-Ständeratsfraktion neben Eva Herzog nur noch Carlo Sommaruga (sp, GE) oder Daniel Jositsch (sp, ZH) als Kandidaten für das Amt in Frage gekommen wären, da alle anderen SP-Ständeratsmitglieder bei den kommenden Wahlen nicht mehr antreten wollten oder aber andere Ämter anstrebten. Sie schaue nach vorne, arbeite mit vollem Elan weiter und freue sich auf die neue Aufgabe, gab die von der SP portierte Baselstädterin im Blick zu Protokoll. Gesetzt der Fall, Eva Herzog und Eric Nussbaumer (sp, BL) werden bei den eidgenössischen Wahlen 2023 im Ständerat respektive im Nationalrat bestätigt, werden die Ratspräsidien 2024/2025 somit in Basler SP-Händen sein.

Ersatzwahl Büro Ständerat (PAG 22.220)
Dossier: Nationalrat und Ständerat. Wahl des Präsidiums und des Büros

Zwar würden die Interessenbindungen im entsprechenden Register ausgewiesen, es sei aber nicht klar, wie viel Geld ein Parlamentsmitglied für ein Mandat erhalte. Auch wenn es «systemimmanent» sei, dass enge Bindungen bestünden, müssten diese doch so transparent wie möglich sein, weshalb es eine Offenlegung grosser Geldflüsse an Parlamentsmitglieder brauche, begründete die SP-Fraktion ihre parlamentarische Initiative. Mandate bis zu CHF 1000 pro Monat seien dabei als «ehrenamtlich» zu betrachten und von dieser Offenlegung auszunehmen. Höhere Beträge könnten hingegen zu Abhängigkeiten führen und müssten deshalb den Bürgerinnen und Bürgern bekannt gemacht werden.
Die SPK-NR beantragte mit 14 zu 10 Stimmen, der Initiative keine Folge zu geben. Das Anliegen sei in letzter Zeit öfter diskutiert und immer wieder abgelehnt worden (z.B. Pa.Iv. 15.438, Pa.Iv. 18.476 oder Pa.Iv. 19.473). Absolute Transparenz sei zwar verlockend, gehe aber in einem Milizsystem zu weit und es müsse den einzelnen Ratsmitgliedern überlassen werden, ob sie ihre Saläre offenlegen wollten. Stossend sei zudem die Forderung, dass nur nebenberufliche Tätigkeiten unter die Offenlegungspflicht fallen würden. Wer etwa hauptberuflich eine Beratungsfirma leite, müsste kein einziges Mandat ausweisen – wurde im Kommissionsbericht ausgeführt. Die linke Kommissionsminderheit, die sich für Folgegeben stark machte, argumentierte hingegen mit dem Interesse von Bürgerinnen und Bürgern an Informationen über finanzielle Abhängigkeiten.
Minderheitensprecherin Nadine Masshardt (sp, BE) warnte das Parlament in der Wintersession 2022 davor, mit der Ablehnung des Vorschlags schwelende «Spekulationen und Vermutungen» über finanzielle Abhängigkeiten von Parlamentarierinnen und Parlamentariern zu nähren und damit das Vertrauen in die Demokratie zu untergraben. Kommissionssprecher Gerhard Pfister (mitte, ZG) machte hingegen geltend, dass die Umgehung der vorgeschlagenen Bestimmungen sehr einfach wäre. Schwerer wiege aber der Umstand, dass zwar Entlohnung für Mandate nicht aber für Tätigkeiten in Organisationen und Vereinen transparent gemacht werden müssten. Dort gebe es aber ebenfalls Abhängigkeiten. Für die Empfehlung, der Initiative keine Folge zu geben, habe in der Kommission wohl implizit auch die Überlegung mitgespielt, dass man zuerst Erfahrungen mit den neu eingeführten Transparenzregelungen hinsichtlich Politikfinanzierung sammeln wolle, die erstmals für die eidgenössischen Wahlen 2023 gelten werden. Mit 95 zu 89 Stimmen (5 Enthaltungen) entschied sich die Mehrheit des Nationalrats in der Folge gegen Folgegeben. Diese Mehrheit bestand aus 46 Stimmen der SVP-Fraktion (4 abweichend), 28 Stimmen der FDP-Fraktion (1 abweichend) und 21 Stimmen der Mitte-Fraktion (5 abweichend).

Offenlegung der grossen Geldflüsse an Parlamentsmitglieder (Pa.Iv. 21.474)
Dossier: Lobbyismus im Bundeshaus

Wie der Nationalrat nutze auch der Ständerat die erste Sitzung der Wintersession 2022 zur Wahl des Ständeratspräsidiums und der Mitglieder des Büro-SR für 2022/2023 und wie im Nationalrat wurde mit Brigitte Häberli-Koller (mitte, TG) auch im Ständerat ein Mitglied der Mitte für das höchste Amt auserkoren. Vor der Wahl der erst fünften Ständeratspräsidentin in der Geschichte der kleinen Kammer ergriff der scheidende Präsident, Thomas Hefti (fdp, GL), das Wort. Es sei gut, dass es in Demokratien befristete Amtszeiten gebe. Resultate von Wahlen nicht anzuerkennen oder ziviler Ungehorsam sei hingegen Gift für einen demokratischen Rechtsstaat. Hefti ging auf die abflauende Pandemie ein, die in der Schweiz auch deshalb glimpflich abgelaufen sei, weil – trotz aller Kritik – den Kantonen und dem Bundesrat vernünftige Lösungen gelungen seien. Es greife zu kurz, den Föderalismus für Fehler, die es natürlich auch gegeben habe, verantwortlich zu machen. Krisen seien «die Stunden der Exekutiven» aber von Diktatur zu sprechen, sei daneben. Auch aus dem Krieg in der Ukraine, einem von Russland angezettelten «Krieg gegen die westliche Welt» müsse die Schweiz Lehren ziehen. Es gelte, die Armee zu verstärken. Bei den Verhandlungen mit der EU – ebenfalls eine aktuelle Herausforderung – würde man vielleicht weiterkommen, wenn der EU verständlich gemacht werden könnte, dass die «sehr weitgehenden Rechte» der Mitbestimmung in der Schweiz nicht nur weltweit einzigartig, sondern auch für die supranationale Organisation nicht schädlich seien.

Nachdem Thomas Hefti mit grossem Applaus bedacht worden war, schritt die kleine Kammer zur Wahl ihrer neuen Präsidentin, die 45 von 46 Stimmen erhielt. Ein Wahlzettel war leer geblieben. Brigitte Häberli-Koller wurde mit starkem Beifall in ihr neues Amt begrüsst. Die Mitte-Politikerin – nach Josi Meier (cvp, LU; 1991), Françoise Saudan (fdp, GE; 2000), Erika Forster-Vannini (fdp, SG; 2009) und Karin Keller-Sutter (fdp, SG) die fünfte Ständeratspräsidentin – war bereits die zwölfte Kantonsvertretung aus dem Thurgau, die das oberste Amt in der kleinen Kammer ausüben durfte. Nur die Kantone Waadt (17), und Bern (15) stellten mehr Ständeratspräsidenten. Der Bund wisse, was er am Thurgau habe, startete die frischgebackene und insgesamt 200ste höchste Amtsträgerin in der kleinen Kammer ihre Antrittsrede mit einem Dank an die anwesende Kantonalregierung. Auch sie ging auf die aktuellen politischen Herausforderungen ein: Krisen und Wandel habe es schon immer gegeben, allerdings gebe es heute viel mehr Widersprüche, die Unsicherheiten und Ängste weckten und im schlimmsten Fall zu extremen Überzeugungen und einer gespaltenen Gesellschaft führten. Es müsse unterschieden werden zwischen berechtigter Meinungsfreiheit und «radikalen Forderungen bestimmter Gruppierungen». Die direkte Demokratie sei aber keine Tyrannei der Mehrheit, sondern biete «das beste und ehrlichste Ventil für die Bürgerinnen und Bürger», die Unzufriedenheit zeigen dürften, Abstimmungsergebnisse aber selbstverständlich akzeptieren würden. «Wir leben in einer direkten Demokratie, wo sich niemand auf der Strasse festkleben muss, wo niemand Gemälde mit Kartoffelstock bewerfen muss und wo man sich auch nirgendwo anketten muss.» Es sei zudem nicht fair, der Politik böswillige Absicht zu unterstellen, wenn sich ein Entscheid im Nachhinein als fehlerhaft herausstelle. Unzufriedenheit und Fehler müsse eine Demokratie aushalten und es sei an den Parlamentsmitgliedern, durch Ehrlichkeit und Transparenz wieder Vertrauen zu schaffen. Es gebe viel zu tun und die anstehenden Herausforderungen seien nur gemeinsam zu meistern, weshalb ihre Präsidentschaft auch unter dem Motto «Gemeinsam - Ensemble - Insieme - Ensemen» stehe

Nach einem musikalischen Intermezzo schritt die kleine Kammer zur Wahl der restlichen Mitglieder des Büros. Zur ersten Vizepräsidentin wurde Elisabeth Baume-Schneider (sp, JU) gewählt – ebenfalls mit 45 von 46 möglichen Stimmen (ein Zettel blieb auch hier leer); damit wird 2023/2024 erstmals eine Sozialdemokratin dem Ständerat vorstehen – es sei denn, die offizielle Kandidatin für die anstehenden Bundesratswahlen würde in die Landesregierung gewählt oder aber bei den eidgenössischen Wahlen 2023 in ihrem Kanton nicht bestätigt. Gleich zu zwei weiteren Nova führte die Wahl der zweiten Vizepräsidentin: Lisa Mazzone (gp, VD) ergänzte das erstmals reine Frauenpräsidium und wird – auch bei der Genferin eine Wiederwahl bei den Ständeratswahlen 2023 vorausgesetzt – 2024/2025 den Ständerat als erstes Mitglied der Grünen Partei präsidieren. Mazzone erhielt 44 von 46 möglichen Stimmen. Neben einer leeren Stimme entfiel eine auf eine andere Person. Die Ämter des Stimmenzählers und des Ersatzstimmenzählers werden von Männern besetzt. Andrea Caroni (fdp, AR) wurde mit 42 Stimmen gewählt (4 Wahlzettel blieben leer) und auf Stefan Engler (mitte, GR) entfielen 45 Stimmen (ein leerer Wahlzettel). Das Büro-SR wird immer dann mit einem weiteren Mitglied ergänzt, wenn Fraktionen mit mindestens fünf Mitgliedern im Ständerat ansonsten darin nicht vertreten sind. Dies war für das anstehende Amtsjahr der Fall für die SVP-Fraktion, die Werner Salzmann (svp, BE) zur Wahl vorschlug, der mit 43 Stimmen gewählt wurde (3 leere Wahlzettel).

In einem Festakt wurde die neue Ständeratspräsidentin zwei Tage nach ihrer Wahl in Frauenfeld gefeiert. Es sei zwar der bisherige Höhepunkt ihrer politischen Karriere, sie trete aber auch kurz vor dem Pensionsalter im Herbst noch einmal zu den Ständeratswahlen an, weil ihre Partei mit ihr die grössten Chancen sehe, gab die Mitte-Politikerin, die als Gemeinderätin, Grossrätin, von 2003 bis 2011 Nationalrätin und schliesslich ab 2011 Ständerätin die sogenannte «Ochsentour» hinter sich gebracht hatte, in einem Interview mit der Thurgauer Zeitung zu Protokoll.

Wahl Ständeratspräsidium 2022/2023
Dossier: Nationalrat und Ständerat. Wahl des Präsidiums und des Büros

Im Sommer 2022 kündigte Marianne Streiff-Feller (evp, BE) ihren Rücktritt aus dem Nationalrat an. Seit 2011 sass die Bernerin, die zudem von 2014 bis 2021 als Präsidentin der EVP amtete, in der grossen Kammer. Sie wolle mehr Zeit für ihre Familie haben, gab Streiff-Feller als Grund für ihren Rücktritt gegenüber den Medien an. Sie wolle sich zudem in Palliative Care weiterbilden.
In der Wintersession 2022 wurde Marc Jost (evp, BE) vereidigt, der für Streiff-Feller nachrutschte. Der 48-jährige Theologe war lange Zeit Grossrat im Kanton Bern und 2015/2016 Präsident des Kantonalberner Parlaments. Jost ist das 14. Mitglied im Nationalrat, das in der laufenden Legislatur nachrutschte.

Mutationen 2022
Dossier: Mutationen im nationalen Parlament

Weil in der Zwischenzeit eine umfassende Vorlage für Regelungen zur Handlungsfähigkeit des Parlaments in Krisenzeiten vorlag und dort auch die Idee der situationsgerechten Flexibilisierungsmöglichkeiten für den Parlamentsbetrieb bei aussergewöhnlichen Umständen Einzug gefunden hatte, zog Thomas Brunner (glp, SG) seine parlamentarische Initiative mit dieser Forderung zurück.

Situationsgerechte Flexibilisierungsmöglichkeiten für den Parlamentsbetrieb bei aussergewöhnlichen Umständen (Pa.Iv. 20.423)
Dossier: Parlament in Krisensituationen

Welche Partei Anspruch auf das Nationalratspräsidium hat beziehungsweise in welchem Turnus dieses Amt zwischen den Parteien wechselt, ist rechtlich nicht geregelt. Zwischen 1931 und 1946 setzte sich als Kompromiss durch, dass die SVP (bzw. damals BGB)-Fraktion den ersten Präsidenten einer Legislatur stellte, die CVP (bzw. damals die konservativ-christlichsoziale)-Fraktion den zweiten, die SP-Fraktion den dritten und die FDP-Fraktion den vierten. Da ab 1947 die LP und die LdU an Grösse im Parlament gewinnen konnten, durften die beiden Fraktionen bis 1999 in jeder dritten Legislatur auf Kosten der SVP-Fraktion das Präsidium besetzen. Das Wachstum der Fraktion der Grünen im neuen Jahrtausend hatte zur Folge, dass die Partei 2012 erstmals eine Präsidentin stellen konnte, wobei die FDP-Fraktion ihre Präsidentin oder ihren Präsidenten in der Folge nicht mehr im vierten, sondern im ersten Jahr einer Legislatur bestimmte. 2021 stellte die grüne Fraktion zum zweiten Mal eine Präsidentin und unterbrach den Turnus der Regierungsparteien damit erneut.
Um den stärker werdenden parteipolitischen Verschiebungen nach eidgenössischen Wahlen besser gerecht zu werden, einigten sich die Fraktionspräsidentinnen und -präsidenten im November 2022 auf eine neue Rotationsregel für das Nationalratspräsidium, mit der die Grösse der Fraktionen besser berücksichtigt werden soll. In Zukunft sollen alle bestehenden Fraktionen (aktuell: SVP, SP, Mitte-EVP, Grüne, FDP und GLP) in einer proportionalen Verteilungsberechnung berücksichtigt werden, wenn sie in zwei aufeinanderfolgenden Legislaturen mindestens fünf Sitze im Nationalrat halten und somit die Bedingung für die Bildung einer Fraktion erfüllen. Berücksichtigt wird neben der Grösse einer Fraktion auch die Zeit, die seit dem letzten Präsidium vergangen ist, respektive bei Fraktionen, die noch nie ein Präsidium gestellt hatten, seit deren Gründung. Diese neuen Berechnungen sollen ab der 52. Legislatur gelten und jeweils zu Beginn einer neuen Legislatur neu durchgeführt werden. Beibehalten werden soll die ebenfalls informelle Regel, dass die Person, die das zweite Vizepräsidium innehat, im Folgejahr ins erste Vizepräsidium und dann wiederum ein Jahr später ins Präsidium aufsteigt. Folglich wird die Mitte das Präsidium für die Amtsperiode 2022/2023 stellen, gefolgt von der SP 2023/2024 (voraussichtlich der 2022/2023 amtierende 1. Vizepräsident Eric Nussbaumer; sp, BL), von der FDP 2024/2025 (voraussichtlich die 2. Vizepräsidentin Maja Riniker; fdp, AG) und von der SVP 2025/2026. Die Folgejahre werden im ersten Quartal 2024 berechnet. Sollte die GLP bei den eidgenössischen Wahlen ihre Fraktionsstärke halten, dürfte sie 2026/2027 das Präsidium stellen.

Neue Rotationsregel für Nationalratspräsidium
Dossier: Nationalrat und Ständerat. Wahl des Präsidiums und des Büros

Mitte November zog Kaja Christ (glp, BS) ihre parlamentarische Initiative, mit der sie rechtliche Grundlagen für einen digitalen Parlamentsbetrieb respektive die digitale Teilnahme am physischen Betrieb gefordert hatte, zurück. Die Forderung war im Rahmen der Vorlage zur Handlungsfähigkeit des Parlamentes in Krisensituationen aufgenommen worden.

Schaffung der rechtlichen Grundlagen für einen digitalen Parlamentsbetrieb respektive die digitale Teilnahme am physischen Betrieb (Pa.Iv. 20.425)
Dossier: Parlament in Krisensituationen

In einem Urteil vom November 2006 hatte das Bundesgericht entschieden, dass ein Verkäufer von Papageien – die Tiere waren nach dem Verkauf an den Züchter erkrankt und gestorben, was in der Folge zum Versterben des Zuchtbestands des Käufers geführt hatte – dem Käufer nicht nur den Kaufpreis zurückerstatten, sondern den Schaden an dessen Zuchtbestand ersetzen musste. Dem Papageienverkäufer hatte kein Verschulden zur Last gelegt werden können. Dass dieser dem Käufer, der für die Papageien CHF 4800 bezahlt hatte, dennoch fast CHF 2 Mio. Schadensersatz zahlen musste, erschien Nationalrat Hans-Ueli Vogt (svp, ZH) «unbillig» und «rechtsökonomisch nicht sinnvoll». Dies führte er in der Begründung zu seiner 2020 eingereichten parlamentarischen Initiative zur Begrenzung der Kausalhaftung des Verkäufers für Mangelfolgeschäden aus. Konkret forderte er eine Ergänzung im Obligationenrecht, wonach der Verkäufer nur haftet, soweit der Schaden vorausgesehen werden konnte.
Im Februar 2022 befasste sich die RK-NR mit der Initiative, die inzwischen von Barbara Steinemann (svp, ZH) übernommen worden war. Die Kommission erachtete die vorgeschlagene Anpassung als zweckmässig und gab der Initiative mit 11 zu 10 Stimmen bei 3 Enthaltungen Folge. Die ständerätliche Schwesterkommission teilte diese Ansicht allerdings nicht. Ohne weitere Begründung sprach sie sich im Oktober 2022 einstimmig gegen Folgegeben aus. Damit ging die Initiative an den Nationalrat zur Vorprüfung.

Keine unbegrenzte Kausalhaftung des Verkäufers für Mangelfolgeschäden (Pa.Iv. 20.491)

Am Montag der dritten Herbstsessionswoche 2020 besetzten Klimaaktivistinnen und -aktivisten den Bundesplatz, obwohl dort Veranstaltungen während der Session verboten sind. Dies führte bei den Parlamentarierinnen und Parlamentariern zu einigem Ärger. So beschwerten sich gemäss verschiedener Medien insbesondere bürgerliche Parlamentsmitglieder, von den Klimaaktivistinnen und -aktivisten «angepöbelt» worden zu sein. Dabei stellten die Medien vor allem verschiedene verbale Entgleisungen ins Zentrum der Berichterstattung. So soll Roland Büchel (svp, SG) derart genervt gewesen sein, dass er die Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten vor laufender Kamera als «Arschlöcher» bezeichnete. Andreas Glarner (svp, AG) nannte die Demonstrierenden während eines Interviews «Kommunisten und Chaoten» und Sibel Arslan (basta, BS), die das Anliegen der Streikenden vertreten wollte, «Frau Arschlan» – was er später als Versprecher entschuldigte. Umgekehrt regten sich linke Parlamentsmitglieder über die falschen Prioritäten der Medien auf, so etwa Jacqueline Badran (sp, ZH), die in einem Radiointerview die Medien angriff, welche «den huere fucking Glarner, who cares, [...] statt die Forderungen der Jugendlichen» gefilmt hätten.

Die Debatten drehten sich in der Folge allerdings nicht nur um «Anstand» und verbale Entgleisungen, sondern auch darum, ob der Bundesplatz überhaupt besetzt werden darf – insbesondere während der Session. Während sich bürgerliche Parlamentarierinnen und Parlamentarier beschwerten, zeigten links-grüne Mitglieder der Bundesversammlung Verständnis für die Aktion. Die aktuelle Regelung im Kundgebungsreglement der Stadt Bern besagt, dass die Versammlungsfreiheit auf dem Bundesplatz während der Sessionen vor allem für grosse Manifestationen aufgehoben wird. Verantwortlich für die Einhaltung dieser Massnahme ist die Stadt Bern, weshalb sich die Kritik der Bürgerlichen in der Folge vor allem gegen den Berner Stadtpräsidenten Alec von Graffenried (gfl) richtete. Einige Medien – darunter etwa die NZZ – warfen der Stadt gar vor, «mit zweierlei Mass» zu messen und das Demonstrationsverbot «selektiv» umzusetzen.

Die Aktion auf dem Bundesplatz führte schliesslich auch zu einiger parlamentarischer Betriebsamkeit. Ein noch am gleichen Montag eingereichter Ordnungsantrag (20.9004/21364) von Thomas Aeschi (svp, ZG), der die Räumung des Platzes beantragte, wurde mit 109 zu 83 Stimmen (1 Enthaltung) im Nationalrat angenommen. Dagegen stimmten die geschlossenen Fraktionen von SP, GP und GLP sowie zwei Angehörige der Mitte-Fraktion. Der am nächsten Tag von Esther Friedli (svp, SG) eingereichte Ordnungsantrag (20.9004/21402), mit dem zusätzlich eine Anzeige gegen die Stadt Bern und die «Klimaextremisten und Linksradikalen» gefordert wurde, lehnte eine 90 zu 79-Stimmen-Mehrheit (bei 16 Enthaltungen) dann freilich ab. Hingegen richtete sich die VD mit einem von Nationalratspräsidentin Isabelle Moret (fdp, VD) und Ständeratspräsident Hans Stöckli (sp, BE) unterzeichneten Schreiben an die Regierungen von Stadt und Kanton Bern und forderte diese auf, für die Einhaltung der Rechtsbestimmungen zu sorgen. Und schliesslich reichte Christian Imark (svp, SO) eine Motion ein, mit der er forderte, die Stadt Bern des Bundesplatzes zu enteignen. Dadurch könne der Bundesrat «künftig selber für Recht und Ordnung auf dem Bundesplatz» sorgen, weil «die linke Berner Stadtregierung [...] die Chaoten immer öfter gewähren» lasse.
Wohl auch weil die Polizei am Mittwoch nach zwei Ultimaten der Stadtregierung den Platz räumte, legte sich die Aufregung kurz darauf wieder. Der Bundesrat beantragte ein paar Wochen später die Ablehnung der Motion, weil eine Enteignung nicht verhältnismässig sei und die Zusammenarbeit mit der Stadt Bern bezüglich Nutzung des Bundesplatzes so funktioniere, dass die Interessen des Parlaments berücksichtigt würden. Die Motion Imark selber wurde dann zwei Jahre nach ihrer Einreichung wegen Nichtbehandlung abgeschrieben.

Wem gehört der Bundesplatz? (Mo. 20.4028)

Rund ein Jahr nach ihrer Einreichung zog Thomas Minder (parteilos, SH) seine parlamentarische Initiative zurück, mit der er die Möglichkeit hatte schaffen wollen, Motionen dringlich zu erklären. Insbesondere die Pandemie habe gezeigt, dass ein Bedürfnis bestehe, ein legislatives Instrument zu haben, mit dem rasch reagiert werden könne – so die Begründung Minders für seinen Vorstoss. Im Moment könnten einzig Interpellationen und Anfragen als dringlich erklärt werden, nicht aber Vorstösse, mit denen das Parlament auf kurzfristige Ereignisse aktiv reagieren könne. Minder schlug ein qualifiziertes Mehr als Notwendigkeit für eine Dringlichkeitserklärung vor und forderte in diesem Falle beschleunigte Behandlungsfristen durch Exekutive und Legislative.
Der Rückzug des Vorstosses dürfte auch auf die ablehnende Haltung der SPK-SR zurückzuführen sein. Diese hatte in ihrem Bericht vom August 2022 nicht nur mit 8 zu 3 Stimmen bei 1 Enthaltung empfohlen, der Initiative keine Folge zu geben, sondern in ihrer Erwägung dargelegt, dass auch eine dringliche Motion von beiden Räten angenommen werden müsste. Dies benötige aber mindestens zwei aufeinanderfolgende Sessionen, weshalb auch eine dringlich erklärte Motion keine rasche Wirkung entfalten würde. Allerdings erwähnte die SPK-SR in ihrem Bericht auch, dass im Rahmen der Vorlage zur besseren Handlungsfähigkeit des Parlaments in Krisensituationen neu gleichlautende, in beiden Räten eingereichte Kommissionsmotionen in der gleichen Session behandelt werden könnten und bei jeweiliger Annahme in beiden Räten tatsächlich eine Beschleunigung erreicht werden könne, weil so nur eine Session nötig wäre. Kommissionsmotionen würden sich im Gegensatz zu Motionen von Einzelratsmitgliedern zudem auch deshalb für eine Erhöhung der Entscheidungsgeschwindigkeit eignen, weil sie bereits auf einem Konsens innerhalb der zuständigen Kommission beruhten.

Motionen dringlich erklären (Pa.Iv. 21.492)

Aufgrund eines Unwohlseins von Nationalrat Lukas Reimann (svp, SG) unterbrach der Nationalrat seine Sitzung zum Embargogesetz während der Herbstsession 2022. Laut Medien war der SVP-Nationalrat gegen 10 Uhr an seinem Platz zusammengebrochen, worauf Nationalratspräsidentin Irène Kälin (gp, AG) die Sitzung unterbrach. SP-Ständerätin Marina Carobbio (sp, TI) und SP-Nationalrat Angelo Barrile (sp, ZH) – beide medizinisch ausgebildet – leisteten erste Hilfe. Nachdem Reimann mit der Ambulanz ins Spital gebracht worden war, nahm der Rat die Verhandlungen wieder auf. Die Nationalratspräsidentin mahnte in der Folge alle Anwesenden, Fotos vom Vorfall zu löschen, und sprach Genesungswünsche aus. Via Twitter teilte Reimann einige Tage später mit, dass es ihm gut gehe und er «keine schwerwiegende Diagnose» erhalten habe.
Ende Oktober 2022 konnte Reimann wieder an einer Kommissionssitzung teilnehmen und wurde in Bern laut Medien sehr herzlich «mit vielen Umarmungen» empfangen. Die Ärzte hätten den Grund für seinen Bewusstseinsverlust nicht gefunden, ein Schlaganfall, ein Herzproblem oder Drogeneinnahme seien aber ausgeschlossen worden, gab der St. Galler den Medien zu Protokoll.

Sitzungsunterbruch wegen Zusammenbruch von Lukas Reimann

Nachdem die eidgenössischen Räte im Rahmen der ZPO-Revision die Regel für die Fristenberechnung im Zivilprozess geändert hatten – bei am Samstag zugestellten A-Post-Briefen beginnt die Frist neu erst am darauffolgenden Montag zu laufen –, zog der Bundesrat seinen Ablehnungsantrag zur Motion der RK-NR für eine Harmonisierung der Fristenberechnung zurück. Der Nationalrat hatte der Motion bereits im Sommer 2022 zugestimmt. In der Herbstsession tat es ihm der Ständerat stillschweigend gleich. Es mache keinen Sinn, dass im Zivilprozess eine andere Regel gelte als im übrigen Recht, waren sich der Bundesrat, die RK-SR und das Ständeratsplenum einig. Der Bundesrat wurde damit angehalten, die neue Regel auch in die anderen betreffenden Gesetze zu übernehmen.

Harmonisierung der Fristenberechnung (Mo. 22.3381)

Sie sei die «Wegbereiterin für alle Juristinnen» gewesen, würdigte die NZZ in ihrem Nachruf die Anfang September 2022 verstorbene Margrith Bigler-Eggenberger, die 1972 als erste Frau ins Bundesgericht gewählt worden war; zuerst als nebenamtliche und 1974 als ordentliche Bundesrichterin. Sie blieb 17 Jahre lang einzige Bundesrichterin, weil bei den folgenden Richterwahlen stets Männer gewählt wurden. Margrith Bigler-Eggenberger hatte in Zürich und Genf Rechtswissenschaften studiert und 1959 eine Dissertation im Gebiet der Kriminologie verfasst. Sie sei als Frau stets hohen Hürden begegnet, wie die NZZ weiter schrieb. Als Gerichtspraktikantin erhielt sie etwa mit der Begründung, dass ihr Mann genug verdiene, keinen Lohn. Am Bundesgericht, wo sie unter ihren Kollegen teilweise auf offene Ablehnung stiess, wurden ihr nicht ihrem Fachgebiet entsprechende kriminologische, sondern familienrechtliche Fälle zugeteilt. Bei den Bestätigungswahlen im Parlament erhielt sie meist am wenigsten Wahlstimmen und auch ihre Wahl 1972 war nur äusserst knapp zustande gekommen, wobei dem Parlament nur ein Teil ihres Bewerbungsdossiers vorgelegt wurde. Nach ihrem Rücktritt als oberste Richterin im Jahr 1994 engagierte sie sich für Gleichberechtigung in der dritten Gewalt. Sie war unter anderem Mitgründerin der «Vereinigung Juristinnen Schweiz» und Mitstifterin des «Schweizerischen Instituts für feministische Rechtswissenschaft und Gender Law».

Margrith Bigler-Eggenberger, erste Bundesrichterin, verstorben

Gleich vier Standesinitiativen verlangten eine bessere Vereinbarkeit von Mutterschaft und Parlamentsmandat. Die Kantone Zug (Kt.Iv. 19.311), Basel-Landschaft (Kt.Iv. 20.313), Luzern (Kt.Iv. 20.323) und Basel-Stadt (Kt.Iv. 21.311) beanstandenden, dass eine Frau laut geltendem Recht ihre Mutterschaftsentschädigung verliere, wenn sie während ihres Mutterschaftsurlaubs ihrer Tätigkeit als Parlamentarierin nachkomme und Sitzungsgelder erhalte. Die Parlamentstätigkeit sei aber mit Erwerbstätigkeit nicht gleichzusetzen, da es sich um ein durch die Wahlbevölkerung erteiltes politisches Mandat handle.
Die SPK-SR und die SPK-NR erteilten allen vier Vorstössen ihre Zustimmung und die ständerätliche Kommission arbeitete einen Entwurf für eine Revision des Erwerbsersatzgesetzes aus, der Mitte August 2022 in die Vernehmlassung geschickt wurde. Vorgesehen sind Ausnahmeregelungen für Sitzungen, bei denen eine Stellvertretung nicht möglich ist – auf nationaler Ebene also die Ratssitzungen. Umstritten war, ob die Ausnahmen auch für Kommissionssitzungen gelten sollen. Aufgenommen wurden schliesslich auch Kommissionstätigkeiten, allerdings nur dann, wenn keine Stellvertretungsregelung besteht. Die Kommission hatte auch einen Einbezug von Exekutiv- und Judikativmandaten sowie eine Ausweitung auf alle Frauen, also auch solche ohne politisches Mandat, diskutiert, diese Überlegungen aber schliesslich verworfen. Die Vernehmlassung dauerte bis November 2022.

Mutterschaft und Parlamentsmandat (Kt.Iv. 19.311, Kt.Iv.20.313, Kt.Iv.20.323 und Kt.Iv.21.311)
Dossier: Frauenanteil im Parlament
Dossier: Vereinbarkeit der Parlamentsarbeit mit Familie und Beruf

Die eidgenössischen Gerichte entscheiden intern, welche Fälle welchen Richterinnen oder Richtern zugeordnet werden bzw. wie sich die Gerichtskollegien zusammensetzen, denen diese Fälle zugewiesen werden. Die Bildung dieser ein- bis maximal siebenköpfigen sogenannten Spruchkörper sowie die Geschäftsverteilung, die im Bundesgericht und im Bundesverwaltungsgericht mittels Softwareprogrammen und in den anderen eidgenössischen Gerichten manuell erfolgt, ist in der Schweiz von einiger Brisanz. Weil Richterinnen und Richter mittels Parteienproporz gewählt werden, kann vermutet werden, dass je nach parteilicher Zusammensetzung eines Spruchkörpers andere Urteile gefällt werden. Insbesondere die «Justizinitiative» hatte solche Diskussionen, die letztlich die Unabhängigkeit der Judikative tangieren, verstärkt angeregt, wobei diesen Diskussionen jedoch die Grundlagen gefehlt hatten, da die konkrete Praxis der einzelnen Gerichte kaum bekannt war. Dies nahmen die GPK Anfang 2019 zum Anlass, die PVK mit einer Evaluation zu Spruchkörperbildung und Geschäftsverteilung an den eidgenössischen Gerichten zu beauftragen.
Auf der Basis dieser PVK-Evaluation, die am 5. November 2020 vorgelegt worden war, veröffentlichten die GPK im Juni 2021 einen Bericht, der eine «grundsätzlich positive[...] Bilanz» zog: Die Spruchkörperbildung entspreche Verfassungsgrundsätzen und internationalen Rechtsnormen, Willkür zeige sich dabei in keinem der untersuchten Fälle. Es gebe aber durchaus einige «Lücken und Schwachstellen». So seien die angewandten Verfahrensregeln nicht immer verschriftlicht oder überhaupt nicht veröffentlicht, zudem würde den Beteiligten eines Verfahrens nicht immer aktiv mitgeteilt, wie der Spruchkörper zusammengesetzt sei. Entsprechend gaben die GPK Empfehlungen ab: So verlangten sie etwa eine jährliche Berichterstattung über die Bildung der Spruchkörper und regten an, dies auch im jährlichen Geschäftsbericht der Bundesgerichte der interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Darüber hinaus verlangten die GPK vom Bundesstrafgericht die Prüfung der Entwicklung einer Software für die Zuteilung der Geschäfte. Beim Bundespatentgericht, das die Zuteilung ebenfalls manuell vornimmt, sei dies in Anbetracht der «überschaubaren Anzahl Fälle» nicht erforderlich. Schliesslich soll das Bundesgericht aus Transparenzgründen wieder ausweisen, welcher Partei seine Mitglieder angehören.

Die Diskussionen um die Spruchkörperbildung nahmen nach der Veröffentlichung des Berichts freilich nicht ab. Auf der einen Seite erhob Asylanwalt Gabriel Püntner in den Medien schwere Vorwürfe gegen das Bundesverwaltungsgericht. Die meisten seiner Fälle würden Spruchkörpern zugeteilt, in denen Richterinnen und Richter, die der SVP angehören, in der Mehrheit seien. Im Februar 2022 reichte Püntner deshalb Strafanzeige gegen einen «noch zu bestimmenden Personenkreis innerhalb» des Bundesverwaltungsgerichts ein, bei dem er vermute, dass er das «System der Spruchkörperbildung [...] beeinflusse». In der Tat zeigte eine aktuelle Studie, dass fast die Hälfte der automatisierten Zuteilung der Fälle nachträglich manuell übersteuert wurde; insbesondere im Asylrecht. Dabei sei nicht nachvollziehbar, weshalb diese Eingriffe durchgeführt worden seien.
Auf der anderen Seite wurde in den Medien über einen konkreten Fall berichtet: Einem SVP-Richter am Bundesverwaltungsgericht werde Amtsmissbrauch vorgeworfen, weil er eigenhändig und entsprechend vorschriftswidrig den Spruchkörper neu eingeteilt habe, in dem er selber sass, so der Tages-Anzeiger.
Ende Mai 2022 gab das Bundesverwaltungsgericht bekannt, die interne Spruchkörperbildung unabhängig überprüfen zu lassen. Auch die GPK kündigten an, die Geschäftszuteilung an den Bundesgerichten im Auge behalten zu wollen.

Spruchkörperbildung und Geschäftsverteilung an den eidgenössischen Gerichten
Dossier: Unabhängigkeit der Judikative