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Rund zehn Tage vor der Abstimmung über die Justizinitiative beantragte die RK-NR mit 14 zu 5 Stimmen (4 Enthaltungen), der parlamentarischen Initiative von Beat Walti (fdp, ZH) keine Folge zu geben. Der Vorstoss hatte eine auch im Abstimmungskampf diskutierte Regelung gefordert, mit der Mandatssteuern und Parteispenden für Mitglieder der Gerichte des Bundes verboten werden sollten. In der Tat bestehe aufgrund solcher Parteiabgaben der Verdacht, dass Richterinnen und Richter nicht unabhängig sein könnten, hatte Walti seine Initiative begründet. Zwar könne ein solcher Anschein entstehen, es sei aber noch nie aus politischen Gründen zu einer Nichtwiederwahl von Richterinnen und Richtern gekommen, argumentierte hingegen die Kommissionsmehrheit ihre abschlägige Empfehlung. Ein Verbot sei zudem zu radikal. Der Transparenz im «gut funktionierenden» Schweizer Justizsystem sei mit der Veröffentlichung der Parteizugehörigkeit von Bundesrichterinnen und -richtern Genüge getan. Zudem würden Mandatsabgaben ja auf freiwilliger Basis entrichtet.
Die Kommissionsminderheit argumentierte in der Ratsdebatte in der Frühjahrssession 2022 mit dem «Irritationspotenzial», welches Parteienproporz und Mandatssteuern in der Öffentlichkeit auslösten und welche das Vertrauen in die dritte Gewalt untergraben könnte, so Beat Walti. Er sei erstaunt, dass man nach dem Nein zur Justizinitiative einfach wieder zur Tagesordnung übergehe, obwohl es doch aufgrund der Diskussionen in der Abstimmungskampagne durchaus auch gute Argumente zumindest für Teilrevisionen im Justizbereich gebe, so Christian Lüscher (fdp, GE). Diese Minderheitenargumente fanden jedoch lediglich bei der geschlossen stimmenden FDP-Fraktion sowie bei einzelnen Mitgliedern der SVP- und der Mitte-EVP-Fraktion Anklang. Diese 34 Stimmen standen gegen die 157 Stimmen, die der Initiative keine Folge gaben, allerdings auf verlorenem Posten.

Verbot von Mandatssteuern und Parteispenden für Mitglieder der Gerichte des Bundes (Pa.Iv. 20.468)
Dossier: Unabhängigkeit der Judikative
Dossier: Justizinitiative

Nachdem die beiden Kammern in der Sommersession 2021 einen Gegenvorschlag verworfen und die Volksinitiative «Bestimmung der Bundesrichterinnen und Bundesrichter im Losverfahren (Justiz-Initiative)» fast einstimmig zur Ablehnung empfohlen hatten, setzte der Bundesrat den Termin für die Abstimmung über das Volksbegehren auf den 28. November 2021 fest.

Das Ziel der Initiative war eine Reform des Wahlsystems der Bundesrichterinnen und Bundesrichter. Am aktuellen Vorgehen wurde kritisiert, was in der Zeitung «Republik» als «Unheilige Dreifaltigkeit» bezeichnet wurde: Parteizugehörigkeit, Mandatssteuer und Wiederwahl. In der Tat bedingt die Idee des Parteienproporz, also die Verteilung der Sitze an den höchsten eidgenössischen Gerichten entsprechend der Stärke der Parteien im Parlament, dass Kandidierende für höchste Richterämter einer Partei angehören sollten, um gewählt werden zu können. Alle Parteien fordern zudem von ihren Mandatsträgerinnen und -trägern eine Abgabe, die Mandatssteuer. In den Medien wurden zu diesem Obolus von Gerichtspersonen verschiedene Zahlen herumgereicht: Eine Befragung der CH-Medien bei den Parteien wies ein Total aller Abgaben von allen Richterinnen und Richtern aus allen Bundesgerichten zwischen CHF 30'000 bei der GLP und CHF 265'000 bei der SP aus (FDP: CHF 35'000; Grüne: CHF 100'000; Mitte: CHF 65'000; SVP: CHF 172'000). Das aktuelle Wahlsystem sieht schliesslich vor, dass Bundesrichterinnen und -richter nicht nur vom Parlament gewählt, sondern alle sechs Jahre bestätigt werden müssen. Das Initiativkomitee kritisierte, dass diese drei Elemente letztlich die Unabhängigkeit der Judikative gefährdeten, und forderte deshalb mit seinem Begehren, dass ein vom Bundesrat ernanntes Fachgremium Kandidierende nach fachlicher Eignung auswählt und dass die Bundesrichterinnen und Bundesrichter aus einem mit diesen Kandidierenden gefüllten Pool per Losverfahren gezogen werden. Die Gewählten sollen zudem keiner Amtszeitbeschränkung mehr unterliegen, sondern bis maximal fünf Jahre nach Pensionsalter in ihrem Amt verbleiben dürfen, falls sie nicht mittels eines neu einzuführenden Abberufungsverfahrens aufgrund von Fehlverhalten abgesetzt würden. Beim Losverfahren würde einzig eine sprachliche Repräsentation berücksichtigt.

Das Initiativkomitee – neben dem «Vater» der Initiative, dem Multimillionär und Unternehmer Adrian Gasser, sassen der Politikwissenschafter Nenad Stojanovic und die Mitte-Politikerin Karin Stadelmann (LU, mitte) federführend im Komitee – lancierte den Abstimmungskampf am 30. September 2021. An einer Pressekonferenz und in späteren Interviews betonten die Initiantinnen und Initianten, dass mit Annahme ihres Begehrens der Pool an geeigneten Richterinnen und Richtern vergrössert würde: Auch Parteilose könnten am Bundesgericht Einsitz nehmen und es müssten zukünftig nicht mehr zahlreiche geeignete Kandidierende hintanstehen, wenn eine Partei – wie aktuell etwa die Grünen nach ihren Wahlerfolgen 2019 – stark untervertreten sei und deshalb bei Vakanzen lediglich Kandidierende dieser Partei berücksichtigt würden. Adrian Gasser strich in mehreren Interviews das in seinen Augen grosse Problem der Parteiabhängigkeit und der Mandatssteuer hervor: «Die politischen Parteien haben sich die Macht angeeignet, diese Ämter unter sich aufzuteilen, dafür Geld zu verlangen und eine opportun erscheinende Gesinnung einzufordern [...] Vorauseilender Gehorsam ist garantiert», klagte er etwa in einem NZZ-Meinungsbeitrag. In Le Temps behauptete er, dass die fehlende Unabhängigkeit der Gerichte dazu führe, dass in 95 Prozent der Fälle Individuen vor Gericht verlieren würden, wenn sie gegen den Staat antreten müssten.

Obwohl keine einzige etablierte Partei und kein Verband das Begehren unterstützte, wollte keine Organisation die Federführung für eine Nein-Kampagne übernehmen. Ende September gründete deshalb Andrea Caroni (fdp, AR) ein «überparteiliches Nein-Komitee». Weil er wie bereits 2014 bei der sogenannten «Pädophileninitiative» den liberalen, demokratischen Rechtsstaat bedroht sehe, wolle er sich wehren, betonte der FDP-Ständerat im Sonntags-Blick. Im Komitee sassen Mitglieder aller grossen Parteien: Heidi Z’graggen (mitte, UR); Laurence Fehlmann Rielle (sp, GE), Nicolas Walder (gp, GE), Beat Flach (glp, AG) und Yves Nidegger (svp, GE). In den Medien tat sich freilich vor allem Andrea Caroni mit Stellungnahmen hervor. Mit dem Slogan «Wählen statt würfeln, Demokratie statt Lotterie» griff er vor allem das Losverfahren an, das auf Glück beruhe und deshalb nicht geeignet sei, fähige Kandidierende auszuwählen. Darüber hinaus habe sich das bestehende System, das eine repräsentative Vertretung unterschiedlicher politischer Grundhaltungen in der Judikative garantiere, bewährt. Im Verlauf der Kampagne warf Andrea Caroni den Initiantinnen und Initianten zudem auch vor, «falsch und verleumderisch» zu argumentieren.

Am 11. Oktober erörterte Karin Keller-Sutter an einer Pressekonferenz die Position des Bundesrats, der die Initiative zur Ablehnung empfahl. Das Volksbegehren sei «zu exotisch» und stelle das politische System und die demokratische Tradition der Schweiz «auf fundamentale Weise» in Frage, so die Justizministerin. Die Wahl durch das Parlament würde durch Losglück ersetzt, womit die demokratische Legitimation Schaden nehme. Das Losverfahren sei zudem ein «Fremdkörper im institutionellen Gefüge», so die Bundesrätin. Mit dem heute angewandten Parteienproporz werde hingegen gewährleistet, dass politische Grundhaltungen, aber auch das Geschlecht und die regionale Herkunft am Bundesgericht «transparent und ausgewogen» vertreten seien, war in der Medienmitteilung zu lesen. Die Praxis zeige zudem, dass die Unabhängigkeit gewährleistet sei und kein Druck von Parteien auf die Bundesrichterinnen und Bundesrichter ausgeübt werde. Noch nie in der jüngeren Geschichte sei ein Richter oder eine Richterin aus politischen Gründen abgewählt worden, so Karin Keller-Sutter, was zeige, dass der von den Initiantinnen und Initianten kritisierte Konformitätsdruck aufgrund der Angst vor einer Wiederwahl gar nicht bestehe. Es sei zudem falsch anzunehmen, dass parteilose Richterinnen und Richter nicht ebenfalls Werte vertreten würden, die allerdings nicht so transparent seien, wie bei Parteimitgliedern. Die Justizministerin nahm schliesslich auf die aktuelle Pandemie-Diskussion Bezug: Viele Stimmen kritisierten momentan demokratisch nicht legitimierte Gremien aus Expertinnen und Experten. Mit Annahme der Initiative würde mit der vorgesehenen Fachkommission aber ein weiteres solches Gremium geschaffen.

In den Medien wurde laut APS-Analyse und FöG-Abstimmungsmonitor nur selten über die Justizinitiative berichtet. Dies war einerseits dem Umstand geschuldet, dass vor allem das Referendum gegen die zweite Revision des Covid-19-Gesetzes sehr viel Platz in der medialen Berichterstattung einnahm, andererseits ist dies aber wohl auch der Komplexität des Themas zuzuschreiben. In der Tat kamen in den Printmedien neben Adrian Gasser und Andrea Caroni vor allem Expertinnen und Experten, aber auch ehemalige Richterinnen und Richter zu Wort.
Auffällig war, dass die meisten dieser Expertinnen und Experten der Initiative relativ wohlwollend gegenüberstanden. So wurden etwa Studien zitiert, die zeigten, dass eine längere Amtszeit zu mehr richterlicher Unabhängigkeit führe. Kurze Amtszeiten und vor allem die Wiederwahl könnten hingegen als Disziplinierungsmöglichkeit von Parteien erachtet werden, mit der Linientreue von Richterinnen und Richtern erzwungen werde, so etwa der Politikwissenschafter Adrian Vatter in der NZZ. Die Wiederwahl sichere Bodenhaftung der Richter und trage dazu bei, dass «sich die Justiz nicht verselbständigt» und dass Richterinnen und Richter nicht zu einer «Elite ohne Legitimation» würden, meinte hingegen Katharina Fontana, ehemalige Mitarbeiterin im BJ und NZZ-Journalistin für das Themengebiet Recht und Gesellschaft. Bemängelt wurde zudem der Umstand, dass parteilose Kandidierende aktuell keine Chance hätten, gewählt zu werden. Wenn wirklich Repräsentation das Ziel sei, dann dürften in den Gerichten nicht nur Parteimitglieder sitzen, da die grosse Mehrheit der Bevölkerung keine Parteibindung aufweise, so die Argumentation. Adrian Vatter schlug entsprechend ein Modell mit 50 Prozent Parteilosen und 50 Prozent Parteimitgliedern vor. Debattiert wurde auch über die Frage, ob Richterinnen und Richter überhaupt ideologisch neutral sein könnten oder ob Gerichte eben nicht auch genuin politische Institutionen seien. In diesem Falle wäre aber der Parteienproporz folgerichtig, so die NZZ. Auch das Losverfahren erhielt einige Aufmerksamkeit – einige Expertinnen und Experten erachteten es als geeignetes Mittel zur Auswahl von Richterinnen und Richtern. Es sei schliesslich schon von Aristoteles als «Grundlage wahrer Demokratie» betrachtet worden, warb der Ökonom Bruno S. Frey. Das Los sei über längere Frist ebenso repräsentativ wie das momentane Auswahlverfahren, funktioniere aber wesentlich unabhängiger, argumentierte die Ökonomin Margit Osterloh, die zudem betonte, dass das Losverfahren nicht einfach eine Lotterie sei, sondern dass durch das qualitative Losverfahren mit Vorselektion letztlich geeignetere Kandidatinnen und Kandidaten ausgewählt würden als von menschlichen Expertinnen und Experten, die in ihrer Wahl eben nicht frei seien von Beeinflussung. Die anfänglich wohl geringere Akzeptanz des Losverfahrens würde rasch zunehmen und das Vertrauen in die Judikative dadurch gar noch verstärkt, so die Ökonomin. In den medialen Kommentaren stand hingegen die Fachkommission, die gemäss der Justizinitiative vom Bundesrat zusammengestellt werden müsste, eher in der Kritik. Die Diskussion um eine optimale Besetzung würde sich von der Richterinnen- und Richterwahl auf die Bestellung dieser Fachkommission verschieben. Es sei nicht klar, wie diese zusammengesetzt werden solle und ob diese eben nicht auch wiederum politisch agieren würde, so der Tenor der Kritikerinnen und Kritiker. Die Weltwoche sprach gar von einer «brandgefährlichen Illusion», zu meinen, es könne ein Gremium eingesetzt werden, das «objektive Qualifikationsmerkmale» bestimmen könne. Andrea Caroni warnte vor «einer obskuren, bundesratsnahen Kommission [...], die weder Qualität noch Vielfalt noch demokratische Legitimation gewährleisten kann». Allerdings stand auch die Frage im Raum, ob die parlamentarische Gerichtskommission (GK), die momentan mit der Auswahl der Kandidierenden betraut ist, fachlich wirklich dafür geeignet sei. Ein eher pragmatisches Argument gegen die Initiative wurde schliesslich von Rechtsprofessor Lorenz Langer vorgebracht: Da sich die Initiative auf das Bundesgericht beschränke, stelle sich die Frage, woher bei Annahme der Initiative die Kandidierenden kommen sollen, da Bewerbende für einen Bundesgerichtsposten in der Regel an anderen Bundesgerichten (Bundesstrafgericht, Bundesverwaltungsgericht, Bundespatentgericht) oder an kantonalen Gerichten tätig seien, wo aber meist noch nach Parteienproporz gewählt würde. Es gäbe somit nicht mehr viele der verlangten «objektiven», also eben parteiunabhängigen Kandidierenden.

In der medialen Diskussion wurde von Seiten der Befürworterinnen und Befürworter auch immer wieder darauf hingewiesen, dass das aktuelle System – auch im internationalen Vergleich – sehr gut funktioniere. Die Geschichte zeige, dass Richterinnen und Richter unabhängig seien und sich nicht vor einer Wiederwahl fürchteten. In der Tat wurden bisher lediglich drei Bundesrichter abgewählt – zwei aus Altersgründen zu Beginn der modernen Schweiz sowie Bundesrichter Martin Schubarth 1990, der freilich sofort wiedergewählt worden war.
Diskutiert wurde zudem der «Fall Donzallaz»: Die SVP hatte «ihren Bundesrichter» nicht mehr zur Wiederwahl empfohlen, weil er in einigen Urteilen nicht mehr die Parteilinie verfolgt habe. Yves Donzallaz wurde aber in der Folge von allen anderen Fraktionen bei seiner Wiederwahl unterstützt und schliesslich gar zum Bundesgerichtspräsidenten gewählt. Dies zeige, dass sich Richterinnen und Richter nicht von den eigenen Parteien unter Druck setzen liessen. Die Aargauer Zeitung kritisierte freilich, dass sich bei Yves Donzallaz das Problem der Parteifarbe besonders gut zeige: Um Bundesrichter zu werden, habe er einen Parteiwechsel von der CVP zur SVP vorgenommen. Dies komme häufig vor, so die Zeitung: Kandidierende wechselten ihre «Parteifarbe wie Chamäleons», um ihre Wahlchancen zu steigern.
Der einzige Nationalrat, der die Initiative unterstützt hatte, kam ebenfalls in den Medien zu Wort. Lukas Reimann gab zu Protokoll, dass er die Arbeit der GK als deren Mitglied als wenig seriös erlebt habe, da die Kandidierendenauslese eher eine politische als eine fachliche Frage gewesen sei. Einmal habe die Kommission einem sehr geeigneten, aber parteilosen Kandidaten gar offen empfohlen, der GLP oder der BDP beizutreten, damit er zur Wahl eingeladen werden könne.

Für Gesprächsstoff sorgten zudem einige pensionierte Richterinnen und Richter, die den Medien Red und Antwort standen. Praktisch unisono gaben alt-Bundesstrafrichter Bernard Bertossa sowie die alt-Bundesrichter Jean Fonjallaz, Karl Hartmann, Ulrich Meyer und Hans Wiprächtiger, aber auch die Luzerner alt-Oberrichterin Marianne Heer (fdp) zu Protokoll, von ihrer Partei nie auch nur irgendeinen Druck verspürt zu haben – auch ihre Kolleginnen und Kollegen nicht. Angesprochen auf die Angst vor einer Nicht-Wiederwahl erzählte Hans Wiprächtiger, dass sich das Bundesgericht viel mehr vor schlechter Presse als vor dem Parlament fürchte. Zur Sprache kam auch die von der Greco kritisierte Mandatssteuer. Man müsse die Parteien unterstützen, damit die Demokratie in der Schweiz funktioniere, äusserte sich Jean Fonjallaz hierzu. Er habe vielmehr das Gefühl, dass die Partei mehr von ihm als Beitragszahlendem abhängig sei als er von ihr, so der alt-Bundesrichter. Von Ämterkauf könne nur die Rede sein, wenn Höchstbietende einen Posten kriegten; die Abgaben seien aber innerhalb einer Partei für alle gleich.
Eine gegenteilige Meinung vertrat einzig der Zürcher alt-Oberrichter Peter Diggelmann. Es gebe zwar keine offenen Drohungen, den Druck der Parteien spüre man aber etwa an Fraktionsausflügen oder Parteianlässen. Er selber sei zudem zu einer Mandatssteuer gezwungen worden und wäre wohl nicht mehr nominiert worden, wenn er der entsprechenden Mahnung nicht nachgekommen wäre. Im Gegensatz zu Kolleginnen und Kollegen, die momentan im Amt seien und deshalb aus Angst keine öffentliche Kritik anbrächten, sei es ihm als pensioniertem Richter und aufgrund seines Parteiaustritts möglich, Kritik zu äussern. Das Interview von Peter Diggelmann im Tages-Anzeiger blieb nicht unbeantwortet. Andrea Caroni sprach tags darauf in der gleichen Zeitung von «verleumderischen Unterstellungen». Er kenne keinen Richter und keine Richterin, die sich unter Druck gesetzt fühlten.

Beliebtes Mediensujet war auch der Kopf der Initiative, Adrian Gasser. Der Multimillionär und Chef der Lorze Gruppe, einem Firmenkonglomerat mit Sitz in Zug, habe sich seit seiner Jugendzeit für richterliche Unabhängigkeit interessiert. Als Wirtschaftsprüfer habe er einige Fälle erlebt, bei denen diese Unabhängigkeit nicht gegeben gewesen sei, sagte er in einem Interview. 1987 habe Adrian Gasser im Kanton Thurgau erfolglos für den National- und 1999 für den Ständerat kandidiert – als Parteiloser. Erst 40 Jahre nach diesen Erlebnissen könne er sich nun aber die Finanzierung einer Volksinitiative leisten. In der Tat soll Adrian Gasser laut Medien rund CHF 1 Mio für die Sammlung der Unterschriften aufgeworfen haben. «Andere haben ein Motorboot in Monaco, ich habe mir eine Initiative im Interesse der Schweiz geleistet», so Gasser bei der Einreichung seiner Initiative im St. Galler Tagblatt.

Auch für die Abstimmungskampagne schien das Initiativkomitee einiges an Geld aufgeworfen zu haben. Im Sonntags-Blick wurde vermutet, dass Adrian Gasser für die Kampagne kaum weniger aufgewendet haben dürfte als für die Unterschriftensammlung, was Andrea Caroni in derselben Zeitung zum Vorwurf verleitete, dass sich «eine Einzelperson [...] praktisch eine Initiative gekauft und die Schweiz zuplakatiert» habe. Der Gegnerschaft fehle es hingegen an spendablen Geldgebenden. Bei der APS-Inserateanalyse zeigt sich zwar in der Tat ein Ungleichgewicht zugunsten der Befürwortenden, allerdings finden sich von beiden Lagern kaum Inserate in den grössten Schweizer Printmedien.

Bei den Abstimmungsumfragen im Vorfeld des Urnengangs vom 28. November zeigte sich ein für Initiativen typisches Bild. Hätten Mitte Oktober noch 48 Prozent der Befragten Ja oder eher Ja zur Initiative gesagt, lag dieser Anteil rund zwei Wochen vor der Abstimmung noch bei 37 Prozent. Für eine inhaltlich komplexe Vorlage ebenfalls gängig war der hohe Anteil Befragter, die sich zu Beginn der Kampagne noch keine Meinung gebildet hatten (Anteil «weiss nicht» am 15.10.2021: 19%; 17.11.2021: 7%).

Wie aufgrund der Umfragewerte zu vermuten, wurde die Initiative am Abstimmungssonntag deutlich verworfen. Bei einer wohl vor allem dem gleichzeitig stattfindenden Referendum gegen das Covid-19-Gesetz, aber auch der «Pflegeinitiative» geschuldeten aussergewöhnlich hohen Stimmbeteiligung von fast 65 Prozent lehnten mehr als zwei Drittel der Stimmberechtigten eine Reform des geltenden Systems der Wahlen von Bundesrichterinnen und Bundesrichtern ab.


Abstimmung vom 28. November 2021

Volksinitiative «Bestimmung der Bundesrichterinnen und Bundesrichter im Losverfahren (Justiz-Initiative)»
Beteiligung: 64.7%
Ja: 1'382'824 Stimmen (31.9%) / 0 Stände
Nein: 2'161'272 Stimmen (68.1%) / 20 6/2 Stände

Parolen:
-Ja: Piratenpartei
-Nein: EDU, EVP, FDP, GLP (2), GPS (2), Mitte, PdA, SD, SP, SVP; SGV
-Stimmfreigabe: BastA
* in Klammern Anzahl abweichende Kantonalsektionen


Die Medien sprachen am Tag nach der Abstimmung von einer deutlichen Niederlage. Das Resultat zeige, dass die Stimmberechtigten mit dem System zufrieden seien, liessen sich die Gegnerinnen und Gegner vernehmen. «Das Volk hält den Wert der Institutionen hoch», interpretierte Justizministerin Karin Keller-Sutter das Resultat. Die Initiative habe zwar einige wunde Punkte aufgezeigt, sei aber zu extrem gewesen, um diese Probleme zu lösen, meinte Matthias Aebischer (sp, BE) in La Liberté. Die Initiantinnen und Initianten erklärten sich die Niederlage mit der zu wenig gut gelungenen Information der Bürgerinnen und Bürger über die Probleme des jetzigen Systems. Adrian Gasser machte zudem die einseitige Information durch die Bundesbehörden und die öffentlich-rechtlichen Medien, welche die Meinungsbildung beeinträchtigt habe, für das Scheitern der Initiative verantwortlich. Er kündigte zudem noch am Abend des Abstimmungssonntags einen weiteren Anlauf an. Innert zwei bis drei Jahren könne die Bevölkerung für die Fehlfunktionen im Justizsystem besser sensibilisiert werden. Er wolle deshalb bald mit der Sammlung von Unterschriften für eine identische Initiative beginnen.
Diskutiert wurden in den Medien freilich auch noch einmal die Schwachstellen des Systems, die nun angegangen werden sollten. Die Justizinitiative habe eine «Debatte rund um das Schweizer Justizsystem ausgelöst und uns zu Verbesserungen angespornt», lobte etwa Andrea Caroni im St. Galler-Tagblatt. So dürften die Diskussionen um mehr Transparenz bei den Parteienfinanzen zu einer Offenlegung der Mandatssteuern führen. Im Parlament hängig war zudem die in einer parlamentarischen Initiative von Beat Walti (fdp, ZH; Pa.Iv. 20.468) aufgeworfene Frage, ob diese Mandatssteuern nicht gänzlich abgeschafft werden sollen. Mit der Ablehnung eines Gegenvorschlags zur Justizinitiative schien hingegen die Frage einer Amtszeitverlängerung der Bundsrichterinnen und Bundesrichter vom Tisch, wie sie von der Schweizerischen Vereinigung der Richterinnen und Richtern am Tag nach der Abstimmung erneut gefordert wurde. Eine mögliche Professionalisierung der Kandidierendenauswahl bzw. die Ergänzung der GK durch eine Fachkommission, die Bewerbungen für Richterinnen- und Richterämter mitsichten soll, war ebenfalls Gegenstand einer noch hängigen parlamentarischen Initiative (Pa.Iv. 21.452).

Die VOX-Analyse fand nur schwache Muster, mit denen das Abstimmungsverhalten bei der Justizinitiative erklärt werden könnte. Personen mit einer Berufsbildung sagten etwas stärker Nein als andere Bildungskategorien. Sympathisantinnen und Sympathisanten der Grünen sagten mehrheitlich Ja – im Gegensatz zu den Anhängerinnen und Anhänger aller anderer Parteien. Hohes Vertrauen in die Judikative ging zudem eher mit einem Nein einher. Bei den Motiven für ein Ja zeigte sich der Wunsch nach Unabhängigkeit von Richterinnen und Richtern von den Parteien sowie nach einem System, das auch für Parteilose Chancen einräumt, als zentral. Ein Nein wurde hingegen laut VOX-Analyse eher mit der Skepsis gegenüber dem Losverfahren und der Meinung, dass das bisherige System gut funktioniere, begründet.

Justizinitiative (BRG 20.061)
Dossier: Unabhängigkeit der Judikative
Dossier: Justizinitiative

Wohl auch vor dem Hintergrund der Annahme der beiden Motionen der SPK-SR und der SPK-NR zog Christian Lüscher (fdp, GE) seine parlamentarische Initiative zurück, mit der er die Änderung des Verfahrens für die Wahl der Bundesanwaltschaft gefordert hatte. Lüscher wollte zum alten, bis 2011 gültigen System zurückkehren, als der Bundesrat und nicht das Parlament den Bundesanwalt oder die Bundesanwältin gewählt hatte. Er begründete dies mit den beiden Wahlverfahren, die nach dem Rücktritt von Michael Lauber «in einem Fiasko» geendet hätten. Die beiden Motionen der Rechtskommissionen beauftragten den Bundesrat, eine umfassende Reform der Strafbehörden vorzulegen – allerdings explizit mit dem Auftrag, am aktuell bestehenden Wahlsystem festzuhalten.

Änderung des Verfahrens für die Wahl der Bundesanwaltschaft (Pa.Iv. 21.406)
Dossier: Reformen der Bundesanwaltschaft

Zwar hatte die RK-NR im Januar 2021 der parlamentarischen Initiative von Christian Lüscher (fdp, GE) noch Folge gegeben, vollzog aber im August eine Kehrtwende. Grund dafür waren die Motionen beider RK, mit denen der Bundesrat aufgefordert wird, eine Reform der Bundesanwaltschaft und ihrer Aufsicht vorzulegen. Auch die RK-SR hatte sich deshalb Mitte August gegen den Vorstoss des Genfer Liberalen ausgesprochen. Dieser schlug mit seiner Initiative eine Entpolitisierung der Wahl des Bundesanwalts oder der Bundesanwältin vor. Konkret regte er an, den regulären Wahltermin der Bundesanwaltschaft 24 Monate nach den Parlamentswahlen anzusetzen. Es müsse verhindert werden, dass die Wahl des Bundesanwaltes oder der Bundesanwältin mit dem Wahlkampf um die eidgenössischen Parlamentssitze zusammenfalle, um eine Politisierung der Wahl der Justizbehörde zu verhindern, wie sie sich im Vorfeld der eidgenössischen Wahlen 2019 gezeigt habe. Lüscher zog sein Anliegen zurück, nachdem die RK ihre Motionen eingereicht hatten.

Entpolitisierung der Wahl des Bundesanwalts oder der Bundesanwältin (Pa.Iv. 19.485)
Dossier: Reformen der Bundesanwaltschaft

In der Sommersession 2021 beriet der Ständerat die Justiz-Initiative. Im Vorfeld hatte die RK-SR die Initiative einstimmig zur Ablehnung empfohlen. Allerdings lag – wie bereits in der Frühjahrssession im Nationalrat – ein Minderheitenantrag auf einen direkten Gegenentwurf vor, mit dem die Möglichkeit für eine stille Wiederwahl von Bundesrichterinnen und Bundesrichtern geschaffen werden sollte. Diesen Antrag empfahl die Kommission mit 9 zu 3 Stimmen bei 1 Enthaltung zur Ablehnung.
In der Ratsdebatte führte der Präsident der RK-SR, Beat Rieder (mitte, VS), als Kommissionssprecher die Argumente aus, mit welcher seine Kommission ihre Ablehnung gegen das Begehren begründete. Mit dem Losverfahren würde ein direktdemokratisches Wahlverfahren durch ein «aleatorisches» ersetzt, was der Tradition der Schweiz widerspreche. Ein solches Verfahren würde nicht nur die Legitimation der Gerichte untergraben, sondern auch die Vereinigte Bundesversammlung eines ihrer Rechte berauben und sie so schwächen. Darüber hinaus sehe die Initiative zwar eine angemessene sprachliche Verteilung vor, eine Repräsentation der Geschlechter oder verschiedener Landesteile und Regionen sei aber nicht vorgesehen und würde durch das Los wohl kaum abgedeckt. Eine möglichst repräsentative Vertretung sei aber eben Bedingung für eine hohe Akzeptanz der Judikative. Auch eine Expertenkommission, die gemäss der Initiative anstelle der Gerichtskommission (GK) die geeigneten Richterinnen und Richter bestimmen soll, die dann zum Losverfahren zugelassen würden, bestehe aus Mitgliedern, die «persönliche und gesellschaftspolitische Ansichten» hätten. Politische Neutralität, wie sie vom Begehren angestrebt werde, sei auch von einem solchen Gremium nicht zu erwarten. Zudem hätten auch ausgeloste Richterinnen und Richter politische Grundhaltungen, die per Los aber nicht unbedingt ausgewogen verteilt wären. Nicht das Los, sondern der freiwillige Parteienproporz sorge eben dafür, dass unterschiedliche politische Werthaltungen möglichst ausgewogen vertreten seien. Zwar könne ein Expertengremium nach objektiven Kriterien wohl über fachliche Eignung und Qualität von Gerichtspersonen befinden. Innerhalb dieser Qualifikationen dürfte es aber Unterschiede geben und mit dem Losverfahren würden dann eben wahrscheinlich nicht die Personen mit der besten Eignung gewählt. Allerdings sei die Idee, mehr Expertise in die Auswahl der Richterinnen und Richter aufzunehmen, gut. Die RK-SR habe deshalb eine parlamentarische Initiative für einen Fachbeirat eingereicht, der die GK beim Auswahlverfahren unterstützen solle. Ein weiteres Problem der Justizinitiative sei, dass sie keine Wiederwahl, sondern lediglich eine Amtsenthebung von Richterinnen und Richtern durch Bundesrat und Parlament vorsehe. Auch hier gebe es viel Potenzial für Misstrauen und Legitimationsverlust. Das jetzige System habe sich bewährt, schloss Rieder sein Plädoyer gegen die Initiative; das «Schweizerische Bundesgericht kann als eines der weltweit besten angesehen werden».
Lisa Mazzone (gp, GE) warb für den Gegenvorschlag. Einen solchen brauche es nur schon, um der Initiative möglichst viel Unterstützung zu entziehen. Jedes Ja-Prozent sei nämlich ein Zeichen für schädliches Misstrauen gegen die Judikative. Das Parlament dürfe nicht so tun, als gäbe es keine Probleme. Ein solches Problem stelle die Wiederwahl der Richterinnen und Richter dar, die immer wieder von unschönen Tönen begleitet werde und stark politisiert sei. Der Gegenvorschlag, der freilich im Nationalrat abgelehnt worden sei und deshalb von der Kommission noch verbessert werden müsste, müsse ein Verfahren anstreben, mit dem die Wiederwahl durch das Parlament und die damit verbundenen, in der Bevölkerung Misstrauen schürenden, politischen Spielchen vermieden werden. Andrea Caroni (fdp, AR) nahm den Ball auf und erwähnte, dass es in der Geschichte lediglich in drei Fällen zu Abwahlen gekommen sei. Im 19. Jahrhundert sei dies aufgrund des Alters zweier Richter geschehen. Dem sei mit der gesetzlich geregelten Alterslimite – Amtsausübung bis längstens fünf Jahre nach Erreichen des ordentlichen Rentenalters – begegnet worden. «Das institutionelle Immunsystem» habe aber auch im dritten Fall, bei der «persönlich motivierten» Abwahl von Bundesrichter Schubarth 1990, funktioniert, weil dieser anschliessend sofort wiedergewählt worden sei. Das System sei nicht perfekt, aber sehr gut und es brauche entsprechend auch keinen Gegenvorschlag. In der Debatte wurden weitere Analogien zur Geschichte gezogen: Heidi Z'graggen (mitte, UR) führte die ausgelosten Richter ins Feld, die Sokrates zum Tod verurteilt hatten, und Mathias Zopfi (gp, GL) berichtete, dass das Losverfahren im Kanton Glarus bis ins 17. Jahrhundert angewendet worden sei, sich aber nicht bewährt habe. Justizministerin Karin Keller-Sutter schloss die Debatte schliesslich mit dem Hinweis, dass eine einmalige Wahl und eine lange Amtsdauer die Unabhängigkeit der Judikative in der Tat grundsätzlich stärken und Parteilose mit dem Losverfahren eher eine Richterstelle erhalten würden. Trotzdem sei der Bundesrat gegen das Begehren, weil das Losverfahren nicht dem Leistungsprinzip entspreche, die demokratische Legitimation der Judikative untergrabe und die Vorzüge des tief im System der Schweiz verankerten freiwilligen Parteienproporz, wie etwa Transparenz und Repräsentativität, ohne Not verschenke. Auch das Bundesgericht selber sehe zudem keinen Handlungsbedarf und sei mit der Stellungnahme des Bundesrats einverstanden. Die Magistratin verwies schliesslich auf die bereits angestossenen Revisionen, die auf Teilforderungen der Initiative eingingen – etwa die Diskussionen in der GK für ein besseres Auswahlverfahren, das auch Parteilose berücksichtigen könnte, die parlamentarische Initiative der RK-SR für einen Fachbeirat oder die parlamentarische Initiative von Beat Walti (fdp, ZH; Pa.Iv. 20.468), mit der die Mandatssteuern geregelt werden sollen. Eine stille Wahl – so das Argument des Bundesrats gegen den Antrag für einen Gegenvorschlag – wäre zudem weniger demokratisch und transparent als eine Wiederwahl. Und auch eine von einer Expertenkommission beantragbare Nichtwiederwahl mache «sogenannte Denkzettel» möglich. Ein solcher Gegenvorschlag würde zudem den Erwartungen der Initiantinnen und Initianten wohl zu wenig stark entgegenkommen und sei deshalb nicht geeignet, der Initiative den Wind aus den Segeln zu nehmen. In der darauffolgenden Abstimmung lehnte der Ständerat Eintreten auf den Minderheitenantrag für einen Gegenvorschlag mit 26 zu 8 Stimmen (0 Enthaltungen) ab und empfahl die Initiative zur Ablehnung.

In den am Ende der Sommersession 2021 abgehaltenen Schlussabstimmungen zum Bundesbeschluss über die Justizinitiative, mit dem die Initiative zur Ablehnung empfohlen werden sollte, waren die Verhältnisse dann sehr deutlich. Im Nationalrat stimmte einzig Lukas Reimann (svp, SG) für eine Empfehlung auf Annahme der Initiative. Er stand 191 Gegenstimmen und 4 Enthaltungen gegenüber. Im Ständerat fiel die Empfehlung zur Ablehnung des Begehrens mit 44 Stimmen einstimmig aus (0 Enthaltungen).

Justizinitiative (BRG 20.061)
Dossier: Unabhängigkeit der Judikative
Dossier: Justizinitiative

«Trotz ihrer fachlichen Eignung erfüllt keine der drei Personen [...] die zahlreichen persönlichen und beruflichen Kriterien, die erforderlich sind, um dieses anspruchsvolle Amt auszuüben», begründete die GK in ihrer Medienmitteilung vom 24. Februar 2021 ihren Entscheid, die Stelle für eine neue Bundesanwältin oder einen neuen Bundesanwalt gar ein drittes Mal auszuschreiben. Weder Maria-Antonella Bino, noch Lucienne Fauquex oder Félix Reinmann hätten in der Kommission eine genügend breite Unterstützung gefunden, liess die GK verlauten. Damit war klar, dass das Parlament auch in der Frühjahrssession 2021 keine Nachfolgerin und keinen Nachfolger für Michael Lauber wählen würde.
In der Presse wurden Machtspiele in der Kommission vermutet, wie Sibel Arslan (basta, BS) dem Blick zu Protokoll gab. Die Zeitung sprach von einer Sackgasse, in die sich die GK manövriert habe. Es würden sich in einer dritten Runde kaum mehr valable Kandidierende finden. Die Kriterien seien so hoch angesetzt, dass sie niemand erfüllen könne. Die Tribune de Genève sprach gar von künftigen «Kamikaze»-Kandidaturen. Christian Lüscher (fdp, GE) gab der Tribune zu Protokoll, dass sich die Kommission sehr amateurhaft verhalten habe. Die NZZ sprach überdies von einem «Trauerspiel» und einem «Scherbenhaufen»; Le Temps von einer «Farce».
Einzelne GK-Mitglieder wehrten sich allerdings gegen diese Urteile. Ursula Schneider Schüttel (sp, FR) gab der Libérté zu Protokoll, dass man das Verfahren sehr ernst nehme, und auch Andrea Caroni (fdp, AR) befand, dass Qualität vor Tempo gehe. Auch die Weltwoche sah das Problem nicht in erster Linie in der Kommission, sondern in der «mageren Auswahl an geeigneten Kandidaten», in der Wahl durch das Parlament und dem «verfehlten Aufsichtssystem». Diesen Aspekt nahm auch die NZZ auf, die von einem Konstruktionsfehler sprach, weil statt der Regierung das Parlament Wahlbehörde sei. Die Bundesanwaltschaft verkomme zum Spielball der Politik und von Diskretion, die bei Stellenbesetzungen eigentlich oberstes Gebot sein müsse, fehle deshalb jede Spur. Sie verglich die Wahl gar mit der Fernsehsendung «Germany's Next Topmodel», in der jede Woche Kandidatinnen und Kandidaten vorgeführt und abserviert würden. Die Diskussion darum, ob wie früher der Bundesrat oder eben das Parlament die Bundesanwältin oder den Bundesanwalt wählen solle, wurde damit – wie schon nach der ersten erfolglosen Runde – erneut virulent.

Die GK selber entschied Mitte März 2021, mit einer Neuausschreibung der Stelle zuzuwarten. Man wolle zuerst anstehende Entscheide abwarten, so etwa die Erhöhung der Alterslimite für die Bundesanwaltschaft, aber auch den Bericht der GPK zur künftigen Organisation der obersten Strafbehörde. Es müssten zudem bessere Instrumente zur Suche nach Kandidierenden entwickelt und die Vertraulichkeit des Verfahrens verbessert werden, war der Medienmitteilung der GK zu entnehmen. Letzteres unterstrich auch eine Aussage von Andrea Caroni (fdp, AR), die für grossen Wirbel gesorgt hatte. Er hatte kritisiert, dass «mindestens jemand in dieser Kommission [...] hochgradig kriminell» sei. Es würden laufend vertrauliche Informationen an die Medien gespielt. Freilich räumte der GK-Präsident im St. Galler Tagblatt auch ein, dass es «nicht unproblematisch» und «nie frei von Politik» sei, wenn 17 Parlamentsmitglieder ein Bewerbungskomitee bildeten.

Wahl eines neuen Bundesanwalts
Dossier: Wahlen des Bundesanwalts
Dossier: Michael Lauber - Bundesanwalt

In der Frühjahrssession nahm sich der Nationalrat der Justiz-Initiative an. Zur Debatte standen dabei drei Minderheitsanträge, welche die Ausarbeitung eines Gegenvorschlags bezweckten, was der Bundesrat in seiner Vorlage abgelehnt hatte. Ein Minderheitsantrag Min Li Marti (sp, ZH) verlangte die Rückweisung des Geschäfts an die RK-NR, damit diese ihren in Form einer parlamentarischen Initiative (Pa.Iv. 20.480) bereits eingereichten indirekten Gegenvorschlag weiter ausarbeite. Zwei weitere links-grüne Minderheiten präsentierte einen eigenen direkten Gegenentwurf, der gleichzeitig mit der Initiative zur Abstimmung kommen soll.
Die RK-NR selber sehe aber keinen Handlungsbedarf mehr, berichtete Barbara Steinemann (svp, ZH) für die Kommission. Nach einigen Anhörungen sei man zum Schluss gekommen, dass sich das aktuelle System bewährt habe. Die Wahl von Richterinnen und Richtern, wie sie heute praktiziert werde, sei nicht über alle Zweifel erhaben und es gebe durchaus «diskussionswürdige Punkte», so die Kommissionssprecherin. Alle anderen Systeme seien aber «noch weniger perfekt», weshalb die Kommission mit 22 zu 0 Stimmen (3 Enthaltungen) empfehle, die Volksinitiative ohne indirekten Gegenvorschlag und ohne direkten Gegenentwurf abzulehnen.
In der Begründung ihres Rückweisungsantrags machte Min Li Marti (sp, ZH) auf die wunden Punkte aufmerksam, auf welche die Initiative die Finger legt: Die Frage der Wiederwahl – Richterinnen und Richter müssen periodisch in ihrem Amt bestätigt werden, was in jüngerer Zeit nicht immer reibungslos vonstatten gegangen war –; die Mandatsabgaben, die von Richterinnen und Richtern an ihre Parteien bezahlt werden müssen und die auch von der Greco kritisiert werden, weil sie das bestehende Abhängigkeitsverhältnis noch verstärken; oder die Auswahl der Richterinnen und Richter durch die Gerichtskommission, die kein eigentliches Fachgremium darstellt und weniger auf Fachkompetenz als auf politische Einstellungen und Parteizugehörigkeit achtet. Diese Punkte müssten von der Rechtskommission noch einmal überdacht und in eine Gesetzesrevision gegossen werden, forderte die Zürcher Sozialdemokratin. Sibel Arslan (basta, BS) skizzierte in der Folge die beiden direkten Gegenentwürfe. Vorgesehen war eine Erhöhung der Amtsdauer von Richterinnen und Richter auf zwölf oder sechzehn Jahre in Verbindung mit einem noch zu regelnden Amtsenthebungsverfahren. Das bisherige Wiederwahlverfahren gefährde die Unabhängigkeit der Judikative, weil Richterinnen und Richter mit ihrer Wiederwahl unter Druck gesetzt werden könnten, so die Begründung der Baslerin.

In der nachfolgenden Debatte wiesen auch zahlreiche Votantinnen und Votanten auf die Mängel des bestehenden Systems hin. Freilich war umstritten, ob diese Mängel mit einem Gegenvorschlag oder einem Gegenentwurf behoben werden müssten oder ob sie sich «im Rahmen der heutigen Strukturen lösen» lassen, wie sich etwa Pirmin Schwander (svp, SZ) überzeugt zeigte. Wichtig sei freilich, dass man bereits bei der Selektion der Kandidierenden die «richtigen Persönlichkeiten» auswähle. Das System funktioniere, befand auch Christoph Eymann (ldp, BS). Änderungen seien weder auf Gesetzes- noch auf Verfassungsstufe nötig. Der von der Initiative kritisierte Parteienproporz bei Richterwahlen sei gar nicht so schlecht, führte dann Philipp Matthias Bregy (mitte, VS) aus. Er garantiere vielmehr eine Vertretung aller «ideologischen Richtungen». Auch die regelmässigen Wiederwahlen wurden verteidigt: In Realität seien die Richterinnen und Richter unabhängig von ihren Parteien und zu einer Abwahl komme es praktisch nie, argumentierte Sidney Kamerzin (mitte, VS) gegen eine Reform des Systems. Gegen ein zu hastiges Vorgehen mit Hilfe von Gegenvorschlägen und Gegenentwürfen stellte sich auch Kurt Fluri (fdp, SO). Man müsse die bestehenden Probleme in Ruhe angehen. So sei ja etwa eine Motion von Beat Walti (fdp, ZH) für ein Verbot von Mandatssteuern bereits eingereicht worden.
Die Ratslinke – unterstützt von der GLP, für die Beat Flach (glp, AG) Handlungsbedarf aufgrund der undurchsichtigen Mandatsabgaben feststellte – hätte hingegen die Initiative gerne als Treiberin für nötige Reformen genutzt. Es sei ein Glücksfall, dass es dank der Initiative zu einer öffentlichen Debatte über die Judikative komme, lobte Matthias Aebischer (sp, BE). Wenn ein indirekter Gegenentwurf jetzt ausgearbeitet werden müsse, könnten die «kritischen und berechtigten Aspekte der Initiative» aufgenommen werden, warb auch Ursula Schneider Schüttel (sp, FR) für die Rückweisung an die Kommission.

Eine solche wurde dann allerdings von der Ratsmehrheit mit 99 zu 81 Stimmen (1 Enthaltung) abgelehnt. Dabei zeigte sich der aufgrund der vorgängigen Diskussion zu erwartende Graben zwischen SVP-, FDP- und der Mehrheit der Mitte-Fraktion, die den Rückweisungsantrag ablehnten, und den Fraktionen von SP, GP und GLP sowie der EVP. Auf die beiden Vorlagen für mögliche direkte Gegenentwürfe mochte der Rat sodann gar nicht erst eintreten. Mit 102 zu 79 Stimmen (3 Enthaltungen) wurde eine mögliche Debatte abgelehnt. Dabei zeigten sich die praktisch gleichen Fronten wie bei der abgelehnten Rückweisung.

Die Initiative selber fand bei den Rednerinnen und Rednern kaum Unterstützung. Das Losverfahren sei «schlicht unseriös», urteilte Philipp Matthias Bregy (mitte, VS). Der Zufall mache seine Sache nur selten gut, befand auch Nicolas Walder (gp, GE) und mit dem Los bestünde das grosse Risiko, dass nicht alle politischen Sensibilitäten in der Judikative repräsentiert seien. Auch die Idee eines Fachgremiums, mit dem die auszulosenden Kandidierenden bestimmt würden, stiess auf Kritik. Auch die Mitglieder eines solchen Gremiums könnten nicht politisch neutral sein, warnte Matthias Aebischer (sp, GE). Eine durch Los oder ein Fachgremium bestimmte Judikative sei demokratisch weniger legitimiert als durch das Parlament oder die Stimmbevölkerung gewählte Richterinnen und Richter, pflichtete Andreas Glarner (svp, AG) bei. Ein «Sympathie-Ja» erhielt das Begehren einzig von Lukas Reimann (svp, SG): Richterwahlen seien sehr wohl politisch und die Parteizugehörigkeit verhindere die Auswahl der besten Kandidierenden, begründete der St. Galler seine Unterstützung.
Der Nationalrat folgte stillschweigend dem Antrag der Kommission, die Initiative zur Ablehnung zu empfehlen. Die NZZ sprach nach der nationalrätlichen Debatte von einer verpassten Chance. Es sei fraglich, ob das Parlament ohne den Druck einer Volksinitiative gewillt sei, die Mängel im bestehenden System zu beheben.

Justizinitiative (BRG 20.061)
Dossier: Unabhängigkeit der Judikative
Dossier: Justizinitiative

Nachdem die GK Ende November 2020 die Stelle für eine neue Bundesanwältin oder einen neuen Bundesanwalt nach Absage der ersten Runde neu ausgeschrieben hatte, gingen die Mutmassungen in den Medien über den Nachfolger des Ende August 2020 zurückgetretenen Michael Lauber bereits Anfang Dezember wieder von vorne los. Die Aargauer Zeitung vermutete, dass GK-Mitglied Thomas Aeschi (svp, ZG) «einem nahestehenden Kandidaten» die Kandidatur nahegelegt habe: Thomas Würgler, dem pensionierten Kommandanten der Kantonspolizei Zürich. Dazu passe, so die Zeitung weiter, dass die GK die Alterslimite für den Verbleib in der Bundesanwaltschaft erhöhen wolle – Würgler war bereits 65 Jahre alt und überschritt somit die bisherige Alterslimite. Die Kandidatur Würglers wurde Mitte Januar 2021, kurz nach Ablauf der Bewerbungsfrist, offiziell bestätigt. Obwohl GK-Präsident Andrea Caroni (fdp, AR) die Bewerbungen «wie ein Staatsgeheimnis» hüte, wie die Aargauer Zeitung betonte, wurde auch die Bewerbung von Maria-Antonella Bino bekannt. Die ehemalige stellvertretende Bundesanwältin und Konkurrentin bei der ersten Wahl Laubers 2011 war bereits in der ersten Bewerbungsrunde als Kandidatin gehandelt worden, hatte damals aber laut Medien kein Interesse gezeigt.
Kurz vor der ersten Anhörung der Kandidierenden am 10. Februar 2021 machte die NZZ publik, dass vier Bewerbungen eingereicht worden seien. Neben Würgler und Bino hätten auch Lucienne Fauquex, Leiterin des bundesanwaltschaftlichen Rechtsdienstes, und Félix Reinmann, Generalsekretär im Sicherheitsdepartement des Kantons Genf, ihre Kandidaturen eingereicht. Die NZZ mutmasste, dass Würgler wohl aus dem Rennen ausscheiden würde, weil er mit Jahrgang 1959 zu alt und die von der GK geforderte Erhöhung der Alterslimite von der RK-NR vorerst knapp abgelehnt worden sei und wohl nicht mehr rechtzeitig umgesetzt werden könne. Die Zeitung vermutete Christian Lüscher (fdp, GE) als treibende Kraft hinter dem Nein der RK-NR, weil er Würgler habe verhindern wollen. Die NZZ befürchtete entsprechend, dass die Wahl zum «Polit-Schacher» verkomme.

In der Tat gab die GK tags darauf bekannt, für drei der vier Personen ein externes Assessment durchzuführen und sie für eine zweite Anhörung Ende Februar 2021 einzuladen. Nicht auf dieser Liste war Thomas Würgler, wohl aber Bino, Reinmann und Fauquex. Bei Letzterer könnte sich allerdings ebenfalls das Altersproblem stellen, rechnete die NZZ vor. Da für sie als Frau das Rentenalter 64 gelte, könne sie – 62-jährig – höchstens bis 2023 im Amt bleiben. In den meisten Medien wurde positiv hervorgehoben, dass unter dem Trio zwei Frauen waren. Ein Favorit oder eine Favoritin könne aber nicht ausgemacht werden, meinte etwa die Libérté. Damit war freilich der Tages-Anzeiger nicht einverstanden, der Maria-Antonella Bino als «Frau mit Biss» und als «klare Favoritin» bezeichnete. Die Aargauer Zeitung erachtete Bino allerdings als «sehr bankennah» und als «zweite Version von Lauber». Reinmann gelte hingegen als «hartnäckiger und gewissenhafter Ermittler». Viel deute aber darauf hin, dass eine Frau Bundesanwältin werden würde. Vorteil für Fauquex sei zudem, dass sie aufgrund ihres Alters als nur kurzzeitig tätige «Übergangschefin» dem Parlament Zeit geben könnte, die Bundesanwaltschaft neu zu organisieren.

Wahl eines neuen Bundesanwalts
Dossier: Wahlen des Bundesanwalts
Dossier: Michael Lauber - Bundesanwalt

Anfang Februar 2021 entschied die RK-NR mit 13 zu 11 Stimmen (1 Enthaltung), dem Nationalrat die Ablehnung der Justizinitiative zu beantragen und auf einen eigenen indirekten Gegenvorschlag zu verzichten. Zwei Minderheiten beantragten allerdings die Ausarbeitung eines indirekten Gegenvorschlags oder gar eines direkten Gegenentwurfs. Die Anträge fussten auf einem Arbeitspapier des BJ, das Vorschläge für die Umsetzung der parlamentarischen Initiative der Kommission für einen Gegenvorschlag zur Justizinitiative beinhaltet und das die Kommission trotz ihres ablehnenden Entscheids einige Tage später publizierte. Das Arbeitspapier erörtert konkret die zentralen Vorschläge der Kommissionsinitiative: Die Schaffung eines Fachbeirats, verschiedene Varianten für die Wiederwahl von Richterinnen und Richtern, Fragen zur Amtszeit, das Verfahren für eine Amtsenthebung und ein Verbot der Mandatsabgabe, also der finanziellen Beiträge, die Richterinnen und Richter an Parteien bezahlen.
Die Schaffung eines Fachbeirats, der die fachliche (inkl. sprachliche) Eignung von Kandidierenden zuhanden der GK beurteilen solle, wurde im Arbeitspapier als einfach umsetzbar erachtet. Dessen Umsetzung in Form eines indirekten Gegenvorschlags sei mit einer Änderung des Parlamentsgesetzes leicht möglich. Als «wenig sinnvoll» wurde im Papier hingegen die Idee einer stillen, also automatischen Wiederwahl beurteilt. Weil das Parlament, ein Teil des Parlaments oder gar ein einzelnes Parlamentsmitglied die verfassungsrechtlich garantierte Kompetenz behalten müsse, eine Wiederwahl zu fordern und so Druckversuche durch Parteien weiterhin möglich wären, wäre die Einführung einer stillen Wahl keine Verbesserung im Sinne von mehr Unabhängigkeit der Judikative. Wenn alleine die GK die Kompetenz erhalten solle, die Wiederwahl zu beschliessen (auch unter Beizug der Fachkommission), wäre eine Verfassungsänderung und entsprechend ein direkter Gegenentwurf (statt eines indirekten Gegenvorschlags) nötig. Auch für eine Neuregelung des Amtsenthebungsverfahrens und für die Verlängerung der Amtszeit (also die einmalige Wahl einer Richterin oder eines Richters bis zu einem bestimmten Altersjahr oder aber die Verlängerung der Amtsperiode von 6 auf 12 oder 16 Jahre) bräuchte es laut Arbeitspapier eine Verfassungsänderung. Ein indirekter Gegenvorschlag wäre hingegen möglich für eine Regelung hinsichtlich Mandatsabgabe, die nicht gesetzlich verankert ist. Das Arbeitspapier schlägt ein Verbot vor, das im Bundesgerichtsgesetz verankert werden könnte: Richterinnen und Richter dürften demnach keine finanziellen Beiträge an politische Parteien leisten. Ein Verbot auf Verfassungsstufe sei freilich vorzuziehen, weil so eine schweizweit einheitliche Regelung (auch auf Kantonsebene) garantiert und den Empfehlungen der GRECO für eine bessere Unabhängigkeit der Gerichte in der Schweiz entsprochen werden könnte. Dazu wäre jedoch wiederum ein direkter Gegenentwurf erforderlich. Im Arbeitspapier wurde für diesen Punkt auf die parlamentarische Initiative von Beat Walti (fdp, ZH; Pa.Iv. 20.468) verwiesen, die ein solches Verbot von Mandatsabgaben fordert.

Unabhängige und kompetente Richterinnen und Richter des Bundes. Indirekter Gegenvorschlag zur Justizinitiative (Pa.Iv. 20.480)
Dossier: Unabhängigkeit der Judikative
Dossier: Justizinitiative

Anfang November 2020 reichte die RK-NR eine parlamentarische Initiative ein, mit der eine Grundlage für einen indirekten Gegenvorschlag zur Justizinitiative geschaffen werden soll. Der Vorschlag sah vor, dass die Richterinnen und Richter für alle Gerichte der Schweizerischen Eidgenossenschaft (Bundesgericht, Bundesstrafgericht, Bundesverwaltungsgericht, Bundespatentgericht) nach wie vor von der Vereinigten Bundesversammlung gewählt werden sollen. Allerdings soll die Wahl nicht mehr nur auf einem Antrag der Gerichtskommission (GK) beruhen, sondern zusätzlich auf einer Vorselektion, die durch eine zu bestimmende Fachkommission getroffen wird, welche die fachliche und persönliche Eignung der Kandidierenden evaluiert. Die Amtsdauer aller nationalen Richterinnen und -richter soll auf sechs Jahre festgelegt werden, wobei die Wiederwahl automatisch geschehen soll – allenfalls durch die GK auf Empfehlung der genannten Fachkommission. Dies stellte eine Konzession an die Initianten dar, da im aktuellen Verfahren das Parlament die Wiederwahl vornimmt. Auch zukünftig soll Abberufung jedoch bei schwerer Pflichtverletzung möglich sein, wobei die Fachkommission den Sachverhalt zu klären hätte. Die Parteien selber müssten gemäss Vorschlag der RK-NR die Unabhängigkeit ihrer Richterinnen und Richter gewährleisten, wobei explizit Alternativen zu Mandatsabgaben gefordert werden. Letzteres wurde auch von einer noch nicht behandelten parlamentarischen Initiative Walti (fdp, ZH; Pa.Iv. 20.468) vorgeschlagen.
Anfang Dezember stimmte die RK-SR dem Begehren ihrer Schwesterkommission knapp mit 6 zu 6 Stimmen bei einer Enthaltung und Stichentscheid des Präsidenten Beat Rieder zu. Die Kommission sei der Ansicht, dass sich das aktuelle Wahlsystem für Bundesrichterinnen und -richter bewährt habe, dass es aber prüfenswerte Fragen gebe. Die RK-NR solle aber nur «die für absolut notwendig erachteten Verbesserungen» ausarbeiten.

Unabhängige und kompetente Richterinnen und Richter des Bundes. Indirekter Gegenvorschlag zur Justizinitiative (Pa.Iv. 20.480)
Dossier: Unabhängigkeit der Judikative
Dossier: Justizinitiative

Am 25. November 2020 nahm die GK die Resultate des externen Assessments für die beiden Kandidaturen für die Stelle einer neuen Bundesanwältin oder eines neuen Bundesanwalts zur Grundlage, das Verfahren neu aufzurollen und das Amt noch einmal auszuschreiben. Keiner der beiden Kandidierenden – noch im Rennen wären Olivier Jornot und Andreas Müller gewesen – bringe die nötigen Fähigkeiten mit, die es für das Amt der Bundesanwaltschaft brauche. Es müsse eine Person mit langjähriger Erfahrung sein, die Führungskompetenzen habe und geeignet sei, «Ruhe in eine Behörde zu bringen, um die es in den letzten Jahren viel Wirbel gab», wie sich die Kommission in ihrer Medienmitteilung äusserte. Neues Ziel sei es, dem Parlament in der Frühjahrssession 2021 eine neue Kandidatur zu präsentieren. Zudem schlage man zuhanden der Rechtskommission vor, das Rücktrittsalter für die Bundesanwaltschaftsstelle auf 68 Jahre (von heute 65 bzw. 64) anzuheben.
In der Presse wurde vermutet, dass eine Kombination aus beiden Personen «den idealen Kandidaten ergeben» hätte (NZZ). Ob eine zweite Runde geeignetere Kandidaturen bringen würde, stehe allerdings in den Sternen, vor allem auch dann, wenn Details aus den Bewerbungen an die Öffentlichkeit gelangten, so die NZZ weiter. Dies habe wohl auch damit zu tun, dass das Parlament selber die Wahlbehörde sei, kritisierte die Aargauer Zeitung. Auch der Tages-Anzeiger bemängelte das Verfahren: Die GK schreibe die Stelle lediglich aus, suche aber nicht aktiv nach geeigneten Personen. Die mit dem Verfahren verknüpften Unsicherheiten würden dieses wohl noch weiter verlängern, augurte die Westschweizer Zeitung Le Temps. Sie bezeichnete den Entscheid überdies als Überraschung, da Olivier Jornot ein nahezu perfekt passendes Profil mitgebracht habe. Und auch die Tribune de Genève ärgerte sich über die negative Presse, die Jornot erhalten habe: Man regle alte Fehden in der Öffentlichkeit, bevor die Verantwortlichen überhaupt entschieden hätten.
Andrea Caroni (fdp, AR), Präsident der GK, gab der Aargauer Zeitung zu Protokoll, dass eine Wahlempfehlung einer der beiden Kandidierenden unverantwortlich gewesen wäre. Christian Lüscher (fdp, GE) kritisierte allerdings, dass die Kommission ihre Verantwortung nicht wahrgenommen habe: Die Deutschschweizer Presse habe sich – unterstützt durch Indiskretionen der deutschsprachigen Mitglieder der Kommission – gegen den Kandidierenden aus der Romandie eingeschossen. Lüscher dachte laut darüber nach, die Wahl des Bundesanwaltes wieder dem Bundesrat zu überlassen, wie dies bis 2010 der Fall gewesen war.

Wahl eines neuen Bundesanwalts
Dossier: Wahlen des Bundesanwalts
Dossier: Michael Lauber - Bundesanwalt

Nach dem Rücktritt von Michael Lauber hatte die GK die Aufgabe, die Wahl einer neuen Bundesanwältin oder eines neuen Bundesanwalts zu organisieren. Die Kommission setzte sich einen ambitionierten Fahrplan: Bereits in der Wintersession 2020 sollte die Wahl einer Nachfolgerin oder eines Nachfolgers durch die Vereinigte Bundesversammlung vorgenommen werden. In der Zwischenzeit übernahmen die beiden Stellvertreter Ruedi Montanari und Jacques Rayroud die Leitung der Bundesanwaltschaft interimistisch.

Schon früh wurden in der Presse zahlreiche Namen potentieller Nachfolgerinnen und Nachfolger kolportiert. Die NZZ bezeichnete schon kurz nach der Rücktrittsankündigung Laubers den amtierenden Staatsanwalt des Kantons Zürich, Peter Pellegrini, als Kronfavoriten. Die Aargauer Zeitung nannte die Namen der Staatsanwälte des Kantons Basel-Stadt – Alberto Fabbri – und des Kantons Bern – Michel-André Fels. Rasch wurden aber auch Forderungen laut, eine Frau und jemanden aus der Romandie zu berücksichtigen, zumal es bisher mit Carla del Ponte erst eine Bundesanwältin gegeben habe (von 1994 bis 1998) und auch die Romandie bisher eher untervertreten gewesen sei. Beide Forderungen erfüllte Maria-Antonella Bino. Die aus Genf stammende und bis 2013 als stellvertretende Bundesanwältin amtende Bino erhielt rasch mediale Aufmerksamkeit und Unterstützung von GK-Mitglied Christian Lüscher (fdp, GE). Aber auch Gaëlle van Hove, Richterin am Genfer Strafgericht, wurde als mögliche Westschweizer Frauenkandidatur gehandelt. Kathrin Bertschy (glp, BE), ebenfalls Mitglied der GK, forderte im Tages-Anzeiger mindestens gleich viele Kandidatinnen wie Kandidaten. Sie nannte verschiedene mögliche Kandidatinnen, allesamt aktuelle Staatsanwältinnen: Gabriela Mutti, Franziska Müller, Barbara Loppacher oder Sara Schödler hätten sich einen Namen gemacht, zitierte der Tages-Anzeiger die Berner GLP-Nationalrätin. Die Aargauer Zeitung konzentrierte sich hingegen auf die Mindervertretung der Romandie und präsentierte neben Bino und van Hove gleich sechs weitere Namen aus der Westschweiz: Olivier Jornot, Yves Bertossa, Stéphane Grodecki, Eric Cottier, Fabien Gasser und Juliette Noto.
Im Rahmen der medialen Diskussionen um das Kandidatinnen- und Kandidatenkarussell wurden auch mögliche Reformen der Bundesanwaltschaft diskutiert. Die SP reichte eine parlamentarische Initiative ein, mit der die eidgenössische Strafverfolgung effizienter organisiert werden soll. In Diskussion war auch ein Postulat von Daniel Jositsch (sp, ZH), das eine Analyse der Strukturen forderte, sowie eine Untersuchung der GPK zum Verhältnis zwischen der Bundesanwaltschaft und deren Aufsichtsbehörde (AB-BA).

Wahl eines neuen Bundesanwalts
Dossier: Wahlen des Bundesanwalts
Dossier: Michael Lauber - Bundesanwalt

Ein Verbot von Mandatssteuern und Parteispenden für Mitglieder der Gerichte des Bundes forderte Beat Walti (fdp, ZH) in einer parlamentarischen Initiative, die er Ende September 2020 einreichte. Die FDP wolle die «Richtersteuer abschaffen», titelte in der Folge die Aargauer Zeitung. Zwar habe die Staatengruppe gegen Korruption des Europarats (GRECO) die Schweiz bereits vor Jahren gemahnt, dass die Unabhängigkeit der Judikative gefährdet sei, weil Richterinnen und Richter einer Partei angehören müssten, aber auch weil sie ihrer Partei Abgaben zu entrichten hätten, um die eigene Wiederwahl nicht zu gefährden. Von CHF 20'000 (GP) bis CHF 30'000 (FDP) pro Jahr und Bundesrichter wusste die Aargauer Zeitung zu berichten. Bei den Grünen hätten die Einnahmen 2015 zu 10 Prozent aus Mandatsabgaben ihrer Richterinnen und Richter bestanden. Ein Verbot könne dem Eindruck entgegenwirken, dass zwischen politischen Parteien und Mitgliedern von Gerichten eine Abhängigkeit bestehe, gab Beat Walti der Zeitung zu Protokoll.
Die RK-NR gab Mitte Januar 2021 bekannt, dass sie mit der Beratung der parlamentarischen Initiative Walti noch zuwarten wolle, bis die auf die Frühjahrssession 2021 terminierten Diskussionen im Nationalrat über die Justizinitiative und über einen allfälligen indirekten Gegenvorschlag geführt worden seien.

Verbot von Mandatssteuern und Parteispenden für Mitglieder der Gerichte des Bundes (Pa.Iv. 20.468)
Dossier: Unabhängigkeit der Judikative
Dossier: Justizinitiative

Mitte August 2020 legte der Bundesrat seine Botschaft zur Volksinitiative «Bestimmung der Bundesrichterinnen und Bundesrichter im Losverfahren (Justiz-Initiative)» vor. Er empfahl das Begehren – ohne direkten Gegenentwurf oder indirekten Gegenvorschlag – zur Ablehnung, da das Losverfahren systemfremd sei. Richterinnen oder Richter würden in der Schweiz von der Bevölkerung (verschiedene Kantone) oder vom Parlament (Kantons- und Bundesebene) gewählt. Die demokratische Legitimation würde geschwächt, wenn das Los über die Besetzung von Gerichten entscheiden würde. Dem Anliegen sei aber einiges abzugewinnen, so der Bundesrat. Es sei ein «gewisses Spannungsverhältnis» zwischen dem aktuellen Parteienproporz (Richterinnen und Richter müssen faktisch Parteimitglied sein und ihrer Partei Mandatssteuern abgeben) und der Idee der Unabhängigkeit der Judikative feststellbar. Zudem sei es in der Vergangenheit bei Bestätigungswahlen (vgl. 20.212; 20.204) zu Druckversuchen von Parteien gekommen, die Richterinnen und Richtern mit Nichtwiederwahl gedroht hätten, was sich ebenfalls negativ auf die richterliche Unabhängigkeit auswirken könne. Der Vorschlag einer einmaligen Amtsdauer ohne Wiederwahl, wie er von der Initiative gemacht werde, könne dem entgegenwirken. Zudem würde es das Losverfahren auch Parteilosen ermöglichen, an den Bundesgerichten zu amten. Die Nachteile des Zufallsverfahrens seien aber gravierender als dessen Vorteile. Nicht die besten Kandidierenden, sondern jene, die vom Los begünstigt würden, würden gewählt. Das Los schwäche nicht nur die Stellung von Parlament und Parteien, sondern berge die Gefahr, dass Gerichtsurteilen geringere Akzeptanz entgegengebracht werden könnte. Zudem werde die demokratische Legitimation der Justiz untergraben, auch wenn die Initiative ein Abberufungsverfahren durch das Parlament vorsehe. Verschiedene Punkte lasse die Initiative schliesslich offen. So werde etwa nicht bestimmt, wie das Losverfahren genau abzulaufen habe oder wie eine «ausgewogene Zusammensetzung des Gerichts [...] hinsichtlich Geschlecht, regionaler Herkunft sowie politischer Grundhaltung» gewährleistet würde.
Auf die Bedeutung der ideologischen Ausgewogenheit wies auch ein Kommentar in der NZZ hin: Auch Richterinnen und Richter seien Menschen mit Überzeugungen und Haltungen. Der freiwillige Parteienproporz – aber nicht das Los – garantiere, dass ein «möglichst breites Spektrum dieser Überzeugungen vertreten» sei und «die Weltanschauungen der einzelnen Richterinnen und Richter transparent» seien.
Nicht gänzlich einverstanden mit dem Vorschlag des Bundesrates war in der Folge die RK-NR, die eine parlamentarische Initiative (Pa.Iv. 20.480) einreichte, die sie als Gegenvorschlag zur Justizinitiative verstand: Eine Fachkommission solle in Zukunft die Kandidierenden vorselektieren und zur Wiederwahl vorschlagen, die in diesem Fall automatisch erfolgen würde. Ein ähnliches Verfahren kennt der Kanton Freiburg. Zudem reichte Beat Walti (fdp, ZH) eine parlamentarische Initiative (Pa.Iv. 20.468) ein, mit der er die Mandatssteuern verbieten will, um damit die richterliche Unabhängigkeit zu stärken.

Justizinitiative (BRG 20.061)
Dossier: Unabhängigkeit der Judikative
Dossier: Justizinitiative

Die Disziplinaruntersuchung gegen Michael Lauber war verzögert worden, weil das Bundesverwaltungsgericht im Sommer 2019 entschieden hatte, dass kein externes Untersuchungsmandat vergeben werden darf, sondern dass jemand aus der AB-BA selber die Untersuchung leiten müsse. Gegen dieses Urteil hatte die AB-BA Beschwerde eingereicht, es wurde aber Anfang 2020 vom Bundesgericht bestätigt. Die AB-BA habe generell kein Beschwerderecht, urteilte das Bundesgericht, was im Tages-Anzeiger als «Etappensieg für Michael Lauber» bewertet wurde.
In der Folge übernahm AB-BA-Mitglied Alexia Heine die Leitung der Disziplinaruntersuchung. Konkret ging es darum, herauszufinden, ob eine Amtspflichtverletzung vorlag, weil sich Lauber bei nicht protokollierten Geheimtreffen mit Fifa-Präsident Gianni Infantino abgesprochen und diesbezüglich gelogen haben soll. Heine galt als «sehr effiziente Person», wie die Aargauer Zeitung zu berichten wusste. Die gleiche Zeitung vermeldete freilich auch, dass Lauber nicht kooperiere, Informationen verweigere und die «gleiche Verteidigungstaktik wie US-Präsident Donald Trump in seinem Amtsenthebungsverfahren» wähle: «Stonewalling».

Anfang März 2020 legte die AB-BA dann die Resultate der Disziplinaruntersuchung vor und hielt darin schwerwiegende Amtspflichtverletzungen fest. Neben der Verletzung der Protokollierungspflicht fanden sich in der Liste der Vorwürfe etwa auch eine «Verweigerungshaltung gegenüber den Auskunfts- und Editionsaufforderungen der AB-BA», «Übernahme der eigenen Anwaltskosten durch die Bundesanwaltschaft» – ein Punkt der im Blick besondere Empörung hervorrief –, «Verletzung der Treuepflicht», «Erstattung unwahrer Angaben gegenüber der AB-BA», «Illoyales Handeln» oder «Behinderung der Untersuchung». Als Sanktion verfügte die AB-BA eine einjährige Lohnkürzung von 8 Prozent, was insgesamt einer Reduktion des Jahreslohns um rund CHF 24'000 entsprach. Damit wählte die Aufsichtsbehörde allerdings nicht das schärfste Mittel, das ihr zur Verfügung stand, wären doch eine maximale Lohnkürzung von 10 Prozent oder aber ein Antrag auf Amtsenthebung möglich gewesen. Man habe keine Hinweise darauf gefunden, dass Lauber unrechtmässige Leistungen empfangen habe, was das mildere Urteil rechtfertige, so die AB-BA in ihrem Bericht.

Die Reaktionen auf den Untersuchungsbericht waren unterschiedlich. Verschiedene Parlamentsmitglieder äusserten sich konsterniert. Lorenz Hess (bdp, BE), Mitglied der Gerichtskommission (GK), sprach in der Aargauer Zeitung von einer «untragbaren Situation» und Matthias Aebischer (sp, BE) befürchtete einen «Reputationsschaden für die Schweiz». Es wurde allerdings auch darauf hingewiesen, dass Lauber die Möglichkeit habe, die Verfügung vor Bundesverwaltungsgericht anzufechten. Es sei deshalb zu früh für ein politisches Urteil über die Amtsführung des Bundesanwalts, gab Christian Lüscher (fdp, GE) zu Protokoll.
Die NZZ zeigte sich über die eher zurückhaltenden Stellungnahmen verwundert: Die «Schelte» gegen den Bundesanwalt verhalle im Parlament wohl auch deswegen, weil man Lauber ja erst kürzlich im Amt bestätigt habe. Die Aargauer Zeitung forderte den Rücktritt Laubers. Damit könne er «eine Art Grösse zeigen». Die NZZ wies darauf hin, dass die Politik eigentlich nur die Möglichkeit der Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens habe, weshalb Lauber als einziger mit einem Rücktritt dafür sorgen könne, dass die Bundesanwaltschaft wieder zur Ruhe komme. Der Tages-Anzeiger sah hingegen neben dem Rücktritt Laubers eine andere Möglichkeit: Würde nämlich das Bundesverwaltungsgericht als Berufungsinstanz zum Schluss kommen, dass die Aufsichtsbehörde übertrieben habe, dann müsste die Berechtigung derselben und vor allem ihres Präsidenten, Hanspeter Uster, in Frage gestellt werden. Christian Levrat schlug in der Tribune de Genève gar vor, dass am besten beide Protagonisten zurücktreten sollten. Er beurteilte die Arbeit von AB-BA-Präsident Uster als zu «brutal». Dieser unwürdigen Auseinandersetzung («match assez indigne») an der Spitze einer so wichtigen Institution müsse ein Ende bereitet werden, so Levrat. Diese Ansicht wurde auch in der Weltwoche vertreten. Man gewinne beim Lesen des Disziplinarberichts den Eindruck, dass sich die AB-BA – «Hanspeter Uster und seine sechs Kollegen» – nicht an den Pflichtverletzungen Laubers störten, sondern «am unbotmässigen Verhalten des Bundesanwalts ihnen gegenüber». Die AB-BA habe sich in den ersten Jahren zu grosszügig gezeigt, der «furiore Uster» überschiesse nun aber in die andere Richtung, so das Wochenblatt.

Michael Lauber selber behielt sich rechtliche Schritte vor. In einer Ende März im Rahmen des «Fifa-Falls» ans Bundesstrafgericht gerichteten Stellungnahme, die der Aargauer Zeitung vorlag, wehrte sich der Bundesanwalt gegen die «unrechtmässig erstellte wie publizierte» Verfügung, die «einen persönlichkeitsverletzenden Inhalt» aufweise. Die Vorwürfe seien «konstruiert» und die Verfügung habe keine Rechtsgrundlage. Er werde sie deshalb anfechten und eine Beschwerde ans Bundesverwaltungsgericht einreichen. Dafür hatte Lauber aufgrund des im Rahmen der Covid-19-Massnahmen getroffenen Fristenstillstands bis Ende April 2020 Zeit.

Disziplinaruntersuchung gegen Michael Lauber (2019-2020)
Dossier: Michael Lauber - Bundesanwalt

Nach der medial breit begleiteten Empfehlung der Gerichtskommission (GK), Bundesanwalt Michael Lauber nicht für eine Wiederwahl zu empfehlen, starteten in den Medien die Spekulationen, wie sich das Parlament zur Frage entscheiden würde. Lauber habe in allen Fraktionen Gegner und Unterstützer, wusste etwa die NZZ zu berichten. Der Bundesanwalt selber wollte in Fraktions-Hearings seine Position darlegen.

In die Diskussionen schaltete sich auch die Schweizerische Staatsanwälte-Konferenz ein. Sie forderte die Wiederwahl von Lauber. Nicht nur die Fortsetzung entscheidender Projekte würde ansonsten aufs Spiel gesetzt, sondern auch die Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen gefährdet, die unter Lauber sehr gut funktioniere.

Die Wiederwahl Laubers wurde zudem vermehrt auch unter institutionellen Gesichtspunkten diskutiert. So weibelte etwa Daniel Jositsch (sp, ZH) für sein Postulat, mit dem er eine Evaluation von Struktur, Organisation, Zuständigkeit und Überwachung der Bundesanwaltschaft forderte. Auch der Tages-Anzeiger machte institutionelle Mängel aus: Es liege ein Systemfehler vor, wenn ein Bundesanwalt Wahlkampf betreiben müsse. In der Tat hatte Lauber laut Tages-Anzeiger ein PR-Büro engagiert, um die Parlamentsmitglieder von seiner Wiederwahl zu überzeugen. Zahlreich waren die Vorschläge, wieder zum alten System zurückzukehren, bei dem der Bundesrat für die Wahl des Bundesanwaltes verantwortlich gewesen war, bevor das Parlament 2011 einen Systemwechsel beschlossen hatte.

In den Medien wurde auch die Frage gestellt, weshalb sich Lauber das antue und nicht einfach zurücktrete. Die Aargauer Zeitung vermutete einen pekuniären Grund: Bei einer Abwahl winke ein Jahreslohn, bei einem Rücktritt ginge Lauber wohl leer aus. Der «Blick», der Lauber «gegen den Untergang» rudern sah, fragte sich zudem, wer die Kosten für das PR-Büro und den Anwalt Laubers bezahle. In der Tat eine offene Frage, wie auch die Bundesanwaltschaft selber bestätigte.

Mitte September, zwei Wochen vor dem vorgesehenen Wahltermin, trat Lauber vor der FDP- und der CVP-Fraktion auf. Die FDP empfahl ihn nach dem Gespräch deutlich zur Wiederwahl; dies aus Respekt gegenüber der Unabhängigkeit der Institutionen, wie die Partei, die als «Heimbasis Laubers gilt» (Aargauer Zeitung), verlauten liess. Die CVP, die neben Lauber auch den Präsidenten der Aufsichtsbehörde AB-BA, Hanspeter Uster, eingeladen hatte, gab hingegen keine Wahlempfehlung ab, um eine «Politisierung der Wahl» zu vermeiden, wie die Partei verlautbarte.
Der Vize-Präsident der SP, Beat Jans (sp, BS), verriet der Sonntags-Zeitung, dass seine Fraktion «grossmehrheitlich» gegen Lauber stimmen werde. Er sei für die meisten aufgrund seines Verhaltens nicht wählbar, zudem fehle ihm die Glaubwürdigkeit und Souveränität, um die Bundesanwaltschaft weiter zu führen. Weil auch die SVP in einer früheren Konsultativabstimmung mehrheitlich gegen Lauber gestimmt habe, die Grünen und die BDP den Antrag auf Nicht-Wiederwahl in die GK getragen hätten und auch die CVP gespalten sei, war für die Sonntags-Zeitung «die Rechnung schnell gemacht»: die nötigen 124 Stimmen für eine Abwahl kämen bei weitem zusammen.
Allerdings schien sich das Blatt eine Woche vor dem Wahltermin aufgrund weiterer Hearings von Lauber bei den Grünen und der SVP wieder zu wenden. Während die Grünen Stimmfreigabe beschlossen, um das Stimmgeheimnis zu wahren, nahm die SVP-Fraktion eine eigentliche Wende – die «Tribune de Genève» sprach von «tourner casaque» – vor und begründete wie die FDP eine Woche zuvor, dass die Kontinuität der Strafverfolgung gewährleistet werden müsse und sich die Fraktion deshalb mehrheitlich hinter Lauber stelle. In den Medien nicht genannte Insider wollten wissen, dass Lauber innerhalb der Partei nach wie vor umstritten sei. Für den Stimmungswandel habe Adrian Amstutz (svp, BE) gesorgt, der erklärt habe, man könne nicht jemanden wegen eines einzigen Fehlers in die Wüste schicken. Die SVP forderte zudem mittels parlamentarischer Initiative Reformen bei der Aufsicht über die Bundesanwaltschaft.
Für eine weitere «Überraschung» (NZZ) sorgte dann einen Tag vor dem Wahltermin die SP. Obwohl die drei GK-Mitglieder der SP-Fraktion die Empfehlung für eine Nicht-Wiederwahl Laubers unterstützt hatten, empfahl eine knappe Mehrheit der sozialdemokratischen Fraktion, Lauber zu bestätigen. Allerdings seien bei der entsprechenden Fraktionsabstimmung zahlreiche Mitglieder nicht mehr anwesend gewesen – so die NZZ weiter. Nicht zu den Hearings äusserte sich die GLP und die BDP hatte ganz darauf verzichtet, Lauber anzuhören.

Am Wahltag legten die Sprecherin und der Sprecher der GK noch einmal die Gründe ihres Mehrheitsbeschlusses mit der Empfehlung der Nicht-Wiederwahl dar. Die Minderheitsposition wurde offiziell von der FDP- und der SVP-Fraktion gestützt. Christian Lüscher (fdp, GE) und Raphaël Comte (fdp, NE) verteidigten diese in ihren Voten. Auch der Fraktionschef der CVP ergriff das Wort. Er erinnerte daran, dass die CVP keine Empfehlung abgebe und plädierte an die Mitglieder der Vereinigten Bundesversammlung mit ihrem Gewissen zu entscheiden.
Die Wahl fiel schliesslich erwartet knapp aus und zwar zugunsten Laubers – was vor wenigen Tagen in den Medien kaum für möglich gehalten worden war. Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier hatten die Möglichkeit, den Wahlzettel unverändert mit dem Namen Lauber einzulegen oder aber diesen Namen durchzustreichen. Letzteres war auf 114 Wahlzetteln der Fall gewesen. Weil aber 129 der 243 eingelangten Wahlzettel den Namen Lauber noch trugen, übersprang dieser das absolute Mehr von 122 Stimmen, wenn auch ziemlich knapp. Da von der Tribüne aus ziemlich gut sichtbar war, wer den Namen durchstrich, bzw. wer einen Stift zur Hand nahm und wer nicht, wurde in der Folge in den Medien von einem «Kugelschreiber-Gate» gesprochen, da das Wahlgeheimnis nicht gewahrt gewesen sei.

In den Medien wurde der Erfolg Laubers auch mit seinem ausgezeichneten Lobbying erklärt. Er habe wohl aber auch bei den Hearings überzeugt, wie zahlreiche Parlamentsmitglieder in den Medien bestätigten. Während die befürwortenden Parlamentsmitglieder vor den Medien die Institution betonten, deren Ruf verteidigt worden sei, machten die Gegnerinnen und Gegner der Wiederwahl keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen den Bundesanwalt. Fast die Hälfte des Parlaments misstraue Lauber, was keine guten Voraussetzungen für die nächsten vier Jahre seien, schrieb etwa Carlo Sommaruga (sp, GE) der NZZ ins Notizheft. Lauber selber bedankte sich in einem kurzen Statement bei Familie und Freunden für die Unterstützung. Er werde sich weiterhin für eine moderne Strafverfolgung einsetzen. Die knappe Wiederwahl wurde in den Medien auch als Denkzettel bezeichnet. Man müsse jetzt die Disziplinaruntersuchung abwarten, die allerdings an politischer Bedeutung verloren habe. Zudem verlangten die Kommentatorinnen und Kommentatoren ein Überdenken der institutionellen Strukturen. Die Bestätigung Laubers sei nur eine kurze Atempause – so die «Tribune de Genève». Ruhe werde so schnell keine einkehren, urteilte die Aargauer Zeitung. Der «Blick» prophezeite gar, dass der angeschlagene Bundesanwalt wohl kaum vier Jahre durchhalten werde. Das Parlament habe niemandem einen Gefallen getan. Der Tages-Anzeiger bezeichnete die Wiederwahl Laubers durch «das mutlose Parlament» gar als «Fehler». Die Aargauer Zeitung wusste tags darauf zu berichten, das Lauber bei der SP auch Stimmen geholt habe, weil er während des Hearings versprochen habe, zurückzutreten, wenn das Disziplinarverfahren für ihn negativ ausfallen werde.

Wahl des Bundesanwaltes für die Amtsperiode 2020-2023
Dossier: Michael Lauber - Bundesanwalt

Weil Bundesanwalt Michael Lauber Mitte Juni vom Bundesstrafgericht in der Fifa-Untersuchung für befangen erklärt worden war, schienen die Chancen für seine Wiederwahl im Herbst noch weiter zu sinken. So äusserte sich auf jeden Fall Sebastian Frehner (svp, BS) in der NZZ. Auch Corina Eichenberger (fdp, AG) sah die Position Laubers nun noch geschwächter als vorher und Beat Rieder (cvp, VS) wies darauf hin, dass die Gerichtskommission (GK) mit ihrem Entscheid, die Wahl auf den Herbst zu verschieben, wohl richtig gelegen habe. Nicht wenige Parlamentsmitglieder, so etwa Carlo Sommaruga (sp, GE) oder Marco Romano (cvp, TI), forderten Lauber auf, die Konsequenzen zu ziehen und sich nicht mehr zur Verfügung zu stellen. Ansonsten winke ihm wohl eine Abwahl, prognostizierte das St. Galler Tagblatt.

Für Unruhe sorgten zudem die Ereignisse im Rahmen der Disziplinaruntersuchung gegen Lauber, die von der Aufsichtsbehörde über die Bundesanwaltschaft (AB-BA) ausgelöst worden war. Die AB-BA hatte aus Gründen der Objektivität und der fehlenden eigenen Zeit einen emeritierten Strafrechtsprofessor für die Untersuchungen angestellt, wogegen Lauber vor Gericht erfolgreich rekurrierte. Die Medien urteilten, dass solche «juristischen Finessen» Laubers bei den Parlamentariern wohl eher schlecht ankämen. Matthias Aebischer (sp, BE), Mitglied der GK, die eigentlich auch auf der Basis dieser nun verzögerten Disziplinaruntersuchung im August über die Empfehlung für eine Wiederwahl Laubers entscheiden wollte, sprach von einem «unsäglichen Hickhack».

Lauber erwuchs allerdings auch Unterstützung. Vor allem in der Person von Claude Janiak (sp, BL), der Mitte August von einer Kampagne gegen den Bundesanwalt sprach. Er warnte davor, dass eine Nicht-Wiederwahl der offiziellen Schweiz grossen Schaden zufügen würde, das dies ein Signal wäre, dass man Strafverfolger eliminiere, wenn sie «jemandem auf die Füsse getreten sind», so der Baselbieter Ständerat in der Basler Zeitung. Janiak versuchte klarzustellen, dass die vor allem in den Medien immer wieder aufgeführten und kritisierten Gespräche mit Infantino nicht rechtswidrig seien, sondern in solchen komplexen Verfahren dazu gehörten. Sie nicht zu protokollieren sei ebenfalls kein rechtlicher Verstoss. Janiak äusserte sich in diesem Interview zudem über den Präsidenten der AB-BA, Hanspeter Uster. Dieser sei wohl ein «Kontrollfreak», der ins Operative reinrede, was aber nicht die Rolle einer Aufsichtsbehörde sei und wogegen sich Lauber nun zurecht wehre. In einem Gastkommentar in den AZ-Medien doppelte Janiak nach und erinnerte daran, dass sich der Bundesanwalt nichts habe zuschulden lassen kommen. Eine Nichtwiederwahl wäre aber eigentlich nur gerechtfertigt, wenn dieser grob fahrlässig seine Amtspflichten schwer verletzt hätte.
Ähnlich äusserte sich Matthias Aebischer (sp, BE) gegenüber Radio SRF. Die Gerichtskommission könne fast nicht anders, als Lauber zur Wiederwahl zu empfehlen, weil ihm keine gravierenden Fehler vorgeworfen werden könnten. In einem weiteren Gastbeitrag wurde dann wiederum Janiak von Strafrechtsprofessor Mark Pieth kritisiert. Der Basler Rechtsanwalt dürfe sich als GPK-Mitglied nicht in der Öffentlichkeit äussern. Die Causa Lauber füllte die Medienspalten.

Die GK lud dann kurz vor ihrem Entscheid über den Wahlvorschlag sowohl Lauber als auch Uster noch einmal an eine Kommissionssitzung Ende August ein. Danach entschied die GK, ihren Entscheid zu vertagen. Dem Bundesanwalt sei es nicht gelungen, alle Zweifel auszuräumen. Das Verfahren nach einem Antrag auf Nichtwiederwahl, den Sibel Arslan (basta, BS) und ein weiteres Mitglied der GK einreichten, sieht vor, dass der in Frage gestellte Bundesanwalt noch einmal schriftlich gegen die Vorwürfe Stellung nehmen kann. Am Termin für die Wahl werde jedoch nicht mehr gerüttelt, gab die GK ebenfalls bekannt. Dieser werde auf den 25. September gelegt.

Am 4. September, also eine Woche nach der Sitzung und nachdem sie die schriftliche Stellungnahme Laubers konsultiert hatte, entschied die GK schliesslich mit 9 zu 6 Stimmen bei einer Enthaltung, die Wiederwahl Laubers nicht zu empfehlen. Die Kommission begründete ihren Entscheid vor den Medien mit den Beschlüssen des Bundesstrafgerichts, das Lauber im Fifa-Strafverfahren für befangen gehalten und ihm eine Verletzung der Strafprozessordnung vorgeworfen habe. In die Beurteilung der GK sei auch das «uneinsichtige Verhalten» Laubers und sein «Gegenangriff» auf die AB-BA eingeflossen, gab Lorenz Hess nach der Sitzung zu Protokoll. Das Urteil sei «zu zwei Dritteln juristisch und zu einem Drittel politisch begründet» – so Hess weiter. Die GK-Mitglieder, die für eine Wiederwahl gestimmt hatten – darunter etwa Christian Lüscher (fdp, GE) – gaben zu bedenken, dass Lauber viel Gutes bewirkt habe und die Polemiken um die informellen Treffen seinen gesamten Leistungsausweis nicht beeinträchtigen sollten. Eine Nichtwiederwahl gefährde die Bundesanwaltschaft als Institution. Lauber selber gab bekannt, seine Kandidatur für die Amtsperiode 2020 bis 2023 aufrecht zu erhalten.

Die Medien sahen die Wiederwahlchancen für Lauber aufgrund der abschlägigen Empfehlung der GK allerdings nur noch als gering an. Zwar müsse sich das Parlament nicht an die Empfehlung halten, es sei aber wohl «zu viel Geschirr zerschlagen», wie etwa die NZZ kommentierte, als dass es sich noch zu einer Wiederwahl bewegen liesse. Weil er gegen alle gerichtlich vorgehe, die sich ihm in den Weg stellten, sei eine konstruktive Zusammenarbeit kaum noch denkbar. Lauber habe sich in seinem eigenen Fall verheddert und die Kontrolle über sein Image verloren, urteilte auch der Tages-Anzeiger. Es fehle ihm an Demut, befand der «Blick». Von jemandem in dieser Position dürfe mehr Souveränität erwartet werden.

Wahl des Bundesanwaltes für die Amtsperiode 2020-2023
Dossier: Michael Lauber - Bundesanwalt

Sind Richterinnen und Richter unabhängig und unparteiisch, wenn sie einer Partei angehören und dieser Rückerstattungen in die Parteikasse leisten müssen? Diese Frage wurde von der Greco, der Staatengruppe gegen Korruption, hinsichtlich eines 2017 veröffentlichten kritischen Berichts zur Schweiz verneint. In der Tat gilt in der Schweiz für die eidgenössischen Gerichte ein Parteienproporz. Wer also Bundesrichterin oder Bundesrichter werden möchte, sollte wenn möglich jener Partei angehören, die am entsprechenden Gericht gerade untervertreten ist. Freilich stehe die Kompetenz bei der Wahl einer Richterin oder eines Richters an vorderster Stelle, aber keiner Partei anzugehören, sei ein Handicap, gab der amtierende Präsident der GK, Jean-Paul Gschwind (cvp, JU), zu Protokoll. Kritisiert wurde aber von der Greco vor allem auch, dass die nationalen Gerichtsmitglieder den Parteien eine sogenannte Mandatssteuer entrichten müssen, deren Höhe je nach Partei unterschiedlich ausfällt – dies zeigte eine Studie von Giuliano Racioppi, Verwaltungsrichter am kantonalen Gericht in Graubünden. Laut Studie bezahlt etwa ein Bundesrichter der Grünliberalen CHF 26'000 in die Parteikasse. Bei der SP beträgt dieser Betrag CHF 20'000 und bei den Grünen CHF 13'000. Die SVP verlangt CHF 7'000 und die CVP CHF 6'000. Am wenigsten müssen die Richterinnen und Richter der FDP und der BDP entrichten, nämlich pro Jahr CHF 3'000. Racioppi kam zum Schluss, dass diese Beiträge die richterliche Unabhängigkeit verletzten. Auch die Amtsperiode von 6 Jahren, nach welcher die Gerichtspersonen in ihrem Amt von der Vereinigten Bundesversammlung erneut bestätigt werden müssen, gilt nicht als Faktor einer starken judikativen Unabhängigkeit.
Mit Hilfe der eidgenössischen Volksinitiative «Bestimmung der Bundesrichterinnen und Bundesrichter im Losverfahren (Justiz-Initiative)» wollte ein Bürgerkomitee mit dem Industriellen Adrian Gasser an der Spitze – gemäss Bilanz einer der reichsten 300 Schweizer – dieser «Überpolitisierung der Judikative» (Le Temps 16.5.18) Einhalt gebieten. Die Anfang Mai 2018 von der Bundeskanzlei vorgeprüfte Initiative fordert dafür verschiedene Elemente: Die Wahlkompetenz soll nicht mehr beim Parlament, sondern bei einer vom Bundesrat eingesetzten Expertenkommission liegen. Diese Kommission bestimmt, welche für ein Richteramt kandidierenden Personen die nötigen objektiven Kriterien (professionelle und personelle Eignung) aufweisen. Aus dem Topf dieser Personen werden alsdann die Richterinnen und Richter per Losverfahren bestimmt. Damit – so die Initianten – würde verhindert, dass die Parteizugehörigkeit eine Rolle spielt oder dass Parteigebundenheit innerhalb der Expertenkommission auf die Wahl einen Einfluss haben könnte. Wer ausgelost wird, bleibt bis zu seiner Pensionierung im Amt. Damit die Sprachgruppen repräsentiert werden und die Gerichte jeweils über genügend verschiedene muttersprachliche Richterinnen und Richter verfügen, soll zudem eine Sprachquote festgelegt werden.
Die Initianten gaben in Medieninterviews zu Protokoll, dass dem Volk das Vertrauen in die Justiz fehle, weil sich die obersten Richter in einem dichten Beziehungs- und Abhängigkeitsgeflecht befänden. In den Medien wurde vor allem die Idee des Losverfahrens und die Rolle des Initianten Adrian Gasser diskutiert, der selber jahrelang juristische Kämpfe gegen Gewerkschaften und Journalisten ausgefochten habe und die Finanzierung der Unterschriftensammlung im Alleingang übernehme. In den Printmedien kamen auch einzelne Mitglieder der GK zu Wort, die am gleichen Tag Mitte Mai eine Sitzung abhielt, an dem die Initiative offiziell lanciert wurde. Die Initiative sei zu radikal, fand Matthias Aebischer (sp, BE), stosse aber Diskussionen um wunde Punkte im Wahlsystem der Judikative an, was auch Beat Walti (fdp, ZH) als positiv betrachtete. Weil auch die Judikative die verschiedenen Strömungen der Gesellschaft repräsentieren sollte, sei das bestehende Verfahren das am meisten geeignete, äusserte Didier Berberat (sp, NE) seine Bedenken. Als «völligen Blödsinn» bezeichnete hingegen Beat Rieder (cvp, VS) die Idee des Losverfahrens und auch für Christian Lüscher (fdp, GE) war die Initiative mehr Zirkus als Politik.

Justizinitiative (BRG 20.061)
Dossier: Unabhängigkeit der Judikative
Dossier: Justizinitiative