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Jahresrückblick 2022: Soziale Gruppen
von Viktoria Kipfer und Marlène Geber

Die Schweizer Asylpolitik wurde vor allem im Frühjahr 2022 primär durch den Krieg in der Ukraine geprägt, wie auch die Abbildung 1 der APS-Zeitungsanalyse zeigt. So aktivierte die Schweiz im März 2022 erstmals den Schutzstatus S, der es den Geflüchteten aus der Ukraine erlaubt, ohne reguläres Asylverfahren in der Schweiz eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Bis im November 2022 fanden so rund 70'000 Flüchtende aus der Ukraine in der Schweiz Schutz. Das Zusammenleben zwischen Geflüchteten aus der Ukraine und Schweizerinnen und Schweizern nahm zu Beginn des Krieges eine Hauptrolle in der medialen Berichterstattung ein. So zeigten sich viele Schweizerinnen und Schweizer vor allem zu Beginn solidarisch mit den Flüchtenden, von denen in der Folge rund die Hälfte bei Privatpersonen unterkam, wie die SFH berichtete. Gleichzeitig wurde der Schutzstatus S aber auch als «faktische Ungleichbehandlung» der Ukrainerinnen und Ukrainer gegenüber allen anderen Asylsuchenden kritisiert. Folglich wurden im Parlament zahlreiche Vorstösse zum neuen Schutzstatus eingereicht, welche diesen unter anderem einschränken oder anpassen wollten – jedoch erfolglos. Insgesamt führte die Zeitungsberichterstattung zur Asylpolitik im Zuge des Ukraine-Kriegs zu einem deutlichen Anstieg des medialen Interesses des Jahres 2022 zum Thema «Soziale Gruppen» gegenüber dem Vorjahr (vgl. Abbildung 2 der APS-Zeitungsanalyse).

Diskutiert wurden auch allgemeine Neuregelungen bei den Asylsuchenden, etwa zur Schaffung der Möglichkeit, dass Asylsuchende nach einem negativen Aufenthaltsentscheid ihre Lehre in der Schweiz beenden dürften. Dieser Vorschlag scheiterte jedoch im Ständerat. Hingegen sprach sich der Nationalrat für zwei Motionen für eine Erleichterung des Zugangs zu einer beruflichen Ausbildung für abgewiesene Asylsuchende und Sans-Papier sowie für die Ermöglichung der Erwerbstätigkeit auch im Falle eines negativen Asylentscheids aus. Unverändert bestehen blieben die zwangsweisen Covid-19-Tests von Abgewiesenen bei der Rückstellung in ihr Herkunftsland, welche das Parlament bis ins Jahr 2024 verlängerte. Finanzielle Unterstützung wollte der Bundesrat schliesslich Kantonen mit Ausreisezentren an der Landesgrenze in Ausnahmesituationen gewähren, National- und Ständerat nahmen jedoch gewichtige Änderungen an der entsprechenden Revision des AIG vor.

Im Jahre 2022 unternahmen Bundesrat und Parlament einige Anstrengungen bei der Bekämpfung von häuslicher Gewalt und Gewalt an Frauen. Einerseits inspirierte ein Bericht zu Ursachen von Homiziden im häuslichen Umfeld eine Vielzahl verschiedener Vorstösse, andererseits diente auch die Ratifikation der Istanbul-Konvention als Ansporn zur Lancierung parlamentarischer Vorlagen gegen häusliche und geschlechterbezogene Gewalt. Als Erbe der letztjährigen Frauensession wurde zudem ein erster Vorstoss, der nationale Präventionskampagnen gegen Gewalt fordert, überwiesen. Während sich bei diesem Thema eine Allianz von Frauen verschiedenster Parteien beobachten liess, fand ein Vorstoss aus dem rechten Lager, mit dem Gewalt an Frauen künftig mit einer Freiheitsstrafe geahndet werden müsste, im Parlament keine Mehrheit. Des Weiteren rückte auch die Mehrdimensionalität der Gewalt an Frauen im Rahmen intersektionaler Vorstösse in den Fokus. Einerseits erhielt die Forderung nach verbessertem Schutz ausländischer Opfer vor häuslicher Gewalt mehr Aufmerksamkeit, andererseits wurde die Schutzbedürftigkeit von Menschen mit Behinderung bei häuslicher Gewalt hervorgehoben. Zwei weitere, im Frühjahr 2022 lancierte Vorlagen mit dem Titel «Wer schlägt, geht!» beschäftigten sich mit dem Wohnverhältnis nach Vorfällen der häuslichen Gewalt, während sich der Nationalrat in der Sommersession für eine nationale Statistik über Kinder, die Zeuginnen und Zeugen von häuslicher Gewalt sind, aussprach. Zuletzt forderten Vertreterinnen unterschiedlicher Parteien in sechs parlamentarischen Initiativen, Aufrufe zu Hass und Gewalt aufgrund des Geschlechts der Antirassismus-Strafnorm zu unterstellen, was von der erstberatenden RK-NR befürwortet wurde.

Die Idee eines «pacte civil de solidarité» (Pacs) treibt die Schweiz bereits seit mehreren Jahren um, was im Frühjahr 2022 in einem Bericht des Bundesrats über die «Ehe light» mündete. Auf Grundlage des Berichts wurde bereits ein parlamentarischer Vorstoss zur Schaffung entsprechender Rechtsgrundlagen im Ständerat eingereicht. Auch die Regulierung von Schwangerschaftsabbrüchen fand im Jahr 2022 Platz auf der politischen Agenda. Denn Ende 2021 hatten Vertreterinnen und Vertreter der SVP zwei Volksinitiativen lanciert, welche die Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen reduzieren wollten: einerseits die Initiative «Für einen Tag Bedenkzeit vor jeder Abtreibung (Einmal-darüber-schlafen-Initiative)» und andererseits die Initiative «Für den Schutz von ausserhalb des Mutterleibes lebensfähigen Babys (Lebensfähige-Babys-retten-Initiative)». 2022 führten diese Anliegen auch innerhalb der SVP zu Diskussionen; insbesondere jüngere Vertreterinnen der Volkspartei äusserten sich dezidiert dagegen. Dieser Konflikt mündete unter anderem in der Ablehnung hauseigener Vorstösse durch eine Minderheit der SVP-Fraktion in der Sondersession 2022. Umgekehrt hatten es auch Vorstösse, die auf einen flächendeckenden und hürdenfreien Zugang zu Abtreibung abzielten, 2022 nicht leicht im Parlament.

Betreffend die Familienplanung sprachen sich beide Räte für eine Legalisierung der Eizellenspende für Ehepaare aus. Unter anderem weil die parlamentarische Initiative zur Überführung der Anstossfinanzierung für die familienexterne Kinderbetreuung in eine zeitgemässe Lösung den Sprung ins Sessionsprogramm 2022 verpasst hatte, stimmten National- und Ständerat einer Verlängerung der Bundesbeiträge an die familienexterne Kinderbetreuung bis Ende 2024 zu. Um jedoch die Kosten für die familienergänzende Kinderbetreuung zu senken und die Anzahl Kitaplätze zu erhöhen, wurde im Frühjahr 2022 eine Volksinitiative «Für eine gute und bezahlbare familienergänzende Kinderbetreuung für alle (Kita-Initiative)» lanciert. Auch die Annahme der «Ehe für alle» im September 2021 blieb nicht folgenlos im Parlament: Da gleichgeschlechtliche Paare nach der Heirat bei der Familienplanung weiterhin eingeschränkt seien, setzten sich zwei Motionen mit der rechtlichen Anerkennung der Elternschaft gleichgeschlechtlicher Paare auseinander, um deren Gleichberechtigung auch über die «Ehe für alle» hinaus voranzutreiben.

Darüber hinaus wurde 2022 eine Reihe von Forderungen aus der zweitägigen Frauensession 2021 vom Parlament aufgegriffen. Zwei Motionen zum Einbezug der Geschlechterperspektive in der Medizin stiessen in der Herbstsession 2022 in der grossen Kammer auf Akzeptanz. In Anbetracht des bevorstehenden digitalen Wandels fokussierten andere, auf die Frauensession zurückgehende erfolgreiche parlamentarische Vorstösse auf den Einbezug von Frauen in die Digitalisierungsstrategie des Bundes. In Anbetracht der in der Frauensession eingereichten Petitionen reichten die betroffenen Kommissionen auch mehrere Postulate ein, welche unter anderem Berichte zur Strategie zur Integration von Frauen in MINT-Berufen, zur Evaluation der schulischen Sexualaufklärung und zur Aufwertung der Care-Arbeit forderten – sie wurden allesamt angenommen.

In der LGBTQIA-Politik nahm besonders die Diskussion über die Existenz und das Verbot von Konversionstherapien viel Platz ein. Nach der Annahme der «Ehe für alle» waren 2021 drei parlamentarische Initiativen zum Verbot von Konversionstherapien eingereicht, später aber wegen einer lancierten Kommissionsmotion zurückgezogen worden. Angenommen wurde hingegen ein Postulat, das die Datengrundlage zum Vorkommen von Konversionsmassnahmen in der Schweiz verbessern möchte.

Auch die Gleichstellung gehörloser und hörbehinderter Menschen sollte gemäss Parlament vorangetrieben werden, weshalb National- und Ständerat eine Motion zur Schaffung eines Gesetzes zur Anerkennung der Gebärdensprachen annahmen.

Jahresrückblick 2022: Soziale Gruppen
Dossier: Jahresrückblick 2022

In der Wintersession 2022 wurden die Reform des Visa-Informationssystems VIS und die Änderung des AIG im Ständerat behandelt. Mathias Zopfi (gp, GL) vertrat die Position der SPK-SR und klärte die kleine Kammer über die Vorzüge des Visa-Informationssystems auf. Die Vernetzung aller Konsulate der Schengen-Staaten ermögliche den Abgleich von Daten zwischen den Visumbehörden, den Grenzkontrollbehörden und den Migrationsbehörden. Die Anpassungen seien vor allem technischer Natur und dienten der Interoperabilität zwischen dem VIS und anderen Informationssystemen, so Zopfi. Die Kommission habe sich auch mit den Bedenken der Minderheit Molina (sp, ZH) aus dem Nationalrat zur Weitergabe von Daten an Drittstaaten auseinandergesetzt. Zopfi berichtete, dass die Verwaltung der Kommission versichert habe, dass sämtliche Datenabfragen an das SEM weitergeleitet werden müssen und bei einem laufenden Asylverfahren keine Auskunft erteilt werde. Auch die zweite Vorlage zur Änderung des AIG beantragte Zopfi im Namen der Kommission zur Annahme. Bundesrätin Karin Keller-Sutter äusserte sich ebenfalls zur Minderheit Molina und ergänzte, dass bei der Datenübermittlung aus dem VIS die Datenschutzregelungen der Schweiz und der entsprechenden EU-Verordnung sowie die Regeln der internationalen Polizeikooperation eingehalten werden müssten. Der Ständerat nahm in der Folge beide Vorlagen einstimmig an.
In der Schlussabstimmung nahm der Nationalrat den Bundesbeschluss zur Reform des Visa-Informationssystems mit 153 zu 9 Stimmen (bei 34 Enthaltungen) an und das Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration mit 157 zu 4 Stimmen (bei 35 Enthaltungen). Die Grünen enthielten sich im Nationalrat geschlossen ihrer Stimme, genauso wie einige Mitglieder der SP. Der Ständerat nahm beide Vorlagen auch in der Schlussabstimmung einstimmig an.

Reform des Visa-Informationssystems VIS und Änderung des AIG

Nachdem sich der Nationalrat in der Sommersession 2022 bereits dafür ausgesprochen hatte, den Zugang zur beruflichen Ausbildung für abgewiesene Asylsuchende und Sans-Papiers zu erleichtern, stützte der Ständerat diesen Entscheid in der Wintersession. Dabei folgte er einer linken Kommissionsminderheit, die den Erfolg einer im Jahr 2010 überwiesenen Motion Barthassat (cvp, GE; Mo. 08.3616) mit ähnlicher Stossrichtung als «sehr bescheiden» bewertete, weswegen die Anforderungen zu senken seien. Die Kommissionsmehrheit sah aufgrund der beschleunigten Asylverfahren und bestehenden Härtefallregelungen hingegen keinen Handlungsbedarf und war der Ansicht, dass dadurch Anreize für einen unrechtmässigen Aufenthalt geschaffen würden. Die Kommissionsmehrheit unterlag im Ständerat relativ knapp mit 19 zu 21 Stimmen.

Erweiterte Härtefallregelung zum Zugang zu beruflichen Ausbildungen (Mo. 22.3392)
Dossier: Lehrabschlüsse für abgewiesene Asylsuchende und Sans Papiers

Mit 135 zu 55 Stimmen schloss sich der Nationalrat seiner SPK-NR an und gab einer parlamentarischen Initiative der SVP, welche die Aufhebung der Versicherungspflicht für Sans-Papiers forderte, in der Wintersession 2022 keine Folge. Lediglich die SVP-Fraktion und vier Mitglieder der FDP.Liberalen-Fraktion hatten sich für Folgegeben ausgesprochen. Die SVP erachtete es als «stossend», Sans-Papiers trotz nicht Vorliegen einer Aufenthaltsbewilligung einer Versicherungspflicht zu unterstellen, womit deren Aufenthalt quasi legitimiert werde, anstatt die Personen auszuweisen. Die Kommissionsmehrheit erachtete die vorgeschlagene Massnahme hingegen nicht als geeignet, da durch das Verwehren des Zugangs zur Krankenversicherung insbesondere das Recht der betroffenen Personen auf medizinische Grundversorgung beeinträchtigt werde und dies unter anderem gesundheitliche Folgen hätte, was längerfristig zu höheren Kosten führen würde. Das Anliegen ist somit erledigt – ebenso wie eine weitere parlamentarische Initiative aus derselben Geschäftsserie der SVP, die der Rat zeitgleich mit ähnlichem Stimmverhältnis ablehnte (Pa.Iv. 21.446).

Keine Versicherungspflicht für Sans Papiers (Pa.Iv. 21.445)

Nach seiner Kommission stellte sich in der Wintersession 2022 auch der Nationalrat gegen die Forderung einer parlamentarischen Initiative der SVP-Fraktion, die verlangte, dass wesentliche Vertragsabschlüsse nur noch bei Vorliegen einer Wohnsitzbestätigung möglich sein sollen. Der Nationalrat gab der parlamentarischen Initiative mit 133 zu 57 Stimmen keine Folge. Die SVP hatte auf diese Weise versucht, die Schweiz für illegal anwesende Personen weniger attraktiv zu machen. Im Namen der Kommissionsmehrheit bezeichnete Tiana Angelina Moser (glp, ZH) «die Situation mit den Sans-Papiers [als] rechtsstaatlich unbefriedigend». Gleichzeitig erachtete die Kommissionsmehrheit die Initiative aber nicht als angemessen oder zielführend; weder für die betroffenen Personen noch für die Gesamtgesellschaft könne diese Verbesserungen bringen, so Moser. Neben der geschlossen befürwortenden SVP-Fraktion wurde die Initiative von sechs Mitgliedern der FDP.Liberalen-Fraktion unterstützt. Zeitgleich erledigte der Nationalrat eine weitere parlamentarische Initiative der SVP-Fraktion mit ähnlicher Stossrichtung (Pa.Iv. 21.445). Beide Initiativen gehörten zu einer 9-teiligen Geschäftsserie, mit der die SVP-Fraktion zusätzliche Massnahmen gegen die irreguläre Migration forderte (siehe auch Mo. 21.3487-Mo. 21.3493).

Massnahmen gegen Sans-Papiers: Wesentliche Vertragsabschlüsse nur mit Wohnsitzbestätigung (Pa.Iv. 21.446)

Der Bundesrat verabschiedete im Mai 2022 seine Botschaft zur Reform des Visa-Informationssystems VIS und zur Änderung des AIG im Rahmen der Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands. Das VIS wurde 2011 implementiert und erleichtert die Visumverfahren für einen kurzfristigen Aufenthalt im Schengenraum. Es ermöglicht den Visum-, Grenz-, Asyl- und Migrationsbehörden innert kürzester Zeit die notwendigen Informationen (u.a. Gesichtsbild, Fingerabdrücke) über visumpflichtige Drittstaatsangehörige zu überprüfen. Die Botschaft zum überarbeiteten Visa-Informationssystem beruht auf zwei neuen EU-Verordnungen, welche die Schweiz übernehmen muss, da sie eine Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands darstellen. Der Bundesrat erklärte in der Botschaft, dass die Änderungen grundsätzlich technischer Art seien und die Zuständigkeiten des VIS nur in begrenzter Weise erweitert werden sollen. Die vorgesehenen Änderungen umfassen die Herabsetzung des Alters für die Abnahme von Fingerabdrücken bei Kindern von zwölf auf sechs Jahre und die Befreiung von dieser Verpflichtung für Personen über 75 Jahre; die Aufnahme von Visa und Aufenthaltstitel für den längerfristigen Aufenthalt ins VIS; die Erweiterung des VIS-Zwecks für die Rückkehr von Personen, welche die Einreisevoraussetzungen des Schengen-Raums nicht erfüllen; die Aufnahme von Kopien der Reisedokumente von Gesuchstellenden in das VIS; die Anpassung des Zugangs zu VIS-Daten für Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungsbehörden sowie Europol; die Erfassung von Gesichtsbildern vor Ort; den Zugang für Beförderungsunternehmen zur Überprüfung von Visa und Aufenthaltstiteln sowie den Ausbau diverser technischer Komponenten. Diese Neuerungen machten wiederum die Anpassung des AIG, des BGIAA und des BPI notwendig.
Eine zweite Vorlage, welche die Botschaft behandelte, betraf eine von der Schengen-Weiterentwicklung losgelöste Anpassung des AIG auf Antrag des BAZG. Zwar verfüge das Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit für die Aufgabenerfüllung als Grenzkontrollbehörde bereits über die notwendigen Zugriffe auf die Datenbanken, nicht jedoch zur Erfüllung seiner Aufgaben als Strafverfolgungsbehörde. Das BAZG habe bereits bei der Errichtung eines Rahmens für die Interoperabilität zwischen den verschiedenen EU-Informationssystemen um Zugriff auf den «Gemeinsamen Speicher für Identitätsdaten (CIR)» und Zugang zu den Daten von EES, ETIAS und VIS gebeten. Das BAZG wollte diese Datenbanken zur Verhütung, Aufdeckung oder Ermittlung terroristischer oder sonstiger Straftaten nutzen. Diese Regelung habe man damals jedoch nicht umgesetzt, da die entsprechende Vernehmlassung bereits abgeschlossen gewesen sei und man mehr Zeit für die Klärung rechtlicher Details benötigt habe, erklärte der Bundesrat. Da das BAZG jedoch einen gesetzlichen Auftrag im Bereich der Verhütung von terroristischen Straftaten habe, und es diese ohne die beschriebenen Zugänge nicht erfüllen könne, wolle man dessen Zugriffsrechte in der vorliegenden Änderungsverordnung zum VIS erweitern. Der Bundesrat argumentierte, dass man dem BAZG den Zugriff – wie auch bei anderen eidgenössischen kantonalen und kommunalen Strafverfolgungsbehörden – erlauben müsse, um eine Lücke in der inneren Sicherheit der Schweiz zu schliessen. Er versicherte auch, dass die Kompetenzen des BAZG dadurch nicht erweitert würden.
Die Vernehmlassung habe mehrheitlich positive Stellungnahmen zu beiden Vorlagen mit sich gebracht. Während die Reform des Visa-Informationssystems unbestritten war, habe sich nur die KKJPD wirklich kritisch zur Änderung des AIG geäussert. Die KKJPD kritisierte die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen, da polizeiliche Aufgaben – sofern nicht explizit dem Bund zugeordnet – in der Kompetenz der Kantone lägen. Die KKJPD verlangte daher eine vorgängige Kompetenzklärung im Rahmen der Totalrevision des Zollgesetzes, bevor man die Zugriffsrechte des BAZG durch die Änderung des AIG erweitere.

Der Nationalrat behandelte das Geschäft in der Herbstsession 2022 zusammen mit einem Geschäft zur Festlegung der Bedingungen für den Zugang zu anderen EU-Informationssystemen (BRG 22.019). Eine Minderheit Molina (sp, ZH) forderte Schutzbestimmungen bei der Weitergabe von Personendaten an Drittstaaten und internationale Organisationen. Molina erklärte, dass die Vorlage es ermögliche, dass das SEM oder das Fedpol Personendaten unter gewissen Umständen an Drittstaaten ausserhalb des Schengen-Raums weitergeben können. Eine solche Weitergabe dürfe aber nur stattfinden, wenn garantiert werden könne, dass die betroffene Person dadurch keine «ungerechtfertigte Verletzung ihrer Grundrechte erleidet». Gerhard Pfister (mitte, ZG) – Kommissionssprecher der SPK-NR – verwies auf die bestehende Informationslücke im Bereich der Visa, die zu einem längerfristigen Aufenthalt im Schengen-Raum berechtigen, der geschlossen werden müsse. Zum Antrag der Minderheit merkte Pfister an, dass die Kommission von der Verwaltung eine Stellungnahme verlangt habe. Daraus gehe hervor, dass die Behörden Daten zur Identität und zu den Reisedokumenten nur unter engen Auflagen an Drittstaaten weitergeben könnten, wobei keine Kontrolle durch die nationalen Migrationsbehörden vorgesehen sei. Eine zusätzliche Kontrolle durch das SEM könne in dringenden Fällen zu einem Zeitverlust führen. Die Fraktion der Grünen unterstützte die Minderheit Molina, wie deren Sprecherin Natalie Imboden (gp, BE) bekannt gab. Sie ergänzte, dass sich ihre Fraktion in der Gesamtabstimmung ihrer Stimmen enthalten werde, um darauf hinzuweisen, dass den grundrechtlichen Fragen in der Vorlage mehr Gewicht zukommen müsse. FDP-Fraktionssprecher Cottier (fdp, NE) hingegen kritisierte Molina dafür, dass dieser einen Zeitverlust in Fällen von aussergewöhnlicher Dringlichkeit, bei denen eine unmittelbare Gefahr im Zusammenhang mit terroristischen Aktivitäten oder schweren Straftaten bestehe, in Kauf nehme. Ähnlich argumentierte die SVP-Fraktion, während die GLP- und die Mitte-Fraktionen auf ein Votum verzichteten. Die anwesende Bundesrätin Karin Keller-Sutter merkte zum Minderheitsantrag an, dass die Daten nur bei der Feststellung der Identität von rückkehrpflichtigen Drittstaatsangehörigen oder bei der Gewährung von Asyl für Flüchtlingsgruppen übermittelt werden sollten. Die Rechte dieser Personen dürfen – gemäss EU-Recht und nationalem Recht – nicht beeinträchtigt werden, insbesondere nicht das Non-Refoulement-Gebot. Auch müsse sich der Drittstaat oder die internationale Organisation verpflichten, die Daten nur für die angegebenen Zwecke zu verwenden, und einen Datenschutz gewährleisten, der demjenigen der Schweiz entspreche.
Die grosse Kammer lehnte die Minderheit Molina mit 120 zu 63 Stimmen ab und nahm den Bundesbeschluss zur Reform des Visa-Informationssystems in der Gesamtabstimmung mit 146 zu 7 Stimmen (bei 31 Enthaltungen) an. Die Änderung des AIG nahm der Nationalrat mit 144 zu 4 Stimmen (bei 35 Enthaltungen) ebenfalls deutlich an. Der Enthaltung der Grünen schlossen sich einige Mitglieder der SP und der SVP an.

Reform des Visa-Informationssystems VIS und Änderung des AIG

Der Bundesrat publizierte im Mai 2022 die Botschaft zur Übernahme zweier EU-Verordnungen zur Festlegung der Bedingungen für den Zugang zu anderen EU-Informationssystemen für die Zwecke des ETIAS sowie zur Änderung des Ausländer- und Integrationsgesetzes.
Wie der Bundesrat in seiner Botschaft vermerkte, hatte das Parlament der Übernahme der EU-Verordnung, die ETIAS etablierte, bereits im September 2020 zugestimmt (BRG 20.027). Bei der vorliegenden Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstandes ging es nun darum, die Interoperabilität des ETIAS-Systems mit anderen EU-Informationssystemen (wie etwa SIS) zu gewährleisten. Mit der Interoperabilität solle der Datenaustausch unter diesen Systemen ermöglicht werden und vorhandene Informationen effizienter und gezielter genutzt werden. Der Bundesrat beantragte auch eine Änderung des AIG: Der Abteilung «Biometrische Identifikation» des Fedpol soll es erlaubt werden, die Ergebnisse von Suchanfragen manuell nachzuprüfen, wenn diese einen Treffer in den Schengen/Dublin-Informationssystemen ergeben haben.

Der Nationalrat befasste sich in der Herbstsession 2022 mit dem Geschäft. Die Sprechenden der SPK-NR, Tiana Moser (glp, ZH) und Damien Cottier (fdp, NE), stellten den Entwurf vor. Demnach handelt es sich bei ETIAS um ein System zur Ausstellung von Reisegenehmigungen für Drittstaatenangehörige ohne Visumspflicht, wobei die Prüfung, ob eine Person eine Einreisebewilligung erhält, weitgehend automatisch abläuft. Komme es zu einer Unregelmässigkeit, dann erfolge in den entsprechenden Schengen-Mitgliedstaaten eine manuelle Prüfung der Einreisebewilligung. Das Bundesverwaltungsgericht werde eine Plattform zur Verfügung stellen, über die Beschwerden bei einer mutmasslichen Fehlbeurteilung der Reisegenehmigung eingereicht werden können. Das Ziel dieser Weiterentwicklung des ETIAS-Systems bestehe darin, die Sicherheit, insbesondere in den Bereichen Bekämpfung des Terrorismus und Verhinderung schwerer Straftaten, zu stärken. Minderheitsanträge wurden keine gestellt und die meisten Fraktionen äusserten sich überwiegend positiv. Jedoch meldete Natalie Imboden (gp, BE) seitens der Grünen-Fraktion gewisse datenschützerische Bedenken an und bat Justizministerin Karin Keller-Sutter, den «datenschützerischen Aspekten in den weiteren Umsetzungsarbeiten genügend Beachtung zu schenken». Der Nationalrat nahm die Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstandes mit 134 Stimmen zu 10 Stimmen (33 Enthaltungen) an. Die ablehnenden Stimmen stammten von Mitgliedern der SVP-Fraktion, die Enthaltungen von der Grünen-Fraktion. Die zweite Vorlage, die Änderung des AIG, nahm der Nationalrat mit 145 zu 3 Stimmen bei 33 Enthaltungen an.

Die kleine Kammer behandelte die Vorlage in der Wintersession 2022. Dort stellten Kommissionssprecher Mathias Zopfi (gp, GL) und Justizministerin Keller-Sutter das Geschäft vor, wobei eine eigentliche Debatte ausblieb: Eintreten wurde ohne Gegenantrag beschlossen und beide Vorlagen wurden einstimmig angenommen.

In den Schlussabstimmungen am Ende der Wintersession 2022 zeigte sich wiederum ein ähnliches Stimmverhalten: Während sich die Grünen der Stimmen enthielten, votierte eine grosse Mehrheit des Nationalrates klar für die beiden Vorlagen (155 zu 9 Stimmen bei 32 Enthaltungen / 164 zu 0 Stimmen bei 32 Enthaltungen). Im Ständerat wurden die beiden Vorlagen jeweils einstimmig angenommen (44 zu 0 Stimmen für die beiden Vorlagen).

Festlegung der Bedingungen für den Zugang zu anderen EU-Informationssystemen (ETIAS; BRG. 22.019)
Dossier: Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands, Errichtung von IT-Grosssystemen

Die SPK-SR folgte im Juni 2022 dem Nationalrat und entschied mit 8 zu 3 Stimmen, der Standesinitiative des Kantons Basel-Stadt, welche forderte, zusätzliche, in Griechenland gestrandete, besonders schutzbedürftige Personen aufzunehmen, keine Folge zu geben. In einer Medienmitteilung erklärte die Kommission, dass das Anliegen zwar berechtigt sei, der vorgeschlagene Ansatz in den Augen der Kommissionsmehrheit jedoch keine Besserung der Situation bringen würde.

Aufnahme von Menschen aus Griechenland und Auslastung der Asylzentren (Kt.Iv. 21.310)
Dossier: Dublin-Verordnung

In der Sommersession 2022 debattierte der Nationalrat über die parlamentarische Initiative von Jean-Luc Addor (svp, VS), welche verlangte, dass nur noch Personen als Flüchtlinge anerkannt werden, die bei der Anreise keinen sicheren Staat passiert haben. Addor erläuterte, dass er eine Lücke im Gesetz sehe: Wenn das Dublin-Abkommen konsequent umgesetzt würde, könnten in der Schweiz nur Personen ein Asylgesuch stellen, welche per Luftweg angekommen sind. Delphine Klopfenstein Broggini (gp, GE) argumentierte für die Kommissionsmehrheit, dass es nie angebracht sei, das Völkerrecht in Frage zu stellen, wie es dieser Vorstoss tue. Für die Kommissionsmehrheit sei klar, dass das Recht, einen Asylantrag zu stellen, sowie das Recht auf Prüfung jedes Asylantrages unbedingt garantiert werden müssten. Entsprechend der Kommissionsmehrheit – bestehend aus 17 befürwortenden zu 7 ablehnenden Stimmen – entschied der Nationalrat mit 136 zu 51 Stimmen (bei 3 Enthaltungen), der parlamentarischen Initiative keine Folge zu geben, wobei die 51 Stimmen für die Vorlage allesamt von Mitgliedern der SVP-Fraktion stammten.

Asylsuchende, die ein sicheres Land durchqueren, sollen nicht als Flüchtlinge gelten (Pa.Iv. 21.420)

In der Sommersession 2022 nahm der Nationalrat Kenntnis vom Aussenpolitischen Bericht 2021. APK-NR-Sprecher Hans-Peter Portmann (fdp, ZH) bedankte sich bei Aussenminister Cassis für den «aussagekräftigen Bericht und für die mehrheitlich kohärente Umsetzung der aussenpolitischen Strategie des Bundesrates». In Bezug auf den Abbruch der Verhandlungen über das Rahmenabkommen habe der Bundesrat im Bericht erläutert, dass nur in zwei zentralen Bereichen des Abkommens substanzielle Differenzen – beim Lohnschutz und der Auslegung des Freizügigkeitsabkommens – bestanden hätten, wobei die EU nicht bereit gewesen sei, der Schweiz die nötigen Ausnahmen zu gewähren. Eine Minderheit der Kommission unterstütze den Abbruchsentscheid des Bundesrats, obwohl sie nie zu dieser Entscheidung konsultiert worden sei, teilte Portmann mit. Die Mehrheit der Kommission habe sich sehr kritisch darüber geäussert, dass sich der Bundesrat in seinem Bericht – rund zehn Monate nach Verhandlungsabbruch – nach wie vor optimistisch zeige, dass die Freigabe des geschuldeten Kohäsionsbeitrags und der autonome Nachvollzug von EU-Recht zu einer Stabilisierung der bilateralen Beziehungen führen könnten. Portmann monierte, dass diesen Aussagen eine «totale Fehleinschätzung seitens des Bundesrates zugrunde liegt», der die Erosion der bilateralen Verträge nicht wahrhaben wolle.
Ein weiteres Kapitel des Berichts widmete sich dem Thema «Frieden und Sicherheit». Darin ging es vor allem um das Engagement der Schweiz auf multilateraler Ebene, unter anderem in der UNO. Angesichts der erfolgreichen Wahl in den UNO-Sicherheitsrat wünschten sich verschiedene Kommissionsmitglieder, dass die Schweiz weiterhin an der Reform für eine UNO ohne Vetorecht arbeite und dazu beitrage, eine Vereinigung von mittelgrossen und kleinen Staaten mit ähnlich gelagerten Anliegen und Wertehaltungen zu schaffen, so Portmann. Weitere Minderheiten der APK-NR forderten vom Bundesrat die Unterzeichnung des Atomwaffenverbotsvertrags und eine aktivere Politik im UNO-Menschenrechtsrat. Trotz der durchaus auch kritischen Stimmen beantragte die APK-NR den Bericht einstimmig zur Kenntnisnahme. Denis de la Reussille (pda, NE), ebenfalls Kommissionssprecher, lobte seinerseits den Bericht und hob die Bedeutung der Armutsbekämpfung und des Zugangs zu Wasser in den kommenden Jahren hervor.
Verschiedene Fraktionssprecherinnen und -sprecher drückten anschliessend ihren Unmut über den Abbruch der InstA-Verhandlungen mit der EU und die daraus erwachsenen negativen Konsequenzen in Form von fehlender Teilnahme an wichtigen Kooperationsprogrammen wie Erasmus und Horizon aus. Sie kritisierten auch die fehlenden Bemühungen des Bundesrats, die Beziehungen schnellstmöglich zu verbessern, beispielsweise durch die Aushandlung eines neuen Rahmenabkommens.
Bundesrat Cassis fühlte sich angesichts der insgesamt doch eher positiven Einschätzungen des Berichts in der Wahl eines neuen methodischen Ansatzes innerhalb des EDAs bestätigt, wie er in der Folge erklärte. Dieser neue Ansatz beinhaltete einerseits die engere Kooperation zwischen den sieben Departementen bei der Gestaltung der Aussenpolitik, die er zu Beginn der Legislatur in der Aussenpolitischen Strategie 2020-2023 angekündigt hatte, und andererseits die Entscheidung, den aussenpolitischen Bericht möglichst knapp zu halten. Zur Kritik an der EU-Politik des Bundesrats bezog der Bundespräsident hingegen keine Stellung. Der Nationalrat nahm den Bericht auf Antrag seiner Kommission zur Kenntnis.

Aussenpolitischer Bericht 2021
Dossier: Aussenpolitische Berichte (ab 2009)

Nachdem sich die SPK-NR entgegen ihrer Schwesterkommission entschieden hatte, der Standesinitiative des Kantons Basel-Stadt, welche forderte, zusätzliche, in Griechenland gestrandete, besonders schutzbedürftige Personen aufzunehmen, keine Folge zu geben, kam das Anliegen in der Sommersession 2022 in die grosse Kammer.
Marianne Binder-Keller (mitte, AG) argumentierte für die Kommissionsmehrheit, dass die Situation in Griechenland nicht mehr «dermassen tragisch» sei wie im Herbst 2020, weshalb sich die Mehrheit der Kommission dafür ausgesprochen habe, der Standesinitiative keine Folge zu geben. Ausserdem tue die Schweiz bereits viel – etwa in Form von Hilfsgütern oder mit der Aufnahme von unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden. Als Sprecherin der Kommissionsminderheit setzte sich Tamara Funiciello (sp, BE) für Folgegeben ein und forderte den Nationalrat auf, «endlich das Richtige» zu tun und mehr humanitäre Verantwortung zu übernehmen. Der Krieg in der Ukraine habe gezeigt, dass die Schweiz durchaus in der Lage sei, schutzbedürftigen Menschen die nötige Sicherheit und Aussicht auf Arbeit zu geben. Die Frage sei nun, wieso dies für Menschen, welche an den europäischen Aussengrenzen unter prekären Umständen ausharren müssen, nicht auch möglich sein soll. Funiciello vermochte jedoch den Nationalrat nicht für das Anliegen zu gewinnen, welcher mit 98 zu 59 Stimmen entschied, der Standesinitiative keine Folge zu geben. Lediglich die Fraktionen der SP und der Grünen stimmten geschlossen für das Anliegen, zusätzliche Unterstützung erfuhr die Standesinitiative darüber hinaus lediglich von den beiden EVP-Nationalrätinnen.

Aufnahme von Menschen aus Griechenland und Auslastung der Asylzentren (Kt.Iv. 21.310)
Dossier: Dublin-Verordnung

Im April 2022 beschloss die SPK-NR mit 11 zu 10 Stimmen (bei 4 Enthaltungen) die Lancierung einer Motion, mit welcher sie einen «erleichterten Zugang zur beruflichen Ausbildung für abgewiesene Asylsuchende und Sans-Papiers» forderte. Seit 2013 muss eine Person mindestens fünf Jahre lang durchgehend die obligatorische Schule in der Schweiz besucht haben und eine gute Integration vorweisen können, um eine Härtefallbewilligung für eine Berufslehre zu erhalten. Der Bericht des Bundesrates «Gesamthafte Prüfung der Problematik der Sans-Papiers» habe nun aber gezeigt, dass so bis ins Jahr 2020 lediglich 61 jugendliche Sans-Papiers eine Berufsausbildung hätten starten können. Folglich sei diese Regelung zu restriktiv, wie Céline Widmer (sp, ZH) im Namen der Kommissionsmehrheit im Nationalrat für die Vorlage argumentierte. Basierend auf den Empfehlungen des Berichts solle der Bundesrat nun konkret prüfen, ob der erforderliche Besuch der obligatorischen Schule in der Schweiz von mindestens fünf auf zwei Jahre herabgesetzt werden könne und ob auch Jugendliche, welche die obligatorische Schule für weniger als zwei Jahre oder gar nicht besucht haben, miteinbezogen werden könnten. Darüber hinaus solle auch die Möglichkeit von anonymisierten Gesuchen geprüft werden. Barbara Steinemann (svp, ZH) begründete die ablehnende Position der Minderheit unter anderem damit, dass Lehrbetriebe diese Anpassung dazu nutzen könnten, Asylsuchenden dabei zu helfen, eine Aufenthaltsbewilligung zu erlangen, denn diese würde für die Dauer der beruflichen Grundbildung automatisch gewährt. Auch der Bundesrat lehnte die Motion ab, wobei Justizministerin Karin Keller-Sutter unter anderem ausführte, dass damit eine Ungleichbehandlung gegenüber jungen Asylsuchenden und Sans-Papiers geschaffen würde, die studieren möchten, da diese strengeren Zulassungskriterien unterworfen wären. Entgegen der Kommissionsminderheit und dem Bundesrat entschied sich der Nationalrat jedoch mit 111 zu 73 Stimmen (bei 4 Enthaltungen), die Motion anzunehmen. Die Fraktionen der SP, Grünen und der GLP stimmten geschlossen für die Vorlage und wurden dabei von der Hälfte der FDP.Liberalen- sowie einer Zweidrittelmehrheit der Mitte-Fraktion unterstützt.

Erweiterte Härtefallregelung zum Zugang zu beruflichen Ausbildungen (Mo. 22.3392)
Dossier: Lehrabschlüsse für abgewiesene Asylsuchende und Sans Papiers

In Form einer im Herbst 2020 eingereichten Motion verlangte die SVP-Fraktion unter anderem, dass Personen ohne geregelten Aufenthaltsstatus, mit Ausnahme der Notfallversorgung, von der Sozialversicherungspflicht ausgeschlossen werden. In der Sommersession 2022 befand der Nationalrat über die Vorlage. Justizministerin Karin Keller-Sutter führte aus, dass im neuen Bericht des Bundesrates zur «Gesamthaften Prüfung der Problematik der Sans-Papiers» aufgezeigt werde, dass ein Ausschluss der Sans-Papiers von der Sozialversicherungspflicht auf Grund von völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht möglich sei. Der Nationalrat lehnte die Vorlage in der Folge mit 135 zu 53 Stimmen (0 Enthaltungen) deutlich ab, wobei alle 53 befürwortenden Stimmen aus der geschlossen stimmenden SVP-Fraktion stammten.

Für eine kohärente Praxis bei illegalen Einwanderern (Sans-Papiers) (Mo. 20.3987)

Im Juni 2022 publizierte gfs.bern die VOX-Nachabstimmungsanalyse zur Abstimmung vom 15. Mai 2022 über das Frontex-Referendum und verwies darin auf die sehr niedrige Stimmbeteiligung von nur 40 Prozent. Als Gründe für das geringe Interesse am Frontex-Referendum, dem Transplantations- und dem Filmgesetz nannten die Autorinnen und Autoren den Angriffskrieg Russlands in der Ukraine, die teilweise geringe persönliche Betroffenheit der Abstimmungsvorlagen und den Umstand, dass das politische Interesse gewisser Teile der Bevölkerung nach der Aufhebung der Massnahmen gegen die Covid-19-Pandemie nachgelassen habe. Insbesondere der Krieg in der Ukraine habe aber für die Annahme des Frontex-Ausbaus eine entscheidende Rolle gespielt. So sei die Vorlage durch den Krieg in der Wahrnehmung der Stimmbevölkerung von einer «europapolitischen» zu einer «sicherheitspolitischen» Grundsatzfrage geworden. Der Hauptgrund der Ja-Stimmenden für ihren Stimmentscheid sei deshalb die Stärkung der Grenzen gewesen, stellten die Autorinnen und Autoren der Studie fest. Danach folgten mit einigem Abstand die Einhaltung des Schengen-Abkommens und die Verhinderung von Menschenrechtsverstössen durch eine Teilnahme an Frontex im Sinne von «Verhinderung durch Mitsprache». Eine Verringerung der Zahl der Menschenrechtsverstösse stellte auch das mit grossem Abstand am häufigsten genannte Argument der Gegnerinnen und Gegner des Frontex-Ausbaus dar – sie erhofften sich umgekehrt wohl eher, mit einer Ablehnung ein europaweites Zeichen gegen die Menschenrechtsverstösse setzen zu können. Weitere Argumente stellten eine generelle Kritik an der Arbeit der Frontex-Agentur und an den Skandalen ihrer Mitarbeitenden dar.
Auffällig war laut Studie, dass keines der Pro-Argumente – obwohl sie alle mehrheitsfähig gewesen seien – für sich betrachtet eine vergleichbar hohe Unterstützung erhielt wie die Vorlage als Ganzes. Überdies gelangten die Autorinnen und Autoren zur Erkenntnis, dass die Frontex-Vorlage insgesamt als komplex eingeschätzt worden sei. So gaben rund ein Drittel der Befragten an, dass sie Verständnisschwierigkeiten beim Inhalt gehabt hätten.
Zum deutlichen Ja trug gemäss der Nachbefragung bei, dass die politische Allianz der Befürwortenden – von der GLP und der Mitte über die FDP bis zur SVP – geschlossen aufgetreten sei, während sich aufseiten der Gegnerschaft – vor allem innerhalb der SP – Unstimmigkeiten gezeigt hätten. Stimmende, die sich im politischen Spektrum ganz links positionieren, und solche, die den Institutionen der europäischen Sicherheitspolitik misstrauen, seien mehrheitlich gegen die Vorlage gewesen (23% Ja-Anteil), «gemässigte Linke» hätten aber eher für Annahme gestimmt (63% Ja-Anteil), so das Fazit der Analyse. Dies führte dazu, dass nur etwas mehr als die Hälfte der Anhängerschaft von SP und Grünen den Nein-Parolen ihrer Parteien folgte. Die Studie zeigte auch, dass Personen, die den Schweizer Institutionen vertrauen, eher mit Ja stimmten, während das Vertrauen in die EU keine entscheidende Rolle für den Abstimmungsentscheid spielte. Ältere Personen stimmten zudem eher für den Ausbau der EU-Grenzschutzagentur als jüngere, wobei nur eine Altersgruppe (30-39 Jährige) die Vorlage mehrheitlich ablehnte.

Übernahme und Umsetzung der Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Europäische Grenz- und Küstenwache (Frontex; BRG 20.064)
Dossier: Beteiligung der Schweiz am Ausbau von Frontex

Mitte Mai 2022 nahm die Schweizer Stimmbevölkerung in der Volksabstimmung zum Frontex-Referendum die Beteiligung der Schweiz am Ausbau der EU-Agentur an. Mit einem Ja-Anteil von 71.5 Prozent und Ja-Mehrheiten in allen 26 Kantonen fiel das Resultat – bei einer tiefen Stimmbeteiligung von knapp 40 Prozent – sehr deutlich aus. Das klare Ergebnis hatte sich – wenn auch nicht in dieser Deutlichkeit – schon im Vorfeld des Abstimmungssonntags abgezeichnet. Meinungsumfragen von Tamedia und der SRG ergaben Anfang Mai einen Zustimmungswert von 64 Prozent (Tamedia) beziehungsweise 69 Prozent (SRG) für die Frontex-Vorlage, die laut Umfrageinstituten thematisch wenig persönliche Betroffenheit bei den Stimmenden auslöste. Selbst unter Sympathisantinnen und Sympathisanten der SP fand sich – trotz der Nein-Parole der Partei – eine Mehrheit für Annahme der Vorlage und auch bei Personen, die mit den Grünen sympathisierten, wollte eine Mehrheit mit Ja abstimmen. Der Tages-Anzeiger kritisierte nach der Abstimmung die Parteileitungen der SP und der Grünen für ihre unklare Kommunikation. Denn eigentlich seien sie ja nicht gegen die Kooperation mit der EU an und für sich gewesen. Statt mit einer Nein-Parole zu versuchen, die parteiinternen Flügel zu befrieden, hätten sich die beiden Parteien für ein differenziertes Ja mit Kompensationsmassnahmen bei der Flüchtlingsaufnahme einsetzen sollen, so die Empfehlung der Zeitung.
Trotz der hohen Zustimmungsrate wurde das Resultat in den Medien vielfach mit einem kritischen Unterton versehen. So meinte Marie Juillard im Namen der siegreichen Operation Libero gegenüber Le Temps, dass es nach dem Ja nichts zu feiern gebe, denn schliesslich würden Menschen an den Schengengrenzen umkommen. Trotzdem zeigte man sich bei der Operation Libero mit dem Resultat zufrieden, welches die Unterstützung der Schweiz für die Kooperation mit Europa zeige. FDP-Präsident Thierry Burkart (fdp, AG) freute sich derweil über ein klares Ja zur Sicherheit der Schweiz in Zeiten des Ukraine-Kriegs. Ein Nein hätte der Europapolitik der Schweiz geschadet, resümierte Burkart. Sein Parteikollege Damien Cottier (fdp, NE) räumte hingegen ein, dass die Abwägung zwischen Sicherheit und Menschenrechten schwierig gewesen sei. Er drückte jedoch seine Hoffnung aus, dass die Schweiz ihre humanitären Werte den anderen europäischen Staaten vermitteln könne. François Pointet (glp, VD), Mitglied des Vorstands der Grünliberalen Schweiz, verstand das Abstimmungsresultat eher als Zeichen für den Bundesrat, die Blockade in den Beziehungen mit der EU aufzuheben und diese zu intensivieren. Ins gleiche Horn bliesen EU-Botschafter Petros Mavromichalis und der Europaabgeordnete Andreas Schwab, die das Ja als Vertrauensvotum für den Schengenraum und für den Mehrwert der Kooperation mit der EU auffassten. Für Bundesrat Maurer war indes klar, dass das Ja der Stimmbevölkerung ein Ja zur Sicherheit gewesen sei. Das Land werde Frontex stärker unterstützen und sich für die Grundrechte einsetzen, zitierte ihn La Liberté.
Die Gegnerinnen und Gegner der Vorlage, darunter die Schweizer Flüchtlingshilfe, die Grünen und die SP, forderten im Nachgang der Abstimmung, dass sich die Schweiz für mehr Transparenz und demokratische Kontrolle einsetzen müsse. Sibel Arslan (basta, BS) bemängelte, dass die Schweiz seit zehn Jahren im Frontex-Verwaltungsrat sitze, ohne sich für diese Anliegen einzusetzen. Ada Marra (sp, VD) kündigte an, dass auch die SP mehr Transparenz vom Bundesrat in Sachen Frontex verlangen werde. Die grüne Ständerätin Lisa Mazzone (gp, GE) störte sich gegenüber 24heures hingegen daran, dass der Bundesrat die Abstimmung auf die Schengen-Frage reduziert habe, obwohl die Gegnerschaft der Vorlage nie aus dem Schengen-Abkommen habe aussteigen wollen. Sie monierte, dass die Auswirkungen eines Neins von den Befürwortenden der Vorlage übertrieben dargestellt worden seien. Auch La Liberté kritisierte den Bundesrat für dessen Rolle im Abstimmungskampf: Medienanfragen seien oft negativ beantwortet worden und das Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit habe sogar einen bereits genehmigten Artikel von Le Temps zensieren lassen.
Amnesty International verlangte vom Bundesrat, sich gegenüber Frontex für die Sicherheit von Geflüchteten einzusetzen, illegale Abschiebungen zu verurteilen und Mechanismen einzuführen, um Frontex zur Rechenschaft ziehen zu können, berichtete Le Temps. Daniel Graf, der das Referendum durch seine Stiftung für direkte Demokratie unterstützt und bei der Unterschriftensammlung mit seinem Netzwerk «wecollect» mitgewirkt hatte, sprach gegenüber dem Blick trotz der Niederlage von einem Erfolg. Die Schweizerinnen und Schweizer hätten als einzige Bevölkerung Europas zum Ausbau der Frontex-Agentur Stellung nehmen können.


Abstimmung vom 15. Mai 2022

Beteiligung: 39.98%
Ja: 1'523'005 (71.5%), (Stände 23)
Nein: 607'673 (28.5%), (Stände 0)

Parolen:
- Ja: EVP, FDP, GLP, Lega, Mitte, SVP (1*), Economiesuisse, Konferenz der Kantonsregierungen, Schweizerischer Arbeitgeberverband, Schweizerischer Gewerbeverband, TravailSuisse, Operation Libero, Europäische Bewegung Schweiz, IG Agrarstandort Schweiz, Interpharma, Swissmem, Gastrosuisse, Schweizer Tourismus-Verband, Allianz Sicherheit Schweiz
- Nein: SP (4*), GPS, EDU (2*), GPS, PdA, SD, Schweizerischer Gewerkschaftsbund, VPOD, Migrant Solidarity Network, Gruppe für eine Schweiz ohne Armee, Flüchtlingsparlament Schweiz, Caritas, SolidaritéS, BastA!, Demokratische Juristinnen und Juristen der Schweiz, Klimastreik Schweiz, Piratenpartei Ensemble à Gauche
- Stimmfreigabe: Schweizerische Flüchtlingshilfe, verschiedene SP-Kantonalparteien (AI, AR, GL, JU, SZ)
* Anzahl abweichende Kantonalsektionen in Klammern

Übernahme und Umsetzung der Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Europäische Grenz- und Küstenwache (Frontex; BRG 20.064)
Dossier: Beteiligung der Schweiz am Ausbau von Frontex

Der Abstimmungskampf zum Referendum gegen den Ausbau des Schweizer Beitrags an die EU-Grenzschutzagentur Frontex wurde in der Westschweizer Öffentlichkeit schon im Januar 2022 lanciert, noch bevor das Referendum zustande gekommen war. In einem Meinungsbeitrag in Le Temps beschrieben Ständerätin Lisa Mazzone (gp, GE) und eine Flüchtlingshelferin die Zustände auf dem Mittelmeer und in Libyen und wiesen vor allem auf die Menschenrechtsverletzungen durch Frontex hin. Wenige Tage darauf meldete sich FDP-Ständerat Damian Müller (fdp, LU) im gleichen Medium zu Wort und kritisierte seine Ratskollegin dafür, in ihrem Beitrag keine Alternativen anzubieten und stattdessen Frontex kategorisch abzulehnen. Er argumentierte überdies, dass fehlende Mittel für Frontex dazu führen könnten, dass es in Europa und der Schweiz zu einer Explosion «irregulärer Überfahrten» von Wirtschaftsmigrantinnen und -migranten kommen würde. Der Frontex-Beitrag sei essentiell, um ein Mindestmass an Kontrolle der Migrationsströme sicherzustellen. Zudem brauche man darüber hinaus eine verstärkte Entwicklungshilfe in den Ursprungsländern der Flüchtenden in Kombination mit besseren Grenzkontrollen durch die Nachbarländer Libyens.

Die deutschsprachigen Medien griffen das Thema erst im Februar grossflächig auf, nachdem das Referendumskomitee am 20. Januar knapp 58'360 Unterschriften – davon 54'377 gültige – eingereicht hatte. Diskutiert wurde in den Medien insbesondere über mögliche interne Konflikte innerhalb der SP und der SVP. Bei der SP orteten die Medien einen Widerspruch zwischen der Ablehnung von Frontex und dem Wunsch nach Beibehaltung des Schengen-Abkommens, bei der SVP hingegen zwischen dem parteilichen Ziel einer restriktiven Migrationspolitik, und somit der Unterstützung von Frontex, bei gleichzeitiger Ablehnung aller Arten von EU-Verträgen. Der Blick sah die «Linke» gar in der «EU-Falle» sitzen, da die Schweiz bei einem Nein nicht nur aus dem Schengen-Dublin-System ausgeschlossen würde, sondern sich in diesem Fall auch die bilateralen Beziehungen mit der EU dramatisch verschlechtern würden. Dabei waren die Auswirkungen einer Ablehnung auf den Verbleib im Schengen-Raum jedoch umstritten. Gemäss EJPD-Vorsteherin Karin Keller-Sutter würde durch ein Nein zum Frontex-Ausbau ein Beendigungsverfahren für das Schengen-Abkommen ausgelöst, welches bei einer fehlenden Einigung nach sechs Monaten den Ausschluss der Schweiz aus Schengen/Dublin zur Folge hätte. Dieser Einschätzung widersprach jedoch der emeritierte Rechtsprofessor Rainer J. Schweizer in der NZZ. Demnach könne der Ausschluss der Schweiz aus Schengen/Dublin nicht gemäss der Guillotineklausel von 2004 vonstatten gehen, da die Schweiz seither rund 370 Rechtsakte der EU übernommen habe. Dies würde folglich einen umfassenden Austrittsvertrag nach dem Vorbild des Brexit-Vertrags vonnöten machen. Dieser Meinung schloss sich die SP (sowie auch die Grünen) an. Ergänzend präsentierte etwa SP-Ständerat Daniel Jositsch (sp, ZH) einen Plan B in Form einer parlamentarischen Initiative, falls die Schweizer Stimmbevölkerung den Frontex-Ausbau tatsächlich ablehnen sollte. Darin schlug er vor, das Schweizer Kontingent der von der UNO anerkannten Flüchtlinge innerhalb der 90 Tage bis zum Schengen-Ausschluss auf 4'000 zu erhöhen, sozusagen als humanitäre flankierende Massnahme zum Frontex-Ausbau. Da die SP die Unterstützung an den Frontex-Ausbau an diese Bedingung gekoppelt hatte, könnte die Schweiz nach der Aushandlung dieser Erhöhung den Frontex-Beitrag dann trotzdem freigeben.
Die Nein-Parole beschloss die SP an ihrem Parteitag mit grosser Mehrheit, wenngleich einzelne Parteiexponentinnen und -exponenten wie Nationalrat Eric Nussbaumer (sp, BL) sich nur halbherzig anschliessen mochten. In den Befragungen im Vorfeld der Abstimmung zeichnete sich jedoch eine SP-interne Spaltung ab: Die Sympathisierenden der SP wollten der Vorlage gemäss einer Ende April durchgeführten Tamedia-Vorumfrage entgegen dem Kurs des Parteipräsidiums und des Parteitags mit fast 53 Prozent zustimmen. Ähnliches spielte sich bei den Grünen ab, bei denen 48 Prozent der Sympathisierenden trotz Nein-Parole der Partei eine Ja-Stimme in Aussicht stellten, wogegen 44 Prozent der Parteileitung zu folgen gedachten. Auch bei den traditionell SP-nahen Organisationen zeigten sich die Auswirkungen dieses inhaltlichen Dilemmas, wie CH Media berichtete. Obwohl das Sekretariat des Gewerkschaftsbundes seinem Vorstand und den Mitgliedern in einem internen Papier Stimmfreigabe vorgeschlagen hatte, da «ein Interessenkonflikt zwischen einer menschenwürdigen europäischen Flüchtlingspolitik und der Personenfreizügigkeit im Rahmen von Schengen» vorliege, beschloss der SGB-Vorstand die Nein-Parole. Hingegen entschied sich der Gewerkschaftsbund gemäss Mediensprecher Gaillard jedoch dagegen, den Abstimmungskampf des Referendumskomitees mitzufinanzieren. Auch andere NGOs wie die SFH, die traditionell die Anliegen der SP unterstützten, taten sich mit der Parolenfassung schwer. SFH-Direktorin Miriam Behrens befürchtete, dass die Schweiz bei einem Nein nicht mehr an der Verbesserung der europäischen Migrationspolitik mitwirken könnte. Andererseits könnte der Ausbau der EU-Agentur die Kontrolle der Mitgliedstaaten erschweren, in deren Kompetenzbereich die meisten Verstösse fielen. Amnesty International verzichtete darauf, sich am Abstimmungskampf zu beteiligen, da die im Referendum betroffenen Bestimmungen nicht die konkreten Bedingungen von Schutzsuchenden oder die Verteidigung der Menschenrechte beträfen.

Am anderen Ende des politischen Spektrums hatte die SVP ebenfalls mit der Beschlussfassung zu kämpfen. Obwohl die Vorlage zum Ausbau des Schweizer Beitrags an Frontex aus dem Departement von SVP-Bundesrat Ueli Maurer stammte, lehnten sie mehrere einflussreiche SVP-Mitglieder von Anfang an ab, darunter Esther Friedli (svp, SG), Lukas Reimann (svp, SG), Marcel Dettling (svp, SZ)) und Marco Chiesa (svp, TI), oder wechselten nach der parlamentarischen Phase aus dem Ja- ins Nein-Lager (Céline Amaudruz (svp, GE) und Roger Köppel (svp, ZH)). Die Südostschweiz berichtete, dass sich die Parteibasis eine Nein-Parole wünsche, was eine unheilige Allianz mit der SP und den Grünen bedeuten würde. Die Vertreterinnen und Vertreter des Nein-Lagers innerhalb der SVP wollten die Gelder lieber an der eigenen Grenze investieren, als diese der Frontex, deren Nutzlosigkeit sich gezeigt habe, zur Verfügung zu stellen. Die Befürworterinnen und Befürworter setzten sich hingegen für mehr Grenzschutz an den EU-Aussengrenzen und weniger «illegale Migration» ein. Es lag daher an der neunköpfigen Parteileitung, eine Empfehlung auszuarbeiten, deren Mitglieder hatten in der Schlussabstimmung im Parlament aber unterschiedliche Positionen vertreten. Die Partei beschloss schliesslich Anfang April 2022 die Ja-Parole und folgte damit nicht zuletzt der Empfehlung ihres verantwortlichen Bundesrats Ueli Maurer.
Bei der Parolenfassung weniger schwer taten sich die Mitte und die FDP, deren Delegiertenversammlungen im Januar (Mitte) und Februar (FDP) klare Ja-Parolen ausgaben.

Mitte März trat erstmals das Referendumskomitee «No Frontex» an die Öffentlichkeit. Das Komitee lehnte nicht nur die Erhöhung des Beitrags, sondern die Grenzschutzagentur als Ganzes ab, weil diese «ohne jegliche demokratische Kontrolle der Mitgliedstaaten» agiere, berichtete die Tribune de Genève. Mitte April versuchten die Frontex-Gegnerinnen und -Gegner mit Demonstrationen und anderen öffentlichen Anlässen, die Stimmbevölkerung für die Thematik zu sensibilisieren.

In der Folge äusserten sich aber auch zahlreiche Befürworterinnen und Befürworter öffentlich zu Wort. Während sich die Frontex-Gegnerinnen und -Gegner auf humanitäre Argumente stützten, wandten sich Wirtschaftsorganisationen mit ökonomischen Bedenken an die Öffentlichkeit. So gründete der Tourismussektor im April ein Ja-Komitee, da dieser bei einer Ablehnung der Vorlage den Ausschluss aus dem Schengen-Visa-Raum befürchtete. Dadurch bräuchten Touristen aus Fernmärkten ein separates Visum für einen Aufenthalt in der Schweiz, was die Attraktivität einer Schweiz-Reise drastisch senken würde, begründete STV-Direktor Philipp Niederberger die Ängste der Branche. Hotelleriesuisse rechnete mit Einbussen von bis zu CHF 188 Mio. pro Jahr und der Bundesrat erwartete jährliche Ausfälle von jährlich maximal CHF 500 Mio. Franken für den Schweizer Tourismus. Doch nicht nur wirtschaftliche Bedenken wurden vorgebracht, KKJPD-Präsident Fredy Fässler (sp, SG) warnte davor, bei einem Nein zum Frontex-Beitrag vom Sicherheitssystem der EU abgehängt zu werden, was für die Polizeiarbeit hochproblematisch wäre.

Ebenfalls im April, also knapp einen Monat vor der Abstimmung, wurde bekannt, dass OLAF – die Antibetrugsbehörde der EU – in einem geheimen Bericht mehrfache Verfehlungen durch Frontex-Verwaltungsräte festgestellt hatte. Die Frontex-Spitze um Direktor Fabrice Leggeri sei demnach in Mobbing und illegale Pushbacks – also in illegale Ausweisungen oder Rückschiebungen von Migrantinnen und Migranten unmittelbar vor oder nach dem Grenzübertritt, ohne dass diese die Möglichkeit hatten, einen Asylantrag zu stellen – verwickelt gewesen. Nach Veröffentlichung dieser Vorwürfe verweigerte der Haushaltsausschuss des EU-Parlaments Frontex die Décharge. Auch der Vorsitzende des Frontex-Verwaltungsrats, Marko Gasperlin, gab in einem Blick-Interview zu Protokoll, dass in bestimmten Fällen «absolut falsch gehandelt» worden sei, auch wenn das Frontex-System im Grossen und Ganzen funktioniere. Zwei Wochen vor dem Abstimmungstermin bat der umstrittene Frontex-Chef Fabrice Leggeri seinen Rücktritt an, der vom Verwaltungsrat gleichentags akzeptiert wurde. Leggeri wurde nicht nur für die zahlreichen nachgewiesenen Pushbacks verantwortlich gemacht, er wurde auch des Missmanagements und des Mobbings bezichtigt. Unklar war, wie sich diese Nachricht auf die Volksabstimmung auswirken würde. Einerseits bestätige der Rücktritt die Kritik an der Grenzagentur, andererseits sei er Zeugnis einer gewissen Reformbereitschaft, argumentierte der Tages-Anzeiger. Letzterer Interpretation schloss sich das EFD an. Eine Sprecherin erklärte, dass Frontex nun das angeschlagene Vertrauen zurückgewinnen könne und dass sich gezeigt habe, dass die Aufsichtsmechanismen funktionierten.

Eine Tamedia-Meinungsumfrage vom 4. Mai machte jeglichen Anflug von Spannung hinsichtlich des Ausgangs der Abstimmung zunichte, denn eine grosse Mehrheit der Befragten (64%) wollte ein Ja an der Urne einlegen. Auf eine deutliche Annahme der Vorlage am 15. Mai deuteten nicht nur die Meinungsumfragen, sondern auch die Auswertung der Zeitungs- und Inserateanalyse von Année Politique Suisse hin. Während das Ja-Lager in den untersuchten Printmedien rund 120 Inserate publizieren liess, fand quasi keine Gegenkampagne statt (ein einzelnes Kontra-Inserat während der ganzen Untersuchungsperiode). Die Pro-Inserate warnten vor allem davor, dass ein Nein die Sicherheit der Schweiz, die Reisefreiheit und die Schweizer Wirtschaft bedrohen würde. Einen direkten Zusammenhang zum oftmals genannten Ausschluss der Schweiz aus Schengen/Dublin machten nur 35 Prozent der Inserate, also deutlich weniger als drei Jahre zuvor beim Referendum zur Umsetzung der EU-Waffenrichtlinie.

Übernahme und Umsetzung der Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Europäische Grenz- und Küstenwache (Frontex; BRG 20.064)
Dossier: Beteiligung der Schweiz am Ausbau von Frontex

Mit insgesamt neun im Jahr 2021 lancierten Vorstössen verlangte die SVP-Fraktion verstärkte «Massnahmen gegen die illegale Migration». Im April 2022 behandelte die SPK-NR zwei parlamentarische Initiativen aus dieser Serie. Mit 13 zu 8 Stimmen lehnte sie die erste parlamentarische Initiative ab, die die Aufhebung der Versicherungspflicht für Sans-Papiers forderte. Die SVP-Fraktion argumentierte, dass es aufgrund der «Rechtswidrigkeit ihres Aufenthalt[s] [...] stossend» sei, die Allgemeinheit für die Versicherungskosten von Sans-Papiers aufkommen zu lassen. Durch die Versicherungspflicht werde der Aufenthalt von Sans-Papiers zudem noch legitimiert, so die Volkspartei. Bei einem Wegfall der Versicherungspflicht müssten die Gesundheitskosten von den Gemeinden und Kantonen finanziert werden, was nur konsequent sei, da diese den Aufenthalt der betreffenden Personen duldeten. Die Mehrheit der Kommission erachtete die Situation von Personen ohne Aufenthaltsbewilligung als «unbefriedigend»; ihr erschien die vorgeschlagene Massnahme jedoch nicht als geeignet, um diese unbefriedigende Situation zu verbessern. Mit ebendieser Argumentation gab sie auch der zweiten parlamentarischen Initiative in der oben erwähnten Serie keine Folge (Pa.Iv. 21.446). Noch ausstehend ist die Erstberatung der verbleibenden sieben Vorstösse – allesamt Motionen – durch den Nationalrat.

Keine Versicherungspflicht für Sans Papiers (Pa.Iv. 21.445)

Mit insgesamt neun im Jahr 2021 lancierten Vorstössen verlangte die SVP-Fraktion verstärkte «Massnahmen gegen die illegale Migration». Im April 2022 behandelte die SPK-NR zwei parlamentarische Initiativen aus dieser Serie. Dabei lehnte sie die Forderung, dass wesentliche Vertragsabschlüsse nur noch bei Vorliegen einer Wohnsitzbestätigung möglich sein sollen, mit 16 zu 7 Stimmen ab. Die Annahme der Forderung der SVP würde dazu führen, dass etwa der Abschluss eines Mietvertrags, einer Unfall- oder Fahrzeugversicherung oder auch eines Mobilfunkvertrags für Sans-Papiers erheblich erschwert würde. Die Mehrheit der Kommission erachtete die Situation von Personen ohne Aufenthaltsbewilligung als «unbefriedigend»; ihr erschien die vorgeschlagene Massnahme jedoch nicht als geeignet, «um diese Problematik anzugehen». Mit ebendieser Argumentation gab sie am selben Tag auch der zweiten parlamentarischen Initiative in der oben erwähnten Serie keine Folge (Pa.Iv. 21.445).

Massnahmen gegen Sans-Papiers: Wesentliche Vertragsabschlüsse nur mit Wohnsitzbestätigung (Pa.Iv. 21.446)

Anders als die SPK-SR wollte die SPK-NR einer Standesinitiative des Kantons Basel-Stadt, die verlangte, dass die Schweiz zusätzliche, in Griechenland gestrandete, besonders schutzbedürftige Personen aufnehme, mit 14 zu 8 Stimmen keine Folge geben. Sie argumentierte dabei gleich wie bei der zeitgleich gefassten ablehnenden Entscheidung zu einer parlamentarischen Initiative der Grünen Fraktion (Pa.Iv. 21.519): Für eine solche Lösung müssten Kantone und Gemeinden einbezogen werden, was «äusserst komplex wäre und im Widerspruch zum aktuellen System stünde».

Aufnahme von Menschen aus Griechenland und Auslastung der Asylzentren (Kt.Iv. 21.310)
Dossier: Dublin-Verordnung

Im Ständerat, der sich in der Frühjahrssession 2022 als Zweitrat mit der Übernahme der EU-Verordnung 2020/493 über das System FADO (False and Authentic Documents Online) auseinandersetzte, war Eintreten unbestritten. Wie der Nationalrat war auch die ständerätliche Rechtskommission der Ansicht, dass der Bundesrat nicht selbstständig neue Staatsverträge mit Änderungen der Zugriffsrechte auf FADO abschliessen können soll. Der vollständige Kompetenzentzug, den der Nationalrat vorgenommen hatte, ging der RK-SR allerdings zu weit. Sie beantragte ihrem Rat eine Kompromisslösung, wonach der Bundesrat geringfügige Änderungen der Zugangsrechte auf dem Verordnungsweg umsetzen kann, dem Parlament aber gleichzeitig eine Botschaft zur Gesetzesänderung vorlegen muss. Bundesrätin Karin Keller-Sutter begrüsste diesen Vorschlag und erklärte, der Bundesrat halte nicht an seiner Version fest. Der Ständerat stimmte dieser Änderung stillschweigend zu und nahm den Entwurf einstimmig an.
Die Mehrheit der RK-NR präzisierte daraufhin, dass der Bundesrat auf dem beschriebenen Weg nicht nur geringfügige Änderungen der Zugriffsrechte vornehmen, sondern auch ein begrenztes Zugriffsrecht für Unternehmen, die in der Luftfahrt tätig sind, festlegen können soll. Eine SVP-Minderheit war jedoch der Ansicht, dass letzteres eine substanzielle Änderung sei, die nicht über den Verordnungsweg vorgenommen werden dürfe, und beantragte Zustimmung zur ständerätlichen Fassung. Der Nationalrat stimmte mit 112 zu 37 Stimmen für den Mehrheitsvorschlag, der auch im Sinne des Bundesrates sei, wie die Justizministerin versicherte. Nachdem auch der Ständerat diesem Vorschlag stillschweigend zugestimmt hatte, kam der Entwurf noch in der Frühjahrssession 2022 in die Schlussabstimmungen. Während ihn die kleine Kammer einstimmig (bei einer Enthaltung) verabschiedete, hiess ihn der Nationalrat mit 147 zu 12 Stimmen bei 32 Enthaltungen gut. Die ablehnenden Stimmen stammten aus der SVP-Fraktion, die in der Differenzbereinigung mit ihrer Position zu den bundesrätlichen Kompetenzen unterlegen war. Demgegenüber war es die Grüne Fraktion, die sich geschlossen der Stimme enthielt, ebenso wie drei Mitglieder der SP-Fraktion. Das links-grüne Lager hatte in der Eintretensdebatte harsche Kritik daran geäussert, dass die EU-Verordnung das System FADO in die Verantwortlichkeit der umstrittenen Grenzschutz-Agentur Frontex überträgt.

Übernahme und Umsetzung der Verordnung über das System FADO (BRG 21.036)

Zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie und zum gesundheitlichen Schutz von Personen ohne rechtlich geregelten Aufenthaltsstatus verlangte Stefania Prezioso Batou (egsols, GE) in einer im Mai 2020 eingereichten Motion die generelle Legalisierung von Sans-Papiers. Die Genfer Nationalrätin befürchtete, dass sich Sans-Papiers bei Erkrankungen nicht in Gesundheitseinrichtungen wagen würden, da sie Angst hätten, denunziert und ausgewiesen zu werden. Ebenfalls würde eine Legalisierung dieser Personengruppe auch Zugang zur Sozialhilfe verschaffen, was in Zeiten einer «Wirtschafts- und Gesellschaftskrise» besonders wichtig sei. Der Bundesrat stellte sich ablehnend zum Anliegen. Zum einen befürchtete er eine Sogwirkung durch eine «kollektive Regularisierung» und zum anderen vertrat er die Ansicht, dass die bestehenden Bestimmungen und Massnahmen im Sozial- und Gesundheitsbereich ausreichten. Ferner verwies er auf den in Erfüllung eines Postulats der SPK-NR zu erstellenden Bericht, der unter anderem Lösungswege betreffend Sozialversicherungsansprüche von Sans-Papiers aufzeigen soll. In der Frühjahrssession 2022 teilte die Mehrheit des Nationalrats die Ansicht der Regierung und lehnte die Motion mit 127 zu 63 Stimmen ab. Das Anliegen wurde lediglich von den geschlossen stimmenden Fraktionen der SP und der Grünen befürwortet.

Generelle Legalisierung von Sans-Papiers und garantierter Zugang zu Sozialhilfe für die ganze Bevölkerung (Mo. 20.3339)

In der Frühjahrssession 2022 nahm der Ständerat Kenntnis vom Aussenpolitischen Bericht 2021. Im Mittelpunkt des Berichts stand die Europapolitik der Schweiz mit dem Schwerpunkt des institutionellen Rahmenabkommens. Darüber hinaus gab er eine Übersicht über die aussenpolitischen Aktivitäten in Umsetzung der Aussenpolitischen Strategie 2020-2023. Zu Beginn lieferte der Bericht eine Einschätzung der geopolitischen Entwicklungen und hielt fest, dass der Abzug der US-amerikanischen Truppen aus Afghanistan – der die Evakuation des Schweizer Kooperationsbüros nötig gemacht hatte – eine Zeitenwende markiere, wobei sich die USA von der Terrorbekämpfung abwenden und sich stattdessen auf ihre Beziehungen mit rivalisierenden Grossmächten wie China konzentrieren würden. Durch die zunehmenden Spannungen zwischen den Grossmächten hätten auch die Guten Dienste und die Gaststaatrolle der Schweiz an Bedeutung gewonnen. Als Beispiel nannte der Bericht das Treffen zwischen US-Präsident Joe Biden und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in Genf, sowie die Vorbereitung zahlreicher Friedensprozesse, unter anderem jenen für Libyen.
Zudem sei es gelungen, im Bereich der Aussenpolitik mehr Kohärenz zwischen den verschiedenen Departementen herzustellen. Mit der Veröffentlichung der geografischen Folgestrategien Sub-Sahara-Afrika 2021-2024 und China 2021-2024 wurde die zweite Ebene der aussenpolitischen Strategie ausgebaut.
Im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit, die durch die IZA-Strategie 2021-2024 definiert wird, dominierten im Berichtsjahr die Folgen der Covid-19-Pandemie. Die Schweiz beteiligte sich unter anderem an der Entlastung der Gesundheitssysteme durch finanzielle und medizinische Hilfslieferungen, beispielsweise durch die zusätzlichen Kredite in Höhe von CHF 226 Mio. zugunsten der multilateralen Initiative «Access to Covid-19 Tools Accelerator». In Erfüllung der Strategie Digitalaussenpolitik 2021-2024 wurde der Wissenschaftsdiplomatie eine grössere Rolle in der Schweizer Aussenpolitik eingeräumt. Die 2019 gegründete GESDA konnte im Berichtsjahr erstmals eine grössere Veranstaltung durchführen und trug damit zum Ziel der Strategie bei, brückenbauend an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik zu wirken.
Ein wichtiges Ziel der Legislaturplanung des Bundesrats 2019-2023 bestand in der Sicherstellung geregelter Beziehungen mit der EU. Aufgrund des Abbruchs der Verhandlungen über das InstA widmete sich das Schwerpunktkapitel den bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU. Der Bundesrat bekräftigte seinen Willen, den bilateralen Weg fortzuführen und legte dar, welche zusätzlichen Massnahmen zur Umsetzung des Legislaturziels ergriffen werden müssen. Um die Beziehungen zur EU zu verbessern und die Zusammenarbeit zu stärken, wurden verschiedene Massnahmen beschlossen, darunter die Freigabe der Rahmenkredite Kohäsion und Migration und die Aufnahme eines strukturierten politischen Dialogs. In vielen Bereichen zeigte sich 2021 jedoch keine Verbesserung oder gar eine Verschlechterung der bilateralen Beziehungen. So wurden bei den Assoziierungen an das Horizon-Paket 2021-2027 und Erasmus+ keine Fortschritte erzielt, das Stromabkommen mit der EU rückte nach dem Aus des Rahmenabkommens in weite Ferne und die fehlende Aktualisierung des MRA im Bereich der Medizinprodukte zwang den Bundesrat dazu, Massnahmen zur Gewährleistung der Versorgung mit sicheren Medizinprodukten zu erlassen. Trotz der schwierigen Beziehungen band sich die Schweiz auch im Berichtsjahr in verschiedenen Sektoren enger an die EU. Unter anderem beschäftigte sich eine interdepartementale Arbeitsgruppe mit dem von der EU vorgesehenen CO2-Grenzausgleichsmechanismus, das Abkommen über Zollerleichterungen und Zollsicherheit wurde aktualisiert und das Parlament genehmigte die Übernahme weiterer Teile des Schengen-Besitzstands. Zudem wurde die Beteiligung an der Prümer Zusammenarbeit, die wichtig für die polizeiliche Kooperation innerhalb Europas ist, im Parlament angenommen.
Der Bericht bilanzierte, dass die Umsetzung der Aussenpolitischen Strategie 2020-2023 in Bezug auf die Beziehungen zur EU einen Rückschlag erlitten habe. Anderweitig verlaufe die Implementation der Strategie trotz der Pandemie aber zufriedenstellend. Im anstehenden Jahr wolle sich die Schweiz für einen wirksamen Multilateralismus einsetzen, wenn möglich als Mitglied des UNO-Sicherheitsrats. Zwei wichtige Anlässe zu diesem Thema fänden 2022 in der Schweiz statt, einerseits das «International Cooperation Forum Switzerland», andererseits die fünfte Ukraine-Reformkonferenz.

Aussenpolitischer Bericht 2021
Dossier: Aussenpolitische Berichte (ab 2009)

Im Februar 2022 beantragte die SPK-NR mit 17 zu 7 Stimmen, einer parlamentarischen Initiative von Jean-Luc Addor (svp, VS) keine Folge zu geben. Addor wollte mit der Initiative den Flüchtlingsbegriff dahingehend ändern, dass nur noch Personen als Flüchtlinge anerkannt werden, die bei der Anreise keinen sicheren Staat passiert haben. Er vertrat die Ansicht, dass Asylsuchende im anderen Fall die Chance gehabt hätten, in einem sicheren Staat einen Antrag auf Asyl zu stellen, sich aber aus wirtschaftlichen Gründen für die Weiterreise entschieden hätten. Für einen Binnenstaat wie die Schweiz würde eine entsprechende Regelung demzufolge wohl nur noch Personen als Flüchtlinge anerkennen, welche die Schweiz im Flugzeug aus einem unsicheren Staat erreichten. In ihrer Begründung gab die Kommissionsmehrheit an, dass sie durch eine solche Regelung die humanitäre Tradition der Schweiz sowie die Vereinbarkeit mit völkerrechtlichen Bestimmungen und Schengen/Dublin in Gefahr sehe.

Asylsuchende, die ein sicheres Land durchqueren, sollen nicht als Flüchtlinge gelten (Pa.Iv. 21.420)

Da die geplanten Gespräche in Wien Ende Januar 2022 aufgrund einer Covid-Infektion von Karl Nehammer nicht hatten stattfinden können, empfingen Bundespräsident Cassis und Bundesrätin Keller-Sutter den österreichischen Bundeskanzler stattdessen Mitte Februar im aargauischen Zofingen zum Staatsbesuch. Der Besuch stellte bereits das dritte hochrangige Treffen zwischen der Schweiz und Österreich im Jahr 2022 dar, was den Wunsch der Nachbarländer zeige, ihre Beziehungen weiter zu stärken, wie das EDA mitteilte. Im Zentrum des Besuchs standen Gespräche zur Umsetzung der Strategischen Partnerschaft zwischen der Schweiz und Österreich, die Bekämpfung der Covid-19-Pandemie, die Beziehungen der Schweiz zur EU und die Zusammenarbeit mit Österreich im Westbalkan, sowie die Lage in Osteuropa. Da auch Justizministerin Keller-Sutter anwesend war, wurden ebenso die Reform der Schengen/Dublin-Systeme, sowie die bilaterale Kooperation in den Bereichen Migration und Sicherheit besprochen.

Staatsbesuch des österreichischen Bundeskanzlers Nehammer

Im Februar 2022 gab die SPK-SR einer Standesinitiative des Kantons Basel-Stadt Folge, die forderte, dem mit schutzsuchenden Personen überlasteten Griechenland unter die Arme zu greifen und auf den griechischen Inseln gestrandete Personen aufzunehmen, damit ihnen in der Schweiz ein ordentliches Asylverfahren gewährt werden kann. Dazu verlangte die Standesinitiative, die Kapazitäten der Bundesasylzentren und der kantonalen Asylzentren vollständig auszulasten. Ferner soll der Bundesrat andere europäische Staaten auffordern, dem Beispiel der Schweiz zu folgen. Bis zum gegebenen Zeitpunkt hatten sich die Länder der EU nicht auf einen gemeinsamen Verteilschlüssel einigen können; die EU hatte lediglich die Aufstockung des Frontex-Personals an der EU-Aussengrenze beschlossen. Zur Begründung seines Anliegens fand der Kanton Basel-Stadt für die aktuelle Situation unter anderem folgende deutliche Worte: «Das System Dublin ist nicht funktionsfähig, der griechische Staat nicht fähig, die Asylgesuche in sinnvoller Zeit zu bewältigen. Die Situation ist eine absolute humanitäre Katastrophe und der Geschichte des europäischen Kontinents nicht würdig.» Der Entscheid zugunsten der Standesinitiative fiel in der Kommission mit 3 zu 3 Stimmen und Stichentscheid des Kommissionspräsidenten Mathias Zopfi (gp, GL) denkbar knapp aus. Basel-Stadt hatte sich zuvor bereits bei «evakuierenJETZT» und der Allianz «Städte und Gemeinden für die Aufnahme von zusätzlichen Flüchtlingen» engagiert und sich zur Aufnahme weiterer Geflüchteter bereit erklärt. Die Kommission vertrat denn auch die Ansicht, dass den Forderungen der Städte mehr Gewicht beigemessen werden soll, da sich diese oftmals willig zeigten, zusätzliche Flüchtlinge aufzunehmen.

Aufnahme von Menschen aus Griechenland und Auslastung der Asylzentren (Kt.Iv. 21.310)
Dossier: Dublin-Verordnung