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Jahresrückblick 2022: Bevölkerung und Arbeit

Das zentrale Thema im Politikbereich «Bevölkerung und Arbeit» stellten im Jahr 2022 die Löhne allgemein und das Lohndumping im Speziellen dar.

Allgemein standen die Löhne insbesondere Mitte des Jahres und ab Oktober im Zentrum der Diskussion – wie auch Abbildung 1 der APS-Zeitungsanalyse 2022 verdeutlicht –, als die Gewerkschaften als Reaktion auf die Teuerung immer stärker auf eine Lohnerhöhung pochten. Die Löhne für das Jahr 2023 sollten demnach bis zu 4 Prozent ansteigen, um so die Senkung der Kaufkraft und der Reallöhne aufgrund der steigenden Inflation auszugleichen. Mit Lohnerhöhungen beschäftigte sich im Mai auch der Nationalrat, der eine Motion der SP-Fraktion, die eine Auszahlung von CHF 5'000 als Prämie für alle in der Covid-19-Pandemie als systemrelevant eingestuften Arbeitskräfte verlangte, deutlich ablehnte. Noch einmal Aufschwung erhielt die Diskussion um die Löhne im November 2022, als das BFS in einem Bericht die durchschnittliche Lohndifferenz zwischen Frauen und Männern auf 18 Prozent bezifferte.

Das Thema «Lohndumping» stand insbesondere bei der Änderung des Entsendegesetzes (EntsG) zur Debatte. Dieses zielt darauf ab, die Anwendung der kantonalen Mindestlöhne schweizweit auf entsandte Arbeitnehmende auszudehnen. Zwar hatte der Nationalrat die Gesetzesänderung im März 2022 deutlich angenommen, der Ständerat sprach sich in der Sommersession jedoch gegen Eintreten aus. Damit brachte er die Gesetzesänderung nach zwei Jahren Arbeit zum Scheitern.
Ein Mittel gegen Lohndumping – mittels Anpassung der Bestimmungen zur missbräuchlichen Kündigung im OR – suchte auch der Kanton Tessin durch eine Standesinitiative, welcher der Ständerat in der Frühlingsession jedoch keine Folge gab. Thematisiert wurde das Lohndumping schliesslich auch in einer weiteren Tessiner Standesinitiative, welche die Einführung einer Informationspflicht über Lohndumping-Verfehlungen im Bereich des Normalarbeitsvertrages verlangte und welche das SECO 2022 zur Zufriedenheit der WAK-SR umsetzte.

Doch nicht nur bezüglich Lohndumping diskutierte das Parlament über ausländische Arbeitskräfte, auch die Abhängigkeit des Gesundheits- und Sozialwesen von ausländischem Personal wurde in der Sondersession 2022 thematisiert. Dabei lehnte das Parlament ein Postulat ab, das eine Strategie zur Verringerung dieser Abhängigkeit anstrebte. Mehr Anklang fand hingegen eine Motion, gemäss der die Stellenmeldepflicht wieder auf diejenigen Berufsarten beschränkt werden soll, die eine schweizweite Arbeitslosenquote über 8 Prozent aufweisen – sie wurde der Kommission zur Vorberatung zugewiesen.

Als Nachwirkungen der Covid-19-Pandemie wurde auch im Jahr 2022 über die Flexibilisierung der Arbeitsformen gesprochen. Der Ständerat lehnte eine Motion ab, mit der das Arbeitsrecht bezüglich Homeoffice flexibler hätte gestaltet werden sollen. Zuspruch fand hingegen ein Postulat für eine Untersuchung der Auswirkungen neuer Arbeitsformen auf die [Verkehrs-]Infrastrukturen.

Thematisiert wurde schliesslich auch das öffentliche Beschaffungswesen, wobei der Bundesrat im August einen Bericht zur Sicherstellung der Einhaltung der sozialen Mindestvorschriften im öffentlichen Beschaffungswesen veröffentlichte. Darin beurteilte er das bestehende Kontroll- und Sanktionssystem zur Einhaltung der entsprechenden Vorschriften als angemessen. Eine weitergehende Forderung, wonach die Verordnung über das öffentliche Beschaffungswesen so angepasst werden soll, dass auch Prinzipien aus anderen von der Schweiz nicht ratifizierten Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zu sozialen Mindestnormen eingehalten werden müssen, scheiterte hingegen am Ständerat.

Jahresrückblick 2022: Bevölkerung und Arbeit
Dossier: Jahresrückblick 2022

Jahresrückblick 2022: Soziale Gruppen
von Viktoria Kipfer und Marlène Geber

Die Schweizer Asylpolitik wurde vor allem im Frühjahr 2022 primär durch den Krieg in der Ukraine geprägt, wie auch die Abbildung 1 der APS-Zeitungsanalyse zeigt. So aktivierte die Schweiz im März 2022 erstmals den Schutzstatus S, der es den Geflüchteten aus der Ukraine erlaubt, ohne reguläres Asylverfahren in der Schweiz eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Bis im November 2022 fanden so rund 70'000 Flüchtende aus der Ukraine in der Schweiz Schutz. Das Zusammenleben zwischen Geflüchteten aus der Ukraine und Schweizerinnen und Schweizern nahm zu Beginn des Krieges eine Hauptrolle in der medialen Berichterstattung ein. So zeigten sich viele Schweizerinnen und Schweizer vor allem zu Beginn solidarisch mit den Flüchtenden, von denen in der Folge rund die Hälfte bei Privatpersonen unterkam, wie die SFH berichtete. Gleichzeitig wurde der Schutzstatus S aber auch als «faktische Ungleichbehandlung» der Ukrainerinnen und Ukrainer gegenüber allen anderen Asylsuchenden kritisiert. Folglich wurden im Parlament zahlreiche Vorstösse zum neuen Schutzstatus eingereicht, welche diesen unter anderem einschränken oder anpassen wollten – jedoch erfolglos. Insgesamt führte die Zeitungsberichterstattung zur Asylpolitik im Zuge des Ukraine-Kriegs zu einem deutlichen Anstieg des medialen Interesses des Jahres 2022 zum Thema «Soziale Gruppen» gegenüber dem Vorjahr (vgl. Abbildung 2 der APS-Zeitungsanalyse).

Diskutiert wurden auch allgemeine Neuregelungen bei den Asylsuchenden, etwa zur Schaffung der Möglichkeit, dass Asylsuchende nach einem negativen Aufenthaltsentscheid ihre Lehre in der Schweiz beenden dürften. Dieser Vorschlag scheiterte jedoch im Ständerat. Hingegen sprach sich der Nationalrat für zwei Motionen für eine Erleichterung des Zugangs zu einer beruflichen Ausbildung für abgewiesene Asylsuchende und Sans-Papier sowie für die Ermöglichung der Erwerbstätigkeit auch im Falle eines negativen Asylentscheids aus. Unverändert bestehen blieben die zwangsweisen Covid-19-Tests von Abgewiesenen bei der Rückstellung in ihr Herkunftsland, welche das Parlament bis ins Jahr 2024 verlängerte. Finanzielle Unterstützung wollte der Bundesrat schliesslich Kantonen mit Ausreisezentren an der Landesgrenze in Ausnahmesituationen gewähren, National- und Ständerat nahmen jedoch gewichtige Änderungen an der entsprechenden Revision des AIG vor.

Im Jahre 2022 unternahmen Bundesrat und Parlament einige Anstrengungen bei der Bekämpfung von häuslicher Gewalt und Gewalt an Frauen. Einerseits inspirierte ein Bericht zu Ursachen von Homiziden im häuslichen Umfeld eine Vielzahl verschiedener Vorstösse, andererseits diente auch die Ratifikation der Istanbul-Konvention als Ansporn zur Lancierung parlamentarischer Vorlagen gegen häusliche und geschlechterbezogene Gewalt. Als Erbe der letztjährigen Frauensession wurde zudem ein erster Vorstoss, der nationale Präventionskampagnen gegen Gewalt fordert, überwiesen. Während sich bei diesem Thema eine Allianz von Frauen verschiedenster Parteien beobachten liess, fand ein Vorstoss aus dem rechten Lager, mit dem Gewalt an Frauen künftig mit einer Freiheitsstrafe geahndet werden müsste, im Parlament keine Mehrheit. Des Weiteren rückte auch die Mehrdimensionalität der Gewalt an Frauen im Rahmen intersektionaler Vorstösse in den Fokus. Einerseits erhielt die Forderung nach verbessertem Schutz ausländischer Opfer vor häuslicher Gewalt mehr Aufmerksamkeit, andererseits wurde die Schutzbedürftigkeit von Menschen mit Behinderung bei häuslicher Gewalt hervorgehoben. Zwei weitere, im Frühjahr 2022 lancierte Vorlagen mit dem Titel «Wer schlägt, geht!» beschäftigten sich mit dem Wohnverhältnis nach Vorfällen der häuslichen Gewalt, während sich der Nationalrat in der Sommersession für eine nationale Statistik über Kinder, die Zeuginnen und Zeugen von häuslicher Gewalt sind, aussprach. Zuletzt forderten Vertreterinnen unterschiedlicher Parteien in sechs parlamentarischen Initiativen, Aufrufe zu Hass und Gewalt aufgrund des Geschlechts der Antirassismus-Strafnorm zu unterstellen, was von der erstberatenden RK-NR befürwortet wurde.

Die Idee eines «pacte civil de solidarité» (Pacs) treibt die Schweiz bereits seit mehreren Jahren um, was im Frühjahr 2022 in einem Bericht des Bundesrats über die «Ehe light» mündete. Auf Grundlage des Berichts wurde bereits ein parlamentarischer Vorstoss zur Schaffung entsprechender Rechtsgrundlagen im Ständerat eingereicht. Auch die Regulierung von Schwangerschaftsabbrüchen fand im Jahr 2022 Platz auf der politischen Agenda. Denn Ende 2021 hatten Vertreterinnen und Vertreter der SVP zwei Volksinitiativen lanciert, welche die Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen reduzieren wollten: einerseits die Initiative «Für einen Tag Bedenkzeit vor jeder Abtreibung (Einmal-darüber-schlafen-Initiative)» und andererseits die Initiative «Für den Schutz von ausserhalb des Mutterleibes lebensfähigen Babys (Lebensfähige-Babys-retten-Initiative)». 2022 führten diese Anliegen auch innerhalb der SVP zu Diskussionen; insbesondere jüngere Vertreterinnen der Volkspartei äusserten sich dezidiert dagegen. Dieser Konflikt mündete unter anderem in der Ablehnung hauseigener Vorstösse durch eine Minderheit der SVP-Fraktion in der Sondersession 2022. Umgekehrt hatten es auch Vorstösse, die auf einen flächendeckenden und hürdenfreien Zugang zu Abtreibung abzielten, 2022 nicht leicht im Parlament.

Betreffend die Familienplanung sprachen sich beide Räte für eine Legalisierung der Eizellenspende für Ehepaare aus. Unter anderem weil die parlamentarische Initiative zur Überführung der Anstossfinanzierung für die familienexterne Kinderbetreuung in eine zeitgemässe Lösung den Sprung ins Sessionsprogramm 2022 verpasst hatte, stimmten National- und Ständerat einer Verlängerung der Bundesbeiträge an die familienexterne Kinderbetreuung bis Ende 2024 zu. Um jedoch die Kosten für die familienergänzende Kinderbetreuung zu senken und die Anzahl Kitaplätze zu erhöhen, wurde im Frühjahr 2022 eine Volksinitiative «Für eine gute und bezahlbare familienergänzende Kinderbetreuung für alle (Kita-Initiative)» lanciert. Auch die Annahme der «Ehe für alle» im September 2021 blieb nicht folgenlos im Parlament: Da gleichgeschlechtliche Paare nach der Heirat bei der Familienplanung weiterhin eingeschränkt seien, setzten sich zwei Motionen mit der rechtlichen Anerkennung der Elternschaft gleichgeschlechtlicher Paare auseinander, um deren Gleichberechtigung auch über die «Ehe für alle» hinaus voranzutreiben.

Darüber hinaus wurde 2022 eine Reihe von Forderungen aus der zweitägigen Frauensession 2021 vom Parlament aufgegriffen. Zwei Motionen zum Einbezug der Geschlechterperspektive in der Medizin stiessen in der Herbstsession 2022 in der grossen Kammer auf Akzeptanz. In Anbetracht des bevorstehenden digitalen Wandels fokussierten andere, auf die Frauensession zurückgehende erfolgreiche parlamentarische Vorstösse auf den Einbezug von Frauen in die Digitalisierungsstrategie des Bundes. In Anbetracht der in der Frauensession eingereichten Petitionen reichten die betroffenen Kommissionen auch mehrere Postulate ein, welche unter anderem Berichte zur Strategie zur Integration von Frauen in MINT-Berufen, zur Evaluation der schulischen Sexualaufklärung und zur Aufwertung der Care-Arbeit forderten – sie wurden allesamt angenommen.

In der LGBTQIA-Politik nahm besonders die Diskussion über die Existenz und das Verbot von Konversionstherapien viel Platz ein. Nach der Annahme der «Ehe für alle» waren 2021 drei parlamentarische Initiativen zum Verbot von Konversionstherapien eingereicht, später aber wegen einer lancierten Kommissionsmotion zurückgezogen worden. Angenommen wurde hingegen ein Postulat, das die Datengrundlage zum Vorkommen von Konversionsmassnahmen in der Schweiz verbessern möchte.

Auch die Gleichstellung gehörloser und hörbehinderter Menschen sollte gemäss Parlament vorangetrieben werden, weshalb National- und Ständerat eine Motion zur Schaffung eines Gesetzes zur Anerkennung der Gebärdensprachen annahmen.

Jahresrückblick 2022: Soziale Gruppen
Dossier: Jahresrückblick 2022

Von einer «Krise der Lebenskosten» sprach die Aargauer Zeitung Mitte September 2022 im Zusammenhang mit dem starken Kostenanstieg vieler Güter und Dienstleistungen in Europa. Die Energiekosten, welche aufgrund des Ukraine-Kriegs angestiegen waren, galten dabei als Haupttreiber für die steigenden Preise. Während in anderen Ländern Europas die Inflation im Jahr 2022 gegenüber dem Vorjahresmonat auf über 10 Prozent anstieg, kletterte die Inflation in der Schweiz im August 2022 auf vergleichsweise tiefe 3.5 Prozent. Im September und Oktober konnte die Schweiz sogar einen Rückgang der Inflation auf 3.3 und 3 Prozent verbuchen – dies, nachdem der LIK während rund zwei Jahren stetig angestiegen war. Gemäss der Westschweizer Zeitung «La Liberté» konnte dieser Rückgang der Inflation vor allem auf die leicht gesunkenen inländischen Preise von Erdölprodukten zurückgeführt werden.
Die Schweiz war von den Preiserhöhungen allgemein weniger stark betroffen als ihre Nachbarländer, da die Preise vor allem bei Importgütern anstiegen und der sich stetig aufwertende Franken diese Differenzen teilweise kompensieren konnte, wie die Medien berichteten. Für den Import von Gütern aus dem EU-Raum mussten zwar mehr Euro bezahlt werden, da der Schweizer Franken aber an Wert gewann, wurde der Kauf von Euro mit Schweizer Franken gleichzeitig günstiger.
Dennoch stand das Thema der Preiserhöhungen im Fokus der medialen Debatte. Allgemein teurer wurden die fossilen Energieträger sowie die Elektrizität, was insbesondere auch Unternehmen zu spüren bekamen. Von den Konsumgütern besonders betroffen waren beispielsweise Kaffee – «Inflationsschock an der Kaffeemaschine» titelte etwa die Aargauer Zeitung –, Bier, Fleisch, Tiefkühlwaren, Milchprodukte, Speiseöle, Zahnpflegeprodukte, Kleidung sowie auch Papier, wie der Tages-Anzeiger im November berichtete. Für Speiseöle mussten Konsumentinnen und Konsumenten im Schnitt beinahe 20 Prozent mehr bezahlen als noch im Vorjahr. Wie der «Blick» im September vorrechnete, seien die Preise für Güter des täglichen Bedarfs um 5.9 Prozent, jene für Kleider und Schuhe um 3.7 Prozent, diejenigen für Strom bei Privathaushalten um 27 Prozent und jene für Heizöl oder Gas bei Privathaushalten um 86 bzw. 58 Prozent angestiegen – die Stärke der Teuerung unterschied sich aber nach Regionen. Aufs Portemonnaie der Haushalte schlugen schliesslich auch die im Herbst angekündigten Erhöhungen der Krankenkassenprämien, welche nicht direkt in die Berechnung des LIK einfliessen: Die mittlere Prämie wird gemäss einer Mitteilung des Bundesrates von Ende September im Jahr 2023 um durchschnittlich 6.6 Prozent ansteigen.

Gleichzeitig wurde in den Lohnverhandlungen klar, dass die Löhne weniger stark ansteigen würden als die Inflationsrate. Während einige vor einer Lohn-Preis-Spirale warnten, argumentierten andere, dass ein realer Kaufkraftverlust nicht hinzunehmen sei und die Teuerung in den Löhnen ausgeglichen werden müsse. Im Parlament wurde in der Folge in einer ausserordentlichen Session darüber debattiert, ob die öffentliche Hand den Bürgerinnen und Bürgern finanziell unter die Arme greifen müsse, um die gestiegenen Lebenskosten stemmen zu können. Die SP und die Mitte forderten einerseits, die Teuerung bei den Renten auszugleichen. Andererseits wollten sie die Bevölkerung auch bei den Krankenkassenprämien entlasten. Die SP verlangte weiter einen «chèque fédéral», welcher der Bevölkerung übergeben werden soll, falls die Teuerung gegenüber dem Vorjahr die Marke von über 5 Prozent übersteigt. Zudem präsentierte die Partei die Idee, die Nebenkosten für Heizöl und Gas für Mieterinnen und Mieter zu deckeln. Die SVP verlangte, die Preise für Benzin zu senken, um Autofahrerinnen und Autofahrer zu entlasten. Weiter forderte die Volkspartei, die Krankenkassenprämien vollumfänglich bei der direkten Bundessteuer abziehen zu können und den Eigenmietwert für Rentnerinnen und Rentner aufzuheben. Die Grünen stellten indes die Idee vor, für Menschen mit geringem Einkommen Gutscheine für den öffentlichen Verkehr auszustellen. Abwarten wollten hingegen die GLP sowie die FDP, da sie die Teuerung derzeit für zu wenig hoch hielten, als dass sie solche Eingriffe rechtfertigen würde.

Um der Inflation entgegenzuwirken, hob die Nationalbank den Leitzins im Juni und im September um insgesamt 1.25 Prozentpunkte an. Während der Leitzins zu Jahresbeginn noch bei -0.75 Prozent gelegen hatte, erhöhte ihn die SNB im Juni auf -0.25 Prozent, im September auf +0.5 Prozent und im Dezember auf +1 Prozent. Das jahrelange «Zeitalter der Negativzinsen» war damit beendet, wie SRF titelte.

Gesellschaftliche Debatte um die Inflationsproblematik & Lebenshaltungskosten im Jahr 2022

Im Dezember 2022 präsentierte der Bundesrat seinen Bericht in Erfüllung eines Postulats der WAK-NR, welches der Nationalrat 2015 angenommen hatte. Wie die Kommission gefordert hatte, berichtete der Bundesrat über die Verteilung des Wohlstandes in der Schweiz, insbesondere auch über Einnahmen und Entwicklung des reichsten Prozents der Schweizerinnen und Schweizer. Demnach betrug das durchschnittliche Bruttoeinkommen der Privathaushalte 2019 CHF 9'582 pro Monat, 31 Prozent davon (CHF 2'973) wendeten die Haushalte für obligatorische Ausgaben (z.B. Steuern, Sozialausgaben und Krankenkassenprämien) auf, CHF 4'985 standen für den Konsum von Gütern oder Dienstleistungen zur Verfügung. Zwischen 1998 und 2014 sei das mediane verfügbare Äquivalenzeinkommen um 15 Prozent angestiegen, zwischen 2015 und 2019 habe es jedoch stagniert. Kaum verändert habe sich die Verteilung der Einkommen, was gemäss Bericht auch auf die umverteilende Wirkung staatlicher oder staatlich geregelter Transfers zurückzuführen sei. Zwischen den Regionen gebe es ungleiche Einkommensverteilung, wobei insbesondere in den alpinen und voralpinen Regionen sowie im Jura und in einigen Tourismusregionen die niedrigsten Einkommen zu beobachten seien. Auch innerhalb der Kantone gebe es ungleiche Verteilungen der Einkommen, insbesondere in den Kantonen Schwyz, Genf und Zug.
Der Bericht wies überdies – wie vom Postulat gefordert – für das Jahr 2018 den Anteil an Personen aus, deren Reineinkommen über dem doppelten Medianeinkommen lag: Sie machten 16.2 Prozent der Steuerpflichtigen aus, verfügten über 44.9 Prozent der Gesamteinkommen der Schweiz und zeigten sich für 83.5 Prozent der Eingänge der Bundessteuer verantwortlich.

Stillschweigend schrieb der Nationalrat die Motion in der Folge auf Antrag des Bundesrates ab.

Ergänzung des Wohlstandsberichtes (Po. 15.3381)

In der Wintersession 2022 stimmte der Nationalrat mit 132 zu 49 Stimmen (bei 1 Enthaltung) der Motion Carobbio Guscetti (sp, TI) zur «Durchsetzung der Massnahmen der Istanbul-Konvention auch für Menschen mit Behinderungen» zu. Damit ist der Bundesrat beauftragt, in Kooperation mit Vereinigungen für Menschen mit Behinderungen Programme und Informationskampagnen zu entwickeln, um Personen mit Behinderungen vor häuslicher und geschlechtsbezogener Gewalt zu schützen. Eine Minderheit Haab (svp, ZH) forderte, ebenso wie der Bundesrat, die Ablehnung der Motion «im Sinne der Effizienz», da bereits mehrere Vorstösse zu diesem Thema hängig seien (Mo. 21.4418; Mo. 22.3011). In der grossen Kammer stellte sich jedoch lediglich die geschlossen stimmende SVP-Fraktion gegen den Vorstoss. Somit war es nun am Bundesrat, entsprechende Regelungen auszuarbeiten.

Die Massnahmen der Istanbul-Konvention sollen auch für Menschen mit Behinderungen gelten (Mo. 22.3233)
Dossier: Gewalt gegen Frauen* / häusliche Gewalt (ab Ratifikation Istanbul-Konvention)

Der Ständerat bestätigte in der Wintersession 2022 den Entscheid des Erstrats und stimmte mit 27 zu 8 Stimmen dafür, das Recht auf gewaltfreie Erziehung im Zivilgesetzbuch zu verankern. Er folgte damit dem Antrag seiner RK-SR. Diese hatte sich zuvor mit 8 zu 3 Stimmen (bei 3 Enthaltungen) für die Motion ausgesprochen, da ihrer Ansicht nach Kinder im geltenden Recht nicht ausreichend vor Gewalt in der Erziehung geschützt seien. In der Schweiz komme fast jedes zweite Kind mit physischer und psychischer Gewalt in der Erziehung in Kontakt, was mithilfe einer Anpassung des ZGB deutlich reduziert werden könne. Dieser Effekt könne bereits in anderen europäische Staaten, welche Kinder durch entsprechende Gesetze vor Gewalt schützen würden, beobachtet werden. Trotzdem äusserten einige Ständeratsmitglieder Bedenken, wie denn die Überprüfung des Gewaltverbots zu erfolgen habe und welche Sanktionen als Gewaltausübung zu kategorisieren seien. Mit der Annahme durch den Zweitrat liegt es nun am Bundesrat, einen entsprechenden Gesetzesentwurf auszuarbeiten.

Verankerung des Rechts auf gewaltfreie Erziehung im ZGB (Mo. 19.4632)

In der Wintersession 2022 überwies der Ständerat mit 23 zu 19 Stimmen eine Motion der Nationalrätin Christine Bulliard-Marbach (mitte, FR) zur Schaffung einer nationalen Statistik über Kinder, die Zeuginnen und Zeugen von häuslicher Gewalt sind. Eine Minderheit Stark (svp, TG) der WBK-SR pflichtete dem ablehnenden Antrag des Bundesrats bei und betonte, dass bereits existierende Statistiken ausreichen würden, um die Erfahrungen von Kindern als Zeugen und Zeuginnen häuslicher Gewalt abzubilden. Sie zweifelte infolgedessen an der Verhältnismässigkeit des Vorstosses. Bereits bestehende Statistiken, so unter anderem die polizeiliche Kriminalstatistik, erfassten jedoch nur zur Strafanzeige gebrachte Fälle der häuslichen Gewalt, wodurch keine umfassende Datengrundlage existiere, argumentierten dagegen die Unterstützerinnen und Unterstützer der Motion.

Statistik über Kinder, die Zeuginnen und Zeugen von häuslicher Gewalt sind (Mo. 20.3772)

Nachdem das Parlament bereits die Motion Maret (mitte, VS; Mo. 21.4418) mit der Forderung nach Präventionskampagnen gegen Gewalt überwiesen hatte, war die Annahme von drei Motionen aus dem Nationalrat mit derselben Forderung für den Ständerat in der Wintersession 2022 nur noch Formsache (Mo. 21.4470; Mo. 21.4471; Mo. 22.3011).

Nationalrätinnen fordern Präventionskampagnen gegen Gewalt (Mo. 21.4418, Mo. 21.4470, Mo. 21.4471)
Dossier: Behandlung der Petitionen der Frauensession 2021 in parlamentarischen Vorstössen
Dossier: Gewalt gegen Frauen* / häusliche Gewalt (ab Ratifikation Istanbul-Konvention)

Nachdem das Parlament bereits die Motion Maret (mitte, VS; Mo. 21.4418) mit der Forderung nach Präventionskampagnen gegen Gewalt überwiesen hatte, war die Annahme einer Motion der WBK-NR (Mo. 22.3011) mit derselben Forderung sowie zwei weiterer Motionen aus dem Nationalrat (Mo. 21.4470; Mo. 21.4471) für den Ständerat in der Wintersession 2022 nur noch Formsache.

Kommissionsmotion fordert schweizweite Präventionskampagnen gegen Gewalt (Mo. 22.3011)
Dossier: Gewalt gegen Frauen* / häusliche Gewalt (ab Ratifikation Istanbul-Konvention)

Im November 2022 publizierte das BFS neue Daten zur Lohndifferenz zwischen Mann und Frau, was in den Medien für einige Aufmerksamkeit sorgte. Demnach lag der Durchschnittslohn der Frauen im Jahr 2020 noch immer 18 Prozent tiefer als derjenige der Männer. Im Vergleich zur vorangehenden Untersuchung zwei Jahre zuvor war die Differenz um 1 Prozentpunkt gesunken. Weibliche Arbeitnehmerinnen waren bei Arbeitsstellen mit Vollzeitstellen-Löhnen unter CHF 4'000 pro Monat in der Überzahl – sie machten hier 60.1 Prozent der Arbeitnehmenden aus –, während Männer bei Stellen mit Vollzeit-Löhnen über CHF 16'000 pro Monat mit 78.5 Prozent übervertreten waren.
Durch persönliche Merkmale wie Alter oder Ausbildung, Merkmale der Unternehmen und mit dem Tätigkeitsbereich könnten 52.2 Prozent dieser Lohndifferenz zwischen den Geschlechtern statistisch erklärt werden, gab das BFS an. Somit verblieben jedoch 47.8 Prozent des Lohnunterschieds (2018: 45.4%), für welche die statistischen Modelle keine Erklärung liefern – was etwa CHF 717 pro Monat entspreche. In einzelnen Branchen lag dieser unerklärte Teil deutlich höher, etwa beim Verkehr (84.4%), im Detailhandel (57.5%) oder im Gastgewerbe (57.4%), in anderen deutlich niedriger, etwa im Technik-Bereich (29.7%), im Gesundheitswesen (34.9%) oder in der Finanz- und Versicherungsbranche (34.2%) – wie etwa der Tages-Anzeiger aufschlüsselte. Gerade in letzterer Branche fallen die Unterschiede finanziell speziell stark ins Gewicht: Hier entspricht der unerklärte Teil der Differenz einem Lohnunterschied von CHF 1472 pro Monat, im Gastgewerbe zum Beispiel einem von CHF 255. Insgesamt lag der unerklärte Teil der Lohndifferenz überdies in der Privatwirtschaft höher – insbesondere bei Unternehmen mit weniger als 20 Arbeitnehmenden – als im öffentlichen Sektor.

In der Folge diskutierten die Medien die Bedeutung dieser Meldung. Mehrfach wiesen sie darauf hin, dass neben den über die ganze Schweiz aggregierten Daten des BFS auch Analysen auf Betriebsebene vorhanden seien – diese sind für Betriebe mit mehr als 100 Arbeitnehmenden gesetzlich obligatorisch und ergäben demnach oft geringere Lohndifferenzen. Demnach habe etwa die Zuger Beratungsfirma Landolt & Mächler basierend auf 300 Analysen einen unerklärten Lohnunterschied von 3.2 Prozent, die Aarauer Beratungsfirma Comp-on eine Lohndifferenz von 3.7 Prozent festgestellt.

Lohndifferenz zwischen Mann und Frau
Dossier: Lohnentwicklung

Aufgrund der steigenden Inflation und der damit verbundenen Senkung der Kaufkraft, getrieben unter anderem von hohen Energiepreisen und dem Anstieg der Krankenkassenprämien, forderten verschiedene Gewerkschaften im Juni 2022 eine generelle Lohnerhöhung. Konkret forderten der Kaufmännische Verband Schweiz, Angestellte Schweiz und die Unia einen Lohnanstieg für das Jahr 2023 von bis zu 4 Prozent, der Schweizerische Gewerkschaftsbund gar zwischen 4 und 5 Prozent. Gegenüber den Medien begründeten sie ihre Forderungen durch die gute Ausgangslage der Arbeitnehmenden aufgrund des herrschenden Fachkräftemangels.
Neben diesen allgemeinen Forderungen verlangten auch die Bauarbeitenden höhere Löhne sowie bessere Arbeitsbedingungen, zumal Ende 2022 der Landesmantelvertrag (LMV) für den Bau auslief und somit neu verhandelt werden musste. Dazu trafen sich Ende Juni 2022 Bauarbeitende aus der ganzen Schweiz in Zürich zu einer Demonstration.

Erneut laut wurden die Forderungen nach einer allgemeinen Lohnerhöhung im September 2022 im Zusammenhang mit der «Krise der Lebenskosten», die auch im Parlament einige Aufmerksamkeit erhielt. Gegenüber den Medien betonte etwa SGB-Präsident und Nationalrat Pierre-Yves Maillard (sp, VD), dass die Lohnforderungen der Gewerkschaften in Anbetracht dessen, was man von den Bürgerinnen und Bürgern mit den Elektrizitätssparmassnahmen verlange, «bescheiden» sei. Der Bundesrat hatte zuvor die Unternehmen und die Bevölkerung zum Energiesparen aufgefordert. Arbeitgeberpräsident Valentin Vogt erachtete eine allgemeine Lohnerhöhung hingegen als «unrealistisch». Dennoch konnte er sich einen Lohnanstieg in denjenigen Branchen vorstellen, in denen ein grosser Fachkräftemangel herrschte, etwa in der Gastronomie oder in der Informatik. Die NZZ rechnete gar mit Reallohneinbussen in den meisten Branchen, wie es auch in anderen Jahren mit Inflation zu beobachten gewesen sei. Jedoch sei der Lohnanstieg mittel- bis langfristig grösser als der Preisanstieg. Michael Siegenthaler, Experte der Konjunkturforschungsstelle der ETHZ, erachtete jedoch eine Lohnerhöhung für die Unternehmen als zumutbar, zumal viele Unternehmen in der ersten Hälfte 2022 ihre Gewinne und Umsätze hätten steigern können.

Im November 2022 präzisierten verschiedene Gewerkschaften ihre Forderungen und verlangten unter anderem einen monatlichen Lohn von mindestens CHF 4'500 bis CHF 5'000. Maillard, interviewt in La Liberté, präzisierte, dass die Absicht nicht war, schweizweit Mindestlöhne einzuführen, sondern die Forderung in den GAV zu verankern. Diese Forderung führte zu einer Diskussion in der Presse zum Thema Lohnschutz und Mindestlohn. So kritisierte etwa Avenir Suisse im Tages-Anzeiger den Lohnschutz, zumal dieser dem Arbeitsmarkt schade, indem er mehr administrative Hürden schaffe und so die Arbeitsmarktpartizipation senke.

Forderungen nach Lohnerhöhungen

Im November 2022 berieten die FK-NR und die FK-SR den Bericht zur Entkoppelung der Lohnentwicklung von der Leistungsbeurteilung in der Bundesverwaltung, welchen der Bundesrat in Erfüllung eines von der nationalrätlichen Kommission eingereichten Postulats erstellt hatte. Die FK-NR erachtete das Postulat in der Folge als erfüllt und empfahl ihrem Rat, dieses abzuschreiben.
Diesem Antrag folgte der Nationalrat in der Sommersession 2023 im Rahmen seiner Beratungen zum Bericht des Bundesrates über Motionen und Postulate der gesetzgebenden Räte im Jahre 2022 und schrieb das Postulat als erfüllt ab.

Dissocier l'évolution salariale de l'évaluation des prestations (Po. 19.3974)

Mehr als zwei Jahren nach dessen Einreichung stimmte der Nationalrat in der Herbstsession 2022 über ein Postulat Streiff-Feller (evp, BE) zur Anerkennung der Systemrelevanz sozialer Einrichtungen in Pandemien ab. Der geforderte Bericht sollte besonders die Rolle sozialer Einrichtungen in der Covid-19-Pandemie näher beleuchten und aufzeigen, welche Auswirkungen die Einschränkungen während der Pandemie im Bereich des Kinderschutzes und bei der Betreuung von Menschen mit Behinderung hatte. Die Postulantin begründete ihre Forderung damit, dass besonders Alters- und Pflegeheime in der Pandemie im Fokus geständen hätten, während die Forderungen der Bewohnerinnen und Bewohner anderer sozialer Einrichtungen von den Behörden vernachlässigt worden seien. So gelte es aufzuzeigen, inwiefern in Zukunft in ähnlichen Situationen insbesondere den Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen sowie von Menschen mit Behinderung in sozialen Einrichtungen Rechnung getragen werden könne.
Während der Bundesrat die spezifischen Herausforderungen und Belastungen während der Covid-19-Pandemie für die Bewohnerinnen und Bewohner und für das Personal sozialer Einrichtungen anerkannte, verwies er darauf, dass die Aufarbeitung der Massnahmen in sozialen Institutionen durch die Erfüllung zweier Postulate (Po. 20.3721; Po. 20.3724) bereits in vollem Gange sei. Des Weiteren habe das BAG im Juli 2021 eine Analyse der Situation der Bewohnenden sozialer Institutionen veröffentlicht. So brauche es aus Sicht des Bundesrats keinen weiteren Bericht, da aufgeworfene Fragen der Postulantin im Rahmen dieser Abklärungen adressiert werden könnten. Im Nationalrat unterstützten die geschlossen stimmenden Fraktionen der SP, Grünen und Mitte den Vorstoss, welcher jedoch knapp mit 94 zu 93 Stimmen abgelehnt wurde.

Systemrelevanz sozialer Einrichtungen bei Pandemien anerkennen (Po. 20.4016)

Ständerätin Carobbio Guscetti (sp, TI; Mo. 22.3234) sowie die Nationalrätinnen Funiciello (sp, BE; Mo. 22.3333) und de Quattro (fdp, VD; 22.3334) lancierten drei wortgleiche Motionen zur Schaffung von Krisenzentren für Opfer sexualisierter und geschlechterbezogener Gewalt. Alle drei Vorstösse verfolgten das Ziel, mithilfe einheitlicher Regelungen und Standards kantonale oder regionale Krisenzentren zu schaffen, in denen Opfer psychisch und physisch betreut werden können. Ebenfalls sollten diese Krisenzentren zur Dokumentation und Spurensicherung von Gewalttaten ohne direkten Beizug der Polizei dienen, um das Wohlbefinden der Opfer zu schützen und eine vollständige Beweislage für eine allfällige Strafverfolgung zu gewährleisten. Auch der Bundesrat sprach sich für eine entsprechende Förderung von Krisenzentren, insbesondere in Erfüllung der Istanbul-Konvention, aus. Der Ständerat kam dem Antrag des Bundesrats in der Herbstsession 2022 nach und nahm den Vorstoss von Ständerätin Carobbio Guscetti stillschweigend an.
Auch die grosse Kammer beugte sich in der Herbstsession über die Motionen der beiden Nationalrätinnen, nachdem diese in der vorherigen Sommersession von Therese Schläpfer (svp, ZH) bekämpft worden waren. Während die Motionärinnen insbesondere die ungleiche Verteilung von Krisenzentren innerhalb der Schweiz anprangerten, zweifelte Schläpfer die Notwendigkeit der vorgeschlagenen Massnahmen an. Der Nationalrat kam in der Herbstsession 2022 dem Antrag des Bundesrats nach und nahm sowohl die Motion Funiciello mit 130 zu 42 Stimmen (bei 2 Enthaltungen) als auch die Motion de Quattro mit 133 zu 44 Stimmen (bei 1 Enthaltung) an, wobei lediglich die SVP-Fraktion geschlossen gegen beide Vorstösse stimmte.

Krisenzentren für Gewaltopfer - Vorstösse im National- und Ständerat (Mo. 22.3333, Mo. 22.3334 und Mo. 22.3234)
Dossier: Gewalt gegen Frauen* / häusliche Gewalt (ab Ratifikation Istanbul-Konvention)

Die Motion Maret (mitte, VS), die den Bund dazu aufforderte, regelmässige nationale Präventionskampagnen gegen Gewalt zu organisieren, wurde in der Sommersession 2022 auch vom Nationalrat angenommen. Der Kommissionsminderheit folgend plädierte beinahe die gesamte Fraktion der SVP sowie vereinzelte Vertretende der FDP.Liberalen-Fraktion erfolglos für Ablehnung. Die Forderung der Walliser Mitte-Ständerätin war damit die erste in einer Reihe von fast identisch lautenden Anliegen, die zur Umsetzung an den Bundesrat überwiesen wurde. Zum Zeitpunkt der Überweisung war neben den Motionen der beiden Nationalrätinnen De Quattro (fdp, VD; Mo. 21.4470) und Funiciello (sp, BE; Mo. 21.4471) auch noch eine Motion der Mehrheit der WBK-NR (Mo. 22.3011) hängig.

Nationalrätinnen fordern Präventionskampagnen gegen Gewalt (Mo. 21.4418, Mo. 21.4470, Mo. 21.4471)
Dossier: Behandlung der Petitionen der Frauensession 2021 in parlamentarischen Vorstössen
Dossier: Gewalt gegen Frauen* / häusliche Gewalt (ab Ratifikation Istanbul-Konvention)

«Die Massnahmen der Istanbul-Konvention sollen auch für Menschen mit Behinderungen gelten», verlangte Marina Carobbio Guscetti (sp, TI) im Frühjahr 2022 durch Einreichen einer entsprechenden Motion. Dabei soll der Bund Sensibilisierungskampagnen zu häuslicher und sexueller Gewalt an Menschen mit Behinderungen, insbesondere an Frauen und Personen anderer Geschlechtsidentität, durchführen sowie entsprechende Massnahmen treffen, um diese Personen besser vor Gewalt zu schützen. Der Bundesrat teilte zwar die Ansicht, dass Menschen mit Behinderungen bei diesen Fragen besonders berücksichtigt werden sollen. Aufgrund weiterer hängiger Vorstösse – dabei nannte er den in Erfüllung eines Postulats Roth (sp, SO; Po. 20.3886) zu erstellenden Bericht zur Gewalt an Menschen mit Behinderungen sowie zwei Motionen, die den Bund dazu auffordern, Präventionskampagnen gegen Gewalt zu organisieren und die der Erstrat zum damaligen Zeitpunkt bereits befürwortet hatte (Mo. 21.4418; Mo. 22.3011) – erachtete er es jedoch nicht als nötig, die Motion Carobbio Guscetti anzunehmen. Anders urteilte der Ständerat, der der Motion in der Sommersession 2022 als Erstrat mit 21 zu 15 Stimmen zustimmte.

Die Massnahmen der Istanbul-Konvention sollen auch für Menschen mit Behinderungen gelten (Mo. 22.3233)
Dossier: Gewalt gegen Frauen* / häusliche Gewalt (ab Ratifikation Istanbul-Konvention)

Stillschweigend schrieb der Nationalrat in der Sommersession 2022 das Postulat Arslan (basta, BS) für eine Prüfung von wirksameren Massnahmen zum Opferschutz in Hochrisikofällen bei häuslicher Gewalt ab. Er folgte damit der Empfehlung des Bundesrates im Rahmen dessen Berichts über Motionen und Postulate der eidgenössischen Räte im Jahr 2021. Die Regierung hatte das Postulat mit dem Bericht «Prüfung wirksamerer Massnahmen zum Opferschutz in Hochrisikofällen bei häuslicher Gewalt» als erfüllt erachtet.

Prüfung wirksamerer Massnahmen zum Opferschutz in Hochrisikofällen bei häuslicher Gewalt (Po. 19.4369)
Dossier: Gewalt gegen Frauen* / häusliche Gewalt (ab Ratifikation Istanbul-Konvention)

Christine Bulliard-Marbach (mitte, FR) verlangte mit einer Motion eine nationale Statistik über Kinder, die Zeuginnen und Zeugen von häuslicher Gewalt sind. Sie berief sich dabei auf die Ratifikation der Istanbul-Konvention, durch die sich die Schweiz noch stärker verpflichtet habe, Kinder vor häuslicher Gewalt zu schützen. Wenn Kinder Zeugen häuslicher Gewalt werden, sei dies eine Form von psychischer Gewalt, die schwerwiegende Folgen haben könne. Nur eine einheitliche und systematische Statistik könne das Ausmass dieser Betroffenheit darlegen und eine Grundlage bieten, um Kinder besser zu schützen, so die Motionärin. Der Bundesrat stellte sich ablehnend zur Motion. Er vertrat den Standpunkt, dass bestehende Statistiken – namentlich die polizeiliche Kriminalstatistik sowie die Statistiken des BFS zur häuslichen Gewalt und zur Opferhilfe – bereits aussagekräftige Schlüsse zuliessen. Anders sah dies der Nationalrat, der die Motion in der Sommersession 2022 mit 111 zu 75 Stimmen bei drei Enthaltungen befürwortete. Die ablehnenden Stimmen fanden sich dabei in den Reihen der FDP und der SVP.

Statistik über Kinder, die Zeuginnen und Zeugen von häuslicher Gewalt sind (Mo. 20.3772)

«Wer schlägt, geht!», forderten zwei im Nationalrat von Jacqueline de Quattro (fdp, VD; Pa.Iv. 21.410) und Léonore Porchet (gp, VD; Pa.Iv. 21.411) eingereichte parlamentarische Initiativen, wobei der Titel die Forderung der Initiativen bereits ziemlich genau umschrieb: Das Zivilgesetzbuch soll dahingehend geändert werden, dass nach einer Tat von häuslicher Gewalt nicht das Opfer, sondern die verletzende Person die gemeinsame Wohnung verlassen muss. Die RK-NR gab der Forderung im Mai 2022 mit 18 zu 6 Stimmen Folge.

«Wer schlägt, geht!» (Pa.Iv. 21.410; Pa.Iv. 21.411)
Dossier: Gewalt gegen Frauen* / häusliche Gewalt (ab Ratifikation Istanbul-Konvention)

Mit identischen Motionen forderten drei Parlamentarierinnen aus drei verschiedenen Parteien nationale Präventionskampagnen gegen Gewalt (Marianne Maret, mitte, VS, Mo. 21.4418; Jacqueline de Quattro, fdp, VD, Mo. 21.4470; Tamara Funiciello, sp, BE, Mo. 21.4471). Eingereicht worden waren die drei Vorstösse nur wenige Tage nach Publikation eines Berichts zu Ursachen von Tötungsdelikten im häuslichen Umfeld. In ihren Begründungen verwiesen die Motionärinnen auf weitere aktuelle Studien, die das Ausmass von häuslicher und sexueller Gewalt in der Schweiz aufzeigten: Eine im Herbst 2021, kurz vor dem Start einer Öffentlichkeitskampagne der Frauenhäuser Schweiz und Liechtenstein durchgeführte Umfrage von sotomo ergab, dass ein Drittel der befragten Personen – 42 Prozent der befragten Frauen und 24 Prozent der befragten Männer – bereits Gewalt in Paarbeziehungen erfahren hatten. Neben den vom EBG bereitgestellten Daten, die für den Zeitraum 2009 bis 2018 alle zwei Wochen einen durch häusliche Gewalt bedingten Todesfall verzeichneten, verwiesen die Motionärinnen auch auf eine im Jahr 2019 durchgeführte Befragung von gfs.bern, in der 22 Prozent der befragten Frauen berichtet hatten, bereits ungewollten sexuellen Handlungen ausgesetzt gewesen zu sein. Nationale Sensibilisierungs- und Präventionskampagnen forderte überdies eine Petition, die bereits im Herbst 2021 im Rahmen der Frauensession eingereicht worden war (Pet. 21.2045).
Nachdem sich der Bundesrat für Annahme der drei Vorstösse ausgesprochen hatte, wurden die beiden im Nationalrat eingereichten Motionen in der Frühjahrssession 2022 von Barbara Steinemann (svp, ZH) bekämpft. Die Motion der Walliser Ständerätin Marianne Maret (mitte) passierte den Ständerat in derselben Session stillschweigend. Die Motionen der Nationalrätinnen Jacqueline de Quattro und Tamara Funiciello standen daraufhin in der Sondersession im Mai 2022 in der grossen Kammer zur Diskussion, wo sie einzig von den geschlossen stimmenden Vertreterinnen und Vertretern der SVP abgelehnt wurden. Mit 135 zu 51 Stimmen (bei 1 Enthaltung) respektive mit 129 zu 51 Stimmen (bei 6 Enthaltungen) scharte sich somit auch im Nationalrat eine komfortable Mehrheit hinter die Forderung.

Nationalrätinnen fordern Präventionskampagnen gegen Gewalt (Mo. 21.4418, Mo. 21.4470, Mo. 21.4471)
Dossier: Behandlung der Petitionen der Frauensession 2021 in parlamentarischen Vorstössen
Dossier: Gewalt gegen Frauen* / häusliche Gewalt (ab Ratifikation Istanbul-Konvention)

Der Bundesrat sprach sich gegen die Etablierung eines Nationalen Programms zur besseren Früherkennung von Kindswohlgefährdungen aus, wie es eine Motion Feri (sp, AG) forderte. Dabei stellte er sich auf den Standpunkt, dass für die Umsetzung von Massnahmen in diesem Bereich primär die Kantone und Gemeinden in der Pflicht seien. Bereits in seinem Bericht zur medizinischen Versorgung bei häuslicher Gewalt habe er die Kantone aufgefordert, dazu ein flächendeckendes Gesamtkonzept zu erarbeiten. Der Nationalrat, der die Motion in der Sondersession vom Mai 2022 beriet, lehnte diese mit 107 zu 79 Stimmen bei einer Enthaltung ab. Neben den Fraktionen der SP und der Grünen, die das Anliegen geschlossen befürworteten, stimmte auch die GLP-Fraktion mit einer Ausnahme dafür, ebenso wie drei Mitglieder der Mitte-Fraktion.

Nationales Programm zur besseren Früherkennung von Kindswohlgefährdungen (Mo. 20.3231)

Der Bundesrat veröffentlichte Anfang April 2022 den Bericht zur Erfüllung des Postulats der FK-NR, das den Bundesrat beauftragt hatte, die Entkoppelung der Lohnentwicklung von der Leistungsbeurteilung in der Bundesverwaltung zu prüfen. Der Bericht zeigte auf, dass das aktuelle Beurteilungsmodell der Bundesverwaltung verschiedene Stufen aufweist, die mit prozentualen Lohnentwicklungsbandbreiten sowie Leistungs- und Spontanprämien verknüpft sind. Diese geben den Vorgesetzten einen gewissen Spielraum bei der Vergütung der Leistungen der Mitarbeitenden. Um die Forderungen des Postulats umzusetzen, wurde ein Projektteam bestehend aus departementalen HR-Verantwortlichen sowie aus Professor Gery Bruederlin von der Fachhochschule Nordwestschweiz gebildet. Das Projektteam analysierte die Vor- und Nachteile des aktuellen Systems und verglich das Leistungsbeurteilungssystem des Bundes mit denjenigen zweier Referenzunternehmen, welche die Leistungsbeurteilung und die Lohnentwicklung bereits entkoppelt haben und mit der Bundesverwaltung vergleichbar sind – die Post und das Inselspital in Bern. Die Analyse kam zum Schluss, dass «die Entkoppelung der Leistungs- und Verhaltensbeurteilung von der Lohnentwicklung für die Bundesverwaltung nicht empfehlenswert» ist. Zudem entspreche das aktuelle System der Bundesverwaltung mit einem Fixlohnsystem, passender Anfangslohnfestsetzung und leistungsbezogener Lohnentwicklung dem richtigen Ansatz für die öffentliche Verwaltung. Nichtsdestotrotz liesse sich das System durch verschiedene Massnahmen verbessern, wie etwa durch eine Auflösung des Ortszuschlages und durch eine Erhöhung der maximalen Lohnklasse, durch häufigere Feedbackgespräche oder durch eine Objektivierung der Lohnentscheide durch Lohnkurven.

Dissocier l'évolution salariale de l'évaluation des prestations (Po. 19.3974)

Ein im Dezember 2021 in Erfüllung eines Postulats Graf (gp, BL) publizierter Bericht zu Ursachen von Homiziden im häuslichen Umfeld provozierte die Lancierung verschiedener politischer Vorstösse, darunter auch einer Motion der WBK-NR. Darin forderte die Mehrheit der Kommission – eine aus SVP-Vertretenden bestehende Kommissionsminderheit lehnte das Ansinnen ab –, dass der Bund regelmässige, schweizweite Kampagnen zur Prävention von häuslicher, sexueller und geschlechtsbezogener Gewalt durchführt. Die Kommission erinnerte an die durch die Ratifikation der Istanbul-Konvention entstandene Verpflichtung, solche Kampagnen durchzuführen. Nachdem der Bundesrat die Motion befürwortet hatte, stimmte ihr der Nationalrat in der Frühjahrssession 2022 mit 127 zu 51 Stimmen (4 Enthaltungen) gegen den Minderheitsantrag auf Ablehnung ebenfalls zu. Sowohl in der SVP-Fraktion als auch in den Fraktionen der FDP.Liberalen und der Mitte gab es vereinzelte Stimmen, die von der vorherrschenden Meinung in ihren Fraktionen – Ablehnung bei der SVP respektive Zustimmung im Falle der beiden anderen Parteien – abwichen.

Kommissionsmotion fordert schweizweite Präventionskampagnen gegen Gewalt (Mo. 22.3011)
Dossier: Gewalt gegen Frauen* / häusliche Gewalt (ab Ratifikation Istanbul-Konvention)

Mit 21 zu 2 Stimmen (bei 2 Enthaltungen) beschloss die SPK-NR im November 2021, eine parlamentarische Initiative einzureichen mit dem Ziel, ausländische Opfer von häuslicher Gewalt besser zu schützen. Nach Auflösung der Ehe- oder Familiengemeinschaft haben Opfer von häuslicher Gewalt auch bei Nichterfüllen anderer Kriterien bereits heute Anrecht auf Erteilung oder Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung. Konkret soll mittels Änderung des Bundesgesetzes über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (AIG) nun erreicht werden, dass es für betroffene Personen einfacher wird, den Nachweis zu erbringen, dass sie Opfer häuslicher Gewalt sind. Die geplante Gesetzesanpassung soll somit bewirken, dass Personen nicht aus Angst vor Verlust der Aufenthaltsbewilligung beim gewalttätigen Ehepartner bleiben, nur weil sie den Nachweis von häuslicher Gewalt nicht erbringen können. Mit 8 zu 3 Stimmen (bei 2 Enthaltungen) gab die SPK-SR der Initiative im Januar 2022 ebenfalls Folge.

Besserer Schutz für ausländische Opfer von häuslicher Gewalt (Pa.Iv. 21.504)
Dossier: Gewalt gegen Frauen* / häusliche Gewalt (ab Ratifikation Istanbul-Konvention)

Jahresrückblick 2021: Soziale Gruppen

Eine überaus wichtige Neuerung im Themenbereich der sozialen Gruppen wurde 2021 für gleichgeschlechtliche Paare eingeführt. Im September nahm die Stimmbevölkerung mit einem deutlichen Ja-Anteil von 64 Prozent die «Ehe für alle» an. Neben der Möglichkeit der Eheschliessung waren damit für gleichgeschlechtliche Paare weitere Ungleichheiten im Familienleben beseitigt worden: In Zukunft ist es auch ihnen möglich, gemeinsam ein Kind zu adoptieren, zudem erhalten verheiratete Frauenpaare Zugang zur Samenspende. Die Relevanz dieser Abstimmung widerspiegelt sich im Ergebnis der APS-Zeitungsanalyse 2021, die einen diesem Ereignis geschuldeten Höchststand an Artikeln zur Familienpolitik im Abstimmungsmonat aufzeigt (vgl. Abbildung 1 im Anhang). Kein anderes Thema im Bereich der sozialen Gruppen erzielte im beobachteten Jahr eine ähnlich hohe mediale Aufmerksamkeit.

Erstmals in der Geschichte der Schweizer Frauen- und Gleichstellungspolitik veröffentlichte der Bundesrat 2021 eine nationale Gleichstellungsstrategie, die jedoch von Frauenorganisationen und linken Parteien kritisiert wurde. Ferner gaben die Kommissionen einer parlamentarischen Initiative Folge, welche die befristete Finanzierung für die familienergänzende Kinderbetreuung durch eine dauerhafte, vom Bund unterstützte Lösung ersetzen will. Der 2022 vorzulegende Entwurf soll die Eltern bei der Finanzierung der Betreuungsplätze massgeblich entlasten und somit zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen. Gleichzeitig wurden im Berichtsjahr aber verschiedene Vorstösse mit ähnlichen, bereits konkreter ausformulierten Vorstellungen in Form einer parlamentarischen Initiative, einer Standesinitiative und einer Motion abgelehnt. Ebenfalls zur Verbesserung der Stellung der Frauen im Beruf beitragen soll die 2018 geschaffene Revision des Gleichstellungsgesetzes, mit der Unternehmen mit über 100 Mitarbeitenden zur Durchführung von Lohnanalysen verpflichtet worden waren. Erste, im August 2021 publizierte Analyseergebnisse von ausgewählten Unternehmen zeichneten ein positives Bild, das jedoch unter anderem wegen fehlender Repräsentativität in Zweifel gezogen wurde. Nach wie vor sind Unternehmen nicht verpflichtet, die Ergebnisse ihrer Lohnanalysen an den Bund zu übermitteln. Gegen eine entsprechende Regelung hatte sich der Ständerat im Juni erfolgreich gewehrt.

Nachdem im Vorjahr der zweiwöchige Vaterschaftsurlaub in einer Volksabstimmung angenommen worden war, gingen die politischen Diskussionen rund um die Ausdehnung von Urlaubsmöglichkeiten für Eltern 2021 weiter. Eine Standesinitiative aus dem Kanton Jura und eine parlamentarische Initiative mit diesem Ziel stiessen im Parlament indes auf wenig Gehör. Der Nationalrat verabschiedete jedoch ein Kommissionspostulat, das die volkswirtschaftlichen Auswirkungen einer Elternzeit aufzeigen soll. In den Räten setzte sich zudem mit Annahme einer Vorlage zum Adoptionsurlaub eine langjährige Forderung in der Minimalvariante durch: Eltern, die ein Kind unter vier Jahren adoptieren, haben künftig Anrecht auf einen zweiwöchigen Urlaub.

Auch das Thema der Gewalt gegen Frauen blieb 2021 auf der politischen Agenda, immer wieder angetrieben durch Zeitungsberichte über häusliche Gewalt und Femizide. Das Parlament überwies drei Motionen, welche die Bereitstellung eines 24-stündigen Beratungsangebots für von Gewalt betroffene Personen forderten, wozu sich die Schweiz 2017 im Rahmen der Ratifikation der Konvention von Istanbul verpflichtet hatte. Ein Zeichen gegen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche setzte der Nationalrat auch durch Befürwortung einer Motion, die das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung im Zivilgesetzbuch verankern möchte. Der Ständerat äusserte sich bis Ende Jahr noch nicht zum Geschäft. Ebenfalls kam es zu breiten medialen Vorwürfen bezüglich Gewalt in Bundesasylzentren, woraufhin das SEM einen Bericht erarbeiten liess.

Nicht zuletzt wurde im Berichtsjahr mit verschiedensten Publikationen und Aktionen auf das 50-jährige Bestehen des Frauenstimm- und -wahlrechts Bezug genommen. Mit Corona-bedingter Verspätung fand im September die offizielle Feier des Bundes statt. Ende Oktober tagte zum zweiten Mal nach 1991 die Frauensession, die insgesamt 23 Forderungen zu unterschiedlichen Themen als Petitionen verabschiedete. Darüber hinaus wurde an diesen Anlässen auch über die Gewährung politischer Rechte an weitere Gruppen diskutiert, so etwa an Personen ohne Schweizer Pass, Minderjährige und Menschen mit einer Beeinträchtigung. Bezüglich Letzteren nahm der Ständerat im Herbst 2021 ein Postulat an, das den Bundesrat aufforderte, Massnahmen aufzuzeigen, damit auch Menschen mit einer geistigen Behinderung uneingeschränkt am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können.

Wie die APS-Zeitungsanalyse 2021 zeigt, erhielten Fragen rund um die Familien- und Gleichstellungspolitik im Jahr 2021 im Gegensatz zu Fragen zur Asyl- und Migrationspolitik überaus starke mediale Aufmerksamkeit. Der Zeitvergleich macht überdies deutlich, dass die Berichterstattung im Bereich Asyl und Migration über die letzten Jahre konstant an Bedeutung eingebüsst hat.

Dieses fehlende Interesse der Medien ist ob der umstrittenen Gesetzesänderungen des Parlaments im Bereich Asylpolitik, welche die Grundrechte der Asylsuchenden einschränkten, bemerkenswert. So können Schweizer Behörden künftig mobile Geräte der Asylsuchenden verwenden, um beim Fehlen von Ausweispapieren Rückschlüsse auf die Identität einer Person zu gewinnen. Dieser Beschluss provozierte eine negative Reaktion des UNHCR. Zudem schuf das Parlament ein Reiseverbot für vorläufig aufgenommene Personen und entschied, dass Personen in Ausschaffungshaft zum Wegweisungsvollzug zur Durchführung eines Covid-19-Tests gezwungen werden können. Unterschiedliche Ansichten vertraten die beiden Räte in Bezug auf junge Asylbewerbende. So lehnte es der Ständerat ab, die Administrativhaft für Minderjährige abzuschaffen, nachdem sich der Nationalrat für diese Forderung im Vorjahr noch offen gezeigt hatte. Ebenso setzte sich der Nationalrat im Berichtsjahr durch Unterstützung einer Motion dafür ein, dass Personen mit abgewiesenem Asylentscheid ihre berufliche Ausbildung beenden dürfen, während sich der Ständerat nach der Beratung einer anderen Motion gegen diese Möglichkeit aussprach. Schliesslich wollte der Ständerat den Familiennachzug von Schutzbedürftigen erschweren, wogegen sich der Nationalrat aber erfolgreich sträubte. Im Sammelstadium scheiterte überdies eine Volksinitiative des ehemaligen Nationalrats Luzi Stamm, gemäss welcher Asylbewerbende in der Schweiz nur noch mit Sachleistungen hätten unterstützt werden sollen: Seine Volksinitiative «Hilfe vor Ort im Asylbereich», die in erster Linie Flüchtlingen primär in der Nähe der Krisengebiete und nicht in der Schweiz helfen wollte, scheiterte an den direktdemokratischen Hürden.

Jahresrückblick 2021: Soziale Gruppen
Dossier: Jahresrückblick 2021