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Als Reaktion auf den im September 2023 veröffentlichten Bericht der Universität Zürich über den sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche der Schweiz, forderte Carlo Sommaruga (sp, GE) in einer Motion, dass die Missbrauchsfälle in einem Bericht aufgearbeitet werden sollen. Dieser von der katholischen Kirche unabhängige Bericht solle zum einen den Missbrauch und dessen Vertuschung in der katholischen Kirche genauer beleuchten. Zum anderen solle untersucht werden, ob und inwiefern die Kantone und der Bund ihre Pflicht, Kinder zu schützen sowie Täter und Täterinnen juristisch zu verfolgen, nicht wahrgenommen haben. Sommaruga argumentierte in der Wintersession 2023 im Ständerat, dass ein Bericht auf nationaler Ebene zentral sei, um die Problematik umfassend zu verstehen, entsprechende Präventionsmassnahmen zu ergreifen, Gesetzesanpassungen vorzunehmen oder um sich schlicht bei den Betroffenen entschuldigen zu können. Der Bundesrat empfahl die Motion zur Ablehnung. Justizministerin Elisabeth Baume-Schneider erklärte dies insbesondere damit, dass die Verantwortung und Kompetenz in diesem Bereich bei den Kantonen liege. Der Bundesrat sei jedoch bereit die Beziehung zwischen Kirche und Staat anhand einiger Kantone in einem Bericht zu analysieren, wie es in einem Postulat Fischer (Mo. 23.4294) gefordert werde und er empfehle die vorliegende Motion entsprechend zur Annahme. In der Folge lehnte der Ständerat die Motion mit 33 zu 8 Stimmen (3 Enthaltungen) ab.

Für einen offiziellen Bericht über den Missbrauch in der katholischen Kirche (Mo. 23.4302)

Im September 2023 wurde der Bericht zum Forschungsprojekt über die sexuellen Missbräuche innerhalb der schweizerischen katholischen Kirche seit 1950 unter grosser medialer und politischer Aufmerksamkeit veröffentlicht. Das Forschungsteam hatte darin in rund zwei Dutzend Archiven Akten von Missbrauchsfällen zusammengesucht, gelesen und einige Fälle analysiert. Ergänzend bezog es mediale Berichte zum Thema ein und führte Interviews mit Betroffenen, Expertinnen und Experten sowie mit Vertreterinnen und Vertretern der katholischen Kirche.

Die Studie identifizierte zwischen 1950 und 2023 insgesamt 1'002 Fälle von sexuellem Missbrauch mit 510 Täterinnen und Tätern und 921 Betroffenen. Während die Beschuldigten bis auf wenige Ausnahmen männlichen Geschlechts waren, waren 39 Prozent der Betroffenen weiblich. Mehrheitlich handelte es sich dabei um Minderjährige (74%), wobei die gesamte Altersspanne vertreten war. Doch bei mindestens 14 Prozent der Fälle handelte es sich auch um erwachsene Betroffene, was gemäss Bericht ein wichtiger Befund sei, da bisherige Untersuchungen nur Minderjährige in den Fokus genommen und somit eine grosse Gruppe an Betroffenen nicht berücksichtigt hätten. Die untersuchten Fälle fanden mehrheitlich vor der Jahrhundertwende statt (47% zwischen 1650 und 1969; 41% zwischen 1970 und 1999; 12% zwischen 2000 und 2022).

Zudem lieferte die Studie einen Überblick über die Archivsituation in der katholischen Kirche. So sei zwar der Zugang zu den Archiven grösstenteils gegeben gewesen, wie es die katholische Kirche im Vorfeld versprochen hatte, jedoch gab es in Bezug auf die Qualität der Archivierung teils grosse Unterschiede. Einzelne Archive hätten demnach grössere Schwächen in der Organisation sowie Lücken in der Dokumentation aufgewiesen. Eine Hürde stellte dabei eine Regel im kanonischen Recht der katholischen Kirche dar, wonach alle Akten zehn Jahre nach dem Vorfall oder bei Tod der beschuldigten Person vernichtet werden sollten. Obwohl die Mehrheit der Bistümer diese Regelung heute mehrheitlich nicht mehr umsetzten, fanden die Forschenden in einigen Archiven nach wie vor Hinweise auf eine solche Vernichtung von Akten. Zum «diplomatische[n] Schutz der Nuntiatur» erhielt das Forschungsteam zudem keinen Zugang in die Archive der Apostolischen Nuntiatur der Schweiz, der diplomatischen Vertretung des Vatikans. Da es Aufgabe des Nuntius ist, Brüche mit dem katholischen Recht, wie etwa sexueller Missbrauch, dem Papst zu melden, erachtete das Forschungsteam das entsprechende Archiv als wichtige Quelle für weitere Untersuchungen und befürchtete, dass die bisherigen Zahlen wohl nur «die Spitze des Eisberges» seien.

Weiter zeichnete der Bericht ein Bild über den Umgang der katholischen Kirche mit Fällen von sexuellem Missbrauch. So gebe es erst im 21. Jahrhundert schrittweise eine konsequentere Aufarbeitung und Verfolgung von sexuellem Missbrauch, während die Fälle zuvor meist «bagatellisiert» und oft «ausgesessen» worden seien. So seien Täterinnen und Täter etwa oft in andere Bistümer versetzt statt des Amtes enthoben worden, zudem habe es eine Schweigepflicht für Betroffene oder Mitwissende gegeben.

Der Bericht betonte zuletzt, dass die Ergebnisse mehrheitlich auch als Grundlage für zukünftige und weitergehende Untersuchungen dienen sollten. Entsprechend behandelte er auch Empfehlungen für weitergehende Untersuchungen und identifizierte Forschungslücken. Zentral sei etwa, dass die verschiedenen Strukturen der katholischen Kirche miteinbezogen würden und dass der Blick über die Bistümer hinausgehe. Untersucht werden müssten demnach unter anderem auch katholische Kinder- und Jugendverbände, wie etwa die Jungwacht-Blauring.

In der Folge kam es zu einer breit geführten medialen Debatte über den Bericht und dessen direkten Folgen, zudem wurden Forderungen an die katholische Kirche gestellt.

Ein prominent diskutiertes Thema waren dabei erstens die Strukturen der katholischen Kirche, welche Missbrauch potenziell fördern könnten. So kritisierten die Medien etwa das Pflichtzölibat, wonach geweihte Personen ihre Sexualität in keinerlei Form ausleben dürfen, als unrealistisch. Es verhindere, dass junge Männer einen gesunden Umgang mit der eigenen Sexualität erlernen könnten. Folglich würden sexuelle Präferenzstörungen wie Pädophilie wahrscheinlicher, zudem könnten Personen davon angezogen werden, die bereits ein gestörtes Sexualverhältnis haben. Unter anderem der Präsident der Schweizerischen Bischofskonferenz, Felix Gmür, forderte deshalb eine Abschaffung des Zölibats.
Zudem wurde die fehlende Gewaltenteilung innerhalb der katholischen Kirche kritisiert. So sind Bischöfe derzeit zugleich Legislative, Exekutive und Judikative, was einerseits Vertuschungen begünstige, andererseits Bischöfe in ein Dilemma zwischen Schutz ihrer Unterstellten und Pflicht zur Aufklärung der Taten stürzten. Folglich wurde eine bessere Machtteilung innerhalb der katholischen Kirche und eine Einschränkung der Macht der Bischöfe gefordert.

Zweitens hatte der Bericht auch direkte Auswirkungen für die katholische Kirche. So meldeten sich viele neue Betroffene von sexuellem Missbrauch bei den entsprechenden Meldestellen der katholischen Kirche. Viele Betroffene fänden nun den Mut, über den erfahrenen Missbrauch zu sprechen. Jedoch seien die Mehrheit der Betroffenen mittlerweile Seniorinnen und Senioren und die Fälle folglich verjährt. Bei den nicht verjährten Fällen hätten die Bistümer jedoch offiziell Strafanzeige erstattet. Zudem kam es nach der Veröffentlichung des Berichts zu zahlreichen Austritten aus der katholischen Kirche. Dies brachte starke finanzielle Einbussen für die katholische Kirche mit sich und stellte durch den Austritt vieler langjähriger, engagierter Freiwilliger auch das Funktionieren gewisser Gemeinden in Frage. Der durch diese Ereignisse mutmasslich verstärkte Austritt von vor allem aufgeschlossenen und liberalen Gläubigen bremse zusätzlich den Wertewandel innerhalb der katholischen Kirche, lautete der Tenor in den Medien. Nicht zuletzt sorgte der Auftrag des Papstes an den Churer Bischof Joseph Bonnemain, eine Voruntersuchung gegen sechs Bischöfe einzuleiten, für einige Diskussionen. Ein Berner Pfarrer hatte die Bischöfe gegenüber den Forschenden und dem Schweizer Nuntius beschuldigt, sexuellen Missbrauch begangen oder solchen vertuscht zu haben.

Nach der Veröffentlichung des Berichts kam es zudem zu einer Reihe von parlamentarischen Vorstössen, welche forderten, dass der Bund die Vorfälle selbst untersucht (Mo. 23.4302); dass die Beziehung zwischen Kirche und Staat klarer und transparenter geregelt wird (Po. 23.4294); dass die Kirche verpflichtet wird, einheitliche Schutzmassnahmen gegen sexuellen Missbrauch zu ergreifen (Mo. 23.4191; 23.4192; 23.4193; 21.4194; 21.4195; 23.4196); und dass die katholische Kirche als Konzern für Missbrauchsfälle haftbar gemacht werden kann (Pa.Iv. 23.460).

Die Bischofskonferenz versprach derweil gegenüber der Öffentlichkeit, dass ein Wertewandel innerhalb der katholischen Kirche angestrebt werde. Insbesondere der Churer Bischof Joseph Bonnemain betonte, dass es an der Zeit sei, dass die Kirche ihre Schuld eingestehe und entsprechende Massnahmen umsetze. Zudem soll gemäss Felix Gmür, dem Bischof des Bistums St.Gallen, ein unabhängiger kirchlicher Gerichtshof eingesetzt werden, der weiterhin unabhängig vom weltlichen Recht agiert und sich um strafrechtliche oder disziplinarische Verfahren innerhalb der Kirche kümmert. Dies müsse jedoch zuerst mit dem Vatikan abgesprochen werden, da dafür bisher keine kirchenrechtliche Grundlage bestehe. Die Medien bezweifelten jedoch die Umsetzung der Versprechen der Bischofskonferenz – bereits früher seien auf Versprechen keine Änderungen erfolgt. Erste Schritte unternahm hingegen das Bistum St. Gallen, das unter anderem die Forscherinnen der Universität Zürich mit einer zweiten Studie beauftragte und die Regelung, Akten nach 10 Jahren zu vernichten, aufhob – dies ohne grünes Licht aus Rom.

Archivöffnung der katholischen Kirche zur Untersuchung sexuellen Missbrauchs

Rückblick auf die 51. Legislatur: Kultur, Sprache, Kirchen

Autorinnen: Sarah Kuhn, Melike Gökce und Marlène Gerber

Stand: 17.08.2023

Zu dem in diesem Themenbereich am längsten debattierten parlamentarischen Geschäft der 51. Legislatur konnte sich schliesslich auch die Stimmbevölkerung äussern: Im Mai 2022 befürwortete sie an der Urne eine im Rahmen der Kulturbotschaft 2021–2024 beschlossene Revision des Filmgesetzes, gegen die bürgerliche Jungparteien das Referendum ergriffen hatten. Mit Annahme der sogenannten Lex Netflix gilt für Streamingdienste in der Schweiz in Zukunft eine Investitionspflicht in die einheimische Filmproduktion sowie eine Pflichtquote für europäische Filme.

Ebenfalls während dieser Legislatur unter Dach und Fach gebracht werden konnten Bestimmungen zum Jugendschutz in den Bereichen Film und Videospiele. Mit dem neuen Bundesgesetz sollen Kinder und Jugendliche besser vor Gewalt- und Sexualdarstellungen in Filmen und Videospielen geschützt werden. Schlussendlich nicht in die Revision eingeflossen waren Massnahmen zum Schutz vor Mikrotransaktionen. Durch Annahme eines Postulats wurde der Bundesrat hingegen beauftragt, die mit Mikrotransaktionen in Zusammenhang stehenden Gefahren bezüglich Suchtpotential und -verhalten in einem Bericht zu untersuchen.

Im Parlament viel diskutiert worden war darüber hinaus eine Änderung des Zivilgesetzbuches zur Stärkung des Schweizer Stiftungsstandortes. Nach langjährigen Beratungen konnte das Geschäft im Jahr 2021 schliesslich zum Abschluss gebracht werden.

Ausserhalb des Parlaments diskutierten die Medien etwa intensiv über die Auswirkungen der während der Covid-19-Pandemie für den Kulturbereich beschlossenen Einschränkungen sowie über die Soforthilfen für Kulturunternehmen und Kulturschaffende. Ebenfalls für einiges an Druckerschwärze sorgte die Beteiligung der Kirche an Abstimmungskämpfen sowie der Forschungsauftrag der katholischen Kirche zur Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in den eigenen Reihen. Ferner berichteten die Medien hitzig über die Kunstsammlung von Emil Bührle – eine Diskussion, die auch Auswirkungen im Parlament zeigte. So nahm das Parlament in der 51. Legislatur zwei Motionen an, die einerseits eine Plattform für die Provenienzforschung von Kulturgütern und andererseits die Schaffung einer unabhängigen Kommission für NS-verfolgungsbedingt entzogene Kulturgüter fordern.


Zu den Jahresrückblicken:
2020
2021
2022

Rückblick auf die 51. Legislatur: Kultur, Sprache, Kirchen
Dossier: Rückblick auf die 51. Legislatur

Die von den SVP-Nationalrätinnen Yvette Estermann (svp, LU) und Andrea Geissbühler (svp, BE) co-präsidierte Volksinitiative «Für den Schutz von ausserhalb des Mutterleibes lebensfähigen Babys (Lebensfähige-Babys-retten-Initiative)» scheiterte im Sammelstadium. Dies teilte die Bundeskanzlei im Juni 2023 mit. Dasselbe galt für das gleichzeitig Ende 2021 lancierte Volksbegehren «für einen Tag Bedenkzeit vor jeder Abtreibung (Einmal-darüber-schlafen-Initiative. Beide Volksinitiativen stammten aus der Feder des JSVP-Präsident David Trachsel, welcher die beiden Nationalrätinnen für das Co-Präsidium angefragt hatte.

Der US-amerikanische Supreme Court hatte Ende Juni 2022 sein für die Abtreibungsfrage grundlegendes Urteil «Roe v. Wade» gekippt und damit das gesamtstaatliche Recht auf Abtreibung in den USA untergraben, was auch in der Schweiz die Debatte über Schwangerschaftsabbrüche befeuerte. Allerdings stand selbst die SVP, der die Initiantinnen angehörten, alles andere als geschlossen hinter den beiden Volksbegehren. So befürwortete SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi (svp, ZG) in der Presse die heute geltende Fristenlösung, während Camille Lothe, Präsidentin der SVP Stadt Zürich, die Forderungen ihrer Parteikolleginnen gar als «nicht akzeptabel» bezeichnete und ankündigte, die beiden Volksinitiativen bekämpfen zu wollen.

Beide Initiativen scheiterten schliesslich an der Hürde von 100'000 Unterschriften. Man habe sich schlicht und einfach «überlüpft» mit den beiden gescheiterten Initiativen, liess JSVP-Präsident David Trachsel, als Reaktion auf das Scheitern in den AZ-Medien verlauten. Laut dem Tagesanzeiger liess sich das Initiativkomitee aber von der Schlappe nicht beirren: Bereits würden «künftige Anliegen» vom Trio ins Auge gefasst.

Volksinitiative «Für den Schutz von ausserhalb des Mutterleibes lebensfähigen Babys (Lebensfähige-Babys-retten-Initiative)»
Dossier: Aktuelle Vorstösse zur Verschärfung der Regelungen zu Schwangerschaftsabbrüchen (ab 2020)

Eine in Reaktion auf eine Standesinitiative des Kantons Waadt von der SGK-SR eingereichte Kommissionsmotion forderte, dass ein längerer Spitalaufenthalt der Mutter kurz nach der Geburt beim Mutterschaftsurlaub und bei der Mutterschaftsentschädigung angemessen berücksichtigt werden sollte. Bisher können Mütter lediglich bei einem längeren Spitalaufenthalt des Neugeborenen eine Verlängerung des Mutterschaftsurlaubs um bis zu acht Wochen geltend machen. Wenn sich jedoch die Mutter aufgrund von Geburtskomplikationen für einen längeren Zeitraum im Spital befindet, hat sie nach heutigem Stand kein Anrecht auf eine Verlängerung des Mutterschaftsurlaubs und der Mutterschaftsentschädigung. Diese Diskrepanz soll durch eine Gesetzesänderung adressiert und behoben werden. Der Bundesrat, welcher die Motion zur Annahme empfahl, solle folglich prüfen, inwiefern die Mutterschaftsentschädigung und der Mutterschaftsurlaub bei einem längeren Spitalaufenthalt der Mutter angepasst werden könnte. In der parlamentarischen Debatte betonte der Bundesrat, dass längere Krankenhausaufenthalte bei Müttern nur sehr selten vorkämen und deshalb auch die mit einer Gesetzesänderung anfallenden Kosten ohne eine Erhöhung der EO-Beiträge getragen werden könnten. In der Sommersession 2023 nahm der Ständerat die Motion stillschweigend an.

Längerer Spitalaufenthalt der Mutter kurz nach der Geburt beim Mutterschaftsurlaub und der Mutterschaftsentschädigung angemessen berücksichtigen (Mo. 23.3015)

In der Sommersession 2023 gab der Ständerat auf Antrag seiner SGK-SR und des Bundesrats einer Standesinitiative des Kantons Waadt zur Verlängerung des Mutterschaftsurlaubs und entsprechender Erwerbsersatzzahlungen bei schweren Komplikationen nach der Geburt stillschweigend keine Folge. Die kleine Kammer hatte stattdessen eine Kommissionsmotion der SGK-SR, welche die Anliegen der Standesinitiative aufgriff, angenommen.

Verlängerung des Mutterschaftsurlaubs bei schweren Komplikationen nach der Geburt um die Dauer des Spitalaufenthalts. Entsprechende Änderung des Erwerbsersatzgesetzes (Kt.Iv. 22.301)

Eine Standesinitiative des Kantons Waadt forderte eine Erstattung der Behandlungskosten bei Fehlgeburt, Windei oder Eileiterschwangerschaft. Konkret forderte der ursprünglich von Grossrätin Anne-Laure Botteron eingereichte Vorstoss, dass alle Gesundheitskosten in der Schwangerschaft ab Empfängnis vollumfänglich von der Krankenversicherung getragen werden. Zusätzlich sollte diese Leistungserbringung – anders als im geltenden Recht – ohne Franchise und Selbstbehalt erfolgen. Dies ist heutzutage bei den Leistungen der Mutterschaft bereits gang und gäbe, jedoch erst ab der 13. Woche der Schwangerschaft. Dass Frauen, die zum Beispiel vor dieser Frist im Rahmen einer Fehlgeburt nicht nur ein einschneidendes Ereignis durchleben würden, sondern zusätzlich mit erheblichen Kosten konfrontiert seien, sei eine doppelte Bestrafung, unterstrich auch der Waadtländer Staatsrat. Zusätzlich seien diese Frauen meist eher jung und grundsätzlich gesund, womit sie oftmals über eine hohe Franchise verfügten.
Die SGK-SR beantragte mit 8 zu 0 Stimmen (bei 5 Enthaltungen), der Standesinitiative keine Folge zu geben. Als Begründung gab sie an, dass der Bundesrat momentan im Rahmen des Massnahmenpakets 2 zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen bereits vorsehe, die Kostenbeteiligung ab dem mittels Ultraschall bestätigten Beginn der Schwangerschaft auszusetzen.
Der Ständerat folgte in der Sommersession 2023 stillschweigend dem Antrag seiner Kommission und gab der Initiative keine Folge.

Erstattung der Behandlungskosten bei Fehlgeburt, Windei oder Eileiterschwangerschaft (Kt. Iv. 22.307)

Eine Motion Geissbühler (svp, BE), die durch Samenspende erzeugten Kindern ab 4 Jahren die Möglichkeit geben wollte, ihren leiblichen Vater kennenzulernen, scheiterte in der Sondersession im Mai 2023 im Nationalrat. Die Motionärin hatte argumentiert, dass das Kennenlernen der biologischen Eltern für die Identitätsfindung eines Kindes sehr wichtig sei, weswegen Kindern nicht erst nach ihrem 18. Geburtstag automatisch Auskunft über den Spender gewährt werden sollte, wie dies aktuell der Fall sei. Sie berief sich dabei auf Art. 7 Abs. 1 der UNO-Kinderrechtskonvention, der für die Kinder «soweit möglich das Recht [vorsieht], seine Eltern zu kennen und von ihnen betreut zu werden».
Auch der Bundesrat berief sich in seiner ablehnenden Antwort auf besagte Konvention: Solch ein absoluter Anspruch würde dem allgemeinen Grundsatz der Kinderrechtskonvention (Art. 3 Abs. 1) widersprechen, wonach es jeweils das Kindeswohl und die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen gelte. Überdies sei es auf Gesuch hin im Einzelfall bereits heute möglich, vor der Volljährigkeit die gewünschte Auskunft zu erhalten.
Der Nationalrat lehnte die Motion mit 130 zu 47 Stimmen (9 Enthaltungen) ab, wobei die Motionärin auf die Unterstützung eines Grossteils ihrer Fraktion und auf sechs Mitte-Vertretende zählen konnte.

Durch Samenspende erzeugte Kinder ab 4 Jahren über leiblichen Vater informieren (Mo. 21.4206)

Eine Motion Mazzone (grüne, GE) forderte die Verlängerung der Stabilitätsphase für werdende Mütter im Ausschaffungsverfahren, indem die Rückführung von schwangeren Frauen und frischgebackenen Müttern zwischen der 28. Schwangerschaftswoche und der achten Woche nach der Geburt verboten werden würde. Bereits die NKVF warnte 2018 in einem Bericht, dass betroffene Frauen besonders in diesem Zeitraum bei einer zwangsweisen Rückführung einem besonderen Stress ausgesetzt seien und dieser dem Wohlergehen der Mutter und des Kindes schaden könne. Dass die zwangsweise Rückführung nach heutigem Recht bis in die 32. Schwangerschaftswoche beziehungsweise schon ab einer Woche nach der Geburt möglich sei, könne sich folglich negativ auf die Verfassung der Mutter und des Kindes auswirken.
Bereits heutzutage werde bei Rückführungen der Gesundheitszustand von werdenden und frischgebackenen Müttern zur Genüge berücksichtigt, argumentierte der Bundesrat. Dies, da die Ausreise und insbesondere die Rückführung von schwangeren Frauen sehr selten stattfinde und die Gesundheit der betroffenen Frauen oftmals im Einzelfall evaluiert werde. Deshalb sei die Motion abzulehnen. Diese Meinung teilte auch die knappe Mehrheit der SGK-SR, welcher die Motion vom Ständerat zur Vorprüfung überwiesen worden war. Sie hob hervor, dass die Gesundheit der betroffenen Frauen und Kinder in der gängigen Rückführungspraxis an erster Stelle stehe und die vom SEM in Zusammenarbeit mit Gesundheitsfachpersonal erarbeiteten Richtlinien ausreichen würden. Eine Kommissionsminderheit Mazzone machte sich dagegen für die Umsetzung der Empfehlungen der NKFV stark, um betroffenen Frauen direkt vor oder nach der Geburt Stress infolge einer Rückführung zu ersparen. Schliesslich entschied auch die Ständeratsmehrheit in der Frühjahrssession 2023, am Status quo festzuhalten, und lehnte die Motion mit 24 zu 17 Stimmen ab.

Verlängerung der Stabilitätsphase für werdende Mütter im Ausschaffungsverfahren

Sowohl die RK-NR als auch der Nationalrat gaben im Frühjahr 2023 einer parlamentarischen Initiative Porchet (gp, VD) keine Folge, die forderte, eine Abtreibung eher als Frage der Gesundheit und nicht als Strafsache zu sehen. Porchet argumentierte, dass die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs im Strafgesetzbuch die Symbolwirkung habe, dass es sich beim Schwangerschaftsabbruch um eine «verwerfliche strafrechtliche Angelegenheit» handle. Sie forderte deshalb die Aufhebung der betreffenden Artikel sowie eine gesetzliche Verankerung der Fristenregelung in Zusammenhang mit Bestimmungen zu Fragen der öffentlichen oder sexuellen Gesundheit.
Die Kommissionsmehrheit war der Ansicht, dass sich die 2002 an der Urne von einem Grossteil der Stimmbevölkerung befürwortete Fristenregelung bewährt habe und sah keinen Handlungsbedarf. Eine aus Mitgliedern der Grünen, der SP und der GLP zusammengesetzte Kommissionsminderheit hatte vergeblich für Folgegeben plädiert, um die psychische Belastung und mögliche Schuldgefühle von Frauen in dieser schwierigen Lebensphase zu verringern. Obwohl die Initiative im Nationalrat zusätzlich zu den drei erwähnten Fraktionen noch auf vereinzelte Unterstützung aus den Fraktionen der Mitte/EVP (2 Stimmen), der FDP (5 Stimmen) und der SVP (1 Stimme) zählen konnte, unterlag sie dort schliesslich mit 99 zu 91 Stimmen (6 Enthaltungen).

Abtreibung als Frage der Gesundheit und nicht als Strafsache (Pa.Iv. 22.432)

Katja Christ (glp, BS) war der Ansicht, dass das Fortpflanzungsmedizingesetz einer zeitgemässen Anpassung bedürfe – nicht zuletzt aufgrund fehlender Kohärenz zu anderen revidierten Bestimmungen, namentlich der «Ehe für alle».
Der Bundesrat anerkannte im Grunde die Notwendigkeit, das Fortpflanzungsmedizingesetz gründlich zu überprüfen; er habe auch bereits eine Evaluation des Gesetzes in Auftrag gegeben. Die Motion Christ beantragte er dennoch zur Ablehnung, da die Ergebnisse der Evaluation zuerst abgewartet werden sollten.
In der Frühjahrssession 2023 lehnte der Nationalrat die Motion mit 104 zu 75 Stimmen (7 Enthaltungen) ab. Die drei grossen bürgerlichen Fraktionen votierten beinahe geschlossen für Ablehnung.

Fortpflanzungsmedizingesetz aufdatieren und in die Zukunft führen (Mo. 21.3238)

Eine vom Kanton Waadt eingereichte Standesinitiative forderte die Verlängerung des Mutterschaftsurlaubs und entsprechender Erwerbsersatzzahlungen bei schweren Komplikationen nach der Geburt. Diese solle geltend gemacht werden können, wenn die Mutter bereits zum Zeitpunkt der Geburt nachweislich beschlossen hat, nach dem Mutterschaftsurlaub wieder einer bezahlten Erwerbstätigkeit nachzukommen und sich entweder Mutter oder Kind während mindestens zwei Wochen im Anschluss an die Geburt in Spitalpflege befanden. Die Verlängerung des Mutterschaftsurlaubs und der Erwerbsersatzzahlungen solle sich nach der Spitalaufenthaltsdauer richten, aber höchstens 56 Tage betragen.
Die SGK-SR reichte in Reaktion auf den Vorstoss einstimmig eine inhaltlich ähnliche Motion mit einer allgemeineren Formulierung der Forderung des Kantons Waadt ein und entschied im Februar 2023, der Standesinitiative keine Folge zu geben.

Verlängerung des Mutterschaftsurlaubs bei schweren Komplikationen nach der Geburt um die Dauer des Spitalaufenthalts. Entsprechende Änderung des Erwerbsersatzgesetzes (Kt.Iv. 22.301)

Wie bereits ihre Schwesterkommission gab die RK-NR einer parlamentarischen Initiative Caroni (fdp, AR) zur Schaffung eines «pacte civil de solidarité» (PACS) mit 13 zu 8 Stimmen (bei 2 Enthaltungen) Folge. Damit wird die RK-NR beauftragt, einen Entwurf auszuarbeiten.

Einen Pacs für die Schweiz (Pa. Iv. 22.448)

Jahresrückblick 2022: Kultur, Sprache, Kirchen

Nach gut zwei Jahren Covid-19-Pandemie war es dieses Jahr endlich wieder so weit: Die Schweiz durfte die Kultur wieder ohne Einschränkungen geniessen. Bereits am 16. Februar 2022 hob der Bundesrat den Grossteil der nationalen Massnahmen – auch diejenigen im Kulturbereich – auf, woraufhin es in der Kultur ein breites Aufatmen und Erwachen gab. Konzerte und Festivals, sowie Museen, Theater oder Kinos konnten wieder gänzlich ohne Einschränkungen besucht werden. Dies führte auch dazu, dass der Kulturbereich – nach zwei Jahren verstärkter Aufmerksamkeit durch Covid-19 – in den Medien etwas aus dem Fokus geriet, wie Abbildung 2 der APS-Zeitungsanalyse zeigt.

Die Kulturpolitik der Schweiz war 2022 von drei grösseren Themen geprägt: der Abstimmung zur Revision des Filmförderungsgesetzes, dem neuen Bundesgesetz über den Jugendschutz in den Bereichen Film und Videospiele und der Frage, wie die Schweiz mit Nazi-Raubkunst umgehen soll.

Nachdem die Beratungen zur Revision des Filmförderungsgesetzes – Lex Netflix – nach langwierigen Diskussionen als letztes Geschäft der Kulturbotschaft 2021-2024 in der Herbstsession 2021 zu einem Abschluss gekommen war, ergriffen die Jungfreisinnigen, die Jungen Grünliberalen sowie die Junge SVP Ende Januar 2022 erfolgreich das Referendum. Streaming-Anbietende wie Netflix oder Disney+ sollten mit diesem Gesetz unter anderem dazu verpflichtet werden, vier Prozent des Umsatzes in das schweizerische Filmschaffen zu investieren oder für die Bewerbung Schweizer Filme einzusetzen. Zudem mussten die Plattformen 30 Prozent des Angebots mit europäischen Beiträgen füllen. Die bürgerlichen Jungparteien störten sich besonders an diesen beiden Punkten: Zum einen befürchteten sie, mit der Pflichtabgabe würde eine Erhöhung der Abo-Preise einhergehen, und zum anderen erachteten sie die Quote für europäische Filme und Serien als «bevormundend und eurozentristisch». Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger nahmen das Gesetz im Mai 2022 jedoch mit 58.1 Prozent Ja-Stimmen an. Der Abstimmungskampf war dann auch das einzige Ereignis des Jahres, welches im Bereich Kulturpolitik zu einem substantiellen Anstieg der medialen Berichterstattung führte (vgl. Abbildung 1 der APS-Zeitungsanalyse).

Ohne grosse mediale Beachtung fanden in der Herbstsession 2022 die Beratungen um das neue Bundesgesetz über den Jugendschutz in den Bereichen Film und Videospiele nach gut zwei Jahren ein Ende. Ziel des Gesetzes soll es sein, Kinder und Jugendliche besser vor Gewalt- und Sexualdarstellungen in Filmen und Videospielen zu schützen, etwa durch eine schweizweite Alterskennzeichnung und -kontrolle der Produkte. Die Verantwortung, diese Regelungen zu entwickeln, wurde den Branchenorganisationen überlassen, welche entsprechende Expertinnen und Experten hinzuziehen sollen.

Für hitzige mediale Debatten sorgte hingegen die Kunstsammlung von Emil Bührle, der gemäss Medien ein Nazisympathisant und Waffenlieferant im Zweiten Weltkrieg war. Als Teile seiner Sammlung im Sommer 2021 im Kunsthaus Zürich ausgestellt worden waren, waren darob hitzige Diskussionen entbrannt, insbesondere weil Bührle Nazi-Raubkunst besessen habe und die Provenienz bei einigen Werken der Sammlung nicht endgültig geklärt sei. Diese Debatte ging auch an Bundesbern nicht ohne Spuren vorbei. So nahmen die Räte eine Kommissionsmotion der WBK-NR an, welche die Schaffung einer Plattform für die Provenienzforschung von Kulturgütern forderte. Weiter hiessen sie eine Motion gut, mit der eine unabhängige Kommission für NS-verfolgungsbedingt entzogene Kulturgüter geschaffen werden sollte. Offen liessen die Räte, ob eine solche Kommission auch für Raubkunst aus kolonialen Kontexten geschaffen werden soll.

Rund um die kirchen- und religionspolitische Fragen blieb es in der Bundespolitik im Jahr 2022 eher ruhig, jedoch weckte die katholische Kirche der Schweiz einige mediale Aufmerksamkeit, wie erneut in der APS-Zeitungsanalyse ersichtlich wird. Der Universität Zürich war im Frühling 2022 in Form eines Pilotprojekts ein Forschungsauftrag erteilt worden, mit dem die sexuellen Missbräuche innerhalb der Schweizer katholischen Kirche seit 1950 wissenschaftlich untersucht werden sollten. Dabei sollte ein Fokus auf die Strukturen gelegt werden, welche dabei geholfen hatten, die Missbräuche zu vertuschen. Zu diesem Zweck öffnete die katholische Kirche der Schweiz ihre Geheimarchive für die Forschenden.
Heftige Debatten rief auch der vom Churer Bischof Joseph Maria Bonnemain eingeführte, für die Angestellten aller Ebenen der katholischen Kirche verbindliche Verhaltenskodex hervor, mit dem sexuellem Missbrauch vorgebeugt werden sollte. Einige Priester von Chur weigerten sich, den Kodex zu unterzeichnen, da einzelne Weisungen daraus der katholischen Lehre entgegenlaufen würden – so untersage er es etwa, sich negativ über die sexuelle Ausrichtung von Menschen auszusprechen.

Anfang 2022 verlängerte das SEM die muslimische Seelsorge in den Bundesasylzentren, welche Anfang 2021 in einzelnen Regionen als Pilotprojekt eingeführt worden war. Zuvor hatte eine Studie des Schweizerischen Zentrums für Islam und Gesellschaft (SZIG) der Universität Freiburg eine positive Bilanz gezogen. Sollten die Ergebnisse auch nach diesem Jahr positiv ausfallen, strebt das SEM eine permanente Einführung des Angebots und einen Ausbau auf alle Bundesasylzentren an – sofern die Finanzierung dafür gesichert werden kann. Bereits 2018 war ein entsprechendes Pilotprojekt aufgrund fehlender finanzieller Mittel auf Eis gelegt worden.

Jahresrückblick 2022: Kultur, Sprache, Kirchen
Dossier: Jahresrückblick 2022

Jahresrückblick 2022: Soziale Gruppen
von Viktoria Kipfer und Marlène Geber

Die Schweizer Asylpolitik wurde vor allem im Frühjahr 2022 primär durch den Krieg in der Ukraine geprägt, wie auch die Abbildung 1 der APS-Zeitungsanalyse zeigt. So aktivierte die Schweiz im März 2022 erstmals den Schutzstatus S, der es den Geflüchteten aus der Ukraine erlaubt, ohne reguläres Asylverfahren in der Schweiz eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Bis im November 2022 fanden so rund 70'000 Flüchtende aus der Ukraine in der Schweiz Schutz. Das Zusammenleben zwischen Geflüchteten aus der Ukraine und Schweizerinnen und Schweizern nahm zu Beginn des Krieges eine Hauptrolle in der medialen Berichterstattung ein. So zeigten sich viele Schweizerinnen und Schweizer vor allem zu Beginn solidarisch mit den Flüchtenden, von denen in der Folge rund die Hälfte bei Privatpersonen unterkam, wie die SFH berichtete. Gleichzeitig wurde der Schutzstatus S aber auch als «faktische Ungleichbehandlung» der Ukrainerinnen und Ukrainer gegenüber allen anderen Asylsuchenden kritisiert. Folglich wurden im Parlament zahlreiche Vorstösse zum neuen Schutzstatus eingereicht, welche diesen unter anderem einschränken oder anpassen wollten – jedoch erfolglos. Insgesamt führte die Zeitungsberichterstattung zur Asylpolitik im Zuge des Ukraine-Kriegs zu einem deutlichen Anstieg des medialen Interesses des Jahres 2022 zum Thema «Soziale Gruppen» gegenüber dem Vorjahr (vgl. Abbildung 2 der APS-Zeitungsanalyse).

Diskutiert wurden auch allgemeine Neuregelungen bei den Asylsuchenden, etwa zur Schaffung der Möglichkeit, dass Asylsuchende nach einem negativen Aufenthaltsentscheid ihre Lehre in der Schweiz beenden dürften. Dieser Vorschlag scheiterte jedoch im Ständerat. Hingegen sprach sich der Nationalrat für zwei Motionen für eine Erleichterung des Zugangs zu einer beruflichen Ausbildung für abgewiesene Asylsuchende und Sans-Papier sowie für die Ermöglichung der Erwerbstätigkeit auch im Falle eines negativen Asylentscheids aus. Unverändert bestehen blieben die zwangsweisen Covid-19-Tests von Abgewiesenen bei der Rückstellung in ihr Herkunftsland, welche das Parlament bis ins Jahr 2024 verlängerte. Finanzielle Unterstützung wollte der Bundesrat schliesslich Kantonen mit Ausreisezentren an der Landesgrenze in Ausnahmesituationen gewähren, National- und Ständerat nahmen jedoch gewichtige Änderungen an der entsprechenden Revision des AIG vor.

Im Jahre 2022 unternahmen Bundesrat und Parlament einige Anstrengungen bei der Bekämpfung von häuslicher Gewalt und Gewalt an Frauen. Einerseits inspirierte ein Bericht zu Ursachen von Homiziden im häuslichen Umfeld eine Vielzahl verschiedener Vorstösse, andererseits diente auch die Ratifikation der Istanbul-Konvention als Ansporn zur Lancierung parlamentarischer Vorlagen gegen häusliche und geschlechterbezogene Gewalt. Als Erbe der letztjährigen Frauensession wurde zudem ein erster Vorstoss, der nationale Präventionskampagnen gegen Gewalt fordert, überwiesen. Während sich bei diesem Thema eine Allianz von Frauen verschiedenster Parteien beobachten liess, fand ein Vorstoss aus dem rechten Lager, mit dem Gewalt an Frauen künftig mit einer Freiheitsstrafe geahndet werden müsste, im Parlament keine Mehrheit. Des Weiteren rückte auch die Mehrdimensionalität der Gewalt an Frauen im Rahmen intersektionaler Vorstösse in den Fokus. Einerseits erhielt die Forderung nach verbessertem Schutz ausländischer Opfer vor häuslicher Gewalt mehr Aufmerksamkeit, andererseits wurde die Schutzbedürftigkeit von Menschen mit Behinderung bei häuslicher Gewalt hervorgehoben. Zwei weitere, im Frühjahr 2022 lancierte Vorlagen mit dem Titel «Wer schlägt, geht!» beschäftigten sich mit dem Wohnverhältnis nach Vorfällen der häuslichen Gewalt, während sich der Nationalrat in der Sommersession für eine nationale Statistik über Kinder, die Zeuginnen und Zeugen von häuslicher Gewalt sind, aussprach. Zuletzt forderten Vertreterinnen unterschiedlicher Parteien in sechs parlamentarischen Initiativen, Aufrufe zu Hass und Gewalt aufgrund des Geschlechts der Antirassismus-Strafnorm zu unterstellen, was von der erstberatenden RK-NR befürwortet wurde.

Die Idee eines «pacte civil de solidarité» (Pacs) treibt die Schweiz bereits seit mehreren Jahren um, was im Frühjahr 2022 in einem Bericht des Bundesrats über die «Ehe light» mündete. Auf Grundlage des Berichts wurde bereits ein parlamentarischer Vorstoss zur Schaffung entsprechender Rechtsgrundlagen im Ständerat eingereicht. Auch die Regulierung von Schwangerschaftsabbrüchen fand im Jahr 2022 Platz auf der politischen Agenda. Denn Ende 2021 hatten Vertreterinnen und Vertreter der SVP zwei Volksinitiativen lanciert, welche die Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen reduzieren wollten: einerseits die Initiative «Für einen Tag Bedenkzeit vor jeder Abtreibung (Einmal-darüber-schlafen-Initiative)» und andererseits die Initiative «Für den Schutz von ausserhalb des Mutterleibes lebensfähigen Babys (Lebensfähige-Babys-retten-Initiative)». 2022 führten diese Anliegen auch innerhalb der SVP zu Diskussionen; insbesondere jüngere Vertreterinnen der Volkspartei äusserten sich dezidiert dagegen. Dieser Konflikt mündete unter anderem in der Ablehnung hauseigener Vorstösse durch eine Minderheit der SVP-Fraktion in der Sondersession 2022. Umgekehrt hatten es auch Vorstösse, die auf einen flächendeckenden und hürdenfreien Zugang zu Abtreibung abzielten, 2022 nicht leicht im Parlament.

Betreffend die Familienplanung sprachen sich beide Räte für eine Legalisierung der Eizellenspende für Ehepaare aus. Unter anderem weil die parlamentarische Initiative zur Überführung der Anstossfinanzierung für die familienexterne Kinderbetreuung in eine zeitgemässe Lösung den Sprung ins Sessionsprogramm 2022 verpasst hatte, stimmten National- und Ständerat einer Verlängerung der Bundesbeiträge an die familienexterne Kinderbetreuung bis Ende 2024 zu. Um jedoch die Kosten für die familienergänzende Kinderbetreuung zu senken und die Anzahl Kitaplätze zu erhöhen, wurde im Frühjahr 2022 eine Volksinitiative «Für eine gute und bezahlbare familienergänzende Kinderbetreuung für alle (Kita-Initiative)» lanciert. Auch die Annahme der «Ehe für alle» im September 2021 blieb nicht folgenlos im Parlament: Da gleichgeschlechtliche Paare nach der Heirat bei der Familienplanung weiterhin eingeschränkt seien, setzten sich zwei Motionen mit der rechtlichen Anerkennung der Elternschaft gleichgeschlechtlicher Paare auseinander, um deren Gleichberechtigung auch über die «Ehe für alle» hinaus voranzutreiben.

Darüber hinaus wurde 2022 eine Reihe von Forderungen aus der zweitägigen Frauensession 2021 vom Parlament aufgegriffen. Zwei Motionen zum Einbezug der Geschlechterperspektive in der Medizin stiessen in der Herbstsession 2022 in der grossen Kammer auf Akzeptanz. In Anbetracht des bevorstehenden digitalen Wandels fokussierten andere, auf die Frauensession zurückgehende erfolgreiche parlamentarische Vorstösse auf den Einbezug von Frauen in die Digitalisierungsstrategie des Bundes. In Anbetracht der in der Frauensession eingereichten Petitionen reichten die betroffenen Kommissionen auch mehrere Postulate ein, welche unter anderem Berichte zur Strategie zur Integration von Frauen in MINT-Berufen, zur Evaluation der schulischen Sexualaufklärung und zur Aufwertung der Care-Arbeit forderten – sie wurden allesamt angenommen.

In der LGBTQIA-Politik nahm besonders die Diskussion über die Existenz und das Verbot von Konversionstherapien viel Platz ein. Nach der Annahme der «Ehe für alle» waren 2021 drei parlamentarische Initiativen zum Verbot von Konversionstherapien eingereicht, später aber wegen einer lancierten Kommissionsmotion zurückgezogen worden. Angenommen wurde hingegen ein Postulat, das die Datengrundlage zum Vorkommen von Konversionsmassnahmen in der Schweiz verbessern möchte.

Auch die Gleichstellung gehörloser und hörbehinderter Menschen sollte gemäss Parlament vorangetrieben werden, weshalb National- und Ständerat eine Motion zur Schaffung eines Gesetzes zur Anerkennung der Gebärdensprachen annahmen.

Jahresrückblick 2022: Soziale Gruppen
Dossier: Jahresrückblick 2022

Auf Antrag seiner RK und des Bundesrats sprach sich der Ständerat in der Wintersession 2022 als Zweitrat stillschweigend für eine Reformation der Stiefkindadoption aus. Die entsprechende Motion der RK-NR zielte darauf ab, die Stiefkindadoption für Paare zu vereinfachen. Bisher musste vor der Adoption ein einjähriges Pflegeverhältnis zum nicht-leiblichen Elternteil bestehen. Die Motion forderte indes, dass sich beide Elternteile bei der Geburt des Kindes lediglich in einer Lebensgemeinschaft im gleichen Haushalt befinden müssen.

Keine unnötigen Hürden bei der Stiefkindadoption (Mo. 22.3382)

In der Sommersession 2022 lancierte Ständerat Andrea Caroni (fdp, AR) eine parlamentarische Initiative zur Einführung eines «pacte civil de solidarité» (PACS) für die Schweiz. Ein entsprechendes Projekt solle sich konkret am Bericht des Bundesrats zur Einführung eines PACS orientieren. Konkret forderte der Initiant, Paaren eine Option zwischen der Ehe und dem weitgehend ungeregelten Konkubinat zu bieten, wie es bereits in Frankreich und den Benelux-Staaten geläufig sei. So könnten sich Personen in einer langjährigen Partnerschaft rechtlich absichern, ohne die Verpflichtungen einer Ehe einzugehen. Für einen PACS erachtete der Initiant eheähnliche Regelungen lediglich bei der Vertretung der Partnerschaft gegenüber Dritten und bei gemeinsamen Kindern als sinnvoll; deshalb sollte dieser eher als «Konkubinat plus» statt als «Ehe light» verstanden werden. Die RK-SR gab der parlamentarischen Initiative als erstberatende Kommission Anfang November 2022 mit 9 zu 2 Stimmen Folge.

Einen Pacs für die Schweiz (Pa. Iv. 22.448)

Obschon die Abstimmung mit 22 zu 20 Stimmen um einiges knapper ausfiel als im Erstrat, sprach sich der Ständerat in der Herbstsession 2022 ebenfalls für die Motion der WBK-NR zur Ermöglichung der Eizellenspende im Falle der Unfruchtbarkeit von Frauen aus. Er folgte damit dem Antrag seiner WBK. Eine Kommissionsminderheit kritisierte, dass die Ausbeutung von Eizellenspenderinnen unter Umständen nicht vermieden werden könne und die Folgen der Eizellenentnahme nach wie vor nicht vollends geklärt seien. Jedoch mass die Mehrheit der kleinen Kammer der Gleichberechtigung beider Elternteile im Falle der Unfruchtbarkeit mehr Gewicht bei. Mit der Überweisung der Motion beauftragte die Ständekammer den Bundesrat nun, eine Gesetzesgrundlage für die Eizellenspende in der Schweiz auszuarbeiten und die entsprechenden Rahmenbedingungen festzulegen.

Eizellenspende ermöglichen (Mo. 21.4341)

In der Sommersession 2022 lehnte der Nationalrat auf Anraten des Bundesrates eine Motion Reynard (sp, VS) ab, die verlangt hätte, dass sich jede Frau auch über die 12. Schwangerschaftswoche hinaus für einen straflosen Schwangerschaftsabbruch entscheiden kann, ohne dass sie sich in Gefahr einer schwerwiegenden körperlichen Schädigung oder in einer seelischen Notlage befinden muss. Die nach Ausscheiden Reynards aus dem Rat von Christian Dandrès (sp, GE) übernommene Motion fand Zustimmung in den geschlossenen Reihen der SP, der Grünen und der GLP, wurde von den drei verbleibenden bürgerlichen Fraktionen jedoch nicht minder deutlich abgelehnt.

Recht auf Schwangerschaftsabbruch. Eine bevormundende Gesetzgebung ändern (Mo. 20.4140)

Auf Antrag von Christa Markwalder (fdp, BE) lancierte die RK-NR im Frühjahr 2022 eine Kommissionsmotion zur Reformation der Stiefkindadoption, welche bestehende Hürden bei ebendieser abbauen soll. Insbesondere in Angesicht der Annahme der «Ehe für alle» im September 2021 seien bestehende Regelungen zur Stiefkindadoption weiterhin zu kompliziert, da unter anderem in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft der nicht-leibliche Elternteil das Kind erst nach einem mindestens einjährigen Pflegeverhältnis adoptieren könne. Mit einer Revision der Stiefkindadoption zielte die Kommissionsmehrheit darauf ab, dass auf ein Pflegeverhältnis verzichtet werden kann, wenn sich der leibliche und der adoptionswillige Elternteil beim Zeitpunkt der Geburt des Kindes in einer Lebensgemeinschaft im gleichen Haushalt befinden. Der Nationalrat folgte in der Sommersession 2022 dem Antrag des Bundesrats und nahm die Motion mit 133 zu 40 Stimmen (bei 4 Enthaltungen) an. Während sich die geschlossen stimmenden Fraktionen der SP, Grünen, Grünliberalen und FDP.Liberalen für die Vorlage aussprachen, lehnten die Mehrheit der SVP-Fraktion sowie ein Mitglied der Mitte-Fraktion die Motion ab.

Keine unnötigen Hürden bei der Stiefkindadoption (Mo. 22.3382)

Anfang Juli 2022 veröffentlichte das BFS eine Statistik zu den Schwangerschaftsabbrüchen 2021. Schweizweit kam es zu 11'049 Abbrüchen, was einer Rate von 6.7 pro 1'000 Frauen (Alter: 15 bis 44 Jahre) entspricht. Diese Rate liegt in der gleichen Grössenordnung wie die Abbruchrate 2020 (6.8 pro 1'000 Frauen). Im internationalen Vergleich handelte es sich bei diesen Zahlen um einen niedrigen Wert. Veränderungen waren indes bezüglich der Verteilung auf die verschiedenen Alterskategorien feststellbar. Für die vergangenen zehn Jahre war beim Anteil der über dreissigjährigen Frauen eine Zunahme von 45 Prozent auf 52 Prozent zu verzeichnen, der Anteil bei den unter 25-Jährigen sank von 33 Prozent (2010) auf 25 Prozent (2021) und derjenige der Frauen, welche zwischen 15 und 19 Jahre alt waren, von 9 auf 7 Prozent. Praktisch unverändert blieb der Anteil der 25-30-jährigen Frauen. Was die Methode, welche für die Schwangerschaftsbrüche angewendet wird, betrifft, so gab es einen Anstieg der medikamentösen Abbrüche zu verzeichnen. 2021 erfolgten 80 Prozent der Abbrüche auf diese Weise, 20 Prozent wurden mittels chirurgischem Eingriff vollzogen. Über die Zeit stabil blieb der Abbruchanteil vor der zwölften Schwangerschaftswoche, der bei 95 Prozent zu liegen kommt.

Schwangerschaftsabbrüche 2021

Eine Motion Estermann (svp, LU) forderte den Bundesrat dazu auf, Massnahmen zu ergreifen, um die Zahl der Spätabtreibungen in der Schweiz zu reduzieren. In ihrer Begründung forderte die Motionärin eine umfassende Information über die Risiken eines Schwangerschaftsabbruch, über die Wahrscheinlichkeit von Fehldiagnosen sowie über die Lebensfähigkeit und Lebensqualität eines Kindes mit Anomalien. Zusätzlich verlangte die SVP-Nationalrätin die Erhebung der Richtigkeit von diagnostizierten Anomalien nach einer Abtreibung, um Aussagen über die Quote von Fehldiagnosen zu erhalten.
In seiner Antwort gab der Bundesrat zuerst zu Protokoll, dass die Schweiz im internationalen Vergleich über eine tiefe Schwangerschaftsabbruchrate verfüge. Weiter verwies er auf die im Jahr 2018 verabschiedete Totalrevision des Bundesgesetzes über genetische Untersuchungen beim Menschen (GUMG), gemäss welcher ein Aufklärungsgespräch nicht erst beim Entscheid zum Schwangerschaftsabbruch, sondern bereits beim Entscheid über die Durchführung einer pränatalen genetischen Untersuchung durchgeführt werden müsse. Dazu gehöre ebenfalls eine umfassende genetische Beratung nach Durchführung der genannten Untersuchung sowie das Hinweisen der schwangeren Frauen auf unabhängige Stellen zur Information und Beratung für pränatale Untersuchungen, die die Kantone nun einzurichten hätten. Das GUMG schreibe ferner vor, dass Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch in Betracht ziehen, über Alternativen zur Abtreibung informiert und beraten sowie auf Vereinigungen von Eltern mit behinderten Kindern hingewiesen werden, so der Bundesrat weiter. Aus diesen Gründen sah er keinen zusätzlichen Handlungsbedarf zur weiteren Reduktion von Spätabtreibungen. Mit den getroffenen Massnahmen werde seiner Meinung nach bereits sichergestellt, dass «Schwangerschaftsabbrüche nach der 12. Schwangerschaftswoche auch künftig stets Ultima Ratio bleiben». Der Nationalrat, der die Motion in der Sondersession vom Mai 2022 beriet, lehnte sie mit 132 zu 36 Stimmen bei 13 Enthaltungen ab. Zustimmende und enthaltende Stimmen fanden sich dabei in den Fraktionen der SVP und der Mitte. 10 Ratsmitglieder der SVP und 19 Nationalrätinnen und Nationalräte der Mitte-Fraktion lehnten die Forderung ebenso wie die anderen, geschlossen dagegen stimmenden Fraktionen ab.

Die Zahl der Spätabtreibungen in der Schweiz reduzieren (Mo. 20.3191)
Dossier: Aktuelle Vorstösse zur Verschärfung der Regelungen zu Schwangerschaftsabbrüchen (ab 2020)

Anfang 2022 trat die katholische Kirche der Schweiz ins Zentrum der medialen Aufmerksamkeit. Wie die Medien berichteten, entschieden die drei höchsten Institutionen der Schweizer katholischen Kirche – die Schweizer Bischofskonferenz (SBK), die Römisch-Katholische Zentralkonferenz der Schweiz (RZK) und die Konferenz der Vereinigung der Orden und weiterer Gemeinschaften des gottgeweihten Lebens (Kovos) – im Frühling 2022, der Universität Zürich in Form eines Pilotprojektes einen Forschungsauftrag zu erteilen, mit dem die sexuellen Missbräuche innerhalb der schweizerischen katholischen Kirche seit 1950 wissenschaftlich untersucht werden sollen. Dabei sollen insbesondere die Strukturen, die halfen, die sexuellen Missbräuche zu verdecken, untersucht werden. Die sechs Forschenden, welche die Studie durchführen sollten, erhielten zu diesem Zweck uneingeschränkten Zugriff auf die geheimen Archive der katholischen Kirche der Schweiz. Die drei Organisationen verpflichteten sich zudem, keinen Einfluss auf die Forschung auszuüben. Dieses Pilotprojekt solle im Herbst 2023 zu einem Ende kommen und die Ergebnisse veröffentlicht werden. Wie ernst es die katholische Kirche wirklich meine und wie unbeschränkt der Zugriff auf alle Archive wirklich sei, müsse noch unter Beweis gestellt werden, war in den Medien zu lesen. Eine treibende Kraft hinter diesem Projekt zur Aufarbeitung war gemäss der Presse der Churer Bischof Joseph Maria Bonnemain: «[...] bei gravierenden Fehlverhalten und schweren Verbrechen kann man die Vergangenheit nicht einfach ruhen lassen», zitierte ihn die NZZ.
Opferorganisationen wie die Interessengemeinschaft für Missbrauchsbetroffene im kirchlichen Umfeld äusserten sich zufrieden darüber, dass endlich etwas getan werde. Jedoch zeigten sie sich gegenüber den Medien auch irritiert darüber, dass es sich im Moment lediglich um ein Pilotprojekt handle. Die Historikerinnen der Universität Zürich zeigten sich in den Medien hingegen überzeugt davon, dass dies nur der erste Schritt sei. «[D]ie Kirchenvertreter [würden sich] nicht der Illusion hingeben, mit dem Pilotprojekt sei es getan», zitierte erneut die NZZ. Andere Stimmen, die in den Medien zu Wort kamen, fürchteten hingegen durchaus, dass die katholische Kirche diese Studie nutzen könnte, um mit der Aufarbeitung der Vergangenheit einen Schlussstrich zu ziehen – obwohl bekannt sei, dass es auch heute noch zu Missbrauch komme.

Mit Bekanntwerden des Pilotprojektes versuchten Schweizer Medien einen Einblick in die seit längerem bekannte Problematik innerhalb der katholischen Kirche zu geben. Dabei wurde etwa berichtet, dass 2017 ein Kapuzinerpater aus der Westschweiz aus seinem Orden ausgeschlossen worden sei, weil sein jahrzehntelanger sexueller Missbrauch Dutzender von Knaben ans Tageslicht gekommen war. Dass die katholische Kirche geübt zu sein scheine, Missbräuche und das Tabuthema Sexualität unter den Teppich zu kehren, zeige auch der Umstand, dass der Vatikan erst vor Kurzem eine Studie zugänglich gemacht habe, welche seit den 1950er Jahren unter Verschluss gehalten worden war. Der Schweizer Missionspater Jakob Crottogini hatte sich damals mit der Frage beschäftigt, inwiefern die eigene Sexualität die Teilnehmer der Priesterausbildung beschäftigte. Die Studie zeigte, dass die Sexualität für viele Teilnehmer ein Problem darstellte: Über 58 Prozent der Befragten gaben an, dass sie die Ehelosigkeit als schwer bis sehr schwer empfinden würden. Viele gaben weiter an, dass sie zu wenig Aufklärung erfahren hätten und unter «unkeuschen» Phantasien leiden würden. Der Verdacht liege nahe – so das Urteil der Medien –, dass viele Missbrauchsfälle hätten verhindert werden können, wären Schriften wie diese nicht vom Vatikan zensiert worden. Welches Ausmass der Missbrauch in der Schweiz tatsächlich habe, sei nur schwer einschätzbar. Eine Studie aus Frankreich lasse aber Schlimmes erahnen. Laut NZZ habe diese aufgedeckt, dass zwischen 1950 und 2020 insgesamt 330'00 Personen allein innerhalb der katholischen Kirche Opfer sexueller Gewalt geworden seien. Dies entspricht über 4'700 Personen pro Jahr, also fast 13 Personen pro Tag.
Dabei sei es nicht so, dass die katholische Kirche der Schweiz überhaupt keine Massnahmen ergriffen hätte, um dem Missbrauch entgegenzuwirken – so die NZZ weiter. Die Bischofskonferenz habe etwa 2002 das Fachgremium «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» gegründet. 2010 wurden interne Anlaufstellen für die Opfer geschaffen und die Bischöfe entschuldigten sich dann erstmals offiziell bei ihnen. Gemäss der Bischofskonferenz seien seither über diese katholische Anlaufstelle 380 Übergriffe gemeldet worden – Expertinnen und Experten würden gemäss NZZ aber von einer enormen Dunkelziffer ausgehen, da es unwahrscheinlich sei, dass sich Opfer solcher Taten, die innerhalb der katholischen Kirche geschahen, bei einer kircheninternen Stelle melden würden. 2014 habe die Bischofskonferenz ausserdem das kanonische Recht so angepasst, dass sexueller Missbrauch an Minderjährigen in jedem Fall an die Justiz weitergeleitet werden müsse – dies gilt jedoch nur bei schwerem Missbrauch wie Vergewaltigung und nicht bei Missbrauch an Erwachsenen. Letztere Fälle würden nach wie vor mehrheitlich intern geregelt. 2016 wurde dann auch eine «Genugtuungskommission» eingesetzt und ein Entschädigungsfond für verjährte Fälle geschaffen.

Archivöffnung der katholischen Kirche zur Untersuchung sexuellen Missbrauchs

Im Zuge der Auseinandersetzung der katholischen Kirche mit sexuellem Missbrauch in den eigenen Reihen legte das Bistum Chur Anfang April 2022 einen neuen Verhaltenskodex vor. Dieser solle für alle Mitarbeitenden, Seelsorgenden und Führungspersonen inklusive dem Bischof Joseph Maria Bonnemain verbindlich sein und sei das «Herzstück der Prävention von spirituellem und sexuellem Missbrauch». Der Kodex beinhalte konkrete Richtlinien und Standards, wie mit der eigenen Machtposition umzugehen sei.
Damit könne der erste Schritt in Richtung «Kritisierbarkeit von Machtpositionen» sowie zur Transparenz innerhalb der katholischen Kirche getan werden, schrieb das Churer Bistum auf seiner Webseite. Der Kodex wurde von allen sieben bistümlichen Landeskirchen der Kantone Graubünden, Zürich, Schwyz, Uri, Nidwalden, Obwalden und Glarus sowie vom Churer Bischof Bonnemain selbst unterzeichnet.
Der Kodex wurde in der Folge innerhalb der katholischen Kirche heftig kritisiert. So wollten etwa 43 Geistliche des als konservativ geltenden Churer Priesterkreises den Kodex nicht unterschreiben. Zwar erachteten sie 95 Prozent des Inhalts als selbstverständlich und richtig, jedoch gebe es Passagen, bei denen der Kodex «mehrfach die Lehre und Disziplin der Katholischen Kirche» verletze, berichteten die Medien. Konkret ging es dabei etwa um den Umgang mit Homosexualität: Die Priester befürchteten, dass sie mit den diesbezüglichen Regeln des Kodex entgegen ihren Überzeugungen nicht mehr predigen dürften, dass Homosexualität nicht in Ordnung sei. Zudem müsse einer Person gemäss Kodex nach einem Outing unterstützend zur Seite gestanden werden, was die Kritiker ihrer Ansicht nach in einen Gewissenskonflikt zwischen ihrem Bischof und ihrem Verständnis der katholischen Glaubenslehre bringen würde. Die betroffenen Priester forderten darum den Bischof dazu auf, seine Unterschrift zurückzuziehen und die Umsetzung auf Eis zu legen. Weiter solle eine spezielle Kommission bestehend aus Priestern, Diakonen und pastoralen Mitarbeitenden eingesetzt werden, welche den Kodex in Einklang mit der katholischen Lehre bringen solle.
Der Bischof lehnte diese Forderung jedoch ab. Er erachtete es als möglich, die kritisierten Passagen des Kodex so auszulegen, dass sie mit der Lehre einhergehen, berichteten die Medien. Auch zwei Gespräche zwischen den Kritikern und Bischof Bonnemain brachten keine Lösung in dieser Streitfrage, beide Parteien bestanden weiterhin auf ihren Forderungen. Dieser Widerstand könnte gemäss Medien durchaus Konsequenzen für die Priester haben, zumal eine Verweigerung der Unterschrift eine Kündigung nach sich ziehen könne. Dies sei gemäss Arbeitsrecht jedoch problematisch, erklärte Arbeitsrechtsspezialistin Isabelle Wildhaber gegenüber der NZZ: Da die Priester dem Grossteil des Kodex unter Vorbehalt zustimmten, würde eine Kündigung wohl das Verhältnismässigkeitsprinzip verletzen.

Verhaltenskodex Bischofstum Chur

In der Frühjahrssession 2022 stimmte der Nationalrat mit 107 zu 57 Stimmen bei 16 Enthaltungen einer Motion seiner WBK zu, welche die Eizellenspende ermöglichen will, falls bei der Frau ein Unfruchtbarkeitsgrund vorliegt. Damit möchte die Mehrheit der Kommission eine bestehende Ungleichbehandlung korrigieren: Im Falle einer Unfruchtbarkeit des Mannes kann das Paar seinen Kinderwunsch in der Schweiz durch eine Samenspende erfüllen. Eine Eizellenspende sei momentan hingegen nur im Ausland möglich und werde im Unterschied zur Samenspende in der Schweiz von der Krankenkasse nicht vergütet, so die Kommission. Im Nationalrat stimmten fast ausnahmslos Vertreterinnen und Vertreter der SVP- und Mitte-Fraktionen gegen die Motion. Auch der Bundesrat hatte das Geschäft zur Ablehnung empfohlen. Er wollte die Ergebnisse einer bereits in Auftrag gegebenen Evaluation des Fortpflanzungsmedizingesetzes abwarten, bevor Revisionsschritte beschlossen werden.

Eizellenspende ermöglichen (Mo. 21.4341)