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Das Bundesgericht geriet im Jahr 2020 in die Kritik. Dafür verantwortlich waren drei miteinander verknüpfte Ereignisse, die in den Fokus der Medien gerieten: Die Untersuchung des Bundesstrafgerichtes durch eine Kommission des Bundesgerichtes, das Verhalten verschiedener Personen bei dieser Untersuchung – insbesondere Gerichtspräsident Ulrich Meyer geriet stark in die Kritik – und die zunehmende Personalisierung und Politisierung der eidgenössischen Gerichte.

Das Bundesgericht fungiert als Oberaufsicht über das Bundesstrafgericht und hatte die dortigen Vorkommnisse zu untersuchen. Der Untersuchungskommission gehörten der Bundesgerichtspräsident Ulrich Meyer (sp), die Vizepräsidentin Martha Niquille (cvp) sowie Bundesrichter Yves Donzallaz (svp) an. Dieses Gremium sollte mit Hilfe von Befragungen abklären, ob die in einigen Medien erhobenen Vorwürfe gegen das Bundesstrafgericht (die Rede war von Spesenexzessen, Mobbing und Sexismus) zutreffen.

Weil während einer Einvernehmenspause das Aufnahmegerät nicht abgeschaltet war und die daraus resultierende Aufnahme der TV-Sendung «Rundschau» zugespielt wurde, wurde Mitte Juni publik, dass sich Ulrich Meyer beleidigend und sexistisch über eine Bundesstrafrichterin geäussert hatte. Meyer entschuldigte sich unverzüglich bei der betreffenden Richterin und räumte seinen Fehler öffentlich ein. Die Entgleisung wurde freilich zum gefundenen Fressen für die Medien, die einen «Sittenzerfall auch bei Bundesrichtern» (Aargauer Zeitung) konstatierten. Vor allem die CH Media-Gruppe schoss sich in der Folge auf den Bundesgerichtspräsidenten ein, der «entgleist» und «sexistisch gescheitert» sei. Die Aargauer Zeitung berichtete über Politikerinnen und Politiker, die den Rücktritt Meyers forderten, da er seine Glaubwürdigkeit verloren habe. Die Zeitung warf der SP, der Meyer angehört, vor, in Zeiten von «#MeToo» wohl dessen Rücktritt gefordert zu haben, wenn Meyer nicht in ihrer Partei wäre. Auch in der Sonntagszeitung wurde die «Richteraffäre» breit diskutiert. Verschiedene Parlamentsmitglieder distanzierten sich zwar von Meyers Aussagen, bezeichneten die Rücktrittsforderungen aber als übertrieben. Meyers Verhalten sei kein Grund für ein Amtsenthebungsverfahren, gab etwa GK-Präsident Andrea Caroni (fdp, AR) der Sonntagszeitung zu Protokoll. Die NZZ sprach von «atmosphärische Störungen» an den eidgenössischen Gerichten. Die Weltwoche hielt Meyer zugute, dass er während seiner Präsidentschaft versucht habe, das Betriebsklima zu verbessern. Zwischen «Kollegialität und Beziehungskorruption» liege aber nur ein schmaler Grat. «Vielleicht ist es heilsam, wenn man sich wieder einmal vor Augen führt, dass Richter nicht die Heiligen sind, als die sie sich gerne inszenieren, sondern Menschen mit Unzulänglichkeiten und gelegentlich auch niederen Instinkten», schloss die Weltwoche – ohne jedoch darauf zu verzichten, eine alte Geschichte auszugraben, bei der Meyer einer Geliebten angeblich bei einem Vermögensdelikt geholfen haben soll.

Im Sommer machte Meyer publik, dass er Ende 2020, also am Schluss seiner Amtszeit als Gerichtspräsident, zurücktreten werde. Bundesrichter dürfen bis zu ihrem 68 Lebensjahr im Amt bleiben. Meyer hätte also noch ein weiteres Jahr als Bundesrichter amten dürfen, entschied sich aber gegen diese Option. Die Aargauer Zeitung urteilte, dass er den Zeitpunkt für einen ehrenvollen Abgang verpasst habe, und brachte gleich ein neues «Problem» ins Rollen. Die Vizepräsidentin und designierte Präsidentin Martha Niquille (cvp) stehe nämlich vor einem Problem, weil sie den «problematischen Untersuchungsbericht» zum Bundesstrafgericht mitverfasst habe. In der Tat wurde dann die Wahl des Bundesgerichtspräsidiums in der Wintersession 2020 von unschönen Tönen begleitet. Dennoch wurde Martha Niquille zur ersten Bundesgerichtspräsidentin gewählt.

Im Herbst machte die Aargauer Zeitung schliesslich publik, dass die Bundesstrafrichterin, gegen die sich Meyer sexistisch geäussert hatte, eine Strafanzeige wegen Verleumdung gegen drei Bundesrichter eingereicht habe: gegen Ulrich Meyer, gegen den sie auch wegen Nötigung klagte, gegen Martha Niquille und gegen Yves Donzallaz, der im Rahmen der Bestätigungswahlen für das Bundesgericht ebenfalls in die Schlagzeilen geraten war, weil ihn die SVP nicht mehr wählen wollte.

Aufgrund dieser Ereignisse erwuchs der Judikative nicht nur medialer, sondern auch immer stärker politischer Druck. Die zunehmende Personalisierung der Gerichte verstärkte die Tendenz, die bisher eigentlich eher apolitischen Wahlen von Richterinnen und Richtern zu politisieren. Insbesondere die SVP gelangte mit Kritik an individuellen Richterinnen und Richtern im Vorfeld von Bestätigungswahlen vermehrt an die Medien. Allerdings trug sie damit auch dazu bei, dass breit über die Unabhängigkeit der Judikative diskutiert wurde. Vor allem die Frage, ob und wie stark die Parteizugehörigkeit von Richterinnen und Richtern eine Rolle spielt und spielen darf, wurde in zahlreichen Zeitungskommentaren virulent erörtert. Darüber hinaus und damit eng verbunden wird interessant sein zu beobachten, wie sich all diese Ereignisse auf die Justiz-Initiative auswirken werden. In der Aargauer Zeitung wurden die «Justizskandale» als «beste politische Steilpässe» für die Initiative bezeichnet. Auch aufgrund der Vorkommnisse in der Bundesanwaltschaft könnten in Zukunft also einige Justizreformen anstehen.

Bundesgericht Kritik 2020
Dossier: Unabhängigkeit der Judikative

Jahresrückblick 2020: Gesundheit, Sozialhilfe, Sport

Die Gesundheitspolitik stand 2020, wie die gesamte Schweizer Politik, ganz im Zeichen der Corona-Pandemie, welche die Schweiz im Februar – damals noch als Epidemie eingestuft – erreichte und seither in Atem hält. Die steigenden Infektionszahlen veranlassten den Bundesrat dazu, am 28. Februar die «besondere Lage» gemäss Epidemiengesetz auszurufen, mit welcher der Bund die Weisungsbefugnisse gegenüber den Kantonen sowie die Verantwortung für die Krisenbewältigung übernahm. Zudem verabschiedete die Regierung die Verordnung über «Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus (Covid-19)», durch welche Grossveranstaltungen mit über 1'000 Personen bis auf Weiteres verboten wurden. Dennoch stiegen die Fallzahlen in der Folge drastisch an, so dass der Bundesrat am 13. März in einer zweiten Verordnung die Einreise aus Risikoländern einschränkte und das Zusammenkommen von über 100 Personen untersagte.
Nachdem auch diese Massnahmen dem Anstieg der Fallzahlen keinen Einhalt gebieten konnten, verkündete der Bundesrat am 16. März die ausserordentliche Lage gemäss dem Epidemiengesetz und ordnete einen Lockdown an, um weiterhin genügend freie Betten in Krankenhäusern garantieren zu können. Abgesehen von Lebensmittelgeschäften und Gesundheitseinrichtungen mussten sämtliche Läden, Restaurants, Bars sowie Unterhaltungs- und Freizeitbetriebe schliessen. Öffentliche und private Veranstaltungen wurden untersagt, der Präsenzunterricht in Schulen wurden verboten und die Bevölkerung wurde dazu angehalten, zuhause zu bleiben und wenn möglich Homeoffice zu betreiben. Einhalten der Hygienemassnahmen und Abstand wahren – was sich in den darauffolgenden Monaten noch als Social Distancing durchsetzen sollte –, waren die Devise. Die Grenzen zu sämtlichen noch offenen grossen Nachbarländern wurden geschlossen und Schweizerinnen und Schweizer zurück ins Land gerufen. In diesem Zusammenhang organisierte die Regierung Rückholaktionen von im Ausland gestrandeten Bürgerinnen und Bürgern, an der sich auch die Rega beteiligte.
Am 20. März reduzierte die Landesregierung die erlaubte Gruppengrösse von öffentlichen Versammlungen weiter auf fünf Personen. Da die Spitäler stark beansprucht waren, verbot sie zudem die Durchführung von nicht dringend notwendigen Untersuchungen, Eingriffen und Therapien in medizinischen Einrichtungen], was dazu führte, dass die Spitäler erhebliche finanzielle Einbussen erlitten. Gleichzeitig hob der Bundesrat die Bestimmungen zu Arbeits- und Ruhezeiten im Gesundheitswesen auf, um der Problematik der knappen personellen Ressourcen begegnen zu können.
Am 8. April verlängerte der Bundesrat die Massnahmen der ausserordentlichen Lage bis zum 26. April, kündigte aber am 16. April erste Lockerungsschritte an, die bis im Juni erfolgten. In der Folge entspannte sich die Situation während den Sommermonaten, so dass der Bundesrat das Corona-Zepter an die Kantone zurückgegeben konnte. Diese Beruhigung der Lage war jedoch nur von begrenzter Dauer: Aufgrund der steigenden Fallzahlen erliess der Bundesrat am 18. Oktober erneut landesweite Massnahmen wie zum Beispiel ein Versammlungsverbot von mehr als 15 Personen.
Weil die vom Bundesrat erlassenen Notverordnungen nach sechs Monaten automatisch ausser Kraft treten, mussten die darin enthaltenen Massnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie in Bundesgesetz gegossen werden. In der Herbstsession behandelte das Parlament entsprechend das stark umstrittene dringliche Covid-19-Gesetz, zu dem der Verein «Freunde der Verfassung» das Referendum ergreifen wollte. Bereits in der Wintersession und somit noch vor Ablauf der Referendumsfrist nahm das Parlament auf Antrag des Bundesrates zudem einige Anpassungen am neuen Gesetz vor, die es dem Bundesrat ermöglichen sollen, die Auswirkungen der zweiten Welle abzudämpfen.

Obwohl die Corona-Pandemie den Parlamentsbetrieb zweifelsohne dominierte, wurden auch andere Geschäfte in der Gesundheitspolitik behandelt. Im Bereich der Krankenpflege war dies zum Beispiel der indirekte Gegenvorschlag zur Pflegeinitiative, dem sich die beiden Räte in mehreren Sessionen annahmen. Der Pflegeberuf hatte durch die Coronakrise zwar an Ansehen gewonnen, trotzdem gab es zwischen den beiden Parlamentskammern unter anderem noch Differenzen bezüglich des eigenständigen Abrechnens durch die Pflegefachpersonen mit den Krankenkassen oder bezüglich der Ausbildungsbeiträge durch die Kantone.
Weiter ermöglichten die beiden Räte in der Herbstsession Versuche zur kontrollierten Abgabe von Cannabis, von denen man sich einen Erkenntnisgewinn zu alternativen Regulierungsformen erhoffte. Auch medizinischer Cannabis war 2020 ein Thema: So beabsichtigte der Bundesrat, den Zugang zu medizinischen Cannabisbehandlungen zu ermöglichen. Die Volkskammer befasste sich in der Wintersession mit dem Geschäft und hiess die entsprechende Änderung am BetmG gut.
Im Spätsommer gab die Landesregierung bekannt, dass sie die Initiative «Kinder und Jugendliche ohne Tabakwerbung» zur Ablehnung empfehle, da ihr das Anliegen zu weit gehe. Es müsse ein gewisses Gleichgewicht zwischen wirtschaftlichen Interessen und den Interessen der öffentlichen Gesundheit bestehen, was der Bundesrat beim Volksbergehren, das ein weitreichendes Verbot für Tabakproduktewerbung vorsah, als nicht gegeben erachtete. Er unterstütze allerdings den Jugendschutz im Rahmen der parlamentarischen Debatte zum Tabakproduktegesetz, mit dem sich der Nationalrat im Dezember 2020 auseinandersetzte.

Während in der Sportpolitik zu Beginn des Jahres Themen wie die in Lausanne organisierten Olympischen Winterjugendspiele und das Fortbestehen des Lauberhornrennens in den Schlagzeilen waren, wichen diese Ende Februar Artikeln im Zusammenhang mit Covid-19. So traf die Absage von Grossveranstaltungen vor allem die Profiligen des Fussballs und des Eishockeys hart. Nachdem die Ligen zuerst eine vorläufige Pause eingelegt hatten, wurden die Saisons am 12. März (Eishockey) respektive 30. April (die unteren Ligen im Fussball) definitiv abgebrochen. Zwischenzeitlich kam es zu Diskussionen, ob Geisterspiele durchgeführt oder ganz auf den Spielbetrieb verzichtet werden sollte. Um die wirtschaftlichen Auswirkungen des Coronavirus zu dämpfen, sagte der Bundesrat am 20. März der Sportbranche CHF 100 Mio. zu, wobei die eine Hälfte in Form von zinslosen Darlehen an den Spitzensport und die andere Hälfte als A-fonds-perdu-Beiträge an den Breitensport gehen sollten. Da dies nicht ausreichte, wurde Mitte Mai ein Stabilisierungspaket im Umfang von einer halben Milliarde Franken festgelegt. Im Rahmen der Behandlung des Covid-19-Gesetzes im September einigten sich National- und Ständerat darauf, dass nicht die Ligen, sondern die Sportvereine selber Darlehen erhalten sollen, wobei sie Sicherheiten im Umfang von einem Viertel ihres betrieblichen Aufwandes der Saison 2018/19 zu leisten haben. Anfang November stellte Sportministerin Amherd ein Hilfspaket für den Sport vor, das bis Ende 2021 CHF 350 Mio. für den Spitzensport und CHF 200 Mio. für den Breitensport vorsah und von dem auch semiprofessionelle Teams verschiedener weiterer Sportarten profitieren können sollen.

Nicht nur für die Unternehmen und die Sportvereine, sondern auch für die Schweizer Bevölkerung hatte die Corona-Pandemie grosse finanzielle Einbussen zur Folge, weshalb sich auch im Themenbereich Sozialhilfe einiges tat. Dabei würden aber nicht alle Bevölkerungsgruppen gleich stark von der Krise getroffen, berichteten die Medien. Der Krise besonders stark ausgesetzt seien die unteren Einkommensschichten, wo bereits einige Hundert Franken, die beispielsweise wegen dem durch Kurzarbeit für viele Personen auf 80 Prozent reduzierten Lohn wegfielen, einen grossen Unterschied machten. Aus diesem Grunde hielt die Hilfsorganisation Caritas den Bundesrat und das Parlament dazu an, Unterstützungsprogramme, die einmalige Direktzahlungen in der Höhe von CHF 1'000 beinhalteten, für armutsbetroffene Haushalte und Einzelpersonen zu beschliessen. Die durch die Pandemie gemäss Medien verstärkten Ungleichheiten in der Bevölkerung wurden insbesondere anhand der teilweise über einen Kilometer langen Menschenschlangen vor Lebensmittelausgabestellen in Genf oder Zürich ersichtlich. Besonders stark auf solche Angebote angewiesen waren viele Sans-Papiers, die keine Sozialhilfe beziehen können, sowie Ausländerinnen und Ausländer mit Aufenthalts- bzw. Niederlassungsbewilligung, da diese einen Widerruf ihrer Bewilligungen riskierten, wenn sie Sozialhilfe bezögen.
Bereits im Vorjahr – also noch vor der Pandemie – hatte der Ständerat eine Motion der WBK-SR (Mo. 19.3953) behandelt, welche die Einrichtung eines fünfjährigen Monitoring-Zyklus zur Prävention und Bekämpfung von Armut beabsichtigte. Der Nationalrat stimmte dem Kommissionsbegehren in der Sommersession 2020 zu; dies wohl auch im Lichte der gegebenen Umstände, wie einige Medien mutmassten.

Welch gewaltigen Raum die Thematik rund um die Covid-19-Pandemie in der Medienberichterstattung einnahm, widerspiegelt sich auch in der Anzahl dazu veröffentlichter Zeitungsartikel (siehe APS-Zeitungsanalyse 2020). Dabei dominierte die Pandemie nicht nur die Berichterstattung im Themenbereich «Gesundheitspolitik» (siehe Abb. 1), sondern machte zu Zeiten, wo die Covid-19-Fallzahlen sehr hoch waren – sprich im Frühjahr und im Herbst –, sogar gut ein Drittel beziehungsweise ein Viertel der abgelegten Zeitungsberichte über alle untersuchten Zeitungen und Themen hinweg aus. Während sich die Artikelzahl zur Sozialhilfe 2020 auf konstant tiefem Niveau hielt, ist für den Sport im Mai ein leichter Peak erkennbar. Im September, als das Parlament das Covid-19-Gesetz beriet, von welchem auch der Sport stark betroffen war, fiel die Medienpräsenz hingegen sehr gering aus.

Jahresrückblick 2020: Gesundheit, Sozialhilfe, Sport
Dossier: Jahresrückblick 2020

Jahresrückblick 2020: Öffentliche Finanzen

Im Jahr 2020 wurde in den Medien im Verhältnis zu anderen Themen deutlich weniger über den Themenbereich «Öffentliche Finanzen» berichtet als in den Jahren 2017 bis 2019. Dies lag jedoch nicht am Unterthema «Finanzlage», im Gegenteil: 2020 wurde häufiger über das Budget, die Staatsrechnung oder die öffentlichen Finanzen diskutiert als im Vorjahr. Grund dafür war die Corona-Pandemie, die bei den Medien das Interesse an der Frage weckte, wie es ob der Pandemie um die Bundesfinanzen stehe. Diese Frage war durchaus berechtigt, zumal die Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie sowohl einnahmen- als auch ausgabenseitig grosse Konsequenzen nach sich zogen. Die hohen Ausgaben kündigten sich bereits im März 2020 an, als der Bundesrat dem Parlament in zwei Nachmeldungen zum ersten Nachtragskredit CHF 41.9 Mrd. als Verpflichtungskredite für die Corona-Soforthilfe für Unternehmen sowie CHF 15.3 Mrd. als Nachtragskredite beantragte. Hinzu kamen im zweiten Nachtragskredit im Mai 2020 noch einmal CHF 14.9 Mrd., womit der Bundesrat mehr als CHF 30 Mrd. zur Bekämpfung der Pandemie und ihrer Auswirkungen einzusetzen plante.
Auch die Einnahmen des Bundes litten mehrfach unter Corona: Der Wirtschaftseinbruch führte zu einer Reduktion des Konsums und dadurch zu einem Mehrwertsteuerausfall, die steigende Arbeitslosigkeit sowie die Lohnreduktion durch Kurzarbeit führten zu einer Reduktion der Erträge der Einkommenssteuer, tiefere Gewinne und Konkurse von Unternehmen führten zu tieferen Unternehmenssteuern und die Möglichkeit, Steuerzahlungen im Jahr 2020 zinslos aufzuschieben, führte in mehreren Bereichen zu Steuerausfällen. Zwar war unklar, wie hoch diese Steuerausfälle schlussendlich sein würden, die FK-NR rechnete aber während des ersten Lockdowns mit Ausfällen in der Höhe von CHF 6 bis 8 Mrd. Zusammengenommen ergaben die höheren Ausgaben und tieferen Einnahmen ein erwartetes Defizit von CHF 30 bis 40 Mrd. Zum Vergleich: Im Jahr 2019 hatte der Bund einen Überschuss von CHF 3 Mrd. erwirtschaftet. Die Gesamtleistung des Bundes im Rahmen der Corona-Krise über die nächsten Jahre hinweg schätzte Finanzminister Maurer im April 2020 gar auf CHF 70 bis CHF 80 Mrd. – sie entspräche damit ungefähr den Bundesausgaben eines Jahres.
Zwar gab es Mitte August 2020 eine zeitweise Entwarnung, als der Bundesrat im Nachtrag IIb ankündigte, dass ein Teil der bereits veranschlagten CHF 31 Mrd. nicht ausgeschöpft werden müsse: Insgesamt fielen «nur» ausserordentliche Ausgaben von CHF 17.8 Mrd. an. Jedoch zeigte sich zu demselben Zeitpunkt auch, dass die Fiskaleinnahmen im ersten Halbjahr 2020 um fast 1.3 Mrd. tiefer lagen als im gleichen Zeitraum 2019. In der Folge gelang es dem Bundesrat aber, die erwarteten Corona-bedingten Mehrkosten für das Jahr 2021 im ordentlichen Voranschlag unterzubringen, ohne dabei die Schuldenbremse auszureizen. Wie Bundesrat Maurer aber bereits zu diesem Zeitpunkt betont hatte, waren diese positiven Meldungen unter anderem von der weiteren Entwicklung der Pandemie abhängig, und so machte die zweite Welle dem Finanzminister noch einmal einen Strich durch die Rechnung: Im September 2020 beantragte der Bundesrat dem Parlament in einer Nachmeldung zum Voranschlag 2021 noch einmal CHF 1.4 Mrd. zur Bekämpfung der Auswirkungen der Pandemie, bewegte sich aber auch damit noch immer im Rahmen des von der Schuldenbremse Erlaubten.
Dass die Schweiz 2020 ein Defizit machen würde, stand ob der grossen Hilfspakete des Bundesrates ausser Frage. Diskutiert wurde in den Medien aber die Frage, wie dieses Defizit verbucht und anschliessend abgebaut werden soll. Sollten die ausserordentlichen Corona-Ausgaben auf das Amortisationskonto der Schuldenbremse gebucht werden oder sollten sie an der Schuldenbremse vorbeigeschleust werden, wie eine 19-zu-5-Mehrheit der FK-NR (Mo. 20.3470) forderte? Einig war man sich mehrheitlich, dass eine Kompensation in den nächsten sechs Jahren, wie es die aktuelle Regelung bei einer Buchung auf das Amortisationskonto verlangen würde, kaum möglich wäre. Stattdessen wurde darüber diskutiert, ob die Schulden innert 10, 20 oder 30 Jahren oder gar ohne zeitliche Zielvorgabe zurückgezahlt werden sollen. Vorgeschlagen wurde auch, den Schuldenabbau durch zusätzliche Einnahmen, zum Beispiel durch die fixe Zuweisung des Gewinnanteils des Bundes an den Einnahmen der SNB, zu beschleunigen (Motion der WAK-NR: Mo. 20.3450).

Abgesehen von Corona lief 2020 insbesondere im Bereich der «Direkten Steuern» einiges. Dass der Themenbereich verglichen mit den Jahren 2017 bis 2019 deutlich weniger mediale Aufmerksamkeit generierte, liegt an den Abstimmungen über die sehr umstrittenen Revisionen der Unternehmenssteuern in den vergangenen Jahren (2017: USR III, 2019: STAF). Im Jahr 2020 stand hingegen zu den direkten Bundessteuern «nur» das Referendum gegen die steuerliche Berücksichtigung der Kinderdrittbetreuungskosten an, das deutlich weniger Aufmerksamkeit generierte. Hier hatte das Parlament das ursprüngliche Anliegen der Vorlage, den Drittbetreuungsabzug von CH 10'000 auf CHF 25'000 zu erhöhen, um eine Erhöhung des Kinderabzugs von CHF 6'500 auf CHF 10'000 ergänzt. Dagegen hatten SP und Grüne das Referendum ergriffen, weil sie die hohen Kosten dieser Massnahme, das fehlende Geld für andere Projekte und den einseitigen Nutzen der Erhöhung des Kinderabzugs für die Gutverdienenden kritisierten. Die Befürworterinnen und Befürworter der Änderung warben hingegen damit, dass die Vorlage Mittelstand und Familien entlaste. Mit 63.2 Prozent Nein-Stimmen lehnten die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger die Änderung eher überraschend ab.
Daneben wurde im Themenbereich «Direkte Steuern» einmal mehr über die Abschaffung der Heiratsstrafe und damit verbunden über die Volksinitiative «Für Ehe und Familie – gegen die Heiratsstrafe» der CVP diskutiert. Nachdem das Bundesgericht die Abstimmung zur CVP-Initiative im April 2019 annulliert hatte, reichte das Initiativkomitee im Februar 2020 – auch auf Anraten von CVP-Präsident Gerhard Pfister – die von 14 der 15 Mitgliedern unterzeichnete Rückzugserklärung bei der Bundeskanzlei ein. Eine Beschwerde des Vereins Human Life, der sich mit Verweis auf ein Rechtsgutachten gegen den Rückzug wehrte, lehnte das Bundesgericht im Oktober 2020 ab.
Darüber hinaus bereinigte das Parlament das Bundesgesetz über die steuerliche Behandlung finanzieller Sanktionen, welches entsprechend einer Motion Luginbühl (bdp, BE; Mo.14.3450) die Steuerabzüge von Bussen mit Strafzweck sowie von Bestechungszahlungen an Private und Aufwendungen zur Ermöglichung von Straftaten streichen wollte. Das Parlament entschied sich jedoch, vom Ausland verhängte Bussen weiterhin steuerlich abzugsfähig zu machen, sofern die Sanktionen gegen den schweizerischen Ordre public verstossen oder wenn das Unternehmen glaubhaft darlegen kann, dass es «alles Zumutbare unternommen hat, um sich [nach ausländischem Recht] rechtskonform zu verhalten».

Nicht zuletzt präsentierte der Bundesrat verschiedene neue Reformprojekte, unter anderem das Bundesgesetz über administrative Erleichterungen und die Entlastung des Bundeshaushalts, dessen Ziel die Entlastung des Bundeshaushalts durch verschiedene strukturelle Reformen in der Bundesverwaltung ist. Bereits ein erstes Mal im Parlament behandelt wurden das Bundesgesetz über elektronische Verfahren im Steuerbereich sowie die Botschaft zur Volksinitiative «Löhne entlasten, Kapital gerecht besteuern» der SP, welche der Bundesrat zuvor zur Ablehnung empfohlen hatte. Anträge auf Erarbeitung eines direkten Gegenentwurfs sowie auf Annahme der Initiative wurden abgelehnt. Auch im Bereich indirekte Steuern sorgte ein neues Initiativprojekt für einiges mediales Aufsehen, nämlich die Volksinitiative «Mikrosteuer auf dem bargeldlosen Zahlungsverkehr». Die Initiative will jede Belastung und Gutschrift des bargeldlosen Zahlungsverkehrs anfänglich mit 0.05 Promille belasten und dafür die Mehrwertsteuer, die direkte Bundessteuer sowie die Stempelabgabe abschaffen. Das Komitee begann im Februar 2020 mit der Unterschriftensammlung.

Ein Novum bei den Voranschlägen gab es Corona-bedingt im Jahr 2020 ebenfalls: Im November erarbeitete die FK-NR aufgrund einer parlamentarischen Initiative (Pa.Iv. 20.481) einen Übergangs- oder Notvoranschlag für das Jahr 2021. Dieser stützte sich auf die bundesrätliche Botschaft und die Mehrheitsentscheide der Kommissionen und sollte zur Anwendung kommen, falls das Parlament bis Ende Jahr kein Budget verabschieden konnte. Soweit kam es jedoch nicht: Nach langwierigen Debatten verabschiedeten National- und Ständerat Mitte Dezember den ordentlichen Voranschlag 2021.

Jahresrückblick 2020: Öffentliche Finanzen
Dossier: Jahresrückblick 2020

Jahresrückblick 2020: Institutionen und Volksrechte

Der Bundesrat stand als Führungsgremium 2020 ganz besonders auf dem Prüfstand, musste er doch aufgrund der Corona-Pandemie mittels Notrechts regieren. Darüber, wie gut ihm dies gelang, gingen die Meinungen auseinander. Die Konjunktur der sich bunt ablösenden Vertrauensbekundungen und Kritiken schien sich dabei mit der Virulenz der Pandemiewellen zu decken. War das entgegengebrachte Vertrauen zu Beginn des Lockdowns im März sehr gross, nahm die Kritik am Führungsstil der Exekutive und an den föderalistischen Lösungen mit dem Rückgang der Fallzahlen und insbesondere auch in der zweiten Welle zu. Eine parlamentarische Aufarbeitung der Bewältigung der Pandemie durch die Bundesbehörden durch die GPK, aber auch verschiedene Vorstösse zum Umgang des Bundesrats mit Notrecht werden wohl noch einige Zeit zu reden geben. Für eine Weile ausser Rang und Traktanden fallen werden hingegen die alle vier Jahre nach den eidgenössischen Wahlen stattfindenden Diskussionen um die parlamentarische Behandlung der Legislaturplanung sowie die bereits fünfjährige Diskussion über ein Verordnungsveto, die vom Ständerat abrupt beendet wurde. Im Gegensatz dazu wird wohl die Regelung über das Ruhegehalt ehemaliger Magistratspersonen noch Anlass zu Diskussionen geben. Den Stein ins Rollen brachte 2020 die medial virulent kommentierte Rückzahlung der Ruhestandsrente an alt-Bundesrat Christoph Blocher.

Wie kann und soll das Parlament seine Aufsicht über die Verwaltung verbessern? Diese Frage stand auch aufgrund des Jahresberichts der GPK und der GPDel im Raum. Dieser machte auf einige Mängel aufmerksam, was unter anderem zur Forderung an den Bundesrat führte, eine Beratungs- und Anlaufstelle bei Administrativ- und Disziplinaruntersuchungen einzurichten. Der seit 2016 in den Räten debattierten Schaffung einer ausserordentlichen Aufsichtsdelegation, die mit den Rechten einer PUK ausgestattet wäre, aber wesentlich schneller eingesetzt werden könnte, blies hingegen vor allem aus dem Ständerat ein steifer Wind entgegen. Ein Dorn im Auge waren dem Parlament auch die Kader der bundesnahen Betriebe: 2021 wird das Parlament über einen Lohndeckel und ein Verbot von Abgangsentschädigungen diskutieren.

Das Parlament selber machte im Pandemie-Jahr eher negativ auf sich aufmerksam. Paul Rechsteiner (sp, SG) sprach mit Bezug auf den der Covid-19-Pandemie geschuldeten, jähen Abbruch der Frühjahrssession von einem «Tiefpunkt der Parlamentsgeschichte des Landes». Das Parlament nahm seine Arbeit jedoch bereits im Mai 2020 im Rahmen einer ausserordentlichen Session zur Bewältigung der Covid-19-Krise wieder auf; Teile davon, etwa die FinDel waren auch in der Zwischenzeit tätig geblieben. Dass die ausserordentliche Session aufgrund von Hygienevorschriften an einem alternativen Standort durchgeführt werden musste – man einigte sich für diese Session und für die ordentliche Sommersession auf den Standort BernExpo – machte eine Reihe von Anpassungen des Parlamentsrechts nötig. Diese evozierten im Falle der Abstimmungsmodalitäten im Ständerat einen medialen Sturm im Wasserglas. Die Pandemie vermochte damit ziemlich gut zu verdeutlichen, wie wenig krisenresistent die Parlamentsstrukturen sind, was zahlreiche Vorstösse für mögliche Verbesserungen nach sich zog. Kritisiert wurde das Parlament auch abgesehen von Covid-19 und zwar, weil der Nationalrat eine eher zahnlos gewordene, schon 2015 gestellte Forderung für transparenteres Lobbying versenkte und damit auch künftig wenig darüber bekannt sein wird, wer im Bundeshaus zur Vertretung welcher Interessen ein- und ausgeht.

Der Zufall will es, dass die SVP 2021 turnusgemäss gleichzeitig alle drei höchsten politischen Ämter besetzen wird. In der Wintersession wurden Andreas Aebi (svp, BE) zum Nationalratspräsidenten, Alex Kuprecht (svp, SZ) zum Ständeratspräsidenten und Guy Parmelin zum Bundespräsidenten gekürt. In den Medien wurde diskutiert, wie es Parmelin wohl gelingen werde, die Schweiz aus der Covid-19-Krise zu führen. 2020 standen Regierung und Parlament aber nur selten im Fokus der Medien – ganz im Gegensatz zu den Vorjahren als die Bundesratserneuerungs- und -ersatzwahlen für viel Medienrummel gesorgt hatten (vgl. Abb. 2: Anteil Zeitungsberichte pro Jahr).

Viel Druckerschwärze verbrauchten die Medien für verschiedene Ereignisse hinsichtlich der Organisation der Bundesrechtspflege. Zum einen gab die Causa Lauber viel zu reden. Gegen den Bundesanwalt wurde ein Amtsenthebungsverfahren angestrengt, dem Michael Lauber mit seinem Rücktritt allerdings zuvorkam. Die Wahl eines neuen Bundesanwalts wurde zwar auf die Wintersession 2020 angesetzt, mangels geeigneter Kandidierender freilich auf 2021 verschoben. Die zunehmend in die mediale Kritik geratenen eidgenössischen Gerichte, aber auch der Vorschlag der SVP, ihren eigenen Bundesrichter abzuwählen, waren Nahrung für die 2021 anstehenden Diskussionen um die Justizinitiative. Was Letztere anbelangt, beschlossen die beiden Rechtskommissionen Ende Jahr, einen indirekten Gegenvorschlag zur Initiative auszuarbeiten.

Auch die direkte Demokratie wurde von den Auswirkungen der Covid-Pandemie nicht verschont, mussten doch die Volksabstimmungen vom 20. Mai verschoben werden. Darüber hinaus verfügte der Bundesrat Ende März einen Fristenstillstand bei den Initiativen und fakultativen Referenden: Bis Ende Mai durften keine Unterschriften mehr gesammelt werden und die Sammelfristen wurden entsprechend verlängert. Auftrieb erhielten dadurch Forderungen nach Digitalisierung der Ausübung politischer Rechte (z.B. Mo. 20.3908 oder der Bericht zu Civic Tech). Viel Aufmerksamkeit erhielt dadurch auch der in den Medien so benannte «Supersonntag»: Beim Urnengang vom 27. September standen gleich fünf Vorlagen zur Entscheidung (Begrenzungsinitiative, Kampfjetbeschaffung, Jagdgesetz, Vaterschaftsurlaub, Kinderabzüge). Nachdem Covid-19 die direkte Demokratie eine Weile ausser Gefecht gesetzt hatte, wurde die Abstimmung sozusagen als «Frischzellenkur» betrachtet. In der Tat wurde – trotz Corona-bedingt schwierigerer Meinungsbildung – seit 1971 erst an vier anderen Wochenenden eine höhere Stimmbeteiligung gemessen, als die am Supersonntag erreichten 59.3 Prozent.
Das Parlament beschäftigte sich 2020 mit zwei weiteren Geschäften, die einen Einfluss auf die Volksrechte haben könnten: Mit der ständerätlichen Detailberatung in der Herbstsession übersprang die Idee, völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter dem obligatorischen Referendum zu unterstellen, eine erste Hürde. Auf der langen Bank befand sich hingegen die Transparenzinitiative, deren Aushandlung eines indirekten Gegenvorschlags die Räte 2020 in Beschlag genommen hatte; Letzterer wird aber wohl aufgrund des Widerstands im Nationalrat eher nicht zustandekommen.

Jahresrückblick 2020: Institutionen und Volksrechte
Dossier: Jahresrückblick 2020

Die RK-NR beschloss Mitte Oktober 2020 einstimmig, ihrem Rat eine Fristverlängerung um zwei Jahre für die Umsetzung zweier das Mietrecht betreffender parlamentarischer Initiativen von Hans Egloff (svp, ZH) zu beantragen. In der ersten Initiative (Pa.Iv. 16.451) hatte Egloff gefordert, dass Mieterinnen und Mieter den Anfangsmietzins nur anfechten können sollen, wenn sie sich «wegen einer persönlichen oder familiären Notlage zum Vertragsabschluss gezwungen sah[en]». Dies etwa, weil sie bei Vertragsabschluss kein anderes zumutbares Mietobjekt finden konnten. Mit der zweiten Initiative (Pa.Iv. 17.493) wollte Egloff den Nachweis der Orts- und Quartierüblichkeit von Mieten vereinfachen, da die Hürden für einen solchen Nachweis heutzutage zu gross seien. Er schlug deshalb neue Kriterien für die Orts- und Quartierüblichkeit von Mieten vor. Die RKs beider Räte hatten den beiden Initiativen Folge gegeben. Die RK-NR begründete nun in ihrem Bericht ihren Antrag auf Fristverlängerung damit, dass sie vor der Ausarbeitung eines Erlassentwurfs erst noch die Behandlung einer Motion der RK-SR (Mo. 18.4101), welche mittels eines globalen Ansatzes die Regelungen im Mietrecht vereinfachen und den heutigen Gegebenheiten anpassen wollte, abgewartet hatte. Die Motion war jedoch im Nationalrat abgelehnt worden. Danach fehlte der Kommission, laut dem Bericht, «aufgrund ihrer hohen Arbeitsbelastung bislang die Zeit, einen eigenen Entwurf in dieser Sache auszuarbeiten».
Der Nationalrat beschloss in der Wintersession 2020 stillschweigend, die Frist zur Umsetzung der Initiativen bis zur Wintersession 2022 zu verlängern.

Anfechtung des Anfangsmietzinses nur bei Notlage des Mieters (Pa.Iv. 16.451)
Dossier: Mietzinse: Bestimmung der Missbräuchlichkeit und Anfechtung

In der Wintersession 2020 folgte der Ständerat seiner Kommission und nahm die Motion der RK-SR, die eine ausgewogene Revision der Mietzinsgestaltung nach Konsultation der Sozialpartner forderte, als Erstrat an. Als Konsequenz dieses Entscheids lehnte er drei parlamentarische Initiativen, die punktuelle Gesetzesanpassungen zur Regelung der missbräuchlichen Mietzinse gefordert hätten (Pa.Iv. 17.491; Pa.Iv. 17.514; Pa.Iv. 17.515), ab, im Wissen darum, dass sie bei der Erarbeitung einer umfassenden Mietzinsrevision wieder zur Diskussion gestellt würden. Bürgerliche Vertreterinnen und Vertreter wiesen während der Beratung zudem auf ein Bundesgerichtsurteil vom 26. Oktober 2020 hin, das dem Anliegen der parlamentarischen Initiative Feller (fdp, VD; Pa.Iv. 17.491) mit einer Praxisänderung bereits nachgekommen war. Beat Rieder (cvp, VS) zeigte sich etwa überzeugt, dass das Bundesgericht in dieser Frage den Weg zu einem fairen Mietrecht bereits aufgezeigt habe.

RK-SR startet zweiten Versuch für eine ausgewogene Revision der Mietzinsgestaltung (Mo. 20.3922)
Dossier: Gescheiterte Mietrechtsrevisionen
Dossier: Mietzinse: Bestimmung der Missbräuchlichkeit und Anfechtung

Da der Ständerat in der Wintersession 2020 eine umfassende und ausgewogene Revision der Mietzinsgestaltung nach Konsultation der Sozialpartner bevorzugte und aus diesem Grund eine entsprechende Motion der RK-SR befürwortete, lehnte er eine parlamentarische Initiative Feller (fdp, VD), die eine zeitgemässe Definition des übersetzten Ertrags aus der Mietsache verlangt hätte, sowie zwei weitere parlamentarische Initiativen zur Regelung missbräuchlicher Mietzinse ab, womit er die Anliegen beerdigte. Der freisinnige Nationalrat verwies zur Begründung seines Vorstosses auf die aktuelle Rechtsprechung, die auf einem Bundesgerichtsurteil aus dem Jahr 1986 beruht – zu dieser Zeit lagen die massgeblichen Hypothekarzinssätze bei 5.5. Prozent – und gemäss welchem der zulässige Ertrag maximal 0.5 Prozentpunkte über dem Referenzzinssatz zu liegen kommen darf. Obwohl die parlamentarische Initiative im Parlament vorerst bachab geschickt wurde, fand sie ihre Erfüllung in einem jüngsten Entscheid des Bundesgerichts: Gemäss eines kurz vor der parlamentarischen Beratung gefällten Bundesgerichtsurteils darf der Ertrag den Referenzzinssatz – sofern dieser 2 Prozent oder weniger beträgt – neu um bis zu 2 Prozentpunkte übersteigen.

Festlegung des übersetzen Ertrages im Mietrecht (Pa.Iv. 17.491)
Dossier: Mietzinse: Bestimmung der Missbräuchlichkeit und Anfechtung

Le 9 décembre 2020, le Conseil des États a à son tour accepté la motion de la CSEC-CN de mise en œuvre de l'ordonnance Covid-19 sur l'accueil extrafamilial pour enfants. Le texte a été approuvé par 26 voix contre 14, sans abstention.

Covid-19-Verordnung familienergänzende Kinderbetreuung vom 20. Mai 2020: Überdenken der Umsetzung (Mo. 20.3917)

Der Grundsatz «In dubio pro populo!» solle in die Gesetzgebung einfliessen, forderte Jean-Luc Addor (svp, VS) in einer Motion. Seit einigen Jahren würden zunehmend kantonale Volksinitiativen vor allem vom Bundesgericht für ungültig erklärt. Das Problem sei, dass sich die Judikative immer mehr anmasse, selber Politik zu betreiben. Ein «Richterstaat» müsse aber verhindert werden, weshalb der Grundsatz, einen mehrdeutigen Initiativtext im Zweifelsfall so auszulegen, dass über ihn abgestimmt werden kann, im Gesetz festgeschrieben werden soll, um Ungültigerklärungen wenn möglich vermeiden zu können und damit letztlich die direkte Demokratie zu stärken.
In der Ratsdebatte begründete Justizministerin Karin Keller-Sutter die ablehnende Haltung des Bundesrats. Der Grundsatz leite sich vom Verhältnismässigkeitsprinzip ab und sei also in der Rechtsprechung bereits vorgesehen. Eine explizite rechtliche Verankerung würde zudem nichts daran ändern, dass kantonale Volksinitiativen, die übergeordnetes Recht verletzten, weiterhin für ungültig erklärt werden müssten, was im Sinne der Rechtsstaatlichkeit zu begrüssen sei. Lediglich die geschlossene SVP-Fraktion und drei Mitglieder der Mitte-Fraktion unterstützten den Vorstoss, der entsprechend mit 129 zu 55 Stimmen abgelehnt wurde.

In dubio pro populo! (Mo. 19.3466)
Dossier: Ungültigkeitsgründe von Volksinitiativen

Während die AKW-Betreiberfirmen selber gemäss aktuellem Wissensstand in der Berechnungsperiode 2017-2021 mit gut CHF 21.8 Mrd. totalen Stilllegungs- und Entsorgungskosten und die Verwaltungskommission des STENFO ursprünglich mit knapp CHF 23.5 Mrd. kalkuliert hatten, hatte das UVEK im April 2018 unter Federführung von Doris Leuthard die geschätzten Kosten auf rund CHF 24.6 Mrd. erhöht. Dies hatte die Betreiberfirmen auf die Barrikaden getrieben, da damit die jährlichen Einzahlungen in die Fonds höher ausgefallen wären. Sie konnten vor Bundesgericht im Februar 2020 erfolgreich durchringen, dass nicht die vom UVEK genannten Kosten für die Berechnung der Jahresbeiträge relevant sind, sondern jene der Verwaltungskommission des STENFO. Ebendiese Verwaltungskommission gab daraufhin jedoch an, in der Periode 2017–2021 neu mit totalen Stilllegungs- und Entsorgungskosten von fast CHF 23.9 Mrd. zu kalkulieren, wie die NZZ sowie der Corriere del Ticino berichteten. Die Verwaltungskommission hatte damit den Betrag zwar seit der letzten Berechnung leicht erhöht, dieser lag dennoch um CHF 724 Mio. tiefer als jener des UVEK.

nationalen Stilllegungs- und Entsorgungsfonds aufstocken

Anfang November 2020 reichte die RK-NR eine parlamentarische Initiative ein, mit der eine Grundlage für einen indirekten Gegenvorschlag zur Justizinitiative geschaffen werden soll. Der Vorschlag sah vor, dass die Richterinnen und Richter für alle Gerichte der Schweizerischen Eidgenossenschaft (Bundesgericht, Bundesstrafgericht, Bundesverwaltungsgericht, Bundespatentgericht) nach wie vor von der Vereinigten Bundesversammlung gewählt werden sollen. Allerdings soll die Wahl nicht mehr nur auf einem Antrag der Gerichtskommission (GK) beruhen, sondern zusätzlich auf einer Vorselektion, die durch eine zu bestimmende Fachkommission getroffen wird, welche die fachliche und persönliche Eignung der Kandidierenden evaluiert. Die Amtsdauer aller nationalen Richterinnen und -richter soll auf sechs Jahre festgelegt werden, wobei die Wiederwahl automatisch geschehen soll – allenfalls durch die GK auf Empfehlung der genannten Fachkommission. Dies stellte eine Konzession an die Initianten dar, da im aktuellen Verfahren das Parlament die Wiederwahl vornimmt. Auch zukünftig soll Abberufung jedoch bei schwerer Pflichtverletzung möglich sein, wobei die Fachkommission den Sachverhalt zu klären hätte. Die Parteien selber müssten gemäss Vorschlag der RK-NR die Unabhängigkeit ihrer Richterinnen und Richter gewährleisten, wobei explizit Alternativen zu Mandatsabgaben gefordert werden. Letzteres wurde auch von einer noch nicht behandelten parlamentarischen Initiative Walti (fdp, ZH; Pa.Iv. 20.468) vorgeschlagen.
Anfang Dezember stimmte die RK-SR dem Begehren ihrer Schwesterkommission knapp mit 6 zu 6 Stimmen bei einer Enthaltung und Stichentscheid des Präsidenten Beat Rieder zu. Die Kommission sei der Ansicht, dass sich das aktuelle Wahlsystem für Bundesrichterinnen und -richter bewährt habe, dass es aber prüfenswerte Fragen gebe. Die RK-NR solle aber nur «die für absolut notwendig erachteten Verbesserungen» ausarbeiten.

Unabhängige und kompetente Richterinnen und Richter des Bundes. Indirekter Gegenvorschlag zur Justizinitiative (Pa.Iv. 20.480)
Dossier: Unabhängigkeit der Judikative
Dossier: Justizinitiative

Wie so vieles im Jahr 2020 stand auch der in der Wintersession 2020 zusammen mit der Staatsrechnung 2019 und dem ordentlichen zweiten Nachtrag zum Voranschlag 2020 behandelte Voranschlag 2021 mit integriertem Aufgaben- und Finanzplan 2022-2024 im Zeichen der Corona-Pandemie. Zum ersten Mal hatten sich National- und Ständerat vorgängig auf ein Notbudget geeinigt für den Fall, dass die Session Corona-bedingt abgebrochen werden müsste und der Voranschlag deshalb nicht zu Ende beraten werden könnte. Zudem hatte das Parlament neben unzähligen traditionellen erneut auch über zahlreiche im ursprünglichen Voranschlag oder in einer der drei vom Bundesrat eingereichten Nachmeldungen aufgeführten Corona-bedingten Budgetposten zu beraten, wobei es gleichzeitig entscheiden musste, welche davon als ausserordentliche Ausgaben verbucht und damit von der Schuldenbremse ausgenommen werden sollen. Die Kommissionssprecher Nicolet (svp, VD) und Fischer (glp, LU) erläuterten, dass das ursprüngliche Budget des Bundesrates ein Defizit von CHF 1.1 Mrd. aufgewiesen habe, dass dieses durch die Nachmeldungen aber auf über CHF 2 Mrd. CHF angestiegen sei; auf über CHF 4 Mrd. gar, wenn man die ausserordentlichen Ausgaben miteinbeziehe. Keine unwesentliche Rolle spielten dabei die Corona-bedingten Mehrausgaben, welche sich auf CHF 5.4 Mrd. beliefen (CHF 2.5 Mrd. davon sollten als ordentlicher, CHF 2.9 Mrd. als ausserordentlicher Zahlungsbedarf verbucht werden).
In der Folge beriet die grosse Kammer zwar einmal mehr zahlreiche Minderheitsanträge, nahm jedoch nur 7 Minderheits- oder Einzelanträge an und änderte die bundesrätliche Version nur in 14 Bereichen ab. Dadurch erhöhte der Nationalrat die Ausgaben gegenüber dem bundesrätlichen Entwurf um CHF 726 Mio. und gegenüber der FK-NR um CHF 15 Mio. und nahm den Entwurf zum Schluss mit 190 zu 2 Stimmen deutlich an.

Vor der Detailberatung betonten die Kommissionssprecher, dass die FK-NR dem Bundesrat weitgehend gefolgt sei, gerade bei den Covid-19-Massnahmen und bei den Direktzahlungen in der Landwirtschaft aber einige Änderungen angebracht habe. Insgesamt schöpfe die Kommission den Schuldenbremse-bedingten Spielraum mit einem Defizit von CHF 2 Mrd. nicht vollständig aus – möglich wäre ein Defizit von CHF 3.2 Mrd. Der dadurch verbleibende strukturelle Überschuss von CHF 1.2 Mrd. sollte, wie vom Bundesrat vorgeschlagen, dem Amortisationskonto der Schuldenbremse gutgeschrieben und entsprechend für den Abbau der als ausserordentliche Ausgaben verbuchten Corona-Defizite verwendet werden, wie es der Bundesrat auch für den budgetierten Überschuss in der Staatsrechnung 2019 beantragt hatte.
Ergänzend wies Finanzminister Maurer darauf hin, dass das Budget mit sehr vielen Unsicherheiten belastet sei. Je nach Dauer und Anzahl der Corona-Wellen und der Erholungszeit gewisser Bereiche könne sich der Voranschlag durch kommende Nachträge durchaus noch verschlechtern. Man habe hier aber ein Budget ohne Sparmassnahmen erstellt, um der Wirtschaft zu helfen, wieder auf die Beine zu kommen, betonte er.

Der Nationalrat behandelte die einzelnen Budgetposten in sieben Blöcken, beginnend mit den Covid-19-Unterstützungshilfen. Stillschweigend folgte er dem Bundesrat dabei bei den meisten seiner Nachmeldungen, zum Beispiel bezüglich der Leistungen des Erwerbsersatzes, welche der Bundesrat von anfänglich CHF 490 Mio. auf CHF 2.2. Mrd. aufgestockt hatte, nachdem das Parlament im Rahmen des Covid-19-Gesetzes auch indirekt betroffenen Selbständigen Zugang zur EO gewährt hatte; bezüglich der Unterstützung für den Kulturbereich, wie sie in der Herbstsession 2020 in der Kulturbotschaft beschlossen worden war; bezüglich der Arzneimittelbeschaffung; der Lagerhaltung von Ethanol; der Härtefallentschädigung für Vermietende; des öffentlichen Verkehrs oder der Stabilisierung von Skyguide. Minderheitsanträge lagen unter anderem bezüglich der kantonalen Härtefallmassnahmen für Unternehmen vor. Hier hatte der Bundesrat den anfänglichen Verpflichtungskredit von CHF 200 Mio. auf CHF 680 Mio. aufgestockt, eine Minderheit Widmer (sp, ZH) verlangte hingegen eine weitere Erhöhung auf CHF 1 Mrd. Bundesrat Maurer bat den Rat jedoch darum, bei den mit den Kantonen ausgehandelten CHF 680 Mio. zu bleiben, da eine Erhöhung gegen Treu und Glauben verstossen würde – die Kantone müssten entsprechend ebenfalls höhere Beträge sprechen. Zudem wollte dieselbe Minderheit Widmer den Verpflichtungskredit durch einen Zahlungskredit ersetzen, so dass diese Mittel den Kantonen rasch zur Verfügung stehen könnten; die Kommission schlug stattdessen eine Ergänzung des Verpflichtungskredits durch einen entsprechenden Zahlungskredit vor. Finanzminister Maurer kritisierte die Umwandlung, da sie dem Finanzhaushaltsgesetz widerspreche und sich der Bund ja erst beteiligen müsse, wenn die Kantone durch ihre Darlehen Verluste erlitten. Entsprechend müssten die nicht ausgeschöpften Kredite jeweils übertragen werden. Mit 110 zu 78 Stimmen sprach sich der Nationalrat gegen die Minderheit Widmer aus, die immerhin bei den geschlossen stimmenden SP-, Grünen- und GLP-Fraktionen Anklang fand, nahm jedoch den neuen Zahlungskredit stillschweigend an.

Im zweiten Block – Beziehungen zum Ausland und Migration – lagen zwei Gruppen von Minderheitsanträgen vor. So beantragten auf der einen Seite Minderheiten aus der SVP-Fraktion (Grin (svp, VD) und Keller (svp, NW)), Beträge bei der Entwicklungszusammenarbeit, bei multilateralen Organisationen oder bei den Darlehen und Beteiligungen in Entwicklungsländern zu senken und sie damit auf dem Stand des Vorjahres zu belassen. Nicht nur in den Entwicklungsländern, auch in der Schweiz müsse man der schwierigen Rechnungssituation 2021 Rechnung tragen, argumentierte etwa Grin. Auf der anderen Seite versuchten Minderheiten aus der SP- und der Grünen-Fraktion (Friedl (sp, SG) und Wettstein (gp, SO)), unter anderem die Kredite der Entwicklungszusammenarbeit, für humanitäre Aktionen, zur zivilen Konfliktbearbeitung sowie für Integrationsmassnahmen für Ausländerinnen und Ausländer zu erhöhen, um sicherzustellen, dass die APD-Quote, welche auf 0.5 Prozent des BNE festgelegt worden war, auch wirklich erreicht werde. Roland Fischer (glp, LU) verwies für die Kommission darauf, dass die Kredite im Budget den Parlamentsbeschlüssen zu den Zahlungsrahmen für internationale Zusammenarbeit entsprechen und die Kommission entsprechend Erhöhungen oder Kürzungen ablehne. Folglich sprach sich der Nationalrat gegen sämtliche Minderheitsanträge aus, diese fanden denn auch kaum über die jeweiligen Fraktionen hinaus Unterstützung.

Dasselbe Bild zeigt sich im dritten Block, in dem es um die soziale Wohlfahrt ging. Minderheiten Guggisberg (svp, BE) und Nicolet (svp, VD) beantragten tiefere Kredite respektive den Verzicht auf eine Aufstockung der Kredite für Massnahmen zur Gleichstellung von Frauen und Männern, für familienergänzende Kinderbetreuung sowie für den Kinderschutz und die Kinderrechte. Die entsprechenden Aufgaben lägen vor allem in der Kompetenz der Gemeinden und Kantone, weshalb auf eine Aufstockung beim Bund verzichtet werden solle. Eine Minderheit Dandrès (sp, GE) wollte das Budget des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen aufstocken, weil gerade Menschen mit Behinderungen von der Corona-Pandemie besonders stark getroffen worden seien. Zudem sollte auch der Betrag des Bundesamtes für Verkehr zur Behindertengleichstellung für Investitionen in die Barrierefreiheit aufgestockt werden. Letzterer Betrag sei jedoch nicht gekürzt worden, wie einige Sprechende vermuteten, sondern werde neu über den Bahninfrastrukturfonds finanziert, erklärte Finanzminister Maurer. Auch in diesem Block wurden sämtliche Minderheitsanträge deutlich abgelehnt.

Im vierten Block, in dem es um Kultur, Bildung, Forschung und Sport ging, waren die Bildungsanträge wie in früheren Jahren vergleichsweise erfolgreich. Der Nationalrat stimmte Einzelanträgen von Christian Wasserfallen (fdp, BE) sowie Matthias Aebischer (sp, BE) und einem Minderheitsantrag Schneider Schüttel (sp, FR) zu. Wasserfallen und Aebischer wollten verschiedene Kredite des SBFI und des ETH-Bereichs aufstocken (unter anderem den Finanzierungsbeitrag an den ETH-Bereich und an die Forschungseinrichtungen von nationaler Bedeutung) und damit die Entscheidungen des Nationalrats aus der BFI-Botschaft, die sich gerade im Differenzbereinigungsverfahren befand, aufnehmen. Alle vier Einzelanträge fanden im Rat eine Mehrheit, obwohl sie von der SVP- sowie von mehr oder weniger grossen Teilen der FDP.Liberalen- und der Mitte-Fraktion abgelehnt wurden. Die Minderheit Schneider Schüttel wollte den Betrag bei der internationalen Bildungs-Mobilität verdoppeln und auch in den Finanzplanjahren sehr stark aufstocken, um so ab 2021 die Schweizer Vollassoziierung an Erasmus plus zu finanzieren. Kommissionssprecher Fischer (glp, LU) wies jedoch darauf hin, dass die Bedingungen für die Teilnahme von Drittstaaten noch nicht bekannt seien und man das Geld entsprechend erst dann beantragen wolle, wenn man die genauen Kosten kenne. Der Nationalrat folgte der Kommission diesbezüglich zwar im Voranschlagsjahr, nahm aber die Erhöhungen für die Finanzplanjahre mit 93 zu 86 Stimmen (bei 4 Enthaltungen) an. Erfolglos blieben in diesem Block Kürzungsanträge bei Pro Helvetia, bei verschiedenen Kultureinrichtungen (Minderheiten Guggisberg), deren Kredit die FK-NR aufgrund der Kulturbotschaft aufgestockt hatte, sowie beim Schiesswesen (Minderheit Wettstein).

Landwirtschaft und Tourismus standen im fünften Block im Zentrum und einmal mehr wurde die 2017 angenommene Motion Dittli (fdp, UR; Mo. 16.3705) zum Streitpunkt. Der Bundesrat hatte die Direktzahlungen gegenüber dem Jahr 2020 aufgrund der negativen Teuerung reduziert – gemäss der Motion Dittli soll jeweils die tatsächlich stattgefundene Teuerung verrechnet werden. Die Kommission schlug nun aber vor, zum früheren Betrag zurückzukehren. Der Finanzminister zeigte sich genervt über diesen Entscheid: Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier müssten sich überlegen, «ob Sie uns überhaupt solche Aufträge erteilen wollen, wenn Sie sich letztlich nicht daran halten. Das auszurechnen, gibt nämlich einiges zu tun». Mit dieser Darstellung zeigten sich aber verschiedene Sprechende nicht einverstanden. So argumentierten Heinz Siegenthaler (bdp, BE) und Markus Ritter (cvp, SG), dass der Bundesrat in der Botschaft zur Agrarpolitik 2018-2021 die Teuerung nicht ausgleichen wollte und zusätzlich eine nominelle Kürzung vorgenommen habe. Das Parlament habe in der Folge auf die Teuerung verzichtet, aber die Kürzung rückgängig gemacht. Nun dürfe aber keine Teuerung korrigiert werden, die man gar nie gewährt habe. Auch eine linke Minderheit Schneider Schüttel (sp, FR) zeigte sich bereit, die Direktzahlungen zu erhöhen, solange dies zielgerichtet erfolge, und schlug vor, als Reaktion auf das abgelehnte Jagdgesetz eine Krediterhöhung um CHF 1.6 Mio. in den Planungsgrössen den Sömmerungsbeiträgen an die nachhaltige Schafalpung zuzuweisen. Eine zweite Minderheit Schneider Schüttel beantragte, bezüglich der Direktzahlungen dem Bundesrat zu folgen. Der Rat entschied sich in der Folge sowohl für eine Erhöhung um CHF 1.8 Mio. für die Sömmerungsbeiträge als auch für die von der Kommissionsmehrheit vorgeschlagene Erhöhung um fast CHF 17 Mio. und lehnte entsprechend den Antrag der Minderheit II ab. Weitere Minderheitsanträge zur Pflanzen- und Tierzucht und zur Förderung von Innovationen und Zusammenarbeit im Tourismus (Minderheiten Wettstein) fanden keine Mehrheit, jedoch folgte der Nationalrat stillschweigend dem Antrag seiner Kommission, das Globalbudget von Agroscope für deren Restrukturierung um CHF 4.1 Mio. aufzustocken.

Im sechsten Block behandelte der Rat die Themen Verkehr und Umwelt und änderte hier stillschweigend die Sollwerte für die Auslastung des öffentlichen Verkehrs und des Schienengüterverkehrs. Diese sollen überdies auch in den Finanzplanjahren um jährlich 0.1 Prozent steigen. Erfolgreich war auch eine Minderheit Gschwind (cvp, JU), die beantragte, den Kredit für Schäden durch Wildtiere, Jagd und Fischerei nicht zu erhöhen, da hier bereits genügend Mittel vorhanden seien (106 zu 86 Stimmen). Erfolglos blieben Minderheitsanträge auf höhere Kredite für den Technologietransfer und den Langsamverkehr (Minderheit Brélaz: gp, VD) und auf einen tieferen Kredit für Natur und Landschaft (Minderheit Nicolet). Bei der Förderung von Umwelttechnologien wollte die Kommissionsmehrheit den vom Bundesrat vorgeschlagenen Betrag um CHF 3 Mio. erhöhen und den Anfangsbetrag damit fast verdoppeln, was eine Minderheit Gmür bekämpfte. Die Förderung könne auch durch die Privatwirtschaft geschehen, nicht immer durch den Staat – sofern die Projekte gut seien. Die grosse Kammer folgte jedoch ihrer Kommissionsmehrheit.

Im siebten und letzten Block standen Eigenaufwand und Verwaltungsprozesse im Zentrum, wobei der Rat überall seiner Kommission folgte. Er lehnte sämtliche Anträge auf Kürzung, zum Beispiel bei den Parlamentsdiensten, bei denen eine Minderheit Strupler (svp, TG) auf zusätzliches bewaffnetes Sicherheitspersonal im Parlamentsgebäude verzichten wollte, oder bei der Aufstockung des Globalbudgets des BAFU (Minderheit Dandrès), ab. Umstrittener war die Frage, ob das Globalbudget des NDB erhöht und stattdessen der Kredit für Rüstungsaufwand und -investitionen des VBS reduziert werden soll. Eine Minderheit Widmer (sp, ZH) lehnte diesen Austausch ab, der Rat stimmte dem Kommissionsantrag jedoch deutlich zu. Abgelehnt wurde schliesslich auch der Antrag einer Minderheit Schwander (svp, SZ), wonach die gesamten Personalausgaben in den Finanzplanjahren sukzessive auf CHF 6 Mrd. reduziert und dort plafoniert werden sollten. Schliesslich schlug die Kommission vor, für die Zentrale Ausgleichsstelle (ZAS), die für die Durchführung der Sozialversicherungen der 1. Säule zuständig ist, vier neue Planungsgrössen bezüglich einer effizienten Bearbeitung der Versichertendossiers einzuführen, um so deren Effizienz zu steigern. Obwohl Finanzminister Maurer um die Annahme der Minderheiten Fischer und Gysi (sp, SG) für einen Verzicht auf die neuen Sollwerte bat, weil die ZAS inmitten eines Umbaus ihrer Informatik sei, wodurch die Effizienz der Institution ab 2024 gesteigert werden könne, sprach sich der Nationalrat für die Änderung aus.

Insgesamt erhöhte der Nationalrat damit die Ausgaben gegenüber dem bundesrätlichen Entwurf um CHF 726 Mio. und gegenüber der FK-NR um CHF 15 Mio. Offen war schliesslich noch die Frage, welche Kredite als ausserordentliche Ausgaben verbucht werden sollen. Der Bundesrat hatte vorgeschlagen, die Covid-Kosten für die Erwerbsausfallentschädigungen für Selbständigerwerbende (CHF 2.2 Mrd.) und CHF 680 Mio. für die Härtefallhilfe der Kantone als ausserordentlichen Kredite zu behandeln, während die übrigen Corona-bedingten Ausgaben über CHF 2.5 Mrd. dem ordentlichen Zahlungsbedarf zugerechnet werden sollten. Die Kommission beantragte dem Bundesrat zu folgen, während eine Minderheit Fischer (glp, LU) die gesamten Corona-bedingten Mehrkosten von CHF 5.4 Mrd. als ausserordentliche Ausgaben dem Amortisationskonto belasten wollte. Eine einheitliche Verbuchung würde eine höhere Transparenz ermöglichen, erklärte Fischer, zumal es keine objektiven und rechtlichen Kriterien für eine Einteilung in ordentliche und ausserordentliche Ausgaben gebe. Zusätzlich würde dadurch der Schuldenbremse-bedingte Spielraum vergrössert, indem der strukturelle Überschuss von CHF 1.2 Mrd. auf CHF 3.7 Mrd. erhöht würde. Unverändert bliebe dabei das Finanzierungsdefizit in der Höhe von CHF 4.917 Mrd. Auch Finanzminister Maurer bestätigte, dass die Verbuchung keine exakte Wissenschaft sei und entsprechend beide Lösungen möglich wären. Der Bundesrat habe diejenigen Ausgaben, die man «im Voraus» kenne, im ordentlichen Budget untergebracht und einzig die bei der Budgetierung unbekannten Kredite für die EO und die Härtefallhilfen ausserordentlich verbucht. Die Transparenz werde zukünftig durch einen noch zu erstellenden Zusatzbericht hergestellt, welcher die gesamten aufgeschlüsselten Kosten der Covid-19-Krise für den Bund aufzeigen werde. Mit 112 zu 73 Stimmen folgte der Rat gegen den Willen der SP, der Grünen und der GLP der Kommissionsmehrheit. In der darauffolgenden Gesamtabstimmung sprach sich der Nationalrat mit 190 zu 2 Stimmen für seinen Budgetentwurf aus. Die ablehnenden Stimmen stammten von Erich Hess (svp, BE) und Christian Imark (svp, SO). Auch die Bundesbeschlüsse zu den Planungsgrössen, Finanzplanjahren, zum Bahninfrastrukturfonds und dem Nationalstrassen- und Agglomerationsverkehrsfonds wurden jeweils sehr deutlich angenommen.

Voranschlag 2021 mit integriertem Aufgaben- und Finanzplan 2022-2024 (BRG 20.041)
Dossier: Bundeshaushalt 2021: Voranschlag und Staatsrechnung
Dossier: Mögliche Massnahmen zur Reduktion des Covid-19-bedingten Defizits

Die BKW-Tochterfirma KWO Oberhasli (KWO) plante, beim durch den Klimawandel frei gewordenen Triftgletscher (BE) eine neue Staumauer zu errichten. Dieses CHF 387 Mio. teure Triftgletscher-Stauseeprojekt galt als einziges neues Bauvorhaben dieser Art in der Schweiz. Mit der Staumauer könnte, so der Berner Baudirektor Christoph Neuhaus (BE, svp) gegenüber der NZZ, rund die Hälfte des geplanten kantonalen Zubaus in der Wasserkraft bis 2035 erreicht werden. Auf nationaler Ebene könnte das Projekt zudem rund ein Zehntel des angepeilten Zuwachses in der Wasserkraft ausmachen und gleichzeitig für eine stabilere Stromversorgung im Winter sorgen. Das Vorhaben stiess im Vorfeld auch auf wenig Widerstand, zumal in einem fünfjährigen Partizipationsverfahren verschiedenste Natur- und andere Interessenorganisationen (wie Pro Natura, der WWF und der kantonale Fischereiverband) einbezogen und diverse Kompromisslösungen hatten gefunden werden können. Im August 2020 gab der Berner Regierungsrat sodann grünes Licht für die Konzessionserteilung und empfahl dem Berner Kantonsparlament, dies ihm gleichzutun, damit die KWO danach das Baubewilligungsgesuch ausarbeiten könne. Wie die Medien berichteten, hätte das Berner Kantonsparlament diese Konzessionserteilung Ende 2020 auch problemlos durchgewunken, zumal sich beispielsweise auch die grüne Fraktion grossmehrheitlich dafür ausgesprochen hätte. Doch kurz bevor das Parlament dieses Begehren in die Tat umsetzen konnte, stoppte das Bundesgericht das Projekt. In einem Urteil zu einem anderen Projekt der KWO, der umstrittenen Erhöhung der Staumauer beim Kraftwerk an der Grimsel, hielt das Bundesgericht Anfang November 2020 unter anderem fest, dass die Konzessionserteilung beider Projekte an die Berner Kantonsregierung zurückzuweisen sei mit der Vorgabe, die beiden Projekte zuerst in einem kantonalen Richtplan einer Interessenabwägung zwischen dem Ausbau der Wasserkraft und dem Naturschutz zu unterziehen. Gegnerinnen und Gegner der beiden Stauseeprojekte, die nationale Organisation Aqua Viva sowie die lokale Organisation Grimselverein (Greina), hatten somit erfolgreich beim Bundesgericht interveniert. Gegenüber dem «Bund» zeigte sich Neuhaus überrascht über den Bundesgerichtsentscheid, hielt sich aber kämpferisch und strich die langfristigen ökologischen Vorteile des Projekts hervor.

Triftgletscher Stausee
Dossier: Ausbau und Erhalt von erneuerbaren Energien versus Umweltschutz

Nachdem die Kraftwerke Oberhasli AG (KWO) nach jahrelangem Streit um die Erhöhung der Grimsel-Staumauer (BE) das Projekt für einige Zeit auf Eis gelegt hatten, räumte das Verwaltungsgericht des Kantons Bern im Sommer 2019 die letzten drei Beschwerdepunkte verschiedener Naturschutzorganisationen aus und bestätigte eine 2012 erteilte Konzession. Das Gericht wendete damit das 2017 in einem Referendum angenommene EnG zugunsten des Projekts an, demgemäss Anlagen zur Produktion von erneuerbarer Energie von gleichrangigem, nationalem Interesse sind wie beispielsweise der Erhalt von Schutzlandschaften. Zwei Vereinigungen (Aqua Viva und die Greina-Stiftung) gaben sich damit aber nicht zufrieden und zogen den Fall daraufhin erneut weiter ans Bundesgericht.
Im November 2020 entschied das oberste Schweizer Gericht daraufhin, dass die erteilte Konzession an den Berner Regierungsrat zurückzuweisen sei. Die Berner Regierung müsse die Interessenabwägung zwischen Naturschutz – in diesem Fall zwischen dem Erhalt der Moorlandschaften entlang des bestehenden Stausees – und dem Ausbau der erneuerbaren Energien im kantonalen Richtplan vornehmen. Das Urteil betraf zudem auch ein zweites Projekt der KWO (Errichtung einer neuen Staumauer beim Triftgletscher (BE)), das ebenfalls an den Berner Regierungsrat zur Neubeurteilung zurückzuweisen sei.
Wie der NZZ zu entnehmen war, plane die KWO jedoch, den Bau des Kraftwerks – wenn überhaupt – erst in den kommenden Jahren in Angriff zu nehmen, wenn die Rahmenbedingungen besser seien. So könne beispielsweise der Ausstieg Deutschlands aus der Atomenergie im Jahr 2022 Investitionen im Stromsektor wieder attraktiver machen. Auch hier machte jedoch das Bundesgericht eine Vorgabe, wonach Konzessionen eine Frist für die Realisierung der Projekte beinhalten müssen: «Eine Konzession auf Vorrat darf es also nicht geben», resümierte «Der Bund» dieses Urteil.
Mit dem Bundesgerichtsentscheid, der auch für weitere solche Projekte in der Schweiz wegweisend sein dürfte, wurde das schon seit Jahren umstrittene Bauvorhaben um die Erhöhung der Grimsel-Staumauer vorerst ausgebremst, wie der Bundesrat in einer Antwort auf eine Frage (A 20.5783) von Jacques Bourgeois (fdp, FR) zur Auswirkung dieses Bundesgerichtsurteils auf die Energiestrategie 2050 festhielt. Eine Effizienzerhöhung solcher Verfahren prüfe das UVEK derzeit im Rahmen eines angenommenen Postulats Chevalley (glp, VD; Po. 19.3730), erklärte der Bundesrat weiter. Das potenzielle Stromproduktionsvolumen des Grimselprojekts von zusätzlichen 240 GWh Energie, das den Strombedarf von 60'000 bis 100'000 Haushalten vor allem auch in den Wintermonaten decken könnte, würde gemäss NZZ rund 20 Prozent des geplanten nationalen Ausbaupotenzials ausmachen.

rehausser le niveau du barrage du lac du Grimsel
Dossier: Grimsel (BE) Erhöhung Staumauer
Dossier: Ausbau und Erhalt von erneuerbaren Energien versus Umweltschutz

Rund 70 Terrorismusstrafverfahren waren Medienberichten zufolge Anfang 2020 am Bundesstrafgericht hängig. Eine Handvoll weitere kamen im Verlauf des Jahres hinzu. Im Dunstkreis der Genfer IS-Zelle um die Moschee Petit-Saconnex, die unter anderem den enthüllten Terroranschlag auf das Treibstofflager in Vernier geplant hatte, kam es etwa zu neuen Anklagen gegen zwei Männer, die 2015 versucht hatten, nach Syrien zu reisen und sich dem IS anzuschliessen. Obwohl sie von den türkischen Behörden an der Weiterreise nach Syrien gehindert worden seien, hätten sie bereits in der Türkei logistische Unterstützung des IS in Anspruch genommen und diesen finanziell unterstützt, lauteten die Vorwürfe. Grosse Medienaufmerksamkeit generierte auch die Messerattacke von Morges (VD) im September, als ein nachrichtendienstlich bekannter Islamist einen Kunden eines Kebaplokals mit einem Messer angriff und tödlich verletzte. Die Bundesanwaltschaft ermittelte zu diesem Zeitpunkt bereits seit einem Jahr wegen versuchter Brandstiftung an einer Tankstelle gegen den Mann, weil die Polizei bereits damals Hinweise auf einen dschihadistischen Hintergrund festgestellt hatte. Ob die Tat von Morges als erster islamistischer Terroranschlag in der Schweiz gelten kann, wird gemäss Einschätzung der NZZ allerdings nur schwer zu klären sein. Die Grenze zwischen religiösem Fanatismus und psychischer Erkrankung könne nicht klar gezogen werden und es stehe die Frage im Raum, inwiefern radikal-islamistische Kreise die angebliche psychische Erkrankung des Mannes für ihre Zwecke missbraucht hätten, so die Zeitung.
Ebenfalls 2020 brachte das Bundesstrafgericht zwei Verfahren gegen Islamisten aus dem Netzwerk um die An'Nur-Moschee in Winterthur zum Abschluss, die auf reges mediales Interesse stiessen. Im August standen Sandro V. – die mutmassliche Schlüsselfigur im Winterthurer Islamistennetzwerk – sowie ein weiterer Mann aus diesem Umfeld vor den Richtern in Bellinzona. Als Syrien-Rückkehrer – bereits 2013 und damals noch unbehelligt verbrachte Sandro V. drei Wochen im Kriegsgebiet, nach eigenen Aussagen lediglich auf einer humanitären Hilfsmission – wurde der Hauptangeklagte in der Szene als «Emir» verehrt, genoss hohes Ansehen und grossen Einfluss. Laut Anklageschrift hatte er eine «Intermediärstellung» zu radikalen Geistlichen im Ausland inne. Als Verantwortlicher der Koranverteilungsaktion «Lies!» in der Schweiz und der Kampfsportschule «MMA Sunna» schuf er ein «Auffangbecken für die Jugendlichen, die sich vom radikalen Islamismus angezogen fühlten» und wurde zum «Dschihad-Reiseleiter», wie die NZZ ausführte. Schlagzeilen machten während des Prozesses nicht zuletzt die Zeugen, die ihre wichtigsten belastenden Aussagen aus den Ermittlungen nun nicht mehr bestätigten und so die Beweisführung der Bundesanwaltschaft erheblich erschwerten. Nichtsdestotrotz sah das Gericht die Vorwürfe gegen Sandro V. als erwiesen an und verurteilte ihn wegen Beteiligung und Unterstützung einer kriminellen Organisation sowie wegen Besitzes von Gewaltdarstellungen zu 50 Monaten Freiheitsstrafe – mehr als die Anklage gefordert hatte. Die Presse zitierte aus dem Urteil, der Mann habe als «fanatischer Anhänger des IS» und als «ideologische[r] Überzeugungstäter» mit «grosse[r] kriminelle[r] Energie» «kaltblütig und menschenverachtend» Dschihad-Reisende, darunter auch Minderjährige, rekrutiert. Seinem Mitangeklagten wurde eine bedingte Geldstrafe wegen der Verbreitung von IS-Propagandabildern auferlegt. Der Vorwurf, er habe eine Beziehung zu einem 15-jährigen Mädchen geführt und sie zur Reise ins Kriegsgebiet verführt – sie war der weibliche Teil des medial bekannten minderjährigen Geschwisterpaars aus Winterthur, das in den Dschihad gezogen war –, konnte mangels Beweisen nicht bestätigt werden. Die NZZ beklagte anschliessend, dass der Prozess der «ratlosen Öffentlichkeit» keine Antworten geliefert habe; es gebe immer noch keine einleuchtende Erklärung für die «merkwürdig[e] Häufung von Jihad-Reisen aus dem Raum Winterthur» und es bleibe offen, wie gefährlich diese radikalen Kreise für die Sicherheit der Schweiz seien.
Einen Monat später musste sich auch Azad M., der in der Winterthurer An'Nur-Moschee als Hilfs-Imam amtete, vor dem Bundesstrafgericht verantworten. Laut Anklage soll er die Schweiz als sicheren Hafen benutzt haben, um von hier aus unbemerkt dem IS zu dienen. Das Gericht kam zum Schluss, er habe sich «in multifunktionaler Rolle und mit grossem Zeitaufwand» für den IS eingesetzt. So habe er in Kontakt mit der Führungsriege des IS und selbst in «mittlerer Kaderrolle» gestanden, Geld an den IS überwiesen und zusammen mit seiner Frau ein Selbstmordattentat im Libanon geplant. Dass er auch Terroranschläge in der Schweiz vorbereitet haben soll, wie die Bundesanwaltschaft vermutet hatte, sei indes «reine Spekulation». Der Iraker wurde zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und zehn Monaten, wovon er gut die Hälfte bereits in Untersuchungshaft verbüsst hatte, und 15 Jahren Landesverweis verurteilt. Gemäss NZZ sei dies die höchste Strafe, die bisher gegen einen IS-Anhänger in der Schweiz ausgesprochen worden sei.
Bereits zum zweiten Mal verhandelte das Bundesstrafgericht im Herbst 2020 den Fall der Terrorpropaganda durch den IZRS. Dessen Präsident Nicolas Blancho und der Medienverantwortliche Qaasim Illi waren 2018 wegen Formfehlern seitens der Bundesanwaltschaft noch freigesprochen worden; nur der dritte im Bunde, Naim Cherni, der den strittigen Film über den islamistischen Geistlichen Abdallah al-Muhaysini in Syrien realisiert hatte, war verurteilt worden. Das Bundesgericht hatte im März 2020 dann die Verurteilung Chernis bestätigt und die Entscheide Blancho und Illi ans Bundesstrafgericht zurückgewiesen. Dieses annullierte die Freisprüche im Herbst, sprach die beiden IZRS-Exponenten der Terrorismusunterstützung schuldig und verhängte bedingte Freiheitsstrafen von 18 Monaten für Illi und 15 Monaten für Blancho. Der Film sei Propaganda, weil die dschihadverherrlichenden und antisemitischen Aussagen des Interviewten nicht kritisch dargestellt und in keinerlei Kontext gesetzt würden. Somit hätten sich Illi mit der Veröffentlichung und Blancho mit der Bewerbung des Videos strafbar gemacht.

Terrorismusprozesse am Bundesstrafgericht 2020

Ende Oktober 2020 gelangte das Bundesgericht zur Ansicht, die aus dem Mietertrag resultierende Rendite für Immobilienbesitzerinnen und -besitzer sei zu klein. Es beschloss demnach, seine Rechtsprechung aus den Jahren 1986 und 1994 zur Berechnung der Nettorendite anzupassen. Mit dem neuen Bundesgerichtsentscheid ist es den Vermietenden nun möglich, das investierte Eigenkapital in vollem Umfang an die Teuerung anzupassen. Bis anhin war nur eine Anpassung zu 40 Prozent möglich gewesen. Weiter darf der Ertrag den Referenzzinssatz neu um 2 Prozent übersteigen (bisher: 0.5%), sofern der Referenzzinssatz nicht mehr als 2 Prozent beträgt. Das Bundesgericht begründete seinen Entscheid damit, dass die Zinssätze seit der letzten Rechtsprechung erheblich und nachhaltig gesunken seien. Namentlich für die Pensionskassen sei dies nachteilig, da diese darauf angewiesen seien, mit eingeschränkten Anlagemöglichkeiten ihr Geld sicher anzulegen, um Renten an ihre Versicherten auszahlen zu können. Zu befassen hatte sich die oberste Gerichtsinstanz mit der Frage aufgrund einer Mietstreitigkeit im Kanton Waadt. Ursprünglich war eine Mieterpartei an das Mietgericht gelangt, um den Anfangsmietzins für eine 4.5-Zimmerwohnung anzufechten (CHF 2'190 ohne Nebenkosten; Garageparkplätze à CHF 130). Gestützt auf die damalige Berechnung der Nettorendite hatte das Mietgericht die Miete auf CHF 900 und diejenige der beiden Parkplätze auf je CHF 50 gesenkt. Nachdem das Waadtländer Kantonsgericht den Entscheid bestätigt hatte, war die Vermieterin, bei der es sich um die BVK-Personalvorsorge des Kantons Zürich handelte, an das Bundesgericht gelangt. Dieses hiess die Beschwerde teilweise gut. Mit der neuen Berechnungsmethode legte es den zulässigen Mietzins auf CHF 1'390 für die Wohnung und CHF 73 für die Parkplätze fest. Mit diesem Entscheid kam das Bundesgericht einer hängigen parlamentarischen Initiative Feller (fdp, VD; Pa.Iv. 17.491) entgegen, welche die Möglichkeiten zur Anfechtung missbräuchlicher Mietzinse mittels Anhebung der zulässigen Nettorendite einschränken will.

Neuer Bundesgerichtsentscheid zur Anfechtung des Anfangsmietzinses
Dossier: Mietzinse: Bestimmung der Missbräuchlichkeit und Anfechtung

Im Oktober 2020 rügte der EGMR die Schweiz für die Ungleichbehandlung von Witwern und Witwen. Zuvor hatte ein Witwer aus dem Kanton Appenzell Ausserrhoden ein Urteil des Bundesgerichts aus dem Jahr 2012 an den EGMR weitergezogen, der ihm das Recht auf eine Hinterbliebenenrente nach dem Erreichen der Volljährigkeit durch seine jüngste Tochter verneint hatte. Er argumentierte, dass er gegenüber verwitweten Frauen benachteiligt werde, da diese auch nach Volljährigkeit ihrer Kinder und teilweise gar, ohne Kinder zu haben, eine Witwenrente erhielten. Mit knapp 60 Jahren habe aber auch er – genauso wie Witwen – keine Chance mehr auf einen beruflichen Wiedereinstieg.
Seinen Vorwurf, wonach dies der Gleichstellung von Frauen und Männern widerspreche, bestätigte der EGMR. Zwar sei eine Ungleichbehandlung bei sehr guten Gründen möglich, ein solcher liege hier aber nicht vor. Somit verstosse das geltende Gesetz gegen die Menschenrechtskonvention. Das Bundesgericht hatte 2012 auf das entsprechende 1948 durch das Parlament erlassene Gesetz verwiesen. Unklar war zu diesem Zeitpunkt noch, ob die Schweiz das Urteil an die Grosse Kammer des EGMR weiterziehen wird oder nicht. Damit das Urteil rechtskräftig werden würde, müsste der Kläger am Bundesgericht eine Revision des Schweizer Urteils verlangen, erklärte humanrights.ch. Zu einer Gesetzesänderung könnte es aber auch so kommen, wurden doch im Nachgang des Entscheids verschiedene Postulate (Po. 20.4449), Motionen (Mo. 20.4445; Mo. 20.4693) und parlamentarische Initiativen (Pa.Iv. 21.416; Pa.Iv. 21.511, Pa.Iv. 21.512) eingereicht.
Auch die Presse diskutierte insbesondere über die Folgen dieses Urteils, wobei sie sich vor allem fragte, ob die Rente der Witwer derjenigen der Witwen angepasst werden solle oder umgekehrt. Dabei offenbarten die Medien unterschiedliche Präferenzen. Einige wiesen darauf hin, dass eine Verwitwung gemäss einem Bericht des Bundesrates heute weniger gravierende Auswirkungen habe als eine Scheidung oder Trennung. Zudem wurde auf die hohen Kosten einer Ausweitung der Witwerrente verwiesen. Andererseits wurde argumentiert, dass Witwenrenten aufgrund der höheren Lebenserwartung sehr viel häufiger seien als Witwerrenten, weshalb sich die Mehrkosten durch eine grosszügigere Regelung für die Witwer in Grenzen halten würden. Neben den inhaltlichen Fragen wurde in der Berichterstattung auch über fremde Richter und über die abgelehnte Selbstbestimmungsinitiative diskutiert.

Urteil des EGMR zur Witwerrente (2020)

Im Oktober 2020 erliess das Bundesgericht sein Urteil gegen die Beschwerde des Vereins Human Life sowie mehrerer Privatpersonen gegen den Rückzug der Volksinitiative «Für Ehe und Familie – gegen die Heiratsstrafe» durch die CVP. Darin hielt es fest, dass ein Komitee eine eidgenössische Initiative gemäss Bundesgesetz über die politischen Rechte solange zurückziehen könne, bis der Bundesrat den Abstimmungstermin festgesetzt habe. Da mit dieser Bestimmung sichergestellt werden solle, dass eine Initiative nicht kurz vor der Abstimmung zurückgezogen werde, gebe es keinen Grund, sie in diesem speziellen Fall nicht anzuwenden. Auch den Vorwurf, wonach der Rückzug gegen die Abstimmungsfreiheit verstosse, verneinte das Gericht. Es gebe keinen Anspruch auf eine Anerkennung eines Abstimmungsergebnisses, bei dem der freie Wille der Stimmberechtigten nicht unverfälscht zum Ausdruck gekommen sei. Nach Aufhebung der Abstimmung sei ihre Wiederholung für die Wiederherstellung des «Vertrauens der Stimmberechtigten in die demokratischen Prozesse» nicht notwendig. Schliesslich habe der Rückzug nicht gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstossen, zumal es für einen Rückzug keines besonderen Grundes bedürfe.

Volksinitiative der CVP «Für Ehe und Familie – gegen die Heiratsstrafe»
Dossier: Abschaffung der Heiratsstrafe
Dossier: Volksinitiative «für Ehe und Familie – gegen die Heiratsstrafe»: Initiative, Annullierung und Rückzug
Dossier: Reform der Ehe- und Familienbesteuerung seit 2000 – Gemeinschaftsbesteuerung oder Individualbesteuerung?

Ein weiteres Urteil bezüglich EL fällte das Bundesgericht im September 2020 und zwar in der Frage, ab wann bei rückwirkender Berechnung von EL Freizügigkeitsgelder angerechnet werden. Dem Betroffenen waren im Februar 2018 rückwirkend ab November 2014 eine ganze IV-Rente sowie EL zugesprochen worden. Im April 2018 wurde sein Pensionskassenguthaben frühzeitig ausbezahlt, was bei Bezug einer vollen Invalidenrente möglich ist. Bei der rückwirkenden Berechnung der EL wurde nun das Freizügigkeitsguthaben aber bereits ab November 2014 angerechnet. Nachdem das Verwaltungsgericht des Kantons Bern eine entsprechende Beschwerde abgewiesen hatte, entschied das Bundesgericht im Sinne des Klägers: Das Freizügigkeitsguthaben sei erst ab 1. März 2018 zu berücksichtigen, zumal nur tatsächlich vorhandene Vermögen und Einkommen angerechnet werden dürfen, über die auch verfügt werden kann. Da die Möglichkeit zum Bezug des Freizügigkeitsgeldes erst ab dem Zeitpunkt bestehe, ab dem die IV-Verfügung rechtskräftig sei, könne das Guthaben auch erst ab dann angerechnet werden.

Urteil BGer zur Frage, ab wann bei rückwirkender Berechnung von EL Freizügigkeitsgelder angerechnet werden

Die Nachabstimmungsanalyse «Voto» zur steuerlichen Berücksichtigung der Kinderdrittbetreuungskosten warf einige Wochen nach dem Urnengang etwas Licht auf die Ursachen für diesen eher unerwarteten Abstimmungsentscheid der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger. Demnach hatten sich die Anhängerschaften aller sechs grossen Parteien insgesamt gegen die Vorlage ausgesprochen: Am grössten war die Zustimmung noch bei den Sympathisantinnen und Sympathisanten der FDP (48% Ja-Stimmen) und der CVP (44%), am niedrigsten bei denjenigen der SP (27%) und der Grünen (29%). Als Hauptgrund für ihre Ablehnung nannten die Befragten, dass diese Vorlage nur den Vermögenden nütze – dieses Stimmmotiv erwähnten gemäss Umfrage 63 Prozent der Nein-Stimmenden. Folglich stiess auch das abgefragte Kontra-Argument, wonach «die höheren Kinderabzüge [...] ein Steuergeschenk für die reichsten Familien» darstellten, bei 65 Prozent aller Befragten – also auch bei den Ja-Stimmenden – auf Zustimmung.
Die Befürwortenden hatten der Vorlage hingegen insbesondere zugestimmt, weil sie Familien generell unterstützen wollten (25% der Ja-Stimmenden) oder weil sie persönlich oder ihre Verwandten von der Vorlage profitiert hätten (23%). Auf die Relevanz des persönlichen Nutzens der Vorlage verweisen die Autoren der Studie auch bei der Analyse des Stimmentscheids nach Anzahl Kinder und Äquivalenzeinkommen: So hatten Befragte der höchsten von vier Einkommenskategorien mit minderjährigen Kindern im eigenen Haushalt – also gut verdienende Eltern, die Zielgruppe der Vorlage – der Erhöhung der Steuerabzüge zu 70 Prozent zugestimmt. Bei Personen derselben Einkommenskategorie ohne Kinder lag die Zustimmung bei 36 Prozent, bei Eltern tieferer Einkommenskategorien zwischen 34 und 44 Prozent.
Unterschiede gab es darüber hinaus auch zwischen den Sprachregionen: Die Befragten der Romandie und im Tessin hatten der Vorlage gemäss Abstimmungsresultaten in den Gemeinden nur knapp nicht (Romandie: 48.2% Ja-Stimmen) oder sogar mehrheitlich (italienischsprachige Schweiz: 52.1%) zugestimmt.

Steuerliche Berücksichtigung der Kinderdrittbetreuungskosten

Noch bevor der Abstimmungskampf zur Änderung der direkten Bundessteuer zur steuerlichen Berücksichtigung der Kinderdrittbetreuungskosten, über die im Mai 2020 hätte abgestimmt werden sollen, richtig begonnen hatte, gab der Bundesrat im März 2020 bekannt, die Abstimmung aufgrund des Corona-bedingten Lockdowns auf September 2020 zu verschieben.
Die Abstimmungsvorlage umfasste zwei Aspekte: einerseits die im Titel aufgeführte Erhöhung des Drittbetreuungsabzugs von CH 10'000 auf CHF 25'000, andererseits die der Vorlage von der bürgerlichen Parlamentsmehrheit hinzugefügte Erhöhung des Kinderabzugs von CHF 6'500 auf CHF 10'000. Im Zentrum der Abstimmungskampagne stand der zweite Aspekt, die Erhöhung des Kinderabzugs, wobei dieselbe Frage die Diskussion dominierte, die schon im Rahmen der Parlamentsdebatte im Mittelpunkt gestanden hatte: Wer profitiert von den Kinderabzügen? Zur Beantwortung dieser Frage stützten sich beide Seiten auf die Daten der ESTV, welche Finanzminister Maurer in der Parlamentsdebatte präsentiert hatte.
Die Befürworterinnen und Befürworter stellten den Nutzen der Vorlage für den Mittelstand in den Mittelpunkt ihrer Kampagne. «Der Mittelstand profitiert», warb etwa die CVP auf ihrer Internetseite. Stütze man sich auf die Definition des BFS für «Mittelstand», erhalte der Mittelstand 49 Prozent der Ermässigungen, argumentierte Marianne Binder-Keller gegenüber dem Sonntagsblick. Gegen diese Darstellung wehrten sich die Gegnerinnen und Gegner der Vorlage: Der (obere) Mittelstand profitiere zwar auch, in erster Linie nütze die Vorlage aber vor allem den Gutverdienenden, kritisierten sie: Je höher das Einkommen, desto grösser sei der Spareffekt. 70 Prozent der Gesamtentlastung kämen so den 15 Prozent der Familien mit den höchsten Löhnen zu, während 45 Prozent der Familien keine Entlastung erfahren würden, da sie keine Bundessteuern bezahlten. Gar als «Klientelpolitik» bezeichnete etwa das liberale Komitee, vor allem bestehend aus Mitgliedern der GLP, die Vorlage. Noch einseitiger sei die Verteilung schliesslich, wenn nicht nur die Familien, sondern alle Haushalte, also auch die Alleinstehenden und die kinderlosen Paare, die ja ebenfalls von den Steuerausfällen betroffen wären, berücksichtigt würden, betonte überdies Jacqueline Badran (sp, ZH). Berücksichtige man diese ebenfalls, profitierten lediglich sechs Prozent aller Haushalte von 70 Prozent der Steuerausfälle. Man lasse jedoch den Mittelstand im Glauben, dass er von der Vorlage profitiere, indem in der Debatte sowie im Abstimmungsbüchlein jeweils das steuerbare Einkommen aufgeführt werde. Dies sei «total irreführend» (Badran gemäss Blick), da niemand die Höhe seines persönlichen steuerbaren Einkommens kenne. Die ESTV begründete die Verwendung des steuerbaren Einkommens jedoch damit, dass sich der tatsächliche Steuerbetrag beim Bruttoeinkommen zwischen verschiedenen Personen stark unterscheiden könne.
Obwohl die Befürworterinnen und Befürworter immer betonten, dass die Mehrheit der Familien profitiere, gab zum Beispiel Philipp Kutter (cvp, ZH), der die Erhöhung der Kinderabzüge im Nationalrat eingebracht hatte, in einem Interview gegenüber der NZZ unumwunden zu, dass die Vorlage auch eine Steuersenkung für Gutverdienende beinhalte: Über den Steuertarif seien allgemeine Steuersenkung für Gutverdienende «chancenlos», mehrheitsfähig sei einzig der «Weg über die Kinderabzüge».

Nicht nur der Mittelstand, sondern auch die Familien standen im Zentrum der Vorlage. Diese müssten endlich unterstützt werden, betonte Philipp Kutter, was mithilfe der aktuellen Vorlage möglich sei: 60 Prozent aller Familien könnten von einer Erhöhung des Kinderabzugs profitieren. Dem entgegnete etwa die NZZ, dass die Familien in den letzten Jahren stark entlastet worden seien (v.a. durch die Reduktion der Bundessteuer für Haushalte mit Kindern), deutlich stärker zumindest als Kinderlose. Brigitte Häberli-Koller (cvp, TG) befürwortete indes insbesondere, dass durch die aktuelle Vorlage alle Familienmodelle unabhängig der Betreuungsform entlastet würden. Die Gesellschaft habe als Ganzes ein Interesse daran, dass die Leute Kinder bekommen, ergänzte Kutter. Familiäre Strukturen seien für die Gesellschaft wichtig, überdies sei man dadurch weniger auf Zuwanderung angewiesen, die ja ebenfalls teilweise auf Ablehnung stosse. Demgegenüber wurde in der NZZ die Frage diskutiert, ob Kinderabzüge überhaupt gerechtfertigt seien. So könne man es als private Konsumentscheidung ansehen, Kinder zu haben; in diesem Falle würden Kinderabzüge der Besteuerung nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit widersprechen. Es gäbe aber einen politischen Konsens, dass das Steuerrecht Kinderkosten berücksichtigen solle. Die Entscheidung, wie diese Unterstützung erfolgen solle (durch degressiv wirkende Kinderabzüge, neutral wirkende Abzüge vom Steuerbetrag oder durch progressiv wirkende Kinderzulagen zum Erwerbseinkommen), sei dann eine weitere, umverteilungspolitische Entscheidung.

Ein weiteres Argument der Gegnerinnen und Gegner der Erhöhung des Kinderabzugs lag in den daraus folgenden hohen Kosten: Die Vorlage verursache voraussichtlich fast 40mal höhere Kosten, als für die Erhöhung des Drittbetreuungsabzugs geplant worden war, und übertreffe damit auch die Kosten der medial deutlich umstritteneren Verlängerung des Vaterschaftsurlaubs. Dadurch sei zukünftig weniger Geld für andere, sinnvollere Projekte vorhanden, argumentierten sie. SP, Grüne und die Kritikerinnen und Kritiker der Vorlage aus der FDP stellten dabei insbesondere die Individualbesteuerung in den Mittelpunkt. Dieser sprachen sie eine deutlich grössere Wirkung auf die Erwerbstätigkeit von Frauen zu als den Drittbetreuungsabzügen. Da sie aber ebenfalls zu hohen Steuerausfällen führen würde, befürchteten sie, dass die Abschaffung der Heiratsstrafe bei Annahme der aktuellen Vorlage auf die lange Bank geschoben würde, weil kein Geld mehr vorhanden wäre. Verstärkt wurde dieses Argument durch die hohen Kosten zur Bewältigung der Corona-Pandemie: Hatte der Bundesrat während der Budgetdebatte fürs Jahr 2020 noch mit einem Überschuss von CHF 344 Mio. gerechnet, wurde jetzt ein Defizit über CHF 20 Mrd. erwartet. Die Medien vermuteten von diesem Defizit nicht nur Auswirkungen auf die Vorlage zum Drittbetreuungs- und zum Kinderabzug, sondern auch auf die gleichzeitig stattfindenden Abstimmungen zu den Kampfflugzeugen und über den Vaterschaftsurlaub. «Angesichts enormer Zusatzlasten kann sich unsere Gesellschaft erst recht keine Steuergeschenke mehr leisten, die nichts bringen», argumentierte etwa GLP-Nationalrat Thomas Brunner (glp, SG). Das sahen die Befürwortenden anders, Philipp Kutter etwa betonte: «Das wird den Bund nicht umbringen».

Schliesslich waren sich Befürwortende und Gegnerschaft nicht einig, inwiefern das ursprüngliche Ziel der Vorlage, die Förderung der Beschäftigung hochgebildeter Personen, insbesondere von Frauen, durch die Ergänzung der Kinderabzüge gefördert wird. Raphaela Birrer argumentierte im Tages-Anzeiger, dass die Erhöhung der Kinderabzüge die Anreize zur Erhöhung der Erwerbstätigkeit verstärke. In einer Studie zur Wirkung der beiden Abzüge (Kinderabzug und Drittbetreuungsabzug) auf die Erwerbstätigkeit bestätigte Avenir Suisse diesen Effekt nur bedingt: Zwar senkten beide Abzüge den Grenzsteuersatz (also die Besteuerung von zusätzlichem Einkommen) und förderten damit die Erwerbstätigkeit, jedoch sei der entsprechende Effekt des Kinderabzugs gering. Zudem senke er auch den Grenzsteuersatz von Einverdienerhaushalten, wodurch die Erwerbstätigkeit von Frauen nicht gesteigert werde. Von der Erhöhung des Betreuungskostenabzugs sei hingegen ein deutlich stärkerer Effekt auf die Erwerbstätigkeit zu erwarten, damit könne der Anreiz des aktuellen Steuersystems für Zweitverdienende, nicht oder nur wenig zu arbeiten, gemildert werden. Die GLP stellte entsprechend insbesondere diesen Aspekt in den Mittelpunkt und sprach von einer Mogelpackung, weil die Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch die Erhöhung des Kinderabzugs nicht verbessert werde. Nationalrätin Christa Markwalder (fdp, BE), die sich ebenfalls im liberalen Komitee engagierte, reichte im Juni 2020 eine parlamentarische Initiative (Pa.Iv. 20.455) ein, mit der sie das Originalanliegen der Vorlage, also den Drittbetreuungsabzug, erneut aufnahm. Damit sollte dieser bei einer Ablehnung der Vorlage möglichst schnell verwirklicht werden können.
Die Frage, ob die Vorlage Anreize zur Erhöhung der Erwerbstätigkeit beinhalte oder nicht, hatte aber noch eine zweite Komponente. So störte sich die Weltwoche überhaupt daran, dass das Steuerrecht «für alle möglichen Zwecke instrumentalisiert» werde. Es sei nicht dafür da, «bestimmte Lebensmodelle zu fördern», argumentierte Katharina Fontana. Zudem sei es unmöglich, Steuergerechtigkeit herzustellen, zumal sich niemand jemals gerecht besteuert fühle.

Bezüglich der Komitees gibt es weniger zu sagen. Auf der Befürworterseite der Vorlage standen insbesondere die CVP und die SVP. Ja-Parolen gaben auch die BDP, EVP und die FDP.Liberalen aus, unterstützt wurden sie vom Gewerbeverband. Die Medien interessierten sich indes insbesondere für die Position der Freisinnigen, zumal sie die Vorlage im Parlament anfangs bekämpft, ihr mit ihrem Meinungswandel dann aber zum Durchbruch verholfen hatten. Nun wolle sich die Partei nicht an der Kampagne beteiligen, so die WOZ, zumal sie intern gespalten war: Einzelne Personen, darunter Ständerat Andrea Caroni (fdp, AR) und Nationalrätin Christa Markwalder, sprachen sich gegen die Vorlage aus und beteiligten sich gar am liberalen Nein-Komitee. Dieses setzte sich insbesondere aus Mitgliedern der GLP zusammen und kämpfte vor allem dagegen, dass die «Mogelpackung» viel koste, aber keine oder gar negative Auswirkungen hätte. Damit würden «keine Anreize für arbeitstätige Elternteile geschaffen», betonte Kathrin Bertschy (glp, BE). Auf linker Seite kämpften vor allem die SP und die Grünen, welche die Unterschriften für das Referendum gesammelt hatten, für ein Nein. Unterstützt wurden sie von den Gewerkschaften, aber auch Avenir Suisse sprach sich gegen die Kinderabzüge aus. Stimmfreigabe erteilten hingegen unter anderem die FDP Frauen. Sie befürworteten zwar den Drittbetreuungsabzug, störten sich aber an den hohen Kosten des Kinderabzugs, durch den das wichtigere Projekt der Individualbesteuerung weiter hinausgeschoben werde. Auch der Arbeitgeberverband entschied sich für Stimmfreigabe, nachdem er das Projekt im Parlament noch bekämpft hatte, da es «kaum zu einer stärkeren Arbeitstätigkeit der Eltern beitrage», wie der Blick berichtete. Dasselbe geschah mit Economiesuisse, der das Kosten-Nutzen-Verhältnis der Vorlage anfangs zu wenig ausgewogen gewesen sei. Der Sonntags-Blick vermutete, dass sich die Verbände nicht zu einer Nein-Parole hätten durchringen können, da das Referendum «aus dem falschen politischen Lager» stammte. Interessant war für die Medien schliesslich auch die Position des Bundesrates, insbesondere von Finanzminister Maurer. Dieser hatte die Vorlage im Parlament mit deutlichen Worten bekämpft, vertrat nun aber – wie im Gesetz für politische Rechte geregelt – die Position des Parlaments. Ersteres hatte er so gut getan, dass sich auch die NZZ nicht sicher war, ob er denn nun die Vorlage persönlich befürworte, wie seine Partei, oder sie ablehne.

Der Abstimmungskampf zur Vorlage verlief ungemein schwach. So stand sie deutlich im Schatten der Corona-Pandemie sowie der anderen vier Vorlagen. Sie wurde gemäss Analysen vom Fög und von Année Politique Suisse einerseits nur sehr schwach in Zeitungsinseraten beworben und andererseits auch in den Medien vergleichsweise selten thematisiert. Die briefliche Stimmabgabe deutete anfänglich auf mässiges Interesse am Super-Sonntag hin, wie der Abstimmungstag mit fünf Vorlagen in den Medien genannt wurde. Die SP schaltete sieben kurze Animationsfilme und gab ein Comic-Heftchen zu den Filmen aus, um zu verhindern, dass die Vorlage untergeht. Die ersten Vorumfragen Mitte August 2020 zeigten dann auch, dass die Meinungsbildung zur Vorlage noch nicht weit fortgeschritten war. Auf diese Tatsache wurde in den entsprechenden Berichten das Zwischenergebnis, wonach die Sympathisierenden von SP und Grünen die Vorlage mehrheitlich befürworteten, zurückgeführt. Besserverdienende gaben zu diesem Zeitpunkt an, der Vorlage eher zuzustimmen. Christian Levrat (sp, FR) hoffte, diese Personen durch die Kampagne noch umstimmen zu können. Die erste Tamedia-Umfrage ergab insgesamt eine Zustimmung («dafür» oder «eher dafür») von 55 Prozent und eine Ablehnung von 37 Prozent, während die SRG-Vorumfrage mit 51 Prozent zu 43 Prozent zu ähnlichen Ergebnissen kam. Diese Zahlen kehrten sich bis zum Termin der letzten Welle Mitte September um: Die Tamedia-Umfrage ergab eine Zustimmung von 46 Prozent und eine Ablehnung von 51 Prozent, die SRG-Umfrage eine von 43 Prozent zu 52 Prozent. Bei den Sympathisierenden von SP und Grünen war die Zustimmung vom ersten zum zweiten Termin gemäss SRG-Umfragen um 19 respektive 14 Prozentpunkte gesunken, bei den Sympathisierenden der GLP ebenfalls um 12 Prozentpunkte. Bei den übrigen Parteien nahm sie ebenfalls leicht ab.

Das Resultat der Abstimmung zur Änderung der direkten Bundessteuer über die steuerliche Berücksichtigung der Kinderdrittbetreuungskosten war schliesslich deutlicher, als die Vorumfragen und die Ausgangslage viele Kommentatorinnen und Kommentatoren hatten vermuten lassen: Mit 63.2 Prozent Nein-Stimmen lehnte das Stimmvolk die Vorlage mit einer vergleichsweise hohen Stimmbeteiligung von 59.2 Prozent deutlich ab. Dieses Nein lasse jedoch einigen Interpretationsspielraum, betonten die Medien. So gab es zwischen den Kantonen doch beträchtliche Unterschiede: Am kritischsten zeigte sich die Stimmbevölkerung im Kanton Appenzell-Ausserrhoden (28.1%), gefolgt von denjenigen in Appenzell-Innerrhoden (29.3%) und Bern (29.5%), am höchsten lag die Zustimmung im Tessin (52.0%) und in Genf (50.1%), beide Kantonsbevölkerungen hätten die Vorlage angenommen. Allgemein wurde gemäss BFS ersichtlich, dass die italienischsprachige (52.0%) und die französischsprachige Schweiz (48.5%) der Vorlage deutlich mehr abgewinnen konnten als die Deutschschweiz. Kaum Unterschiede waren zwischen Stadt und Land erkennbar: Die ländlichen Regionen (35.3%) lehnten die Vorlage ähnlich stark ab wie die Kernstädte (35.8%). Das Resultat könne nicht mit dem Links-Rechts-Schema erklärt werden, betonte die NZZ. Stattdessen seien vor allem die persönliche Einstellung zur Familienpolitik und zur Rolle des Staates relevant gewesen. Die externe Kinderbetreuung würde in der Romandie stärker akzeptiert und durch den Staat stärker unterstützt als in der Deutschschweiz, betonte denn auch CVP-Ständerätin Marianne Maret (cvp, VS) gegenüber der NZZ. Entsprechend habe in der Westschweiz vor allem der Drittbetreuungsabzug im Mittelpunkt gestanden, während in der Deutschschweiz hauptsächlich über den Kinderabzug diskutiert worden sei, stellte SP-Nationalrätin Franziska Roth (sp, SO) fest. Eine zu späte Kampagne in der Romandie machte schliesslich SP-Nationalrat Roger Nordmann für den hohen Anteil Ja-Stimmen in der französischsprachigen Schweiz verantwortlich. Christian Levrat erachtete das Ergebnis insgesamt als Absage des Volkes an die bürgerliche Steuerpolitik und als Ausblick auf andere bürgerliche Projekte zur Abschaffung der Stempelabgabe, der Industriezölle, des Eigenmietwerts oder der Heiratsstrafe. Stattdessen müssten nun Familien mit tiefen und mittleren Einkommen entlastet werden, insbesondere durch die Senkung der Krankenkassenprämien und die kostenlose Bereitstellung von Kita-Plätzen. Philipp Kutter wollte die Entlastung von Familien weiterverfolgen und plante anstelle des Kinderabzugs einen Abzug vom Steuerbetrag. Dass neben der Erhöhung des Kinderabzugs auch die Erhöhung des Drittbetreuungsabzugs gescheitert war, erachtete Christa Markwalder nicht als entmutigend und setzte auf ihre eingereichte parlamentarische Initiative. Anders als bei der ersten Behandlung des Themas im Nationalrat, als sich die SP- und die Grüne-Fraktion gegen Eintreten ausgesprochen hatten, kündigte Christian Levrat an, die parlamentarische Initiative zu unterstützen. Dies sei aber nur ein erster Schritt, zusätzlich brauche es auch Lösungen, die sich für die Mehrheit der Bevölkerung auszahlten.


Abstimmung vom 27. September 2020

Beteiligung: 59.2%
Ja: 1'164'415 (36.8%)
Nein: 2'003'179 (63.2%)

Parolen:
- Ja: BDP (1*), CVP, EVP (1*), FDP (1*), SVP; SGV
- Nein: EDU, GLP (1*), GPS, PdA, SD, SP; SGB, SSV, Travail.Suisse, VPOD
- Stimmfreigabe: Economiesuisse, SAV
* Anzahl abweichender Kantonalsektionen

Steuerliche Berücksichtigung der Kinderdrittbetreuungskosten

Le Conseil national a refusé en septembre une motion Michaud Gigon, qui demandait une révision de l'ordonnance Covid-19 sur l'accueil extrafamilial pour enfants du 20 mai 2020, similaire à la motion de la CSEC-CN. Cette dernière ayant été acceptée dix jours plutôt, le texte de la verte vaudoise a été rejeté sans débat.

Die Covid-19-Unterstützung für familienergänzende Kinderbetreuung gerecht verteilen (Mo. 20.3889)

In der Herbstsession 2020 beschäftigte sich erneut der Ständerat mit der Standesinitiative des Kantons Aargau für die «Abschaffung der Heiratsstrafe». Vor seiner ersten Behandlung im Februar 2018 hatte die WAK-SR noch argumentiert, dass die Botschaft des Bundesrates für eine ausgewogenen Paar- und Familienbesteuerung abgewartet werden solle. Erneut sprach sich die Kommissionsmehrheit im August 2020 dafür aus, der Standesinitiative keine Folge zu geben. Der bundesrätliche Vorschlag sei in der Zwischenzeit an die Regierung zurückgewiesen worden, damit sie Alternativen erarbeite. Offen sei auch eine Motion Markwalder (fdp, BE: Mo. 19.3630). Es solle daher nicht parallel auch noch an der Initiative gearbeitet werden, betonte die Mehrheit. Eine Minderheit Bischof (cvp, SO) wollte hingegen das langjährige Problem unverzüglich angehen. Ansonsten bleibe man noch länger als die bisherigen 36 Jahre – seit dem entsprechenden Bundesgerichtsurteil – bei einem verfassungswidrigen System, erläuterte der Minderheitensprecher in der Ratsdebatte. Das System, welches die Standesinitiative vorschlage, sei dasselbe, welches bereits alle Kantone anwendeten und das auch die Volksinitiative vorgeschlagen habe. Mit 22 zu 18 Stimmen (bei 1 Enthaltung) blieb der Ständerat bei seiner Meinung und gab der Standesinitiative erneut keine Folge. Damit ist sie vom Tisch.

Verschiedene Vorstösse zur Ehepaar- oder Individualbesteuerung (Mo. 05.3299, Kt.Iv. 06.302 / 07.305 / 08.318, Pa. Iv. 05.468, Mo. 16.3006, Kt.Iv. 16.318)
Dossier: Abschaffung der Heiratsstrafe
Dossier: Reform der Ehe- und Familienbesteuerung seit 2000 – Gemeinschaftsbesteuerung oder Individualbesteuerung?
Dossier: Bestrebungen zur Einführung der Individualbesteuerung

Ein Verbot von Mandatssteuern und Parteispenden für Mitglieder der Gerichte des Bundes forderte Beat Walti (fdp, ZH) in einer parlamentarischen Initiative, die er Ende September 2020 einreichte. Die FDP wolle die «Richtersteuer abschaffen», titelte in der Folge die Aargauer Zeitung. Zwar habe die Staatengruppe gegen Korruption des Europarats (GRECO) die Schweiz bereits vor Jahren gemahnt, dass die Unabhängigkeit der Judikative gefährdet sei, weil Richterinnen und Richter einer Partei angehören müssten, aber auch weil sie ihrer Partei Abgaben zu entrichten hätten, um die eigene Wiederwahl nicht zu gefährden. Von CHF 20'000 (GP) bis CHF 30'000 (FDP) pro Jahr und Bundesrichter wusste die Aargauer Zeitung zu berichten. Bei den Grünen hätten die Einnahmen 2015 zu 10 Prozent aus Mandatsabgaben ihrer Richterinnen und Richter bestanden. Ein Verbot könne dem Eindruck entgegenwirken, dass zwischen politischen Parteien und Mitgliedern von Gerichten eine Abhängigkeit bestehe, gab Beat Walti der Zeitung zu Protokoll.
Die RK-NR gab Mitte Januar 2021 bekannt, dass sie mit der Beratung der parlamentarischen Initiative Walti noch zuwarten wolle, bis die auf die Frühjahrssession 2021 terminierten Diskussionen im Nationalrat über die Justizinitiative und über einen allfälligen indirekten Gegenvorschlag geführt worden seien.

Verbot von Mandatssteuern und Parteispenden für Mitglieder der Gerichte des Bundes (Pa.Iv. 20.468)
Dossier: Unabhängigkeit der Judikative
Dossier: Justizinitiative

Die in der Regel als relativ unbestritten geltenden Gesamterneuerungswahlen des Bundesgerichts wurden 2020 zur Vorlage für eine fast epische Diskussion um die Gewaltenteilung. Den Wahlen für die Amtsperiode 2021-2026 war nämlich die medial virulent diskutierte Ankündigung der SVP vorausgegangen, Yves Donzallaz, einen der SVP angehörenden Bundesrichter, nicht wiederzuwählen.
Ursprung der Weigerung der SVP war unter anderem ein Entscheid des Bundesgerichtes im Sommer 2019, einem Amtshilfegesuch Frankreichs zuzustimmen, das die Auslieferung von Bankkundendaten verlangte. In diesem Urteil hatte besagter Donzallaz laut Blick «das Zünglein an der Waage» gespielt, zum Unverständnis seiner Partei. In der Folge stellten SVP-Politiker in den Medien offen die Frage, «ob wir Bundesrichter unserer Partei wiederwählen wollen, wenn sie in keiner Weise unser Gedankengut vertreten» – so etwa Fraktionschef Thomas Aeschi (svp, ZG) in der Sonntagszeitung. Pirmin Schwander (svp, SZ) forderte in der gleichen Zeitung gar ein Amtsenthebungsverfahren gegen den eigenen Bundesrichter. Thomas Matter (svp, ZH) wiederum kündigte in der Liberté an, dass er den Namen dieses Richters bei dessen Wiederwahl sicher nicht vergessen werde. Donzallaz war laut der Basler Zeitung bereits 2015 von der Weltwoche als «Abweichler» bezeichnet worden, weil er mitentschieden hatte, dass das Freizügigkeitsabkommen mit der EU Vorrang vor der Masseneinwanderungsinitiative der SVP habe.
Gegen die Reaktion der SVP wurde in den Medien rasch Kritik laut. Sie wurde von vielen Kommentatorinnen und Kommentatoren als Angriff auf die Unabhängigkeit der Judikative oder als Respektlosigkeit gegenüber der Gewaltenteilung verurteilt. Diskutiert wurde in der Folge auch, ob Parteipolitik überhaupt einen Einfluss auf die Rechtsprechung haben dürfe – eine Frage, die auch mit der Justizinitiative einer Antwort harrt, die im Tages-Anzeiger als «grösste Profiteurin der Querelen» bezeichnet wurde. Auch die Weltwoche kritisierte einen Angriff auf die Gewaltenteilung, allerdings aus alternativer Perspektive: Die Judikative setze sich beim Urteil über die Herausgabe der Bankkundendaten im Verbund mit der Exekutive über die Legislative und den Souverän hinweg. Zu reden gab schliesslich auch der unmittelbar nach der SVP-Kritik gefällte Entscheid des SVP-Fraktionschefs Thomas Aeschi, in der Gerichtskommission Einsitz zu nehmen. Die SVP mache «die Richterwahlen zur Chefsache», urteilte die Aargauer Zeitung.

Kurz nach der Entscheidung des Bundesgerichtes im Herbst 2019 ebbte die entsprechende Diksussion zwar wieder ab, allerdings nur um rund ein Jahr später bei der Vorbereitung der Wiederwahl der Richterinnen und Richter des Bundesgerichts wieder sehr laut zu werden. Der Sonntagsblick berichtete rund drei Wochen vor der für die Herbstsession 2020 angesetzten Wahl von mehreren Quellen, die bestätigten, dass die SVP in der vorberatenden GK beantragt habe, Yves Donzallaz nicht mehr als Vertreter der SVP zu behandeln und ihn nicht mehr zur Wiederwahl zu empfehlen. Die Kommissionsmehrheit habe jedoch nicht auf die Forderungen eingehen wollen. In der NZZ gab Donzallaz zu Protokoll, dass die SVP seit Jahren versuche, die Justiz zu instrumentalisieren. Den Versuchen, das Recht einer politischen Ideologie zu unterwerfen, müsse aber entschieden entgegengetreten werden. Er sei nicht verpflichtet, gegenüber einer Partei Entscheidungen zu rechtfertigen. Zwar sei es legitim, die Rechtsprechung zu kritisieren, nicht aber Richterinnen und Richter persönlich anzugreifen. Donzallaz berichtete auch, dass er von keinen Druckversuchen durch andere Parteien wisse. «Ganz ehrlich glaube ich, es handelt sich dabei um ein spezifisches Problem der SVP», betonte er. In der Aargauer Zeitung bestätigte ein ehemaliger SVP-Bundesrichter, der jedoch nicht namentlich genannt werden wollte, dass Druckversuche der Volkspartei schon in den 1990er Jahren vorgekommen seien. Man habe sich aber stets auf den Standpunkt gestellt, dass man nicht auf das Parteibuch vereidigt worden sei.

Einige Wellen warf auch, dass Donzallaz von seiner eigenen Partei vor dem Wahlgeschäft zu einem Hearing eingeladen wurde. Der Bundesrichter selber sprach von einer «Gewissensprüfung». Er habe während der Diskussion vor der Fraktion ausgeschlossen, dass er beim Urteilen ein Parteiprogramm anwenden könne, da er nur Verfassung und Gesetz verpflichtet sei. Für die SVP-Fraktion argumentierte hingegen Gregor Rutz (svp, ZH), dass jede Richterin und jeder Richter eine politische Grundhaltung habe, die das eigene Urteil beeinflussen würde. Der Parteienproporz sei dazu da, dies zu berücksichtigen und auszugleichen. Wenn nun aber ein Richter die Grundhaltung «seiner Partei» nicht mehr teile, dann müsse Letztere korrigierend eingreifen. Laut Tages-Anzeiger machte die SVP ihrem Richter das Angebot, aus der Partei auszutreten. Als Parteiloser würde er auch von der SVP wiedergewählt, sei ihm beschieden worden.

Die politische Kritik am Verhalten der SVP wurde in der Folge lauter. Dass die Volkspartei die Institutionen nicht mehr respektiere, müsse Konsequenzen haben, forderte CVP-Präsident Gerhard Pfister (cvp, ZG) im Tages-Anzeiger. SP-Präsident Christian Levrat (sp, FR) forderte ein Nachdenken über ein neues Wahlsystem, wenn sich die SVP aus dem Konsens über einen freiwilligen Parteienproporz und die Unabhängigkeit der eigenen Richterinnen und Richter verabschiede. Diskutiert wurde etwa eine Wahl auf Lebenszeit, um Unabhängigkeit nach einer gewissen pluralistisch garantierten Wahl zu garantieren. Kritisiert wurden auch die Mandatssteuern, mit denen Richter zu stark an die eigene Partei gebunden würden. Zudem müsste auch eine Anzahl parteiloser Richter gewählt werden, vorgeschlagen etwa von einer unabhängigen Fachkommission. Freilich gab CVP-Bundesrichterin Julia Hänni im Blick zu bedenken, dass die Unabhängigkeit der Judikative in jedem System vor allem auch vom Respekt der Politik vor dieser Unabhängigkeit abhänge.

Am 9. September 2020 entschied die GK, alle wieder antretenden Bundesrichterinnen und Bundesrichter zur Wiederwahl zu empfehlen. Tags darauf gaben die Parteispitzen der CVP, FDP und SP bekannt, den eigentlich für die anstehende Herbstsession geplanten «Konkordanzgipfel», bei dem das Verfahren für die Besetzung des Bundesrats beziehungsweise die Suche nach einer neuen Zauberformel hätten diskutiert werden sollen, nicht durchführen zu wollen. Man könne mit einer Partei, welche die Institutionen geringschätze, nicht über Konkordanz diskutieren – so die Begründung. Die NZZ schlussfolgerte daraus, dass die SVP nicht nur die Unabhängigkeit der Justiz gefährde, sondern auch ihre eigene Position – auf dem Spiel stünden gar die eigenen Bundesratssitze. SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi wehrte sich gegen den Vorwurf, die Partei halte nichts von der Gewaltentrennung. Bei den Gesprächen mit Donzallaz habe sich gezeigt, dass dieser die Werte der SVP nicht mehr vertrete. Die Partei könne deshalb die Verantwortung für dessen Wahl nicht mittragen. Seine Weigerung, aus der Partei auszutreten, zeuge zudem von «Charakterschwäche». Über Konkordanz werde man so oder so wieder reden; die Absage des Gipfels sei wohl eher dem Umstand geschuldet, dass man dafür keinen geeigneten Termin gefunden habe.

Noch mehr Öl ins Feuer goss dann die SP mit der Forderung, die Richterwahlen zu verschieben. Fraktionschef Roger Nordmann (sp, VD) wollte einen entsprechenden Ordnungsantrag einreichen. Es sei vor der Wahl abzuklären, wie unabhängig die Richterinnen und Richter der SVP seien. Sollte dieser Antrag nicht durchkommen, drohte Christian Levrat im Sonntagsblick, würde er gegen die Wiederwahl aller SVP-Richterinnen und -Richter stimmen. Auch dies provozierte Kritik: So äusserte sich etwa der Grüne Ständerat Matthias Zopfi (gp, GL) im Tages-Anzeiger, dass die anderen Parteien die Richterwahlen nicht noch mehr «verpolitisieren» sollten. Für GLP-Präsident Jürg Grossen (glp, BE) wäre eine kollektive Nichtwahl eine weitere Schwächung der Institution. Man habe ja kein Problem mit dem Gericht, sondern mit der SVP.

Wie so vieles in der Schweizer Politik wurde dann auch die Wahl der Bundesrichterinnen und Bundesrichter parlamentarisch wesentlich weniger heiss gegessen als es im Vorfeld medial aufgekocht wurde. Freilich wurden am 23. September 2020 in der Vereinigten Bundesversammlung im Rahmen des Ordnungsantrags der SP-Fraktion nochmals die parteipolitischen Klingen gekreuzt. Daniel Jositsch (sp, ZH) führte für seine Partei aus, dass die SVP «den politischen Kampf aus dem Parlament hinaus ins Bundesgericht tragen» wolle. Die Abwahlempfehlung eines eigenen Bundesrichters werfe die Frage auf, ob andere SVP-Richterinnen und -Richter noch unabhängig urteilen würden, wenn sie eine Abwahl befürchten müssten. Die Frage nach der Unabhängigkeit der SVP-Richterinnen und -Richter müsse die GK ab sofort vor jeder Wiederwahl prüfen, weshalb die Wahlen auf die Wintersession verschoben werden sollten. Andrea Caroni (fdp, AR) fasste als Sprecher der GK das Prozedere zusammen: Weil bei keiner der 37 wieder kandidierenden Personen Hinweise auf Amtspflichtverletzung gefunden worden seien, würden auch alle zur Wiederwahl empfohlen – diese Überprüfung sei nota bene die einzige Aufgabe der GK. Alle Fraktionen hätten den Entscheid, alle Richterinnen und Richter zur Wiederwahl zu empfehlen, unterstützt – mit Ausnahme der SVP, die die Wiederwahl von Bundesrichter Yves Donzallaz nicht unterstütze. Man habe in der GK auch über eine Verschiebung der Wahl und eine Art Gewissensprüfung diskutiert, dies aber verworfen, eben gerade weil die Unabhängigkeit der Judikative geschützt werden müsse. Mit einer Verschiebung würden alle 37 Kandidierenden dem Generalverdacht ausgesetzt, «Parteisoldaten» zu sein. Andererseits sei kaum zu erwarten, dass sich aufgrund einer Gewissensprüfung jemand als «fremdgesteuerten Parteisoldat» bezeichnen werde.
In der Folge legte Thomas Aeschi für die SVP auch im Parlament noch einmal dar, weshalb sie ihren Bundesrichter nicht zur Wiederwahl empfehlen könne. «Nicht die SVP politisiert die Justiz; die Justiz hat begonnen zu politisieren», führte der Fraktionschef aus. Da dürfe es nicht verwundern, dass die Zusammensetzung des Bundesgerichtes zum Thema werde. Man befürchte insbesondere, dass EU-Recht über Schweizer Recht gestellt werde, wogegen sich die SVP vehement wehre. Wenn nun aber ein eigener Richter die Werthaltungen seiner Partei nicht mehr teile, dann könne die SVP die Verantwortung für ihn nicht mehr tragen. «Wenn Sie, die anderen Fraktionen, Yves Donzallaz wiederwählen, sind Sie verantwortlich für sein künftiges richterliches Wirken: Dann ist er Ihr Richter, dann ist es Ihre Verantwortung», so Aeschi zum Schluss.

In der Folge wurde der Ordnungsantrag der SP-Fraktion mit 42 zu 190 Stimmen (6 Enthaltungen) abgelehnt – Zustimmung fand er ausschliesslich bei den Mitgliedern der SP-Fraktion. Anschliessend wurden alle 37 Kandidierenden wiedergewählt. Da auf den Wahlzetteln alle 37 Namen standen und lediglich gestrichen werden konnten, interessierten natürlich die individuellen Resultate. Am wenigsten von den 239 möglichen Stimmen erhielt wie erwartet Yves Donzallaz. Seine 177 Stimmen lagen aber klar über den nötigen 120 (absolutes Mehr). Die restlichen Kandidierenden erhielten zwischen 197 (Andreas Zünd, SP) und 236 Stimmen (Luca Marazzi, FDP; Thomas Stadelmann, CVP).
Auch die zur Wiederwahl stehenden 12 nebenamtlichen Bundesrichterinnen und -richter schafften die erneute Wahl problemlos (mit zwischen 220 und 236 von 240 möglichen Stimmen). Für den zurücktretenden Ulrich Meyer (SP) wurde Christoph Hurni (GLP) zum ordentlichen Richter gewählt (mit 232 von 241 Stimmen; 9 Wahlzettel blieben leer). Und schliesslich barg auch die Ergänzungswahl von sechs nebenamtlichen Richterinnen und Richtern keine Überraschungen mehr. Auch hier erhielten alle mehr als 200 von 239 möglichen Stimmen.

Freilich – so schloss die NZZ bereits am Tag vor der Wahl – stand das Schweizer Justizsystem bei diesen Wiederwahlen auf dem Prüfstand, auch wenn der Wahltag selbst ohne Überraschung endete. Eine Justizreform sei unumgänglich, folgerte auch der Tages-Anzeiger. Der Angriff der SVP sei zwar gescheitert und ein «Psychodrama» sei verhindert worden – so auch Le Temps, Tribune de Genève und Liberté –, die Justiz stehe nun aber unter Spannung. Dafür, dass die Diskussionen um die Wahl von Richterinnen und Richtern nicht versandet, wird auf jeden Fall die Justiz-Initiative sorgen.

Bundesgericht. Gesamterneuerungswahlen für die Amtsperiode 2021-2026
Dossier: Unabhängigkeit der Judikative