Suche zurücksetzen

Inhalte

  • Integration
  • Wahl- und Abstimmungsverfahren

Akteure

Prozesse

467 Resultate
Als PDF speichern Weitere Informationen zur Suche finden Sie hier

Jahresrückblick 2022: Institutionen und Volksrechte

Spätestens seit dem Rücktritt von Ueli Maurer als Bundesrat Ende September dominierte die Suche nach seiner Nachfolgerin oder seinem Nachfolger den Themenbereich «Institutionen und Volksrechte» (vgl. Abbildung 1 der APS-Zeitungsanalyse). Mit dem Rücktritt von Simonetta Sommaruga Ende November standen im Dezember 2022 gleich zwei Bundesratsersatzwahlen an. Maurer hatte seinen Rücktritt mit dem Wunsch begründet, noch einmal etwas Neues machen zu wollen, und Simonetta Sommaruga hatte sich entschieden, in Folge eines Schlaganfalles ihres Mannes ihr Leben neu auszurichten. Wie bei Bundesratsersatzwahlen üblich, überboten sich die Medien mit Spekulationen, Expertisen, Interpretationen und Prognosen. Bei der SVP galt die Kandidatur von Hans-Ueli Vogt (svp, ZH), der sich 2021 aus der Politik zurückgezogen hatte, als Überraschung. Dennoch zog ihn die SVP-Fraktion anderen Kandidatinnen und Kandidaten vor und nominierte ihn neben dem Favoriten Albert Rösti (svp, BE) als offiziellen Kandidaten. Bei der SP sorgte der sehr rasch nach der Rücktrittsrede von Simonetta Sommaruga verkündete Entscheid der Parteileitung, mit einem reinen Frauenticket antreten zu wollen, für Diskussionen. Die medialen Wogen gingen hoch, als Daniel Jositsch (ZH) dies als «Diskriminierung» bezeichnete und seine eigene Bundesratskandidatur verkündete. Die SP-Fraktion entschied sich in der Folge mit Elisabeth Baume-Schneider (sp, JU) und Eva Herzog (sp, BS) für zwei Kandidatinnen. Zum Nachfolger von Ueli Maurer wurde bereits im 1. Wahlgang Albert Rösti mit 131 von 243 gültigen Stimmen gewählt. Hans-Ueli Vogt hatte 98 Stimmen erhalten (Diverse: 14). Für die SP zog Elisabeth Baume-Schneider neu in die Regierung ein. Sie setzte sich im dritten Wahlgang mit 123 von 245 gültigen Stimmen gegen Eva Herzog mit 116 Stimmen durch. Daniel Jositsch hatte in allen drei Wahlgängen jeweils Stimmen erhalten – deren 6 noch im letzten Umgang. Die Wahl der ersten Bundesrätin aus dem Kanton Jura wurde von zahlreichen Beobachterinnen und Beobachtern nicht nur als Überraschung gewertet, sondern gar als Gefahr für das «Gleichgewicht» der Landesregierung kommentiert (Tages-Anzeiger). Die rurale Schweiz sei nun in der Exekutive übervertreten, wurde in zahlreichen Medien kritisiert.

Der Bundesrat stand aber nicht nur bei den Wahlen im Zentrum des Interesses. Diskutiert wurde auch über Vor- und Nachteile einer Erhöhung der Zahl der Regierungsmitglieder, wie sie eine parlamentarische Initiative Pa.Iv. 19.503 forderte – es war bereits der sechste entsprechende Vorstoss in den letzten 30 Jahren. Die Begründungen hinter den jeweiligen Anläufen variieren zwar über die Zeit – der neueste Vorstoss wollte «die Konkordanz stärken», also mehr Spielraum für parteipolitische aber auch für gendergerechte Vertretung schaffen – die Projekte nahmen bisher aber stets denselben Verlauf: Auch in diesem Jahr bevorzugte das Parlament den Status quo.
Verbessert werden sollte hingegen die Krisenorganisation des Bundesrates. Dazu überwiesen beide Kammern gleichlautende Motionen und Postulate der GPK beider Räte, die Rechtsgrundlagen für einen Fach-Krisenstab sowie eine Gesamtbilanz der Krisenorganisation des Bundes anhand der Lehren aus der Corona-Pandemie verlangten.

Auch das Parlament sollte als Lehre aus der Pandemie krisenresistenter gemacht werden. Aus verschiedenen, von Parlamentsmitgliedern eingereichten Ideen hatte die SPK-NR eine einzige Vorlage geschnürt, die 2022 von den Räten behandelt wurde. Dabei sollten aber weder der Bundesrat in seiner Macht beschränkt, noch neue Instrumente für das Parlament geschaffen werden – wie ursprünglich gefordert worden war. Vielmehr sah der Entwurf Möglichkeiten für virtuelle Sitzungsteilnahme im Falle physischer Verhinderung aufgrund höherer Gewalt und die Verpflichtung des Bundesrates zu schnelleren Stellungnahmen bei gleichlautenden dringlichen Kommissionsmotionen vor. Umstritten blieb die Frage, ob es statt der heutigen Verwaltungsdelegation neu eine ständige Verwaltungskommission braucht. Der Nationalrat setzte sich für eine solche ein, der Ständerat lehnte sie ab – eine Differenz, die ins Jahr 2023 mitgenommen wird.
Nicht nur die Verwaltungskommission, auch die Schaffung einer ausserordentlichen Aufsichtsdelegation war umstritten. Die vom Nationalrat jeweils mit grosser Mehrheit unterstützte Idee, dass es neben der PUK und den Aufsichtskommissionen ein mit starken Informationsrechten ausgerüstetes Gremium geben soll, das als problematisch beurteilte Vorkommnisse in der Verwaltung rasch untersuchen könnte, war beim Ständerat stets auf Unwille gestossen. Auch nach einer Einigungskonferenz konnten sich die Räte nicht auf eine Lösung verständigen, woraufhin der Ständerat das Anliegen versenkte, zumal er die bestehenden Instrumente und Akteure als genügend stark erachtete.

Seit vielen Jahren Zankapfel zwischen den Räten ist die Frage nach der Höhe der Löhne in der Bundesverwaltung. In diesem Jahr beendete der Ständerat eine beinahe sechsjährige Diskussion dazu, indem er auf eine entsprechende Vorlage der SPK-SR auch in der zweiten Runde nicht eintrat, obwohl der Nationalrat deutlich für eine Obergrenze von CHF 1 Mio. votiert hatte. Die SPK-NR sorgte in der Folge mit einer neuerlichen parlamentarischen Initiative für ein Verbot von «goldenen Fallschirmen» für Bundeskader dafür, dass diese Auseinandersetzung weitergehen wird.

In schöner Regelmässigkeit wird im Parlament auch die Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit diskutiert. Zwei entsprechende Motionen wurden in diesem Jahr von der Mehrheit des Ständerats abgelehnt, da das aktuelle System, in welchem die Letztentscheidung dem direktdemokratischen Element und nicht der Judikative überlassen wird, so gut austariert sei, dass ein Verfassungsgericht nicht nötig sei. Freilich ist sich das Parlament der Bedeutung der obersten Bundesgerichte durchaus bewusst. Ein Problem stellt dort seit einiger Zeit vor allem die chronische Überlastung aufgrund der hohen Fallzahlen dar. Daher werde gemäss Justizministerin Karin Keller-Sutter mittelfristig eine Modernisierung des Bundesgerichtsgesetzes geprüft, kurzfristig sei eine Entlastung aber nur durch eine Erhöhung der Zahl der ordentlichen Richterinnen und Richter zu erreichen. Eine entsprechende parlamentarische Initiative der RK-NR hiessen beide Kammern gut, allerdings jeweils gegen die geschlossen stimmende SVP-Fraktion, die in der Erhöhung lediglich «Flickwerk» sah.

Die mittels direktdemokratischer Abstimmungen verhandelte Schweizer Politik zeigte sich 2022 einigermassen reformresistent. Nachdem im Februar gleich beide zur Abstimmung stehenden fakultativen Referenden (Gesetz über die Stempelabgaben und Medienpaket) erfolgreich waren, wurde in den Medien gar spekuliert, ob die Bundespolitik sich nun vermehrt auf Blockaden einstellen müsse. Allerdings passierten dann im Mai und im September 4 von 5 mittels Referenden angegriffenen Bundesbeschlüsse die Hürde der Volksabstimmung (Filmgesetz, Organspende, Frontex, AHV21). Einzig die Revision des Verrechnungssteuergesetzes wurde im September an der Urne ausgebremst. 2022 war zudem die insgesamt 25. Volksinitiative erfolgreich: Volk und Stände hiessen die Initiative «Kinder und Jugendliche ohne Tabakwerbung» gut. Die beiden anderen Volksbegehren (Massentierhaltungsinitiative, Initiative für ein Verbot von Tier- und Menschenversuchen) wurden hingegen abgelehnt.

Dass in der Schweizer Politik manchmal nur ganz kleine Schritte möglich sind, zeigen die erfolglosen Bemühungen, den Umfang an Stimm- und Wahlberechtigten zu erhöhen. Der Nationalrat lehnte zwei Vorstösse ab, mit denen das Stimmrecht auf Personen ohne Schweizer Pass hätte ausgeweitet werden sollen. Auch die Wahrscheinlichkeit, dass das Stimmrechtsalter in naher Zukunft auf 16 gesenkt werden wird, hat sich im Jahr 2022 eher verringert: Zwar wies eine knappe Mehrheit des Nationalrats den Abschreibungsantrag für eine parlamentarische Initiative, welche eine Senkung des Alters für das aktive Stimmrecht verlangt und welcher 2021 beide Kammern Folge gegeben hatten, ab und wies sie an die SPK-NR zurück, damit diese eine Vorlage ausarbeitet. In zwei Kantonen wurde die Senkung des Stimmrechtsalters im Jahr 2022 an der Urne aber deutlich verworfen: in Zürich im Mai mit 64.8 Prozent Nein-Stimmenanteil, in Bern im September mit 67.2 Prozent Nein-Stimmenanteil.

Allerdings fielen 2022 auch Entscheide, aufgrund derer sich das halbdirektdemokratische System der Schweiz weiterentwickeln wird. Zu denken ist dabei einerseits an Vorstösse, mit denen Menschen mit Behinderungen stärker in den politischen Prozess eingebunden werden sollen – 2022 nahmen etwa beide Kammern eine Motion an, mit der Einrichtungen geschaffen werden, die helfen, das Stimmgeheimnis für Menschen mit Sehbehinderung zu gewährleisten. Zudem gaben National- und Ständerat einer parlamentarischen Initiative für die Barrierefreiheit des Live-Streams der Parlamentsdebatten Folge, damit auch hörgeschädigte Menschen diesen folgen können. Andererseits verabschiedete der Bundesrat die Verordnung zu den künftigen Transparenzbestimmungen bei Wahlen und Abstimmungen. Ob und wie die erstmals für die eidgenössischen Wahlen 2023 bzw. für das Finanzjahr 2023 vorzulegenden Kampagnen- und Parteibudgets die politischen Debatten beeinflussen werden, wird sich weisen.

Jahresrückblick 2021: Institutionen und Volksrechte
Dossier: Jahresrückblick 2022

Nach den turbulenten Vorjahren kehrte 2022 in der Diskussion um E-Voting wieder etwas Ruhe ein. Der Bundesrat konnte scheinbar mit einer auf Verordnungsrevisionen basierenden und per 1. Juli 2022 in Kraft gesetzten Neuausrichtung einige Gemüter beruhigen. Mit der neuen Grundlage wurden nämlich die Sicherheitsstandards für neue Systeme verstärkt und eine kontinuierliche Überprüfung verlangt.

Das einzig verbleibende E-Voting-System der Post war erstes Objekt dieser neuen Bestimmungen. Bereits im Vorjahr hatte der Bundesrat externe unabhängige Expertinnen und Experten mit einer Überprüfung des Post-Systems beauftragt. Diese hatten das sogenannte kryptographische Protokoll, das den Schutz von vertraulichen Informationen regelt, die Software selber und die Betriebsinfrastruktur zu testen. Darüber hinaus war ein Intrusionstest vorgeschrieben, also eine Einladung an Hackerinnen und Hacker, das System gegen Belohnung auf Mängel zu überprüfen. Die Resultate der Tests lagen im April 2022 vor. Sie zeigten, dass das neue System der Post im Vergleich zum Vorläufer wesentlich verbessert worden war. Beim Intrusionstest konnten keine Mängel gefunden werden. Sicherheitslücken wurden allerdings im kryptographischen Protokoll, also beim Datenverschlüsselungsverfahren festgestellt. Die Post musste entsprechend nachbessern und das System soll in Folge erneut überprüft werden.

Da sich die Diskussionen um E-Voting scheinbar beruhigten, wurden in den Medien sporadisch andere Digitalisierungsprojekte in den Fokus genommen. Darunter vor allem E-Collecting, also die Möglichkeit, Volksinitiativen und Referenden mittels digitaler Unterschrift zu unterstützen. Im Moment muss eine entsprechende Unterschrift von Hand auf entsprechenden Unterschriftenbogen angebracht werden. Es besteht allerdings die Möglichkeit, solche Unterschriftenbogen z.B. aus dem Internet herunterzuladen oder als E-Mail-Anhang zu verschicken. Diese teilweise vorfrankierten Bogen müssen ausgedruckt, unterschrieben und ans Komitee gesandt werden. E-Collecting würde hier Medienbruchfreiheit bringen, indem etwa auf Basis einer E-ID eine Unterschrift rein digital abgegeben werden kann. Im Vorjahr hatte der Nationalrat den Bundesrat mit einem Postulat beauftragt, einen Bericht über eine mögliche Einführung von E-Collecting zu verfassen. In den Medien wurde freilich diskutiert, ob eine Datenbank an Mail-Adressen mit Unterschriftswilligen, wie sie etwa die Plattform We-Collect besitzt, bereits heute das Sammeln von Unterschriften zu stark vereinfache. Während die Aargauer Zeitung diesbezüglich den Gründer von We-Collect, Daniel Graf, zu Wort kommen liess, der von einer «demokratischeren direkten Demokratie» oder von einem «Fonds für die Demokratie» sprach, mit dem neue Ideen rasch lanciert werden könnten, warnte die NZZ vor «Gesinnungsdatenbanken», mit denen «die Polarisierung beschleunigt» würde, oder von einer «Plattformökonomie», die von Grosskonzernen betrieben oder beeinflusst werde.

«Vote électronique» – Kritik und gesellschaftliche Debatte von 2015 bis 2022
Dossier: Vote électronique

Wie kann der Meinungsbildungsprozess vor absichtlichen Falschmeldungen und «algorithmusgetriebenen Anzeigen» im Rahmen politischer Werbung im Internet geschützt werden? Diese Frage wollte Jon Pult (sp, GR) vom Bundesrat in einem entsprechenden Postulatsbericht beantwortet haben. Zwar würden Abstimmungs- und Wahlkämpfe zunehmend im Internet ausgetragen, es gebe dort aber keine Regelungen hinsichtlich politischer Werbung. Während diese in TV und Radio verboten sei und in den Printmedien zumindest mittels Branchenregelungen kontrolliert würde – der Presserat sorge etwa dafür, dass transparent gemacht werde, von wem politische Werbung in Printmedien stamme –, sei das Internet sozusagen ein rechtsfreier Raum, in dem ungestraft Fake News und intransparente Werbung geschaltet werden könnten. Der Bundesrat müsse hier skizzieren, wie dies geändert werden könne, forderte Pult.
Der Bundesrat beantragte die Ablehnung des Postulats. Auf Internetplattformen werde zwar «nachweislich falsche oder irreführende Information zur Täuschung der Öffentlichkeit» verbreitet, die Plattformen würden aber die Meinungsbildung auch stärken, da sie Hürden senkten und die Verbreitung von zahlreichen unterschiedlichen Meinungsäusserungen vereinfachten. Das Postulat sei aber deshalb nicht nötig, weil der Bundesrat beim BAKOM bereits einen Bericht in Auftrag gegeben habe, der Chancen und Risiken von «digitalen Intermediären» aufzeigen soll, wobei auch politische Werbung und Transparenzvorschriften ein Thema seien. Dieser Bericht erschien Ende November 2021. Das Postulat wurde Mitte Dezember 2022 abgeschrieben, weil es nicht innert zweier Jahre im Rat behandelt worden war.

Politische Werbung im Internet (Po. 20.4431)

Als «formalistischen Leerlauf» bezeichnete Hans Stöckli (sp, BE) den aktuellen Rechtsmittelweg im Falle einer Beschwerde zu einer eidgenössischen Abstimmung. In der Tat sind Beanstandungen zuerst an eine Kantonsregierung zu richten, die dann in der Regel einen formellen Nichteintretensentscheid wegen Nichtzuständigkeit fällen muss, der in der Folge beim Bundesgericht angefochten werden kann. Stöckli forderte mittels Motion eine Revision des Bundesgesetzes über die politischen Rechte, mit der neue Rechtsmittelwege für Abstimmungsbeschwerden geschaffen werden sollen, die den Zeitverlust beseitigen. Es sei zielführender, wenn eine Abstimmungsbeschwerde, die ein Kanton nicht beurteilen kann – z.B. der Antrag auf Ungültigerklärung eines Abstimmungsentscheids oder auf Rüge von Falschinformation durch die Bundesbehörden –, direkt ans Bundesgericht gelangen könne.
In der Wintersession 2022 wies Bundeskanzler Walter Thurnherr im Ständerat darauf hin, dass das Bundesgericht bereits mehrmals gerügt habe, dass das aktuelle Beschwerdeverfahren nicht zweckmässig sei. Der Bundesrat beantrage auch deshalb die Annahme der Motion. Es müsse bei der Umsetzung allerdings berücksichtigt werden, dass die Kantone nicht gänzlich ausgenommen würden, seien sie doch durchaus zuständig bei beanstandeten Unregelmässigkeiten hinsichtlich Vorbereitung und Durchführung von Urnengängen (z.B. Versand von Stimmmaterial, Auszählung der Stimmen). Der Ständerat überwies die Motion stillschweigend an den Nationalrat.

Abstimmungsbeschwerden – neuer Rechtsmittelweg (Mo. 22.3933)

Die 182 zu 1 Stimmen im Nationalrat liessen darauf schliessen, dass die Motion Dobler (fdp, SG), die bei eidgenössischen Abstimmungen auf dem Stimmzettel einen Hinweis auf bestehende indirekte Gegenvorschläge verlangt, auf den ersten Blick «nachvollziehbar und sympathisch» sei, führte Mathias Zopfi (gp, GL) als Sprecher der SPK-SR die ständerätliche Debatte zum Vorstoss in der Wintersession 2022 ein. Der Kommission habe allerdings ein zweiter Blick genügt, um die Ablehnung der Motion zu beantragen. Im Gegensatz zum Motionär sei die Kommission der Meinung, dass die Willensbildung durch zusätzliche Informationen auf dem Stimmzettel nicht gefördert, sondern im Gegenteil gefährdet werde. Ein indirekter Gegenvorschlag sei ein politisches Argument und gehöre deshalb sicher nicht auf den Stimmzettel, der möglichst schlicht bleiben und nicht mit Hinweisen überladen werden soll. Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger seien sehr wohl in der Lage, sich zum Beispiel im Abstimmungsbüchlein über bestehende Gegenvorschläge zu informieren. In der Tat war die Information über indirekte Gegenvorschläge in den Abstimmungserläuterungen mit deren Überarbeitung 2018 stark verbessert worden. Einen Minderheitsantrag auf Annahme gab es nicht, obwohl die SPK-SR die Ablehnungsempfehlung mit 9 zu 1 Stimmen und 1 Enthaltung beschloss. Weil er als Einziger in der Kommission für die Motion gestimmt habe, habe er auf einen Antrag verzichtet, so Thomas Minder (parteilos, SH). Er fände es aber eigentlich «logisch», wenn auf dem Stimmzettel vermerkt würde, über welche Alternativen Stimmbürgerinnen und Stimmbürger verfügten beziehungsweise welche Folgen die Ablehnung einer Initiative habe. Er denke nicht, dass alle Stimmberechtigten wüssten, was ein indirekter Gegenvorschlag sei. Auch Bundeskanzler Walter Thurnherr ergriff das Wort und führte für den Bundesrat, der die Motion ebenfalls zur Ablehnung empfohlen hatte, aus, dass das geltende Recht vorsehe, dass Abstimmungsfragen neutral formuliert sein und keinen Informationsauftrag erfüllen müssen. Es wäre unzulässig, ein Argument für oder gegen eine Vorlage in die Abstimmungsfrage einzufügen, und auch «demokratiepolitisch problematisch», wenn Hinweise auf Stimmzetteln die Meinungsbildung beeinflussen würden. Ohne Abstimmung lehnte die kleine Kammer die Motion in der Folge ab.

Hinweis auf bestehende indirekte Gegenvorschläge auf dem Abstimmungszettel (Mo. 22.3132)
Dossier: Stimmzettel als Informationsträger?

Die SPK-SR beantrage dem Ständerat einstimmig, die Motion der Mitte-Fraktion, die Fristenstillstand und Verschieben von Wahlterminen in Krisenzeiten gesetzlich regeln will, aus formalen Gründen abzulehnen, führte Mathias Zopfi (gp, GL) für die Kommission in der Wintersession 2022 aus. Zwar habe der Nationalrat diese Motion in der Sommersession angenommen, das Anliegen entspreche aber wortwörtlich einer Motion Rieder (mitte, VS, Mo. 20.3419), die von beiden Räten bereits früher angenommen worden sei. Der Auftrag an den Bundesrat müsse nicht ein zweites Mal erteilt werden. Auch Bundeskanzler Walter Thurnherr ersuchte den Ständerat, die Motion aus «verfahrensökonomischen Gründen» abzulehnen. Dies tat die kleine Kammer in der Folge diskussionslos.

Bewahrung der demokratischen Rechte auch in Krisenzeiten (Mo. 20.3314)

Zu Beginn der Wintersession 2022 machte sich der Nationalrat an die Beratung des Voranschlags 2023 mit integriertem Aufgaben- und Finanzplan 2024–2026. Anna Giacometti (fdp, GR) und Jean-Pierre Grin (svp, VD) präsentierten dem Rat das Budget und die Änderungsvorschläge der Kommissionsmehrheit. Beide betonten die «düsteren finanzpolitischen Aussichten» (Giacometti), welche in den Finanzplanjahren grosse Korrekturmassnahmen nötig machen würden. Besser sehe es noch für das Jahr 2023 und somit für den Voranschlag aus, hier schlug die Kommissionsmehrheit gar Mehrausgaben von CHF 11.2 Mio. vor, womit die Schuldenbremse immer noch eingehalten werden könne. Insgesamt beantragte die Kommission sieben Änderungen am bundesrätlichen Voranschlag, welche der Rat allesamt annahm. Kaum Erfolg hatten hingegen die Minderheitsanträge.

Das geplante Defizit in den Finanzplanjahren war auch Thema in den folgenden Fraktionsvoten. Als besonders dramatisch erachtete etwa Lars Guggisberg (svp, BE) die finanzielle Situation des Bundes: Man befinde sich «finanzpolitisch seit Jahren im freien Fall», zumal das Parlament immer mehr Geld ausgebe als vorhanden sei. Nun müsse man Prioritäten setzen, weshalb die SVP insbesondere im Finanzplan entsprechende Kürzungsanträge stelle. Ähnlich formulierte es Alex Farinelli (fdp, TI) für die FDP-Fraktion, der die Bundesfinanzen mit der Titanic verglich – zwar scheine alles ruhig, bei genauerer Betrachtung sei «das Bild, insbesondere das mittelfristige, [aber] wesentlich problematischer und beunruhigender». Auch er verlangte daher die Setzung von Prioritäten. Demgegenüber hob Jean-Paul Gschwind (mitte, JU) das positive strukturelle Saldo des Voranschlags hervor, betonte aber auch, dass man für die Finanzplanjahre Korrekturmassnahmen einbringen müsse – insbesondere auch, weil die Gewinnausschüttung durch die SNB ausbleiben könne.
Deutlich weniger besorgt zeigten sich die Sprechenden der anderen Fraktionen über die finanzpolitische Situation. Roland Fischer (glp, LU) erachtete in Anbetracht der tiefen Schuldenquote des Bundes nicht in erster Linie die Defizite als problematisch, sondern die Ausgestaltung der Schuldenbremse, die es nicht erlaube, Schulden zu machen, um Investitionen zu tätigen. Auch Sarah Wyss (sp, BS) zeigte sich durch die «Mehrbelastungen ab 2024 [...] nicht besonders beunruhig[t]». Man müsse zwar reagieren, dabei aber vor allem auf Nachhaltigkeit setzen und von «kurzfristige[r] Sparwut» absehen. Gerhard Andrey (gp, FR) sah die Schuld für die finanzpolitischen Probleme vor allem bei denjenigen Mitgliedern des Parlaments, welche das Armeebudget stark aufgestockt und einen Abbau der Corona-Schulden über zukünftige Überschüsse durchgesetzt hätten. Statt über Sparmassnahmen solle man aber nun über zusätzliche Einnahmen, etwa im Rahmen einer Erbschaftssteuer, sprechen.

In der Folge behandelte der Nationalrat den Voranschlag 2023 in sechs Blöcken, beginnend mit einem ersten Block zu den Beziehungen zum Ausland und zur Migration. Hierbei lagen dem Rat keine Mehrheitsanträge der Kommission vor, jedoch zahlreiche Minderheitsanträge von Mitgliedern der Polparteien. Einerseits verlangten Minderheiten Badertscher (gp, BE), Friedl (sp, SG), Wettstein (gp, SO) sowie zwei Einzelanträge Pasquier-Eichenberger (gp, GE) etwa eine Aufstockung der Beiträge für humanitäre Aktionen oder an die Entwicklungszusammenarbeit mit den Ländern des Ostens, teilweise auch in den Finanzplanjahren. Andererseits forderten Minderheiten Grin (svp, VD), Guggisberg (svp, BE), Fischer (svp, ZH) sowie ein Einzelantrag der SVP-Fraktion etwa eine Reduktion des Schweizer Beitrags an ausgewählte EU-Mitgliedstaaten, an die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit oder an die Integrationsmassnahmen für Ausländerinnen und Ausländer (teilweise auch oder nur in den Finanzplanjahren) sowie die ordentliche Verbuchung der Ausgaben für Kriegsvertriebene aus der Ukraine. Die Minderheitsanträge blieben jedoch allesamt erfolglos.

Im zweiten Block zu Kultur, Bildung, Forschung, Familie und Sport lagen dem Nationalrat vier Kommissionsanträge vor. Im Sportbereich wollte die Kommission einerseits einen Kredit für die Sportverbände zugunsten der nationalen Meldestelle von Swiss Sport Integrity um CHF 360'000 aufstocken, zumal seit deren Schaffung Anfang 2022 dreimal mehr Meldungen eingegangen seien, als erwartet worden waren. CHF 650'000 sollten zudem für die Ausrichtung der Staffel-Weltmeisterschaft 2024 in Lausanne gesprochen werden, wobei der Bund einen Drittel der Gesamtfinanzierung übernehmen würde. Keine Aufstockung, sondern eine ausdrückliche Verwendung der CHF 390'000, welche der Bundesrat im Bereich Kinderschutz/Kinderrechte veranschlagt hatte, für eine Übergangslösung zur Stärkung der Kinderrechte verlangte die Kommission bei den Krediten des BSV. Eine Übergangslösung war nötig geworden, weil die Ombudsstelle für Kinderrechte, für die der Betrag gedacht war, noch nicht über eine gesetzliche Grundlage verfügte. Schliesslich verlangte die Kommission, dass CHF 35 Mio., welche nach dem Ausschluss der Schweiz aus Horizon Europe bei den EU-Forschungsprogrammen nicht benötigt werden, stattdessen Innosuisse zugesprochen werden. Der Nationalrat hiess alle vier Kommissionsanträge stillschweigend gut.
Weitere CHF 50 Mio. aus dem Kredit der EU-Forschungsprogramme zum Kredit für die Institutionen der Forschungsförderung verschieben wollte eine Minderheit Munz (sp, SH). Zudem verlangten zwei weitere Minderheiten Munz Aufstockungen bei der internationalen Mobilität Bildung zugunsten des Programms Erasmus+. Die Kredite gegenüber dem bundesrätlichen Vorschlag reduzieren wollten hingegen eine Minderheit I Grin bei den Institutionen der Forschungsförderung sowie eine Minderheit Guggisberg in den Finanzplanjahren bei der internationalen Mobilität Bildung und bei den Stipendien an ausländische Studierende. Mit 123 zu 68 Stimmen kürzte der Nationalrat in Übereinstimmung mit der Minderheit Munz den Kredit der EU-Forschungsprogramme zugunsten der Institutionen der Forschungsförderung, lehnte aber ansonsten sämtliche Minderheitsanträge ab. Dazu gehörten auch zwei Minderheiten Nicolet (svp, VD), welche bei Pro Helvetia (auch in den Finanzplanjahren) und bei der familienergänzenden Kinderbetreuung kürzen wollten.

Im Block 3 zu Umwelt und Energie hiess der Nationalrat die veranschlagten CHF 42 Mio. für Programme von EnergieSchweiz für den Heizungsersatz, zur Dekarbonisierung von Industrie und Gewerbe, zur Einführung von neuen Technologien und zur Bekämpfung des Fachkräftemangels sowie CHF 4 Mrd. für den Rettungsschirm Elektrizitätswirtschaft, welchen der Bundesrat in einer Nachmeldung beantragt hatte, gut. Eine Minderheit Schilliger (fdp, LU) hatte erfolglos eine Kürzung bei den Programmen von EnergieSchweiz im Voranschlag und in den Finanzplanjahren gefordert. Erfolglos blieben auch alle anderen Minderheiten etwa zur Streichung von CHF 10 Mio. für eine Winter-Energiespar-Initiative, zur Reduktion des Kredits für die Reservekraftwerke, aber auch für eine Erhöhung des Kredits für die Reservekraftwerke um CHF 100 Mio., um eine Erhöhung der Energiekosten für die Bevölkerung zu verhindern.

Erfolglos blieben auch sämtliche Minderheitsanträge im vierten Block zu den Themen «soziale Wohlfahrt, Gesundheit und Sicherheit», wo etwa eine Minderheit Wettstein (gp, SO) eine Erhöhung des Bundesbeitrags an das Schweizerische Rote Kreuz oder verschiedene Minderheiten Kürzungen beim Rüstungsaufwand oder bei verschiedenen Positionen zur Verteidigung beantragten.

Im fünften Block zu Standortförderung, Steuern und Landwirtschaft gab es nur einzelne Forderungen zu den ersten beiden Bereichen, etwa verlangte eine Minderheit Gysi (sp, SG) zusätzliche Mittel und Stellen in der Steuerverwaltung für mehr Mehrwertssteuerkontrollen und eine Minderheit Guggisberg eine Streichung der Neuen Regionalpolitik, da diese Aufgabe der Kantone sei. Das Hauptinteresse des Nationalrats galt in diesem Block aber der Landwirtschaft, zu der zahlreiche Mehr- und Minderheitsanträge vorlagen: Die Kommissionsmehrheit verlangte eine Erhöhung des Kredits für die Qualitäts- und Absatzförderung zugunsten des Schweizer Weins um CHF 6.2 Mio. (in Umsetzung einer Motion 22.3022, die vom Nationalrat angenommen, aber vom Ständerat an die WAK-SR verwiesen worden war). Eine Minderheit Munz wollte stattdessen einen Teil der bereits veranschlagten Mittel zur Umsetzung der Motion einsetzen, der Nationalrat folgte jedoch seiner Kommissionsmehrheit und beschloss die Krediterhöhung. Weiter beantragte die Kommissionsmehrheit, in den Planungsgrössen zu den Direktzahlungen die Höhe der Versorgungssicherheitsbeiträge auf CHF 1.1 Mrd. festzuschreiben, so dass diese entgegen der Absicht des Bundesrates nicht gekürzt werden könnten. Der Nationalrat folgte auch dieser Kommissionsmehrheit, während eine Minderheit Munz besagte Planungsgrösse erfolglos streichen wollte. Schliesslich sollten die Mittel für Wildtiere, Jagd und Fischerei gemäss Kommissionsmehrheit um CHF 4 Mio. zugunsten von Sofortmassnahmen für den Herdenschutz aufgestockt werden, wobei der Nationalrat auch hier der Komissionsmehrheit und nicht einer Minderheit Schneider Schüttel (sp, FR) auf Beibehalten des bundesrätlichen Betrags folgte. Erfolgreich war zudem eine Minderheit Grin für eine Erhöhung des Kredits für die Pflanzen- und Tierzucht um CHF 3.9 Mio. zugunsten einheimischer Nutztierrassen, nicht aber ein weiterer Minderheitsantrag Grin für einen Verzicht auf die Aufstockung des Funktionsaufwands beim Bundesamt für Landwirtschaft um CHF 900'000 zur Umsetzung einer parlamentarischen Initiative zur Verminderung des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln.

Im sechsten Block ging es abschliessend um den Eigenaufwand des Bundes und um die Schuldenbremse, wobei die Kommissionsmehrheit nur einen Antrag auf Änderung gegenüber der bundesrätlichen Version stellte: Bei den Planungsgrössen zum BABS sollte der Soll-Wert der Kundenzufriedenheit bei den Ausbildungsleistungen von 80 auf 85 Prozent und in den Finanzplanjahren auf 90 Prozent erhöht werden. Stillschweigend hiess der Nationalrat die Änderung gut. Zudem lagen zahlreiche Minderheitsanträge Nicolet auf Kürzungen im Personalbereich verschiedener Bundesämter (BAFU, BAG, BAK, BAV, BFS) sowie beim UVEK vor, die jedoch allesamt abgelehnt wurden – genauso wie weitere Kürzungsanträge im Personalbereich sowie bei den Sach- und Betriebsausgaben des SEM, zur Kürzung des Personalaufwands im Bereich der Social-Media-Strategie und der Digitalisierung sowie für Querschnittskürzungen beim BBL. Abgelehnt wurde aber auch ein Minderheitsantrag Schneider Schüttel zur Schaffung von zwei zusätzlichen Stellen beim BLV im Bereich Zulassung von Pflanzenschutzmitteln. Schliesslich scheiterte auch ein Antrag der SVP-Fraktion, die aus der Gewinnausschüttung der SNB veranschlagten Einnahmen von CHF 666.7 Mio. zu streichen, da die SNB diese nach ihren Verlusten voraussichtlich nicht würde tätigen können.

Nach langen Diskussionen, bei denen sämtliche Mehrheits- sowie einzelne Minderheitsanträge angenommen worden waren, hiess der Nationalrat den Voranschlag in der Gesamtabstimmung mit 137 zu 49 Stimmen (bei 4 Enthaltungen) gut. Die ablehnenden Stimmen stammten von der geschlossen stimmenden SVP-Fraktion sowie von einem Mitglied der Grünen. Angenommen wurden in der Folge auch der Bundesbeschluss über die Planungsgrössen im Voranschlag für das Jahr 2023 (138 zu 50 Stimmen bei 2 Enthaltungen), der Bundesbeschluss über den Finanzplan für die Jahre 2024-2026 (179 zu 12 Stimmen) sowie der Bundesbeschluss über die Entnahmen aus dem Nationalstrassen- und Agglomerationsverkehrsfonds für das Jahr 2023 (191 zu 0 Stimmen).

Voranschlag 2023 mit integriertem Aufgaben- und Finanzplan 2024-2026 (BRG 22.041)
Dossier: Bundeshaushalt 2023: Voranschlag und Staatsrechnung

Im August 2022, also über ein Jahr nach der Abstimmung in Moutier über einen Kantonswechsel des Städtchens von Bern zu Jura, reichten elf Stimmberechtigte eine Beschwerde gegen das Abstimmungsergebnis ein. Sie machten geltend, die jurassische Kantonsregierung habe die Stimmberechtigten vor der Abstimmung mit ihren Aussagen zur Zukunft des Spitals von Moutier in die Irre geführt. Das Spital gehört zu den grössten Arbeitgebern in Moutier und die Gegnerinnen und Gegner eines Kantonswechsels hatten schon seit Längerem argumentiert, ein Kantonswechsel würde die Zukunft des Spitals in Frage stellen. Die Zusicherung des jurassischen Regierungsrats, dass sich bei einem Kantonswechsel nichts an den im Spital Moutier angebotenen Leistungen ändern werde, hatte im Abstimmungskampf vor dem Urnengang vom 28. März 2021 deshalb viel Aufmerksamkeit erhalten. Ein Jahr nachdem sich die Stimmbevölkerung Moutiers 2021 schliesslich mit einer Mehrheit von 54.9 Prozent für einen Wechsel zum Kanton Jura ausgesprochen hatte, schickte das Gesundheitsamt des Kantons Jura indessen einen Entwurf für eine Spitalliste in die Vernehmlassung, mit welchem die Leistungen des Spitals Moutier – anders als im Abstimmungskampf versprochen – künftig reduziert würden.
Über die Beschwerde hatte die bernische Regierungsstatthalterin für den Berner Jura, Stéphanie Niederhauser, zu entscheiden, welche bereits 2018 eine frühere Abstimmung über einen Kantonswechsel Moutiers annulliert und diesen Entscheid unter anderem mit unzulässiger Abstimmungspropaganda durch die Gemeindebehörden begründet hatte. Die Geschichte wiederholte sich allerdings nicht: Im Oktober 2022 gab die Regierungsstatthalterin bekannt, dass sie die Beschwerde als unzulässig («irrecevable») erachte und nicht auf sie eintrete. Sie begründete dies damit, dass die künftige Spitalliste noch gar nicht definitiv sei. Ein Sprecher der Beschwerdeführenden gab daraufhin bekannt, man werde nun die definitive Spitalliste abwarten; falls diese weiterhin eine Reduktion des Leistungskatalogs beim Spital Moutier vorsehen und damit den jurassischen Zusicherungen aus dem Abstimmungskampf widersprechen sollte, werde man einen erneuten Rekurs prüfen. Die jurassische Regierungsrätin Nathalie Barthoulot (sp) wiederum liess verlauten, die medizinische Versorgung der Bevölkerung von Moutier werde auf jeden Fall garantiert; man werde sich bei der definitiven Festlegung der Spitalliste aber nicht von den Gegnerinnen und Gegnern des Kantonsübertritts unter Druck setzen lassen.

Votation communale du 18 juin 2017 à Moutier sur l'appartenance cantonale et répétition du 28 mars 2021
Dossier: Moutier und der Jurakonflikt

Ende April 2022 lancierte die WBK-NR ein Postulat, welches darauf abzielte, Kompetenzen von Geflüchteten zu erfassen. Der Bundesrat solle in einem Bericht aufzeigen, wie momentan das Bildungsniveau und Bildungspotenzial von geflüchteten Personen dokumentiert wird und wo allfällige Lücken in der Aufnahme dieser Daten bestehen. Nach momentanem Stand werde bei der Ankunft in der Schweiz der Bildungsstand durch das SEM nicht erhoben und auch die entsprechenden Daten der Kantone seien lückenhaft, argumentierte die Kommission. In seiner Stellungnahme erwiderte der Bundesrat, dass man sich bereits mit der effektiven Nutzung und Förderung der Kompetenzen von geflüchteten Personen beschäftige. Das SEM untersuche konkret, welche bildungsrelevanten Faktoren von Geflüchteten wie erfasst werden. Die Regierung beantragte folglich die Ablehnung des Postulats. Eine ebenfalls ablehnende Kommissionsminderheit Keller (svp, NW) fügte an, die Integration geflüchteter Personen sei Sache der Kantone und Gemeinden, weshalb es Sinn ergebe, allfällige demografische Daten auf jenen Ebenen zu erheben. In der Herbstsession 2022 nahm der Nationalrat das Postulat mit 126 zu 58 Stimmen bei einer Enthaltung an, wobei sich lediglich die geschlossene SVP-Fraktion und einer Minderheit der FDP.Liberalen-Fraktion dagegen positionierten.

Kompetenzen von Geflüchteten erfassen und nutzen (Mo. 22.3393)

In der Herbstsession 2022 nahm auch der Ständerat die Motion der SPK-NR zur Wahrung des Stimmgeheimnisses für Menschen mit Sehbehinderung an. Die SPK-SR befürworte das Anliegen einstimmig, berichtete Kommissionssprecher Daniel Fässler (mitte, AI) der kleinen Kammer. Viele Kommissionsmitglieder seien sich nicht bewusst gewesen, dass Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung bei der Wahrnehmung ihres Stimmrechts eingeschränkt seien. Über 250'000 Stimmberechtigte müssten deswegen Hilfe von Dritten annehmen. Die Kommission unterstütze die Forderung nach Abstimmungsschablonen, weil damit das Stimmgeheimnis für Menschen mit Sehbehinderung gewahrt werden könne. Diese einfache und pragmatische Lösung sei ein Beitrag zum Abbau der Diskriminierung von Menschen mit Behinderung, wie dies vom Behindertengleichstellungsgesetz und vom internationalen Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verlangt werde. Bundeskanzler Walter Thurnherr bekräftigte, dass auch der Bundesrat den Vorstoss unterstützte, und erinnerte daran, dass grundsätzlich die Kantone dafür verantwortlich seien, dass politische Rechte von allen Stimmberechtigten wahrgenommen werden können. Die kleine Kammer überwies die Motion in der Folge ohne Diskussion.

Wahrung des Stimmgeheimnisses für Menschen mit Sehbehinderung (Mo. 22.3371)
Dossier: Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen

Die Mehrheit der SPK-SR sprach sich ein zweites Mal dagegen aus, der parlamentarischen Initiative ihrer Schwesterkommission Folge zu geben, mit der eine Präzisierung von Unterlistenverbindungen angestrebt werden sollte. In der ständerätlichen Debatte stand zwar kein Minderheitenantrag, aber ein Einzelantrag von Jakob Stark (svp, TG) zur Diskussion, weshalb Kommissionssprecher Mathias Zopfi (gp, GL) die Idee der Initiative ausführte. Auslöser der Diskussion seien wohl Unterlistenverbindungen bei den Nationalratswahlen 2019 gewesen. So habe etwa die GLP im Kanton Basel-Stadt auch deshalb einen Sitz gewonnen, weil sie sich zusammen mit der jungen GLP, aber auch der BDP und der EVP zur Unterlistenverbindung «Mitte» zusammengeschlossen habe. Zusätzlich habe aber auch eine Listenverbindung all dieser vier jeweils als «Mitte» betitelten Parteien (Mitte-GLP, Mitte-BDP, Mitte-EVP, Mitte-JGLP) mit der FDP, der CVP und der LDP bestanden. Auch in der staatsrechtlichen Literatur sei umstritten, ob besagte Unterlistenverbindung rechtlich zulässig gewesen sei, weil es sich hier eigentlich um «Unterlistenverbindungen zwischen verschiedenen Gruppierungen» handle. Hier wolle die SPK-NR Klarheit schaffen und explizit Unterlistenverbindungen nur noch zwischen «Flügeln von Parteien», aber nicht mehr zwischen «ähnlichen Gruppierungen» zulassen, wie es heute geregelt sei. Allerdings – und das sei der Grund für die Empfehlung der SPK-SR, der parlamentarischen Initiative keine Folge zu geben – würde diese Regelung erstens Parteien bevorzugen und Gruppierungen schaden, die ebenfalls bei Wahlen antreten, und zweitens würde sie nichts zur Klärung beitragen: Weder eine «Gruppierung» noch eine «Partei» könnten eindeutig definiert werden, so Zopfi. Jakob Stark erachtete dies als wichtige staatspolitische Frage. Unterlistenverbindungen seien mit viel Intransparenz verbunden und die Wählenden wüssten deshalb häufig nicht, wem sie eigentlich ihre Stimme gäben. Mit der neuen Lösung könnte etwas mehr Transparenz geschaffen werden, weil nur noch Unterlistenverbindungen innerhalb der gleichen Partei ermöglicht würden. Dies könnte im Gegensatz zur geltenden Regelung einfach kontrolliert werden. Dem widersprach Mathias Zopfi allerdings in einem weiteren Votum. Die aktuelle Regelung erachtete er als ausreichend: Auch mit dem Begriff «Gruppierung» hätten die Kantone die Handhabe, Entscheidungen wie in Basel-Stadt zu unterbinden. Es dürfe nicht jedes Mal zu Gesetzesänderungen kommen, bloss weil in den Kantonen bestehende Gesetze nicht richtig angewendet würden. Mit 32 zu 7 Stimmen (2 Enthaltungen) sprach sich die Ratsmehrheit gegen Folgegeben aus und erledigte den Vorstoss.

Präzisierung der Unterlistenverbindungen (Pa.Iv. 21.402)
Listenverbindungen und Zuteilungsverfahen – Reformvorschläge für eidgenössische Wahlen

Ohne Diskussion lehnte der Ständerat die parlamentarische Initiative von Jürg Grossen (glp, BE) ab, die verlangt hätte, dass Titel von Gesetzen mit deren Inhalt übereinstimmen müssen. Weil die SPK-SR dem Begehren erneut keine Folge geben wollte und kein Gegenantrag formuliert worden war, kam es lediglich zur Begründung der Kommission, die von Philippe Bauer (fdp, NE) vorgetragen wurde: Obwohl sowohl die SPK-NR als auch die Mehrheit des Nationalrats hier offensichtlich ein Problem sähen und auch die eigene Kommission durchaus Verständnis für das Anliegen habe, brauche es aus ihrer Sicht keine Gesetzesänderung. Es sei an den Sachbereichskommissionen selber, bei Titeln und Untertiteln von Gesetzen die nötige Sorgfalt walten zu lassen und damit die nötige Klarheit zu schaffen.

Titel von Gesetzen müssen mit dem Inhalt übereinstimmen (Pa.Iv. 20.462)
Dossier: Stimmzettel als Informationsträger?

Ende Mai 2022 setzte der Bundesrat die teilrevidierte Verordnung über die politischen Rechte (VPR) und die totalrevidierte Verordnung der Bundeskanzlei über die elektronische Stimmabgabe (VEleS) per 1. Juli 2022 in Kraft. Damit konnten Kantone, die dies wollten und dafür die Bewilligung erhielten, wieder Versuche mit E-Voting durchführen. Im Vergleich zu den in der Vernehmlassung mehrheitlich begrüssten Vorlagen gab es kaum Änderungen. Die wichtigsten Elemente der Revisionen betrafen eine Stärkung der Sicherheit – neu werden nur noch vollständig verifizierbare und von unabhängigen Expertinnen und Experten geprüfte Systeme zugelassen –, eine erhöhte Transparenz – Informationen zu den Systemen müssen offengelegt werden – sowie eine laufende Überprüfung der Systeme auf Mängel, die nicht nur von Expertinnen und Experten, sondern auch von der Öffentlichkeit vorgenommen werden kann. Der Bund wollte sich zudem dafür einsetzen, dass eine Bundesbeteiligung bei der Finanzierung der Versuche über die Töpfe der «Digitalen Verwaltung Schweiz» (DVS) erfolgen kann.
Laut Medienmitteilung des Bundesrats planten «einzelne Kantone», die Versuche mit E-Voting wieder aufzunehmen und zwar mit dem neuen System der Post, das freilich vom Bund bzw. eben von unabhängigen Expertinnen und Experten noch überprüft werden musste. Eine erste Überprüfung, deren Resultate im April 2022 vorgelegt worden waren, hatte noch keine Bewilligung zugelassen.

Neuausrichtung des Versuchsbetriebs von E-Voting
Dossier: Vote électronique

Der Bundesrat publizierte Ende Juni 2022 in Umsetzung einer Motion Eymann (lpd, BS) einen Bericht zur sprachlichen Förderung im Vorschulalter. Das SBFI hatte den Bericht gestützt auf eine wissenschaftliche Studie der Pädagogischen Hochschule St. Gallen, der Universität Genf und des Forschungsbüros INFRAS erarbeitet. Die Autorinnen und Autoren hielten fest, dass die Sprachförderung im Vorschulalter einen wichtigen Teil der allgemeinen frühen Bildung darstelle und daher auch in diesem Rahmen angegangen werden soll. Im Bericht wurden mehrere entsprechende Empfehlungen formuliert. Unter anderem empfahl der Bericht, beim Bund eine koordinierende Organisationseinheit «Frühe Bildung» zu schaffen. Diese solle dafür sorgen, dass der Bund – etwa in Form eines Gesetzes – die Grundprinzipien für den Zugang zu den Angeboten der frühen Sprachförderung, deren verlangte Qualität und deren Finanzierung festlegt, und so der heterogenen Politik auf kantonaler und kommunaler Ebene entgegenwirke. An die Kantone und Gemeinden gerichtet, welche im Rahmen der frühen Bildung die Hauptverantwortung tragen, riet der Bericht, universelle und alltagsintegrierte Ansätze der frühen Sprachförderung anzuwenden, indem diese Förderung in die alltäglichen Aktivitäten der Institutionen, aber auch der Eltern einfliesst. Dafür sollen die professionellen Betreuungspersonen entsprechend ausgebildet werden, zudem sollen den Eltern Unterstützungs-, Beratungs- und Bildungsleistungen angeboten werden.
Weiter hielt der Bericht fest, dass der Bund im Rahmen des befristeten Impulsprogramms bereits jetzt den Ausbau der Strukturen für die ausserfamiliäre Kinderbetreuung und damit die frühe Sprachförderung finanziell unterstütze. Zudem werde der Bund untersuchen, «welche Chancen die familienzentrierte Vernetzung als bedarfsgerechte Orientierungshilfe für fremdsprachige Familien oder Familien mit besonderen Bedürfnissen bietet». Schliesslich werde er auch die weiteren Entwicklungen im Rahmen des überwiesenen Postulats Baume-Schneider (sp, JU; Po. 21.3741) zur Schaffung einer nationalen Beobachtungsstelle für die frühe Kindheit im Auge behalten.

Frühe Sprachförderung vor dem Kindergarteneintritt als Voraussetzung für einen Sek-II-Abschluss und als Integrationsmassnahme (Mo. 18.3834)
Dossier: Frühe Kindheit

Man würde «zur Transparenz in der Demokratie beitragen», wenn auf dem Abstimmungszettel ein Hinweis auf bestehende indirekte Gegenvorschläge angebracht würde, begründete Marcel Dobler (fdp, SG) seine im März 2022 eingereichte Motion. Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger müssten bei der Abstimmung über eine Volksinitiative wissen, ob das Parlament einen alternativen Gesetzesvorschlag geschaffen habe. Dies sei aber auf dem Stimmzettel, der ja lediglich die Abstimmungsfrage enthalte, nicht ersichtlich, weil über einen indirekten Gegenvorschlag – im Gegensatz zum direkten Gegenentwurf – nicht gleichzeitig mit der Initiative abgestimmt werde.
Der Bundesrat begründete seine Empfehlung auf Ablehnung der Motion damit, dass die Informationen zu einem indirekten Gegenvorschlag in den Abstimmungsunterlagen festgehalten werden. Der Stimmzettel bzw. die darauf formulierte Abstimmungsfrage dürfe hingegen auch keinen Informationsauftrag erfüllen. Es bestehe sonst sogar die Gefahr, dass die freie Willensbildung der Stimmberechtigten eingeschränkt würde.
In der Ratsdebatte in der Sommersession 2022 verwies Dobler auf die Pflegeinitiative. Er vermutete, dass zahlreiche Stimmberechtigte nicht gewusst hätten, dass im Fall einer Ablehnung der Initiative der indirekte Gegenvorschlag des Parlaments in Kraft getreten wäre. Ein Vermerk auf diesen Gegenvorschlag auf dem Stimmzettel hätte also wohl eine Verbesserung der Abstimmungsinformation dargestellt. Der Umstand, dass nicht weniger als 83 Parlamentsmitglieder seine Motion mitunterzeichnet hätten, sei zudem Beleg, dass sein Vorstoss weder links noch rechts anzusiedeln sei, sondern lediglich die Information verbessern wolle. Bundeskanzler Walter Thurnherr betonte die zunehmende Bedeutung des indirekten Gegenvorschlags. Rund der Hälfte aller Initiativen habe das Parlament in den letzten Jahren ein alternatives Gesetz entgegengestellt, aber nicht immer würden die Initiantinnen und Initianten ihr Volksbegehren in der Folge zurückziehen. In diesem Fall sei für die Meinungsbildung in der Tat wichtig, dass über einen indirekten Gegenvorschlag informiert werde. Dies sei aber nicht nur bei den behördlichen Informationen, sondern in der Regel in den meisten übrigen Informationsquellen tatsächlich auch der Fall. Der Bundeskanzler betonte zudem explizit das Argument des Bundesrats, dass eine Information auf dem Stimmzettel als Stellungnahme gewertet werden könnte, was die Willensbildung in unzulässiger Weise beeinträchtigen würde. Nur gerade Greta Gysin (gp, TI) liess sich von diesem exekutiven Argument überzeugen. Die restlichen Parlamentsmitglieder aus allen Lagern stimmten für die Motion (182) oder enthielten sich der Stimme (5).

Hinweis auf bestehende indirekte Gegenvorschläge auf dem Abstimmungszettel (Mo. 22.3132)
Dossier: Stimmzettel als Informationsträger?

Mit ihrer Forderung nach Wahrung des Stimmgeheimnisses für Menschen mit Sehbehinderung stiess die SPK-NR auf offene Ohren. Konkret forderte die Kommission einstimmig, dass Abstimmungsschablonen eingeführt sowie eine Standardisierung der Stimmzettel durchgesetzt werden, mit denen sehbehinderte Menschen selbständig abstimmen können. Aktuell sind Menschen mit Sehbehinderung auf die Unterstützung einer nicht sehbehinderten Person angewiesen. Sie müssen der helfenden Person nicht nur vertrauen können, auch das Wahl- und Stimmgeheimnis ist damit für sehbehinderte Personen nicht gewahrt. Die geforderte technische Lösung müsste laut SPK-NR etwa 80'000 bis 100'000 Betroffenen von den Gemeinden zur Verfügung gestellt werden, wobei mit einem Anschaffungspreis von CHF 35 bis CHF 50 zu rechnen sei.
In der Ratsdebatte wiesen die Kommissionssprecherin Delphine Klopfenstein Broggini (gp, GE) und der Kommissionssprecher Andri Silberschmidt (fdp, ZH) darauf hin, dass es noch eine Reihe von offenen Fragen gebe. So biete eine Abstimmungsschablone bei Wahlen keine Lösung, zudem sei nicht klar, wer die Kosten zu tragen habe. Um das Stimmgeheimnis auch Menschen mit Behinderungen zu gewähren, müsse man aber Lösungen finden. Bundeskanzler Walter Thurnherr sicherte die Unterstützung des Bundesrats zu, der die Motion zur Annahme empfahl. Man werde mit den Kantonen Lösungen suchen. Er wies zudem darauf hin, dass sich auch dank E-Voting Lösungen ergeben könnten. Der Nationalrat nahm die Motion in der Folge stillschweigend an.

Wahrung des Stimmgeheimnisses für Menschen mit Sehbehinderung (Mo. 22.3371)
Dossier: Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen

Mit 117 zu 66 Stimmen nahm der Nationalrat in der Sommersession 2022 ein Postulat von Christian Dandrès (sp, GE) an, das einen Bericht darüber verlangte, wie bundesrätliche Fehlinformationen während Abstimmungskampagnen angefochten und korrigiert werden könnten. Es gehe ihm um die Gewährleistung der freien Meinungsbildung der Bürgerinnen und Bürger, wie Dandrès seinen Vorstoss begründete. Er warf dem Bundesrat etwa vor, bei der Abstimmung über das Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT) im Abstimmungsbüchlein Fehlinformationen verbreitet zu haben. Zudem habe er dort auch unterschlagen, dass das PMT mit den Menschenrechten unvereinbar sei. Behördeninformationen seien zentral für die Meinungsbildung. Wenn sie aber falsch und nicht transparent seien, sei dies auch deshalb ein Problem, weil bundesrätliche Information nicht von einem Gericht überprüft werden könnten. Mit dem Postulat solle nun insbesondere untersucht werden, wie solche Fehlinformationen angefochten werden könnten. Bundeskanzler Walter Thurnherr vertrat in der Debatte die Empfehlung des Bundesrats, das Postulat abzulehnen. Die Bundeskanzlei habe bereits seit einigen Jahren verschiedene Massnahmen ergriffen, um die Qualität der Informationen in den Abstimmungserläuterungen zu sichern – eine enge Zusammenarbeit mit den Departementen, Checklisten zur Qualitätssicherung durch das federführende Departement und Ämterkonsultationen. Fehler, die passieren könnten, würden zudem in standardisierten Prozessen aufgearbeitet, um das Verfahren weiter zu verbessern. Die geschlossen stimmenden Fraktionen von SP, GP und SVP erachteten diese Massnahmen wohl als zu wenig griffig und verhalfen dem Anliegen zum Erfolg.

Gewährleistung der freien Meinungsbildung der Bürgerinnen und Bürger (Po. 21.4168)
Dossier: Abstimmungserläuterungen des Bundesrats

«Die Ausländerinnen von heute sind die Frauen von damals», zitierte Balthasar Glättli (gp, ZH) zu Beginn der durch zwei parlamentarische Initiativen zum Stimm- und Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer angestossenen Debatte einen Vergleich zwischen den vor 1971 vom politischen Prozess ausgeschlossenen Frauen und den nach wie vor exkludierten Ausländerinnen und Ausländern aus der NZZ. Zwar sei 1971 ein «Demokratieproblem» gelöst worden, es bestehe aber noch ein weiteres, das angegangen werden könne, wenn man der parlamentarischen Initiative der grünen Fraktion Folge gebe. Auch der zweite Initiant, Mustafa Atici (sp, BS), argumentierte, dass der Ausschluss rund eines Viertels der Bevölkerung die direkte Demokratie der Schweiz unvollständig mache. Im Gegensatz zum Vorstoss der grünen Fraktion, die das passive und aktive Stimm- und Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer auf Bundesebene einführen wollte, forderte Atici dieses für kommunale Angelegenheiten. Beiden Anliegen war gemein, dass sie als Bedingung für die Vergabe der politischen Rechte wenigstens fünf Jahre Wohnsitz in der Schweiz voraussetzten. Die Ratsdebatte war nötig geworden, weil die SPK-NR mit je 17 zu 8 Stimmen empfohlen hatte, beiden Anliegen keine Folge zu geben. Die hauptsächlichen Argumente für die abschlägige Empfehlung wurden von Kommissionssprecherin Marianne Binder-Keller (mitte, AG) und Kommissionssprecher Damien Cottier (fdp, NE) vorgebracht: Wer politische Rechte ausüben wolle, müsse sich lediglich einbürgern lassen. Zudem könne die Einführung eines kommunalen Stimm- und Wahlrechts nicht auf der Bundesebene bestimmt werden, sondern sei eine kantonale Angelegenheit. Darüber hinaus erachte die Kommission die Integration von Ausländerinnen und Ausländern in der Schweiz gar «ungeteilt» als «zufriedenstellend»: «Angesichts eines der höchsten Ausländeranteile in Europa gibt es kaum nennenswerte Schwierigkeiten, und ganz offensichtlich fühlen sich die Menschen ausländischer Staatsbürgerschaft abgeholt», erklärte die Kommissionssprecherin. Dies mache den Besitz von Stimm- und Wahlrecht nicht vordringlich. Binder-Keller liess es sich zudem nicht nehmen, den einleitenden Vergleich Glättlis vehement zu kritisieren. Es sei eine «schreiende Ungerechtigkeit» gewesen, «Bürgerinnen und Bürger in einem Land unterschiedlich zu behandeln». Im Gegensatz zu damals bestehe ja heute die Möglichkeit, sich einbürgern zu lassen. Eine links-grüne Kommissionsminderheit stellte bei beiden Vorstössen einen Antrag auf Folgegeben, dem in beiden Fällen allerdings nur die Fraktionen der SP und der Grünen folgten. Die 63 Stimmen reichten allerdings gegen die 110 (Pa.Iv. Atici; 4 Enthaltungen) bzw. 113 (Pa.Iv. GP, 0 Enthaltungen) Gegenstimmen nicht aus. Die Vergabe des Stimm- und Wahlrechts für Nicht-Schweizerinnen und -Schweizer auf kommunaler Ebene hängt somit weiterhin vom Wohlwollen der kantonalen Stimmbevölkerungen ab.

Stimm- und Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer (Pa.Iv 21.405 & Pa.Iv. 21.414)
Dossier: Einführung des Ausländerstimmrechts

Wie könnte die Stimm- und Wahlbeteiligung gefördert werden? Um diese Frage zu beantworten, beantragte Gabriela Suter (sp, AG) mittels eines Postulats beim Bundesrat einen Bericht. Die politische Partizipation sei in der Schweiz «chronisch tief», begründete die Sozialdemokratin ihr Anliegen und führte in der Debatte in der Sommersession 2022 ein paar aktuelle kantonale und kommunale Wahlen auf, bei denen nicht einmal ein Drittel aller Wahlberechtigten ihr Wahlrecht genutzt hatten. Es stelle sich nicht nur die Frage der demokratischen Legitimation bei solch geringer Beteiligung, sondern diese gehe auch mit Ungleichheit einher, so die Postulantin. Junge, Frauen und Angehörige unterer Bildungs- und Einkommensschichten beteiligten sich weniger stark und würden entsprechend auch weniger gut repräsentiert. Der Bundesrat solle deshalb in einem Bericht mögliche Massnahmen aufzeigen, mit denen die zu geringe politische Partizipation wieder erhöht werden könnte. Zu denken sei etwa an eine Einführung der Stimmpflicht wie im Kanton Schaffhausen, an die Etablierung von sogenannten Super Sundays, an denen mehrere Kantone gleichzeitig Regierung und Parlament wählen, eine gezielte Sensibilisierung von Bevölkerungsgruppen, die Belohnung der Teilnahme mittels eines Steuerabzugs oder die Erweiterung der Zahl der Stimmberechtigten. Bundeskanzler Walter Thurnherr vertrat die ablehnende Position des Bundesrats. Dieser teile die Einschätzung über die grosse Bedeutung der politischen Beteiligung für eine Demokratie. Diese könne in der Schweiz aber nicht nur sehr häufig ausgeübt werden, sondern sei gemessen an nationalen Wahlen und Abstimmungen auch nicht rückläufig. Zahlreiche Studien hätten zudem gezeigt, dass der Verzicht auf das Stimm- und Wahlrecht kein Zeichen für «Politikverdrossenheit» sei, sondern es vielmehr Anzeichen dafür gebe, dass viele Personen selektiv teilnehmen würden. Bereits heute fördere der Bund die Mobilisierung mittels verschiedener Kommunikationsinstrumente und auch die vom Bund finanzierten VOX-Abstimmungsanalysen trügen «zum besseren Verständnis der politischen Beteiligung bei». Aus Sicht des Bundesrats würden schliesslich weder Stimmpflicht noch monetäre Anreize zur «Qualität der politischen Partizipation» beitragen. Dies habe der Nationalrat bereits vor sechs Jahren bei der Ablehnung einer entsprechenden parlamentarischen Initiative von Lorenz Hess (bdp, BE; Pa.Iv. 15.498) so gesehen. Eine bürgerliche Mehrheit des Nationalrats folgte dem Bundesrat und lehnte das Postulat mit 103 zu 80 Stimmen ab. Die geeinten Fraktionen von SP, GP und GLP standen den geschlossenen Fraktionen von FDP, Mitte-EVP und SVP gegenüber.

Stimm- und Wahlbeteiligung fördern (Po. 20.4720)

Weil die SPK-NR trotz anderslautender Empfehlung ihrer ständerätlichen Schwesterkommission an ihrer Unterstützung für die Parlamentarische Initiative von Jürg Grossen (glp, BE) festhalten wollte, musste das Anliegen im Nationalrat beraten werden. Grossen verlangt gesetzliche Grundlagen, mit denen überprüft werden kann, ob Titel von Gesetzen mit deren Inhalt übereinstimmen. In der Ratsdebatte machte der Initiant einige Beispiele: Beim Bau der «zweiten Gotthardröhre» habe die Abstimmungsfrage gelautet: «Wollen Sie die Änderung vom 26. September 2014 des Bundesgesetzes über den Strassentransitverkehr im Alpengebiet (Sanierung Gotthard-Strassentunnel) annehmen?». Dass es um eine zweite Röhre gegangen sei, sei aufgrund des Titels nicht klar gewesen. Häufig würden zudem Titel ohne weitere Präzisierungen gewählt, wie etwa «Luftfahrtgesetz. Änderung» oder «Strassenverkehrsgesetz. Änderung». Aus Gesetzestiteln müsse klar werden, worum es gehe, damit «die Bevölkerung die Politik [nicht] als unverständliches Buch mit sieben Siegeln» wahrnehme. Eine Kommissionsminderheit, angeführt von Kurt Fluri (fdp, SO), sah dies anders und argumentierte, dass das Problem nicht auf Gesetzesebene gelöst werden solle. Zudem könne ein Titel wohl gar nicht alle Aspekte umfassen, die wichtig seien. Man müsse von den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern erwarten können, dass sie nicht nur die Überschrift, sondern auch den Inhalt einer Vorlage betrachteten. Die Kommissionsmehrheit wurde in der Ratsdebatte der Sommersession 2022 von Corina Gredig (glp, ZH) vertreten, die für mehr Transparenz und eine «bürgernahe Gesetzgebung» warb, welche verständliche Abstimmungstitel voraussetzten. Die Ratsmehrheit folgte der Kommissionsmehrheit. Mit 132 zu 52 Stimmen (1 Enthaltung) beschloss der Nationalrat Folgegeben. Die geschlossene FDP.Liberale Fraktion und die grosse Mehrheit der Mitte-Fraktion unterstützten die Kommissionsminderheit.

Titel von Gesetzen müssen mit dem Inhalt übereinstimmen (Pa.Iv. 20.462)
Dossier: Stimmzettel als Informationsträger?

Die Demokratie sei «infiziert», das Virus schnüre «den Volksrechten die Luft ab» oder die direkte Demokratie sei «in Gefahr», titelten verschiedene Medien die Diskussionen um die Auswirkung von Covid-19 auf die Sammlung von Unterschriften für Referenden und Volksinitiativen. In der Tat hatte der Bundesrat während des ersten Lockdowns einen Fristenstillstand beschlossen – zwischen 21. März und 31. Mai 2020 war das Sammeln von Unterschriften verboten. Zwar wurden in der Folge die üblichen Sammelfristen um diese fehlenden 72 Tage verlängert, die Komitees beklagten sich aber, dass das Sammeln von Unterschriften wegen Abstandsregeln, Versammlungs- und Veranstaltungsverboten stark erschwert sei. Leute, die für eine Unterschrift angesprochen würden, hätten teilweise «geharnischt reagiert», gab etwa Franz Grüter (svp, LU) zu Protokoll, der für seine Initiative für ein «E-Voting-Moratorium» Unterschriften sammelte. Man sei deshalb mit der Sammlung «massiv in Rückstand geraten». In der Tat gelte die Initiative, die einen Stopp der Versuche für E-Voting verlangt hätte, als «erste Volksinitiative», die von Corona gestoppt worden sei, wie die Aargauer Zeitung Ende Juni 2020 vorrechnete.

Verschiedene Komitees gelangten in der Folge mit einem Brief an den Bundesrat, in dem sie eine Verlängerung der Sammelfristen forderten. Trotz Unterstützung der SPK-NR stiess die Forderung bei der Regierung auf taube Ohren. In den Medien wurde einerseits dieser Entscheid kritisiert, andererseits die Argumentation des Bundesrates unterstützt, wonach ein Eingriff des Bundesrates per Notrecht in die Verfassung, wo die Fristen definiert sind, ein «gefährliche[s] Präjudiz» darstelle. Hingegen setzte der Bundesrat im Rahmen der Beratungen um das Covid-19-Gesetz in der Herbstsession 2020 die von Thomas Minder (parteilos, SH) vertretene Forderung um, die Stimmrechtsbescheinigungen zu erlassen. In der Folge konnten die Komitees also darauf verzichten, innerhalb der ihnen zur Verfügung stehenden Frist die gesammelten Unterschriften von den Gemeinden beglaubigen zu lassen. Für eine befristete Dauer sollte die Bundeskanzlei die Beglaubigung nach Ablauf der Fristen durchführen. Damit bleibe den Komitees «100 Tage Zeit fürs Sammeln, wie es in der Verfassung steht, und nicht nur 80», freute sich Daniel Graf, Gründer der Unterschriftensammelplattform «WeCollect» in der NZZ – freilich war jedoch 2013 die ursprüngliche Frist von 90 Tagen wegen des Aufwands der Stimmrechtsbescheinigung um 10 Tage verlängert worden.

Trotz dieser Massnahme des Bundesrates kämen wohl viele Volksbegehren nicht zustande, weil die «Face-to-Face-Demokratie [...] völlig eingebrochen» sei, erörterte etwa Oswald Sigg gegenüber den Medien, der für den erneuten Anlauf für seine Initiative «für ein bedingungsloses Grundeinkommen» Unterschriften sammelte. Entsprechend versuchten es verschiedene Komitees auch mit neuen Sammelformen. So wurden beispielsweise vermehrt Sammelplattformen wie etwa «WeCollect» bemüht. Das Komitee, das – letztlich erfolglos – ein Referendum gegen die Covid-19-App lancierte, schaltete gar in verschiedenen Regionalzeitungen Anzeigen mit Unterschriftenbogen.
Als Folgen der Schwierigkeiten des Sammelns machten die Medien nicht nur ein vermehrtes Scheitern an den Sammelhürden aus, sondern auch einen merklichen Rückgang der Zahl lancierter Volksbegehren. In der Tat wurden 2020 lediglich vier Initiativen lanciert – im Schnitt wurden seit 1979 für doppelt so viele Begehren pro Jahr Unterschriftensammlungen gestartet. Diskutiert wurde in den Medien zudem, dass die Balance zwischen direkter und repräsentativer Demokratie aus dem Gleichgewicht geraten könnte, wenn schwächer werdende Referendumsdrohungen dem Parlament mehr Spielraum lassen würden. Freilich nahm die Zahl ergriffener Referenden gar eher wieder zu und auch die Lancierung neuer Volksbegehren stieg ab 2021 wieder an: 2021 wurden neun neue Volksbegehren lanciert.

Dass die direkte Demokratie unter der Pandemie leide, zeige auch die Absage der Landsgemeinden in den Kantonen Glarus und Appenzell-Innerrhoden, urteilte die NZZ Ende August 2020. In Appenzell Innerrhoden, wo die Landsgemeinde 2020 und 2021 durch Urnengänge ersetzt wurde, wurde eine Stimmrechtsbeschwerde eingereicht. Diese wurde Anfang März 2022 vom Bundesgericht allerdings abgewiesen.

Unterschriftensammlung - Probleme
Dossier: Covid-19 und Volksrechte

Jahresrückblick 2021: Soziale Gruppen

Eine überaus wichtige Neuerung im Themenbereich der sozialen Gruppen wurde 2021 für gleichgeschlechtliche Paare eingeführt. Im September nahm die Stimmbevölkerung mit einem deutlichen Ja-Anteil von 64 Prozent die «Ehe für alle» an. Neben der Möglichkeit der Eheschliessung waren damit für gleichgeschlechtliche Paare weitere Ungleichheiten im Familienleben beseitigt worden: In Zukunft ist es auch ihnen möglich, gemeinsam ein Kind zu adoptieren, zudem erhalten verheiratete Frauenpaare Zugang zur Samenspende. Die Relevanz dieser Abstimmung widerspiegelt sich im Ergebnis der APS-Zeitungsanalyse 2021, die einen diesem Ereignis geschuldeten Höchststand an Artikeln zur Familienpolitik im Abstimmungsmonat aufzeigt (vgl. Abbildung 1 im Anhang). Kein anderes Thema im Bereich der sozialen Gruppen erzielte im beobachteten Jahr eine ähnlich hohe mediale Aufmerksamkeit.

Erstmals in der Geschichte der Schweizer Frauen- und Gleichstellungspolitik veröffentlichte der Bundesrat 2021 eine nationale Gleichstellungsstrategie, die jedoch von Frauenorganisationen und linken Parteien kritisiert wurde. Ferner gaben die Kommissionen einer parlamentarischen Initiative Folge, welche die befristete Finanzierung für die familienergänzende Kinderbetreuung durch eine dauerhafte, vom Bund unterstützte Lösung ersetzen will. Der 2022 vorzulegende Entwurf soll die Eltern bei der Finanzierung der Betreuungsplätze massgeblich entlasten und somit zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen. Gleichzeitig wurden im Berichtsjahr aber verschiedene Vorstösse mit ähnlichen, bereits konkreter ausformulierten Vorstellungen in Form einer parlamentarischen Initiative, einer Standesinitiative und einer Motion abgelehnt. Ebenfalls zur Verbesserung der Stellung der Frauen im Beruf beitragen soll die 2018 geschaffene Revision des Gleichstellungsgesetzes, mit der Unternehmen mit über 100 Mitarbeitenden zur Durchführung von Lohnanalysen verpflichtet worden waren. Erste, im August 2021 publizierte Analyseergebnisse von ausgewählten Unternehmen zeichneten ein positives Bild, das jedoch unter anderem wegen fehlender Repräsentativität in Zweifel gezogen wurde. Nach wie vor sind Unternehmen nicht verpflichtet, die Ergebnisse ihrer Lohnanalysen an den Bund zu übermitteln. Gegen eine entsprechende Regelung hatte sich der Ständerat im Juni erfolgreich gewehrt.

Nachdem im Vorjahr der zweiwöchige Vaterschaftsurlaub in einer Volksabstimmung angenommen worden war, gingen die politischen Diskussionen rund um die Ausdehnung von Urlaubsmöglichkeiten für Eltern 2021 weiter. Eine Standesinitiative aus dem Kanton Jura und eine parlamentarische Initiative mit diesem Ziel stiessen im Parlament indes auf wenig Gehör. Der Nationalrat verabschiedete jedoch ein Kommissionspostulat, das die volkswirtschaftlichen Auswirkungen einer Elternzeit aufzeigen soll. In den Räten setzte sich zudem mit Annahme einer Vorlage zum Adoptionsurlaub eine langjährige Forderung in der Minimalvariante durch: Eltern, die ein Kind unter vier Jahren adoptieren, haben künftig Anrecht auf einen zweiwöchigen Urlaub.

Auch das Thema der Gewalt gegen Frauen blieb 2021 auf der politischen Agenda, immer wieder angetrieben durch Zeitungsberichte über häusliche Gewalt und Femizide. Das Parlament überwies drei Motionen, welche die Bereitstellung eines 24-stündigen Beratungsangebots für von Gewalt betroffene Personen forderten, wozu sich die Schweiz 2017 im Rahmen der Ratifikation der Konvention von Istanbul verpflichtet hatte. Ein Zeichen gegen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche setzte der Nationalrat auch durch Befürwortung einer Motion, die das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung im Zivilgesetzbuch verankern möchte. Der Ständerat äusserte sich bis Ende Jahr noch nicht zum Geschäft. Ebenfalls kam es zu breiten medialen Vorwürfen bezüglich Gewalt in Bundesasylzentren, woraufhin das SEM einen Bericht erarbeiten liess.

Nicht zuletzt wurde im Berichtsjahr mit verschiedensten Publikationen und Aktionen auf das 50-jährige Bestehen des Frauenstimm- und -wahlrechts Bezug genommen. Mit Corona-bedingter Verspätung fand im September die offizielle Feier des Bundes statt. Ende Oktober tagte zum zweiten Mal nach 1991 die Frauensession, die insgesamt 23 Forderungen zu unterschiedlichen Themen als Petitionen verabschiedete. Darüber hinaus wurde an diesen Anlässen auch über die Gewährung politischer Rechte an weitere Gruppen diskutiert, so etwa an Personen ohne Schweizer Pass, Minderjährige und Menschen mit einer Beeinträchtigung. Bezüglich Letzteren nahm der Ständerat im Herbst 2021 ein Postulat an, das den Bundesrat aufforderte, Massnahmen aufzuzeigen, damit auch Menschen mit einer geistigen Behinderung uneingeschränkt am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können.

Wie die APS-Zeitungsanalyse 2021 zeigt, erhielten Fragen rund um die Familien- und Gleichstellungspolitik im Jahr 2021 im Gegensatz zu Fragen zur Asyl- und Migrationspolitik überaus starke mediale Aufmerksamkeit. Der Zeitvergleich macht überdies deutlich, dass die Berichterstattung im Bereich Asyl und Migration über die letzten Jahre konstant an Bedeutung eingebüsst hat.

Dieses fehlende Interesse der Medien ist ob der umstrittenen Gesetzesänderungen des Parlaments im Bereich Asylpolitik, welche die Grundrechte der Asylsuchenden einschränkten, bemerkenswert. So können Schweizer Behörden künftig mobile Geräte der Asylsuchenden verwenden, um beim Fehlen von Ausweispapieren Rückschlüsse auf die Identität einer Person zu gewinnen. Dieser Beschluss provozierte eine negative Reaktion des UNHCR. Zudem schuf das Parlament ein Reiseverbot für vorläufig aufgenommene Personen und entschied, dass Personen in Ausschaffungshaft zum Wegweisungsvollzug zur Durchführung eines Covid-19-Tests gezwungen werden können. Unterschiedliche Ansichten vertraten die beiden Räte in Bezug auf junge Asylbewerbende. So lehnte es der Ständerat ab, die Administrativhaft für Minderjährige abzuschaffen, nachdem sich der Nationalrat für diese Forderung im Vorjahr noch offen gezeigt hatte. Ebenso setzte sich der Nationalrat im Berichtsjahr durch Unterstützung einer Motion dafür ein, dass Personen mit abgewiesenem Asylentscheid ihre berufliche Ausbildung beenden dürfen, während sich der Ständerat nach der Beratung einer anderen Motion gegen diese Möglichkeit aussprach. Schliesslich wollte der Ständerat den Familiennachzug von Schutzbedürftigen erschweren, wogegen sich der Nationalrat aber erfolgreich sträubte. Im Sammelstadium scheiterte überdies eine Volksinitiative des ehemaligen Nationalrats Luzi Stamm, gemäss welcher Asylbewerbende in der Schweiz nur noch mit Sachleistungen hätten unterstützt werden sollen: Seine Volksinitiative «Hilfe vor Ort im Asylbereich», die in erster Linie Flüchtlingen primär in der Nähe der Krisengebiete und nicht in der Schweiz helfen wollte, scheiterte an den direktdemokratischen Hürden.

Jahresrückblick 2021: Soziale Gruppen
Dossier: Jahresrückblick 2021

Im April 2021 eröffnete der Bundesrat das Vernehmlassungsverfahren für die Revisionen der Verordnungen über die politischen Rechte, die für eine Neuausrichtung des Versuchsbetriebs von E-Voting nötig waren. Die Ende Jahr vorliegenden Stellungnahmen fielen mehrheitlich positiv aus. Der Bundesrat kündigte an, die revidierten Verordnungen auf der Grundlage der Vernehmlassung bis Mitte 2022 bereinigen zu wollen.

Die Medien hatten die vorgeschlagenen Neuerungen freilich schon im April, also noch vor der Vernehmlassung, mit einigem Wohlwollen kommentiert. Insbesondere der Umstand, dass die neuen Systeme hohen Sicherheitsanforderungen gerecht werden müssen und dank ihrer Open-Source-Struktur mittels sogenanntem «Bug Bounty» ständig überprüft werden, wurde gelobt: Wird von Hackerinnen oder Hackern ein Fehler entdeckt und gemeldet, gibt es dafür eine Belohnung. Auch die Begleitung der Umsetzung durch Wissenschafterinnen und Wissenschafter wurde von den Medien ausdrücklich gelobt.

Auch die Post, die nach dem Rückzug des Kantons Genf als einzige Anbieterin eines E-Voting-Systems fungierte, bezog laut eigenen Angaben internationale Expertinnen und Experten bei der Entwicklung ihres neuen Systems mit ein. In Neuenburg hatte sie hierfür ein «E-Voting-Kompetenzzentrum» aufgebaut. Anfang September 2021 legte die Post einen Teil ihres Systems offen und versprach eine Belohnung von CHF 250'000 für die Aufdeckung eines gravierenden Systemmangels in diesem Teilsystem. Auch der Bund hatte im Juli angekündigt, das System der Post von unabhängiger Seite überprüfen zu lassen. Die Überprüfung, die von verschiedenen in- und ausländischen IT-Expertinnen und Experten vorgenommen werden und dem Bund Entscheidungsgrundlagen liefern sollten, werde mehrere Monate in Anspruch nehmen, gab der Bundesrat in einer Medienmitteilung bekannt. Dass externe Gutachterinnen und Gutachter für die Überprüfung durch den Bund beigezogen werden, war in der revidierten Verordnung über die politischen Rechte neu geregelt worden.

Grundsätzlich kritisch blieben die Gegnerinnen und Gegner von E-Voting. Franz Grüter (svp, LU), der sich früh als Skeptiker gezeigt und auch die 2020 gescheiterte Volksinitiative für ein «E-Voting-Moratorium» mitlanciert hatte, gab der WoZ zu Protokoll, dass er das Vorhaben weiterhin «scharf beobachte» und in allen Sicherheitsfragen absolute Transparenz verlange. Auch wenn die Initiative an der Unterschriftenhürde gescheitert sei, bestehe immer noch die Möglichkeit eines Referendums. Die Stimmbevölkerung müsse bei der letztlichen Einführung von E-Voting das letzte Wort haben, so Grüter.

Ende Jahr zeigte eine in Le Temps publizierte Umfrage von Deloitte Consulting, dass die Skepsis in der Bevölkerung kleiner scheint, als von den Gegnerinnen und Gegnern angenommen: 84 Prozent der Befragten begrüssten eine Einführung von E-Voting und eine Mehrheit der Antwortenden wünschte sich ein System, das nicht von Privaten, sondern vom Bund betrieben wird.

«Vote électronique» – Kritik und gesellschaftliche Debatte von 2015 bis 2022
Dossier: Vote électronique

Nachdem die Kritik an der direkten Demokratie 2020 wohl auch pandemiebedingt etwas weniger virulent gewesen war, zeigt ein Überblick über die Medienlandschaft zum Thema im Jahr 2021 zwei gegensätzliche Standpunkte. Wurde auf der einen Seite ein Zuviel an direktdemokratischer Mitsprache beklagt, gab es auf der anderen Seite Forderungen für einen Ausbau der partizipatorischen Instrumente.

Mehr Mitsprache forderte die Weltwoche: Der Preis für die Bekämpfung der Folgen der Covid-19-Krise sei zu hoch, kritisierte die Zeitung die «undiszipliniert gewachsen[en]» Staatsausgaben. Der Stimmbevölkerung sei es jedoch verwehrt, mitzuentscheiden, ob und welche Massnahmen überhaupt finanziert werden sollen. Der Bund habe «im Alleingang» mehrere Milliarden von Franken ausgegeben, ohne dafür direktdemokratische Legitimation einholen zu müssen. Man müsse sich deshalb überlegen, ob ein Finanzreferendum auf Bundesstufe eingeführt werden sollte. Dies war freilich eine nicht ganz neue Forderung, die zudem erst 2018 von den Räten einmal mehr verworfen worden war.

Auch die «Freunde der Verfassung», die innert kurzer Zeit zwei Referenden gegen das Covid-Gesetz bzw. dessen zweite Revision zustande gebracht hatten, diskutierten einen Ausbau der Volksrechte. Dem «Volk» sollten «mehr institutionelle Kompetenzen» gegeben werden, begründete der Sprecher der Organisation, Michael Bubendorf in der NZZ die Forderung nach der Einführung einer Gesetzesinitiative auf nationaler Ebene. Unter Umgehung des Parlaments könnten die Stimmberechtigten damit ihre Anliegen direkt in einem Gesetz verwirklichen. Auch dieses Projekt hatte in den vergangenen Jahren bereits einige Anläufe genommen – so war 1961 gar eine Volksinitiative abgelehnt worden, die die Einführung einer nationalen Gesetzesinitiative gefordert hatte. Die «Freunde der Verfassung» dachten zwar laut über die Lancierung eines neuerlichen Volksbegehrens nach, verzichteten allerdings schliesslich darauf.

Einiges zu schreiben gab die «Stopp-F-35-Initiative», mit der linke und armeekritische Kreise die Beschaffung der neuen Kampfflugzeuge verhindern wollten. Die Demokratie werde hier zum «Störfaktor», befand die Weltwoche, weil «Linke und grüne Parlamentarier [...] fortwährend [versuchten], Volksentscheide auszuhebeln». Die Initiative missachte den im September 2020 geäusserten Volkswillen für den Kauf neuer Kampfflugzeuge. Dies dürfe als «Zwängerei» betrachtet werden, urteilte auch die NZZ, doch könne dieser Kritik gelassen begegnet werden, da es nach wie vor schwierig sei, Volksinitiativen zum Erfolg zu bringen. Man müsse zwar durchaus über eine Erhöhung der Unterschriftenzahlen diskutieren, um den «inflationären» Gebrauch der Volksrechte einzudämmen, die Stimmberechtigten würden aber wohl, «wenn es ihnen mit den vielen Abstimmungen zu bunt wird, von sich aus auf die Bremse stehen und die Vorlagen reihenweise bachab schicken», so die NZZ.

Die Verfassung werde aber zum «Sammelsurium» warnte erneut die NZZ. Initiativen seien «Kristallisationsinstrumente des Polit-Marketings» geworden. Ein Initiativtext stelle Forderungen, die bewusst diffus seien. Initiativkomitees wollten häufig einfach «ein Zeichen setzen», wobei an der Abstimmungsurne dann nicht klar sei, welche Konsequenzen ein Ja oder ein Nein hätten. Zudem herrsche die Meinung vor, das Parlament werde es dann schon richten. Als Beispiele angeführt wurden von der Zeitung etwa die Konzernverantwortungsinitiative, die 99-Prozent-Initiative oder die Stopp-F35-Initiative. Aber auch die Masseneinwanderungsinitiative hätten gezeigt, wie schwierig sich das Parlament mit einer Umsetzung tue.

2021 Kritik an der direkten Demokratie

Mitte Dezember 2021 entschied der Bundesrat, die Erleichterungen beim Sammeln von Unterschriften für Volksinitiativen und Referenden zu verlängern. Ab dem 18. Dezember 2021 sollte es also weiterhin möglich sein, Unterschriften einzureichen, die von den Gemeinden nicht bescheinigt worden waren. Das Einholen dieser Bescheinigungen, mit denen nicht zulässige Signaturen vermieden werden sollen, ist normalerweise Aufgabe der Komitees. Der Erlass dieser Pflicht verschafft den Komitees etwas mehr Zeit, im Rahmen der bestehenden und – obwohl von verschiedener Seite eine Verlängerung der Fristen gefordert worden war – unveränderten Sammelfristen die notwendigen Unterschriften zu sammeln. Die Bescheinigungen müssen nach Ablauf der Sammelfrist von der Bundeskanzlei bei den Gemeinden eingeholt werden. Der Bundesrat präzisierte in seiner Medienmitteilung, dass die Erleichterungen für Referenden gegen Erlasse gelten würden, die zwischen März 2021 und März 2022 im Bundesblatt veröffentlicht worden seien, sowie für Volksbegehren, die zwischen dem 13. Mai 2021 und dem 30. Juni 2022 eingereicht würden. Die Verordnung mit der Verlängerung wurde entsprechend auf den 31. August 2022 befristet.

Fristenstillstand und Erleichterung bei Unterschriftensammlungen
Dossier: Covid-19 und Volksrechte