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Rückblick auf die 51. Legislatur: Institutionen und Volksrechte

Autorinnen und Autoren: Marc Bühlmann und Marlène Gerber

Stand: 17.08.2023

Auf dem Prüfstand befanden sich die Institutionen in der 51. Legislatur vor allem wegen der Covid-19- Pandemie, was sich nicht zuletzt in den Voten zur Erklärung des Bundesrates zur Corona-Pandemie – insgesamt das am viertlängsten diskutierte Geschäft in diesem Themenbereich – zeigte. Viel diskutiert wurden in der Folge auch die Konsequenzen des Ausrufens der ausserordentlichen Lage und der Anwendung von Notrecht für das Machtgefüge zwischen der Exekutive und der Legislative. Der Abbruch der Frühjahrssession 2020 durch das Parlament wurde ebenfalls als Indiz dafür gewertet, dass das Parlament krisenresistenter werden sollte, was mit einer Vielzahl von parlamentarischen Geschäften denn auch angestrebt wurde. Zwei parlamentarische Initiativen der SPK-NR, die diese Ideen bündelten und die Handlungsfähigkeit des Parlaments in Krisensituationen verbessern wollten sowie mehr Kontrolle des bundesrätlichen Notrechts verlangten, wurden ausführlich debattiert, aber weniger umfassend umgesetzt, als von zahlreichen Vorstössen gefordert. Auch für die Volksrechte blieb die Pandemie nicht ohne Folgen: So beschloss der Bundesrat die Verschiebung eines Abstimmungstermins, den Fristenstillstand und Erleichterung bei Unterschriftensammlungen.

Die ausführlichsten Diskussionen (gemessen an der Anzahl Wörter) im Themenbereich «Institutionen und Volksrechte» führte das Parlament über die Legislaturplanung 2019-2023, wobei weniger die vom Bundesrat verfasste Bilanz zur vergangenen Legislatur oder die Leitlinien für die neue Legislatur im Zentrum standen als die Frage, in welcher Form die Legislaturplanung zukünftig diskutiert werden soll. Von grösserer inhaltlicher Relevanz war der ebenfalls breit diskutierte indirekte Gegenvorschlag zur Transparenz-Initiative, der nach erfolgreicher Einigungskonferenz verabschiedet werden konnte. Die damit geschaffenen Regelungen für mehr Transparenz bei der Politikfinanzierung gelten erstmals bei den eidgenössischen Wahlen 2023. Damit trat die Schweiz nicht zuletzt auch der zunehmenden Kritik der Greco an ihrer intransparenten Parteienfinanzierung entgegen.

Ebenfalls bereits von der Greco kritisiert worden war die Judikative respektive der Umstand, dass Schweizer Richterinnen und Richter einer Partei angehören und dieser eine sogenannte Mandatssteuer entrichten müssen. Um die dadurch in Frage gestellte richterliche Unabhängigkeit zu erhöhen, hatte ein Bürgerkomitee im Jahr 2018 die Justiz-Initiative initiiert, gemäss welcher die Bundesrichterinnen und -richter im Losverfahren bestimmt werden sollten. Diese sowie ein schlussendlich verworfener indirekter Gegenvorschlag beschäftigten das Parlament intensiv, bevor die Stimmbevölkerung die Volksinitiative im November 2021 deutlich bachab schickte. Für einige Diskussionen sorgte in der ersten Hälfte der Legislatur auch die Bundesanwaltschaft aufgrund des Rücktritts des Bundesanwalts und der schwierigen Suche nach einer Nachfolgerin oder einem Nachfolger.

Viel Gesprächsstoff im Parlament bargen diverse weitere Geschäfte, deren Beratungen jedoch am Ende wie häufig, wenn es um institutionelle Reformen geht, ergebnislos blieben, so etwa ein obligatorisches Referendum für völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter oder die Stärkung der Geschäftsprüfungskommissionen. Zustande kam hingegen die fünfte parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) der Schweizer Geschichte (siehe Kapitel «Geld, Währung und Kredit»).

Für sehr grosse mediale Aufmerksamkeit sorgten die Bundesratsersatzwahlen 2022, die aufgrund der Rücktritte von Ueli Maurer und Simonetta Sommaruga während der laufenden Legislatur nötig wurden; die Vereinigte Bundesversammlung wählte neu Elisabeth Baume-Schneider und Albert Rösti in die Exekutive. Einiges an Druckerschwärze verursachte auch die Digitalisierung der Demokratie, namentlich «E-Voting»: Nachdem Sicherheitsmängel zu einem Marschhalt gezwungen hatten, wurde Anfang 2023 eine Neuausrichtung des Testbetriebs gestartet.


Zu den Jahresrückblicken:
2020
2021
2022

Rückblick auf die 51. Legislatur: Institutionen und Volksrechte
Dossier: Rückblick auf die 51. Legislatur

Anfang Mai 2023 wurde eine Volksinitiative lanciert, die auf eine Art automatisiertes Amtsenthebungsverfahren abzielt. Konkret verlangt das Begehren, dass alle zwei Jahre eine Bestätigungswahl der Mitglieder der Landesregierung durch die Stimmbevölkerung stattfinden soll. Jeweils im September und zwei Jahre nach einer Wahl eines Bundesratsmitglieds soll laut der Eidgenössischen Volksinitiative «Bestätigung der Bundesrätinnen und Bundesräte durch Volk und Stände» eine obligatorische Abstimmung stattfinden. Bundesrätinnen und Bundesräte, die das Volks- oder das Ständemehr verfehlen, müssten durch die Bundesversammlung mittels Bundesratsersatzwahlen ersetzt werden. Lanciert wurde die Initiative von der Freiheitlichen Bewegung Schweiz (FBS), deren Präsident Richard Koller damit argumentierte, dass die Bevölkerung «zornig» sei. Das Volk sei der «patron» und müsse Bundesratsmitglieder, die ihre Verantwortung nicht wahrnähmen, abwählen können. Koller verwies dabei explizit auf Alain Berset, der während der Covid-19-Pandemie in seinen Augen keinen guten Job gemacht habe. Die Sammelfrist läuft bis zum 16. November 2024.

Eidgenössische Volksinitiative «Bestätigung der Bundesrätinnen und Bundesräte durch Volk und Stände»

Der Bundesrat beantragte der Bundesversammlung im November 2022, die Verfassungsänderungen von sechs Kantonen zu gewährleisten, da sie alle im Einklang mit Bundesrecht stünden.
Mit der Verfassungsänderung im Kanton Zürich wurden verschiedene Klimaschutzbestimmungen aufgenommen. Diese verpflichten den Kanton und die Gemeinden dazu, sich für die Begrenzung des Klimawandels und dessen Auswirkungen einzusetzen sowie das Ziel der Treibhausgasneutralität anzustreben. Konkret sollen dazu in den Bereichen Siedlungsentwicklung, Gebäude, Verkehr, Land- und Forstwirtschaft sowie Industrie und Gewerbe angemessene Massnahmen eingeführt werden. Wie der Bundesrat in seiner Botschaft zum Schluss kommt, gehen diese Bestimmungen in die gleiche Richtung wie die Klimaschutzziele des Bundes. Die Rechtssetzungskompetenzen der Kantone beschränkten sich in diesem Bereich auf Aspekte, die vom Bundesgesetz nicht vollständig ausgeschöpft seien und könnten dieses ergänzen oder verstärken.
Auch der Kanton Glarus verankerte vergleichbare Bestimmungen zur Begrenzung der Klimaveränderung und deren nachteiligen Auswirkungen in der Verfassung. Die Massnahmen haben dabei umwelt-, sozial- und wirtschaftsverträglich zu sein. Eine weitere zu gewährleistende Änderung der Glarner Verfassung sieht vor, dass die Jahresrechnung, der Finanzbericht sowie das Budget künftig dem Landrat und nicht mehr der Landsgemeinde zur Kenntnisnahme vorgelegt werden. Der Landrat wird allerdings nicht mehr wie bisher für die Genehmigung des integrierten Aufgaben- und Finanzplan zuständig sein.
Gemäss der angepassten Verfassung des Kantons Solothurn kann der Kanton auf der Stufe der Volksschule künftig neben sonderpädagogischen Institutionen neu auch weitere kantonale Angebote errichten und führen. Die Einzelheiten werden auf Gesetzesebene geregelt.
Der Kanton Basel-Landschaft führte mit der Verfassungsänderung Anpassungen bei den Modalitäten von Volksinitiativen und bei der Ombudsperson ein. Neu gelte zur Einreichung der Unterschriften für Volksinitiativen eine Frist von zwei Jahren. Weiter können im Landrat zusätzlich zu formulierten Initiativbegehren auch bei nicht-formulierten Begehren Fristverlängerungen zur Ausarbeitung eines Gegenvorschlags gewährt werden. Gegenvorschläge und Gesetzesvorlagen aufgrund zurückgezogener Initiativbegehren unterliegen gemäss den angepassten Verfassungsartikeln nicht mehr in jedem Fall der obligatorischen Volksabstimmung, sondern dem fakultativen Referendum. Betreffend die Ombudsperson werden die Unvereinbarkeiten neu erst auf Gesetzesstufe geregelt, worin die Teilzeitbeschäftigung der gewählten Person vorgesehen werden könne, schreibt der Bundesrat. Nicht zuletzt umfasst die Verfassungsänderung Anpassungen im Sinne der sprachlichen Gleichbehandlung.
Für den Kanton Genf galt es schliesslich drei Verfassungsänderungen zu gewährleisten. Der Kanton regelt erstens die Amtsenthebung eines Staatsratsmitglieds neu: Künftig können Mitglieder der kantonalen Regierung, die nicht mehr über das notwendige Vertrauen der Stimmberechtigten zur Ausübung ihrer Funktion verfügen, mittels Resolution des Grossen Rates des Amts enthoben werden. Zweitens bestehen die Gemeindeexekutiven von Gemeinden mit maximal 3'000 Einwohnenden in Zukunft nicht mehr aus einem Gemeindepräsidium und zwei Adjunkten und Adjunktinnen, sondern aus einem dreiköpfigen administrativen Rat. Drittens und letztens wird die Verteilung und Versorgung mit thermischer Energie sowie deren stärkere Verbreitung zu einem Kantonsmonopol. Diese Koordinierung der Ausdehnung habe das Ziel, die Nutzung fossiler Energie bei der individuellen Heizung zu verringern, geht aus dem revidierten Verfassungsartikel hervor.
Die Abwägung der Bundesrechtskonformität gestaltete sich gemäss Bundesrat bei der Verfassungsänderung des Kanton Wallis schwieriger: Der Staat wird darin einerseits zum Erlassen von Vorschriften zum Schutz vor Grossraubtieren und zur Bestandsregulierung sowie zum Verbot der Förderung des Grossraubtierbestands verpflichtet. Wie in der Botschaft ausgeführt wird, sei diese Verfassungsänderung nur bundesrechtskonform, wenn sich das Verbot der Bestandsförderung auf finanzielle Mittel beschränke, denn der Kanton wäre weiterhin zum Vollzug der vom Bund geförderten Massnahmen verpflichtet. Würden also jegliche Schutzmassnahmen verboten, stünde dies im Widerspruch zum Bundesgesetz, welches die Kantone zum Ergreifen von Massnahmen zur Verhinderung von Wildschaden verpflichte und so zumindest indirekt eine Bestandsförderung darstelle. Die geänderte Kantonsverfassung sei allerdings im Sinne des Günstigkeitsprinzips zu gewährleisten, da dem Artikel mindestens in einer Weise «ein Sinn beigemessen werden [kann], der ihn nicht klarerweise als vor Bundesrecht unzulässig erscheinen lässt», schloss der Bundesrat mit dem expliziten Hinweis darauf, dass die künftige Anwendung der Bestimmungen im Einklang mit höheren Gesetzen erfolgen müsse.

Gewährleistung von Änderungen in den Kantonsverfassungen von Zürich, Glarus, Solothurn, Basel-Landschaft, Wallis und Genf (BRG 22.079)
Dossier: Gewährleistung kantonaler Verfassungen

In schöner Regelmässigkeit (1986, 2004, 2009, 2013) werden Vorstösse deponiert, die die Einführung einer Gesetzesinitiative fordern. Die Urheberinnen und Urheber stammten dabei bereits aus allen politischen Lagern. Im März 2021 kam die Forderung aus dem linken Lager: Gabriela Suter (sp, AG) wollte mit der Einführung des in allen Kantonen verankerten Volksrechts ein «Demokratiemanko beseitigen», wie sie ihren Vorstoss betitelte. Mehr als die Hälfte der eidgenössischen Volksinitiativen hätten den Charakter von Gesetzesinitiativen, da sie Regelungen vorschlügen, die nicht auf Verfassungs-, sondern auf Gesetzesstufe angesiedelt werden müssten. Dies führe dann etwa mit Verweis auf die «Burka-Initiative» dazu, dass die Verfassung «Kleidervorschriften» beinhalte. Die Gesetzesinitiative funktioniere auf kantonaler Ebene seit mehr als 100 Jahren. Freilich müsste diskutiert werden, wie dieses neue direktdemokratische Instrument auf Bundesebene übertragen werden solle, ob also beispielsweise das Ständemehr gelten solle oder nicht. In dieser Phase der parlamentarischen Initiative gehe es aber zuerst einmal darum, den Handlungsbedarf zu bestätigen und den Willen für einen Ausbau der Beteiligungsrechte zu signalisieren, so Suter in der Debatte während der Sommersession 2022.
Die SPK-NR hatte den Vorstoss vor der Session mit 13 zu 9 Stimmen (1 Enthaltung) zur Ablehnung empfohlen. Weil ihm eine starke linke Kommissionsminderheit aber Folge geben wollte, war eine Debatte im Nationalrat nötig geworden. Minderheitssprecherin Samira Marti (sp, BL) betonte, sie könne nicht nachvollziehen, dass die Mehrheit der SPK-NR keinen Handlungsbedarf sehe: Gerade in den letzten Jahren seien so viele Volksinitiativen wie noch nie mit konkreten Regelungen angenommen worden, die «eigentlich nichts in der Verfassung verloren» hätten. Weil die Stimmberechtigten gar keine Möglichkeit hätten, konkrete und konstruktive Ideen einzubringen, aber Reformbedarf bestehe, würden wohl in den nächsten Jahren vermehrt als Volksinitiativen verpackte Gesetzesinitiativen eingereicht werden. Die ablehnende Kommissionsmehrheit wurde von Jean-Luc Addor (svp, VS) und Kurt Fluri (fdp, SO) vertreten. Eine Gesetzesinitiative würde das politische System ziemlich umkrempeln, warnte Addor. Der Stimmbevölkerung obliege die Nachkontrolle von Gesetzen, nicht aber die unmittelbare Gesetzgebung. Fluri zählte mögliche Probleme auf, die sich mit der Einführung dieses neuen Volksrechtes ergäben. So bräuchte es ein Kontrollorgan, das die Verfassungsmässigkeit und die Vereinbarkeit eines Vorschlags mit dem Völkerrecht kontrolliere. Dies sei – wie man bereits bei Volksinitiativen sehe – kein leichtes Unterfangen. Zudem müsste abgeklärt werden, ob ein Vorschlag dem Föderalismusartikel entspreche, ob es sich also tatsächlich um Bundeskompetenzen handeln würde. Die Frage, ob das Ständemehr gelten müsse oder nicht, sei ebenfalls nicht einfach zu beantworten. Die fehlende Verfassungsgerichtsbarkeit, die Rücksichtnahme auf den Föderalismus und die Frage nach dem Ständemehr stellten sich auf kantonaler Ebene nicht, weshalb es eben nicht zulässig sei, die Kantone als Vorbild für eine nationale Gesetzesinitiative ins Feld zu führen.
Mit 119 zu 70 Stimmen (1 Enthaltung) gab die Ratsmehrheit der parlamentarischen Initiative keine Folge. Damit ereilte den Vorstoss das gleiche Schicksal wie seine Vorgänger in den letzten rund 40 Jahren. Nur die geschlossen stimmenden Fraktionen von GP und SP sowie die drei EVP-Mitglieder aus der Mitte-EVP-Fraktion sahen diesbezüglich zum gegebenen Zeitpunkt Handlungsbedarf.

Einführung der Gesetzesinitiative (Pa.Iv. 21.423)
Dossier: Vorstösse für eine Einführung der Gesetzesinitiative

Die parlamentarische Initiative der grünen Fraktion für ein qualifiziertes Ständemehr bei Doppelmehrabstimmungen wurde vom Nationalrat in der Sommersession 2022 behandelt. Zugunsten der Initiative äusserten sich Balthasar Glättli (gp, ZH) als Vertreter der Initiantinnen und Initianten und Delphine Klopfenstein Broggini (gp, GE) für die aus Grünen, SP und GLP bestehende Minderheit der vorberatenden SPK-NR). Sie betonten, dass sie nicht etwa die Abschaffung des Ständemehrs forderten, sondern lediglich dessen Anpassung. Es gelte – wie es Glättli formulierte –, «das Gleichgewicht im tragenden Gebälk der Schweizer Demokratie» wiederherzustellen, konkret das Gleichgewicht zwischen Volks- und Ständemehr. Das bestehende System benachteilige namentlich auch die lateinischen Kantone.
Gegen die Initiative stellten sich für die Kommissionsmehrheit Kurt Fluri (fdp, SO) und Piero Marchesi (svp, TI). Sie argumentierten, dass das heutige Ständemehr zum Föderalismus gehöre. Zwar müsse heute nicht mehr wie bei der Einführung des Ständemehrs 1848 ein Ausgleich zwischen katholischen und protestantischen Regionen geschaffen werden, aber nach wie vor brauche es einen Schutz der kleinen Kantone vor einem Übergewicht der bevölkerungsstarken Kantone. Im Übrigen bestehe ohnehin kein Handlungsbedarf, weil das Volksmehr seit 1848 erst in zehn Abstimmungen durch das Ständemehr blockiert worden sei. Mit 105 zu 77 Stimmen bei 4 Enthaltungen entschied der Nationalrat schliesslich, der parlamentarischen Initiative keine Folge zu gegeben. Diese wurde somit vom selben Schicksal ereilt wie eine Reihe früherer Vorstösse, die ebenso erfolglos eine Reformierung des Ständemehrs gefordert hatten.

Qualifiziertes Ständemehr bei Doppelmehr-Abstimmungen (Pa.Iv. 20.484)
Dossier: Vorstösse zur Abschwächung des klassischen Ständemehrs

Der Bundesrat legte im Mai 2022 seine Botschaft zur Gewährleistung von fünf geänderten Kantonsverfassungen vor. Er betrachtete alle Verfassungsänderungen als bundesrechtskonform und beantragte den eidgenössischen Räten deshalb ihre Gewährleistung.
Der Kanton Bern hatte einen neuen Artikel zum Klimaschutz als Aufgabe von Kanton und Gemeinden in seine Verfassung aufgenommen. Die Stossrichtung des neuen Artikels stimmte mit jener der Klimapolitik des Bundes überein.
Im Kanton Glarus war die Verantwortung für die ambulante und die stationäre Gesundheitsversorgung neu dem Kanton statt wie bisher den Gemeinden zugewiesen worden. Zudem hatte der Kanton eine Anpassung seiner Gerichtsorganisation beschlossen, namentlich mit der Schaffung von teilamtlichen Vizepräsidien im Obergericht und im Kantonsgericht, für die wie für die Präsidien nur noch ausgebildete Juristinnen oder Juristen wählbar sind. Diese Anpassungen lagen ebenso in der Autonomie des Kantons wie jene in Appenzell Innerrhoden, wo der Kanton Änderungen an der Organisation des Zwangsmassnahmengerichts und der Vermittlerämter vorgenommen hatte.
Der Kanton Tessin hatte in seiner Kantonsverfassung ein neues Sozialziel aufgenommen, wonach sich der Kanton für die Ernährungssouveränität einsetzen soll. Da die Kantone grundsätzlich autonom seien, eigene Sozialziele zu formulieren, und die Förderung der Ernährungssouveränität zudem in dieselbe Richtung weise wie die Ziele des Bundes zur Lebensmittelversorgung und zur landwirtschaftlichen Produktion, beantragte der Bundesrat auch für diese Anpassung die Gewährleistung. In die Organisationsautonomie des Kantons fiel sodann die zweite Tessiner Änderung, mit der neu ein ausserordentliches obligatorisches Finanzreferendum geschaffen wurde: Grössere Ausgabenbeschlüsse müssen im Tessin künftig der Stimmbevölkerung unterbreitet werden, wenn ein Drittel der anwesenden Grossratsmitglieder dies verlangt.
Ebenfalls in die kantonale Organisationsautonomie fielen die beiden Anpassungen an der Neuenburger Verfassung: Für die Gemeindeebene führte der Kanton das Instrument der Volksmotion ein, und Mitglieder der Neuenburger Kantonsregierung können künftig nur noch insoweit an Sitzungen der Organe des Kantonsparlaments teilnehmen, als das kantonale Gesetz dies vorsieht. Bemerkenswert an diesen beiden Änderungen war, dass der Bund erst acht bzw. neun Jahre nach ihrem Beschluss durch die Neuenburger Stimmberechtigten über ihre Gewährleistung zu befinden hatte; es handelte sich um die zweite Tranche von «Aufräumarbeiten», nachdem der Kanton es offenbar versehentlich mehrere Jahre lang versäumt hatte, vorgenommene Verfassungsänderungen dem Bund zur Gewährleistung weiterzuleiten.

Gewährleistung von Änderungen in den Kantonsverfassungen von Bern, Glarus, Appenzell Innerrhoden, Tessin und Neuenburg (BRG 22.034)

Die SPK-NR lehnte im Februar 2022 eine parlamentarische Initiative der Grünen Fraktion ab, welche das Volksmehr gegenüber dem Ständemehr stärken wollte. Mit 14 zu 10 Stimmen sprach sich die Kommission dafür aus, dass weiterhin eine einfache Nein-Mehrheit der Standesstimmen genügen soll, um Verfassungsänderungen zu blockieren – auch dann, wenn sich ein Volksmehr zugunsten der Verfassungsänderung ergibt. Zur Begründung berief sich die Kommission auf das Föderalismusprinzip, wonach jedem Kanton unabhängig von seiner Grösse dasselbe Gewicht zustehe, und auf das Ziel des Minderheitenschutzes.
Die Kommissionsminderheit argumentierte hingegen, dass die gestiegenen Grössenunterschiede zwischen den Kantonen eine Stärkung des Demokratieprinzips gegenüber dem Föderalismusprinzip rechtfertigen würden; sie wollte deshalb wie von der parlamentarischen Initiative gefordert eine Übersteuerung des Volksmehrs erschweren, indem dafür künftig ein qualifiziertes Ständemehr von zwei Dritteln der Stände nötig sein sollte.

Qualifiziertes Ständemehr bei Doppelmehr-Abstimmungen (Pa.Iv. 20.484)
Dossier: Vorstösse zur Abschwächung des klassischen Ständemehrs

Als Teil ihrer Kampagne zum Stadt-Land-Graben lancierte die SVP Schweiz im Herbst 2021 die Forderung, dass für demokratische Entscheide innerhalb der Kantone neu föderalistische Prinzipien eingeführt werden sollen. So soll gemäss dem Positionspapier zum einen bei kantonalen Volksabstimmungen nebst dem Volksmehr künftig ein Bezirksmehr oder ein Gemeindemehr nötig sein und zum anderen sollen Kantonsparlamente künftig über ein Zweikammersystem mit einer Volks- und einer Bezirkskammer verfügen. Die Partei wollte damit die Institutionen des Ständemehrs und des Ständerats von der Bundesebene auf die Kantonsebene übertragen und so den ländlichen gegenüber den städtischen Gebieten mehr Gewicht verleihen: Es gehe darum, «den schädlichen Einfluss der links-grünen Städte auf die freiheitliche politische Kultur der Schweiz zu beschränken sowie mehr Fairness und Transparenz in den Stadt-Land-Beziehungen sicherzustellen».
Die Idee eines Bezirks- oder Gemeindemehrs – die in Kantonen wie Schaffhausen, Appenzell Ausserrhoden, Bern oder Zug freilich auch schon früher diskutiert, aber stets verworfen worden war – griffen sodann verschiedene Exponentinnen und Exponenten sowie Kantonalsektionen der SVP auf. Auf Bundesebene erkundigte sich SVP-Ständerat Werner Salzmann (svp, BE) mit einer Interpellation (Ip. 21.4000), ob es bundesrechtliche Vorbehalte gegen ein Doppelmehr-Erfordernis in den Kantonen gebe. Der Bundesrat führte in seiner Antwort aus, dass diese Frage bisher nicht eindeutig geklärt sei und durch die Gerichte oder gegebenenfalls durch die Bundesversammlung bei der Gewährleistung einer entsprechend angepassten Kantonsverfassung entschieden werden müsste. In der Rechtswissenschaft werde jedoch grösstenteils die Ansicht vertreten, dass ein Doppelmehr-Erfordernis für kantonale Abstimmungen unterhalb der Verfassungsstufe wohl zulässig wäre, während es bei Verfassungsabstimmungen vermutlich im Widerspruch zu Art. 51 BV stünde; dieser schreibt den Kantonen vor, dass sie eine Anpassung ihrer Verfassungen vorsehen müssen, «wenn die Mehrheit der Stimmberechtigten es verlangt».
Im Kanton Zürich gab die SVP im Oktober 2021 bekannt, eine kantonale Volksinitiative zur Einführung eines Bezirksmehrs zu prüfen. In St. Gallen wählte die SVP den parlamentarischen Weg und forderte mit einer Motion die Einführung eines Gemeindemehrs für alle kantonalen Abstimmungen unterhalb der Verfassungsstufe; nach ihrer Ansicht würde dies letztlich den Zusammenhalt zwischen ländlichen und städtischen Regionen stärken. Im Kantonsrat blieb der Vorschlag indes chancenlos. Davor hatte sich auch der Regierungsrat dezidiert für eine Ablehnung des Vorstosses ausgesprochen, weil dieser ein «massives Ungleichgewicht» bei der Stimmkraft der Stimmberechtigten aus grossen und kleinen Gemeinden schaffen und damit der Akzeptanz und Legitimität von Abstimmungsergebnissen schaden würde. Der Vergleich zum Ständemehr auf Bundesebene sei verfehlt, weil die Gemeinden in den Kantonen weder historisch noch staatspolitisch eine ähnliche Rolle hätten wie die Kantone im Bund. Zudem machte die St. Galler Regierung verfassungsrechtliche Bedenken geltend.

Forderung der SVP nach Gemeindemehr und Zweikammersystem in den Kantonen

Jahresrückblick 2021: Föderativer Aufbau

Wie schon im Vorjahr befeuerte der anhaltende Kampf von Bund und Kantonen gegen die Covid-19-Krise auch 2021 die öffentliche Debatte um Vor- und Nachteile sowie allfälligen Reformbedarf des Föderalismus in der Schweiz. Die Stärken des Systems zeigten sich etwa darin, dass einzelne Kantone mit Innovationen vorangingen, die andere Kantone oder der Bund im Erfolgsfall übernehmen konnten – ein Beispiel dafür waren 2021 die vom Kanton Graubünden eingeführten Massentests, die zum Vorbild für die nationale Teststrategie wurden. Ein anderer Vorteil bestand darin, dass den regional teilweise unterschiedlichen epidemiologischen und gesellschaftlichen Ausgangslagen durch spezifische Regimes Rechnung getragen werden konnte. Kantonal unterschiedliche Regelungen wurden jedoch in der Presse bisweilen auch als «Flickenteppich» problematisiert, zumal die Unterschiede nicht immer sachlich begründbar erschienen. Wenn es aufgrund der epidemiologischen Entwicklung unpopuläre Massnahmen zu beschliessen galt, war teilweise auch ein Schwarzpeterspiel zu beobachten, das die Entscheidfindung verzögerte, indem Kantone und Bund einander gegenseitig die Verantwortung zuschoben – so etwa beim Entscheid über Massnahmen zur Eindämmung der fünften Welle Anfang Dezember. Die Grenzen des Föderalismus traten auch in der Auseinandersetzung um die Öffnung der Restaurantterrassen in Skigebieten zutage, als mehrere Kantone sich vorübergehend weigerten, die verbindliche Vorgabe des Bundes zur Schliessung der Terrassen umzusetzen. Im Weiteren stellten die Planung und Durchführung von Tests, Impfungen und Contact-Tracing die Kantone vor grosse Herausforderungen, welche von manchen Beobachterinnen und Beobachtern auch der Kleinheit der kantonalen Verwaltungen zugeschrieben wurden.

Nicht nur, aber auch vor dem Hintergrund der Covid-19-Krise wurden Reformvorschläge für das föderalistische System der Schweiz diskutiert. Dazu gehörte die auch von der KdK propagierte Idee, ein paritätisch zusammengesetztes gemeinsames Führungsgremium von Bund und Kantonen zu schaffen, das bei künftigen Krisen die Koordination und Vorbereitung von Entscheidungen des Bundesrats und der Kantonsregierungen übernehmen würde. Der Stadtpräsident von Biel schlug derweil vor, mit einem Städtereferendum, bei dem analog zum bestehenden Kantonsreferendum acht grössere Städte eine nationale Referendumsabstimmung bewirken könnten, die Rolle der Städte in der Bundespolitik zu stärken; der Vorschlag erinnerte an Forderungen nach einem Gemeindereferendum oder nach einer Vertretung der Städte im Ständerat, die in den letzten Jahren erfolglos geblieben waren. Ob eine nennenswerte Föderalismusreform diesmal mehrheitsfähig werden könnte, war Ende 2021 noch nicht absehbar.

Für intensive Debatten sorgte das Verhältnis zwischen städtischen und ländlichen Gebieten in der Schweiz. Sie flammten zunächst nach dem Abstimmungswochenende vom 13. Juni auf, an dem gleich bei drei Vorlagen – dem CO2-Gesetz, der Trinkwasser- und der Pestizidinitiative – über unterschiedliche Betroffenheiten und Interessen von Stadt- und Landbevölkerung diskutiert wurde und sich in den meisten städtischen Gemeinden Ja-Mehrheiten, in den ländlichen Gebieten hingegen überwiegend Nein-Mehrheiten ergaben. Richtig Fahrt nahm die Debatte aber auf, als sich die SVP bei 1.-August-Reden und in den darauf folgenden Wochen über «Schmarotzertum» und Arroganz von «Luxus-Sozialisten und Bevormunder-Grünen» in den Städten beklagte und sich als Verteidigerin der Interessen der Landbevölkerung darstellte. Die Partei lancierte dabei etwa Forderungen nach einer Revision des Finanzausgleichssystems oder nach der Einführung eines Bezirks- oder Gemeindemehrs bei kantonalen Abstimmungen analog zum Ständemehr auf Bundesebene. Gegenstimmen warfen der SVP vor, mit ihrer Rhetorik die Bevölkerung zu spalten und den Stadt-Land-Graben selbst mutwillig zu vertiefen; im Übrigen fliesse aus den meisten Städten mehr Geld aufs Land als umgekehrt.

Bei einer Stimmbeteiligung von über 88 Prozent entschieden sich die Stimmberechtigten von Moutier am 28. März mit 54.9 Prozent Stimmenanteil für einen Kantonswechsel ihrer Gemeinde von Bern zu Jura. Nachdem eine erste Abstimmung zum selben Thema 2017 wegen Unregelmässigkeiten annulliert worden war, handelte es sich beim diesjährigen Urnengang in den Worten von Le Temps um «la votation la plus contrôlée de l'histoire suisse». Zwar gab es auch im Zusammenhang mit der diesjährigen Abstimmung wieder Gerüchte um Abstimmungstourismus und um mögliche Ungereimtheiten im Wählendenregister der Gemeinde, doch Abstimmungsbeschwerden blieben diesmal aus; dazu dürfte auch das relativ deutliche Ergebnis beigetragen haben. Die Kantone Jura und Bern unterzeichneten in der Folge eine Roadmap für die Verhandlungen über die Modalitäten des Kantonswechsels; demnach soll Moutier spätestens ab dem 1. Januar 2026 offiziell Teil des Kantons Jura sein.

Auch 2021 kam es in verschiedenen Kantonen zu Gemeindefusionen, beispielsweise in Tresa TI, Assens VD oder Seedorf UR. Zwei besonders prominente Fusionsprojekte standen indessen im Gegenwind: Das seit 2017 laufende Vorhaben einer Fusion der Stadt Freiburg mit den umliegenden Gemeinden wurde beerdigt, nachdem eine Konsultativabstimmung im September in sechs von neun potenziellen Fusionsgemeinden negativ ausgefallen war. Und von den Gemeinden um die Stadt Bern beschlossen 2021 auch Kehrsatz und Frauenkappelen den Ausstieg aus den Fusionsabklärungen, nachdem Bolligen und Bremgarten dies bereits früher getan hatten und Köniz gar nie eingestiegen war. Im Projekt verbleiben somit noch die Stadt Bern und Ostermundigen.

Die Presse berichtete 2021 deutlich häufiger als in den drei Vorjahren über Fragen des Föderalismus, wie die APS-Zeitungsanalyse (vgl. Abbildung 2 der APS-Zeitungsanalyse 2021 im Anhang) zeigt. Dies ist zum einen auf das Thema der Aufgabenverteilung zwischen Bund und Kantonen bei der Pandemiebekämpfung zurückzuführen, vor allem aber auch auf die Abstimmung in Moutier. Diese wurde insbesondere in jurassischen und bernischen Zeitungen sehr ausgiebig behandelt und ist für den klaren Spitzenwert an Zeitungsartikeln im März 2021 verantwortlich (vgl. Abbildung 1). Seit 2016 war der Föderalismus in der Presse denn auch nur einmal noch häufiger Thema als 2021 – nämlich im Jahr 2017, als in Moutier der erste Anlauf für eine Abstimmung über die Kantonszugehörigkeit stattfand.

Jahresrückblick 2021: Föderativer Aufbau
Dossier: Jahresrückblick 2021

Er könne sich kurz halten, da es keine neuen Argumente gebe und auch in der neuerlichen Debatte keine aufgetaucht seien, gab Gerhard Pfister (mitte, ZG) in der Wintersession 2021 bei der Diskussion um die Einführung eines obligatorisches Referendums für völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter für die Kommission zu Protokoll: Die Mehrheit der SPK-NR beantrage Festhalten am ursprünglichen Nichteintretensentscheid, weil sie keinen Handlungsbedarf sehe und die Vorlage zu wenig ausgereift sei. Eine erstarkte Minderheit – ursprünglich hatte die Kommission die Vorlage mit 17 zu 8 Stimmen abgelehnt, im zweiten Durchgang standen sich 13 zu 11 Stimmen bei 1 Enthaltung gegenüber – wolle vor allem auch den Kantonen mit Berücksichtigung des Ständemehrs mehr Gewicht geben.
Die erneute Debatte war nötig geworden, weil der Ständerat auf die Vorlage eintreten wollte, obwohl die grosse Kammer zuvor schon nichts von der Idee hatte wissen wollen. Die Sprecherinnen und Sprecher der Fraktionen hatten vor dem Votum Pfisters ihre Positionen noch einmal ausgeführt. Marco Romano (mitte, TI) sprach sich im Namen der Mitte für eine Stärkung der Volksrechte, für die Zustimmung zum Beschluss des Ständerats und also für Eintreten aus. Die SP-Fraktion – vertreten durch Samira Marti (sp, BL) – war für Festhalten. Marti warf dem Ständerat vor, mit der Forderung nach dem obligatorischen Referendum die Macht der Kantone über Gebühr stärken zu wollen. Damit würden nicht nur «die Stimme der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger» und damit das «Demokratieprinzip» an und für sich geschwächt, zudem bedeute die notwendige Zustimmung der Kantone insbesondere bei Verträgen, in denen es um Grundrechte gehe, «höhere Hürden für einen effektiven Menschenrechtsschutz». Mit der Einführung des Ständemehrs würde überdies die im Moment auch im Rahmen der Covid-19-Pandemie viel diskutierte Spaltung der Gesellschaft noch weiter vorangetrieben. Gregor Rutz (svp, ZH) warb im Namen der SVP-Fraktion für Eintreten: Es gebe immer mehr Staatsverträge, die «direkt oder indirekt auf unsere Kompetenzordnung zugreifen», weshalb es notwendig sei, solche Abkommen Volk und Ständen zu unterbreiten. Nachdem Nationalratsvizepräsident Martin Candinas (mitte, GR) die Positionen der drei restlichen Fraktionen bekannt gegeben hatte – die FDP-Fraktion unterstütze die Minderheit, die GLP- und die GP-Fraktionen die Mehrheit – erklärte Kommissionssprecher Pfister den Grund für die Erstarkung der Kommissionsminderheit: Verschiedene Kommissionsmitglieder hatten entschieden, dem Ständerat entgegenzukommen. Dies wollte aber eine deutliche Mehrheit der grossen Kammer nicht: Zum zweiten Mal lehnten die SP-, GLP- und die GP-Fraktionen die Vorlage geschlossen ab. Die Mitte-Fraktion war gespalten und auch die FDP-Liberale Fraktion stimmte trotz anderslautender Fraktionsempfehlung grossmehrheitlich gegen Eintreten. Damit standen 114 Stimmen 69 Stimmen, die vor allem aus der SVP- und der Mitte-Fraktion stammten, gegenüber und versenkten die Vorlage endgültig.

Obligatorisches Referendum für völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter (BRG. 20.016)
Dossier: Obligatorisches Referendum für völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter

Mit einem Gastbeitrag in der NZZ forderte Erich Fehr (BE, sp), Stadtpräsident von Biel, die Einführung eines Städtereferendums auf Bundesebene. Analog zum bestehenden Kantonsreferendum, das von acht Kantonen ergriffen werden kann, sollen Städte damit eine Volksabstimmung über Vorlagen erwirken können, die dem fakultativen Referendum unterliegen. Als mögliches Quorum nannte Fehr acht Städte mit je über 25'000 Einwohnerinnen und Einwohnern.
Fehr begründete sein Anliegen damit, dass das Funktionieren des Föderalismus seit seiner Etablierung im 19. Jahrhundert aufgrund der soziodemografischen Entwicklung «immer mehr aus den Fugen geraten» sei. So stellten urbane Gemeinden heute mit 70 Prozent einen deutlich höheren Anteil an der Gesamtbevölkerung als noch bei der Gründung des schweizerischen Bundesstaates, doch die Verteilung und Gewichtung der Ständestimmen sei immer noch dieselbe wie damals; dies gebe den kleineren, ländlichen Kantonen ein zu hohes Gewicht und benachteilige die Städte im föderalen Gefüge. Mit einem Städtereferendum könnten laut Fehr die Städte ihre Interessen besser verteidigen, ohne dass dadurch die Kantone geschwächt würden. Eine institutionelle Stärkung der Städte tue auch deshalb Not, weil der Artikel 50 Absatz 3 der Bundesverfassung, wonach der Bund auf die besondere Situation der Städte, Agglomerationen und Berggebiete Rücksicht zu nehmen hat, jedenfalls hinsichtlich der Städte «bis heute weitgehend toter Buchstabe geblieben» sei. Dies sei zuletzt auch bei der Erarbeitung der Corona-Massnahmen zu beobachten gewesen, zu denen der Bund jeweils nur die Kantone und die Sozialpartner, nicht aber die Städte und Gemeinden anhörte. Fehrs Vorschlag stellte einen neuen Anlauf in einer schon länger währenden Diskussion dar, nachdem etwa Forderungen nach einem Gemeindereferendum oder nach einer Aufwertung der Städte zu Halbkantonen in den letzten Jahren erfolglos geblieben waren.

Auf den gescheiterten Vorstoss für ein Gemeindereferendum verwies in seiner Reaktion auf Fehrs Vorschlag auch der Präsident des Gemeindeverbands (SGV), Ständerat Hannes Germann (svp, SH): Jener vom SGV lancierte Vorstoss sei vom Schweizerischen Städteverband (SSV) 2017 nicht unterstützt worden. Es sei «befremdend und irritierend», wenn nun von städtischer Seite eine ähnliche Reform vorgeschlagen werde, die aber kleinere Gemeinden ignorieren und ein Sonderrecht nur für die Städte schaffen würde. Einverstanden zeigte sich Germann hingegen mit Fehrs Kritik am mangelnden Einbezug der Städte und Gemeinden in der Pandemiepolitik.

Städtereferendum

Weil der Nationalrat als Zweitrat in seiner Sondersession im Mai 2021 nicht auf den Entwurf des Bundesrats für ein obligatorisches Referendum für völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter eingetreten war, gelangte das Geschäft wieder in die kleine Kammer. Dort machte sich Andrea Caroni (fdp, AR) als Kommissionssprecher für die Mehrheitsposition der SPK-SR stark, die mit 9 zu 2 Stimmen bei 1 Enthaltung Festhalten am bereits gefassten Eintretensentscheid beantragte. Die Vorlage stärke die Volksrechte, schaffe mehr Transparenz und erhöhe die Rechtsstaatlichkeit – so Caroni. Das bestehende obligatorische Staatsvertragsreferendum weise Lücken auf und müsse ergänzt werden. Es dürfe nicht dem Gutdünken des Parlaments überlassen werden, welche Verträge obligatorisch von Volk und Ständen gutgeheissen werden sollen, wie dies jetzt eigentlich der Fall sei. In der Schwesterkommission sei vor allem diskutiert worden, mit welcher Regel entschieden werden solle, wann ein Vertrag Verfassungscharakter habe und dem obligatorischen Referendum unterstellt werden müsse. Es gebe hier unterschiedliche Stossrichtungen, die, falls Eintreten bestätigt würde, auch im Nationalrat noch einmal diskutiert werden könnten: Mit dem ersten vom Bundesrat vorgeschlagenen Ansatz würde beurteilt, ob der Inhalt eines internationalen Vertrags auch innerstaatlich in die Verfassung geschrieben werden würde. Die Bejahung dieser Frage würde ein obligatorisches Referendum nach sich ziehen. Ein neu diskutierter Ansatz würde auf die politische Bedeutung und die Tragweite eines Vertrags abstellen. Nur «Verträge von politisch grosser Tragweite» würden Volk und Ständen zur Beurteilung vorgelegt. Da die neu diskutierten, auf diesen Ansätzen beruhenden Lösungen «verheissungsvoll» seien und aus Sicht der Kommission nach wie vor Handlungsbedarf bestehe, plädierte sie auf Festhalten am Eintretensentscheid.
Für die Kommissionsminderheit ergriff Daniel Jositsch (sp, ZH) das Wort. Er erinnerte daran, dass Verträge, mit denen die Verfassung tangiert würden, nur «alle paar Jahrzehnte einmal» vorliegen würden. Er sehe nicht ein, weshalb das bisherige Vorgehen, mit dem das Parlament ein obligatorisches Staatsvertragsreferendum sui generis beschliesse, geändert werden müsse. Auch sei die Gefahr einer Politisierung von Staatsverträgen geringer, wenn weiterhin das Parlament entscheide, Staatsverträge dem Volk «sua sponte» vorzulegen, als wenn jemand darüber befinden müsse, wann von politisch grosser Tragweite gesprochen werden könne.
Zwar machte Paul Rechsteiner (sp, SG) in der Folge auf die recht deutliche Opposition im Nationalrat aufmerksam, die Nicht-Eintreten auch im Ständerat opportun mache, sowohl Daniel Fässler (mitte, AI) als auch Bundesrätin Karin Keller-Sutter warben aber dafür, der SPK-NR und dem Nationalrat noch einmal eine Chance für weitere Reflexionen zu diesem wichtigen Thema zu verschaffen. Dies schien die Mehrheit der kleinen Kammer ebenso zu sehen. Mit 29 zu 10 Stimmen (2 Enthaltungen) wurde Festhalten beschlossen und das Geschäft noch einmal zurück in die Volkskammer geschickt.

Obligatorisches Referendum für völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter (BRG. 20.016)
Dossier: Obligatorisches Referendum für völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter

Der «Kommerzialisierung der Instrumente der direkten Demokratie» müsse ein Riegel vorgeschoben werden, befand Mathias Reynard (sp, VS). Konkret müsse man das Bezahlen von Unterschriftensammeln verbieten. In seiner Anfang 2020 eingereichten Begründung für diese Forderung verwies der Walliser Sozialdemokrat auf die Unterschriftensammlungen gegen den Vaterschaftsurlaub sowie gegen das Verbot der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung. Hier hätten die finanziellen Anreize zu «Lügen und unlauteren Methoden» angestiftet, was nicht nur die Meinungsbildung gefährde, sondern auch der Glaubwürdigkeit der direkten Demokratie schade. Reynard brachte das Beispiel des Kantons Genf, der ein solches Verbot kenne.
Der Bundesrat empfahl die Motion im Mai 2020 zur Ablehnung. Er verwies auf die Motion Hurni (sp, NE Mo. 19.4431), um zu unterstreichen, dass er Täuschungsversuche während Unterschriftensammlungen verurteile. Allerdings dürfe nicht von Einzelfällen darauf geschlossen werden, dass bezahltes Unterschriftensammeln generell unlauter sei. Diese Art des Sammelns sei zudem billiger als ein grosser Massenversand, weshalb ein Verbot schwächere Gruppierungen bestrafen könnte. Ein Verbot sei zudem unverhältnismässig.
In der Herbstsession 2021 vertrat Baptiste Hurni (sp, NE) den mittlerweile aus dem Nationalrat ausgeschiedenen Motionär, stand aber auf verlorenem Posten. Mit 123 zu 61 Stimmen (1 Enthaltung) lehnte die grosse Kammer den Vorstoss ab. Die Stimmen aus der SP- und der GP-Fraktion reichten nicht für eine Annahme aus.

Bezahltes Unterschriftensammeln verbieten (Mo. 20.3015)

Die Einführung eines konstruktiven Referendums sei bereits zuvor zweimal Thema gewesen, versuchte Cédric Wermuth (sp, AG) in der Sommersession 2021 im Nationalrat Werbung für seine parlamentarische Initiative zu machen. 1992 hatte die SP die Idee im Rahmen der EWR-Diskussionen ins Spiel gebracht und 1995 hatten die Sozialdemokraten im Rahmen der Debatte um die 10. AHV-Revision gar eine Initiative für ein «Referendum mit Gegenvorschlag» lanciert, die 2000 an der Urne abgelehnt worden war. Auch aktuell hätte dieses Instrument das Potenzial, Blockaden zu lösen, führte der Aargauer Sozialdemokrat aus. So sei etwa bei der Abstimmung über die E-ID allen klar gewesen, dass es eine elektronische Identität brauche. Hätte neben dem mit einem Referendum bekämpften Vorschlag ein konstruktives Referendum vorgelegen, mit dem etwa eine vom Staat organisierte E-ID gefordert worden wäre, so hätte ein Zeitverlust bei der notwendigen Einführung vermieden werden können. Das konstruktive Referendum sei darüber hinaus «der logische kleine Bruder des Gegenvorschlags des parlamentarischen Rechts und damit die Vollendung der direkten Demokratie» – so Wermuth. Beat Walti (fdp, ZH) wendete ein, dass dieses Instrument im Kanton Zürich zu grosser Verwirrung geführt habe – bei einer Abstimmung über die Spitalfinanzierung seien vier konstruktive Referenden zur Abstimmung gestanden, die «dreissig oder mehr Antwortvarianten» zugelassen hätten. Es sei deshalb wieder abgeschafft worden. Wermuth wiederum konterte mit einem Zitat aus dem Kanton Bern, der das Instrument in Form eines Volksvorschlags kennt: Der Vizepräsident der damaligen Berner Verfassungskommission habe bei der Einführung des Volksvorschlags gesagt, «wer den Schweizerinnen und Schweizern nicht zumute, die Komplexität des konstruktiven Referendums zu verstehen, unterschätze, dass diese Menschen jeden Tag beim Jassen schwierigere strategische Entscheidungen als beim konstruktiven Referendum fällen würden». Michaël Buffat (svp, VD) und Samira Marti (sp, BL) setzten sich in der Folge im Namen der SPK-NR, die sich mit einer 14 zu 10-Stimmen-Mehrheit für Folgegeben ausgesprochen hatte, ebenfalls für das Anliegen ein. Meinungen könnten von den Stimmenden differenzierter eingebracht werden und die Interpretation eines Abstimmungsresultates sei dank Varianten einfacher, argumentierten sie. Zudem könnten Referendumskomitees mit diesem «Gewinn für das direkt-demokratische Instrumentarium» stärker in die Entscheidunsgsfindung einbezogen werden, fasste Samira Marti die Kommissionsmeinung zusammen. Trotz aller befürwortender Voten setzte sich allerdings die starke bürgerliche Kommissionsminderheit durch, die sich nicht zu Wort gemeldet hatte: Mit 109 zu 82 Stimmen entschied sich die Mehrheit der grossen Kammer, der Initiative keine Folge zu geben. Die geschlossen stimmenden Fraktionen von SVP, FDP und Mitte standen den ebenfalls geschlossenen Fraktionen von SP, GLP und GP gegenüber.

Einführung eines konstruktiven Referendums (Pa. Iv. 18.446)

Der Nationalrat beugte sich in seiner Sondersession im Mai 2021 über den Vorschlag des Bundesrats für ein obligatorisches Referendum für völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter. Im Gegensatz zum Ständerat wollte eine 18 zu 7-Mehrheit der SPK-NR nicht auf die Vorlage eintreten. Kommissionssprecherin Greta Gysin (gp, TI) und Kommissionssprecher Gerhard Pfister (mitte, ZG) machten geltend, dass es keine befriedigende Definition geben könne, mit der festgelegt wird, wann ein Staatsvertrag dem obligatorischen Referendum unterstellt werden soll und wann nicht. Pfister pflichtete jedoch Andrea Caroni (fdp, AR), auf dessen Motion (Mo. 15.3557) der Vorschlag zurückging, bei, dass es nicht befriedigend sei, wenn einzig das Parlament bestimme, ob und wann ein Staatsvertrag dem obligatorischen Referendum unterstellt werden solle. In der Tat stehe ja das obligatorische Staatsvertragsreferendum seit 1977 in der Verfassung, sei aber erst einmal – beim Beitritt der Schweiz zur UNO 1986 – zur Anwendung gekommen. Selbst die EWR-Abstimmung von 1992 hätte die Bedingungen nicht erfüllt und sei vom Parlament selbst «sui generis» zum obligatorischen Referendum bestimmt worden. Mit der Volksinitiative «Staatsverträge vors Volk!» und dem Gegenvorschlag, auf den das Parlament freilich nicht eingetreten sei, sei vergeblich versucht worden, Präzisierungen festzulegen, mit denen bestimmt werden könne, wann ein Staatsvertrag genug wichtig für ein obligatorisches Referendum sei – so Pfister in seinen Ausführungen. Die Mehrheit der Kommission sei zum Schluss gekommen, dass diese Präzisierung auch mit der vorliegenden Vorlage nicht gelungen sei – weder in der bundesrätlichen Botschaft, noch in den ständerätlichen Präzisierungen. Deshalb beantrage sie, nicht auf die Vorlage einzutreten.
Eine aus SVP-Mitgliedern bestehende Kommissionsminderheit stellte hingegen einen Eintretensantrag. Die Mitspracherechte für die Bevölkerung und die Kantone müssten gestärkt werden, führte Gregor Rutz (svp, ZH) für diese Minderheit aus. Heute habe eine Mehrheit der bundesrätlichen Bestimmungen ihren Ursprung in internationalen Verträgen, zu denen die Bevölkerung aber nichts zu sagen habe. Nicht einverstanden mit dieser Argumentation war Hans-Ueli Vogt (svp, ZH), der in einem schriftlichen Antrag mit einer anderen Begründung ebenfalls für Nichteintreten warb: Würden Staatsverträge mittels obligatorischem Referendum gutgeheissen, erhielten sie in der Verfassung eine zu starke Position, wodurch ein Vorrang von Verfassungsrecht durch Staatsverträge «gegenüber dem rein schweizerischen Verfassungsrecht» geschaffen würde.
Die Mehrheit der Fraktionssprecherinnen und -sprecher, die sich in der Folge zu Wort meldeten, argumentierte, dass es stets ein politischer Entscheid bleibe, ob ein Staatsvertrag dem obligatorischen Referendum unterstellt werden müsse oder nicht. Dies lasse sich mit juristischen Bestimmungen nicht klären. Zudem sei der Handlungsbedarf – wie ja auch die Geschichte zeige – eher klein. Am Schluss der Debatte verteidigte Justizministerin Karin Keller-Sutter den Handlungsbedarf und versuchte die vorgeschlagenen Neuerungen zu erklären. Mit geltendem Recht unterstünden Staatsverträge einzig dann dem obligatorischen Referendum, wenn sie den Beitritt zu Organisationen für kollektive Sicherheit oder zu supranationalen Gemeinschaften vorsehen. Neu solle hingegen über alle völkerrechtlichen Verträge obligatorisch abgestimmt werden, die «Bestimmungen von Verfassungsrang» haben. Was konkret «Verfassungsrang» bedeute, sei in der Tat eine komplexe Auslegungssache. Die für eine Konkretisierung vorgeschlagenen Elemente «Grundrechte», «Bürgerrechte», «politische Rechte», «Verhältnis von Bund und Kantonen» sowie «Zuständigkeit des Bundes» und – wie vom Ständerat vorgeschlagen – «Zuständigkeit der Kantone» seien aber genügend präzise und würden kaum zu zahlreichen Abstimmungen, aber eben zu mehr Klarheit führen. Sie habe Verständnis, dass das Parlament diesen politischen Entscheid selber fällen wolle und der Status Quo, also ein Referendum «sui generis», durchaus eine pragmatische Lösung sein könne. Allerdings sollten die «demokratischen Mitwirkungsrechte von Volk und Ständen nicht dem Ermessen des Parlamentes überlassen» werden, so die Bundesrätin abschliessend. Ihre Werbung für Eintreten auf die Vorlage verhallte allerdings fast ungehört. Wie aus den einzelnen Fraktionsvoten nicht anders zu erwarten gewesen war, stimmten lediglich 49 Mitglieder der SVP-Fraktion, unterstützt von Hans-Peter Portmann (fdp, ZH), für Eintreten. Die 140 restlichen anwesenden Nationalratsmitglieder – inklusive Hans-Ueli Vogt (svp, ZH), Thomas Hurter (svp, SH) und Lars Guggisberg (svp, BE), die ebenfalls entgegen ihrer Fraktion stimmten – folgten hingegen der Kommissionsmehrheit.

Obligatorisches Referendum für völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter (BRG. 20.016)
Dossier: Obligatorisches Referendum für völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter

Mit 14 zu 10 Stimmen beschloss die SPK-NR Mitte April 2021 erneut, für die parlamentarische Initiative von Cédric Wermuth (sp, AG) zur Einführung eines konstruktiven Referendums Folgegeben zu empfehlen. Im Gegensatz zur Schwesterkommission, die den Vorstoss im Sommer 2020 abgelehnt hatte, erachte es die SPK-NR als «Gewinn», wenn mit einem Referendum gegen ein Gesetz ein Gegenvorschlag eingebracht werden könne – Wermuth sieht hier vor, dass gleich wie bei einem Referendum acht Kantone oder 50'0000 Stimmberechtigte ein solches konstruktives Referendum verlangen könnten. Mit einer solchen Belebung der direkten Demokratie würden eine differenziertere Meinungsbildung ermöglicht und unheilige Allianzen sowie Scherbenhaufen durch Ablehnung langjähriger Reformen vermieden – so die Kommission in ihrem Bericht. Ein über lange Zeit erarbeitetes Gesetz könne in Kraft treten, wenn etwa in einem Gegenvorschlag alle nicht umstrittenen Elemente vereint würden. Mit der aktuellen Regelung könne hingegen ein kleines umstrittenes Detail eine ganze Vorlage zu Fall bringen. Wie schon beim ersten positiven Entscheid der SPK-NR gab es freilich eine starke Minderheit, die das vorgeschlagene konstruktive Referendum als zu kompliziert erachtete, etwa wenn für ein Gesetz gar mehrere konstruktive Referenden eingereicht würden. Es sei am Parlament und nicht an der Bevölkerung, breit abgestützte Gesetze zu entwerfen.

Einführung eines konstruktiven Referendums (Pa. Iv. 18.446)

Mit einer Kommissionsmotion wollte die SPK-NR eine Gleichbehandlung von Initiativen und Referenden im Covid-19-Gesetz verankern. Da die Unterschriftensammlung für Volksbegehren durch die Pandemie erschwert worden sei, sei man den Referendumskomitees im Frühling 2020 entgegengekommen, indem man sie von der Bescheinigungspflicht befreit habe. Mit anderen Worten: Die in der vorgesehenen Frist gesammelten Unterschriften konnten ohne Stimmrechtsbescheinigung, die in der Regel innerhalb der 100-tägigen Frist von den Gemeinden erstellt werden müssen, eingereicht werden. Mit ihrer Motion wollte die Kommission diese Erleichterung auch Initiativkomitees gewähren. Sie zog dann allerdings ihr Anliegen Mitte Februar 2021 zurück, weil dieses im Rahmen der Beratungen um das Covid-19-Gesetz in der Frühjahrssession 2021 bereits umgesetzt worden war.

Gleichbehandlung von Initiativen und Referenden in Zeiten der Covid-19-Pandemie (Mo. 21.3006)
Dossier: Covid-19 und Volksrechte

Mit einer parlamentarischen Initiative forderte die Grüne Fraktion ein qualifiziertes Ständemehr bei Doppelmehr-Abstimmungen. Der Vorstoss wurde am Tag nach der Volksabstimmung über die Konzernverantwortungsinitiative eingereicht, die unter anderem von den Grünen unterstützt worden war. Sie hatte zwar eine Mehrheit von 50.7 Prozent der Stimmenden erzielt, war jedoch am Ständemehr gescheitert (14.5 ablehnende Stände gegenüber 8.5 annehmenden Ständen). Es handelte sich um die zweite Volksinitiative und die insgesamt zehnte Vorlage seit 1848, bei der das Volksmehr vom Ständemehr ausgehebelt wurde. Genau für solche Situationen, in denen Volks- und Ständemehr auseinanderfallen, forderte die parlamentarische Initiative nun eine Neuregelung: Um eine Verfassungsänderung zu blockieren, die von einer Volksmehrheit befürwortet wird, solle künftig eine Zweidrittelmehrheit der Standesstimmen erforderlich sein, was 15.5 Standesstimmen entspricht.
In der Begründung zum Vorstoss verwiesen die Grünen insbesondere auf die demographische Entwicklung: Weil das Bevölkerungswachstum in den Städten seit Jahrzehnten deutlich stärker sei als auf dem Land, benachteilige das Ständemehr die grossen Kantone heute noch viel stärker als früher. So habe 1848 eine Neinstimme aus Appenzell Innerrhoden bei einem Doppelmehrreferendum noch das 11-fache einer Zürcher Neinstimme gezählt, heute sei es hingegen das 44-fache. Um eine Balance zwischen Föderalismusprinzip (Gleichheit der Gliedstaaten) und Demokratieprinzip («one (wo)man, one vote») zu erreichen, sei deshalb eine Abschwächung des Ständemehrs nötig. In der Vergangenheit waren schon mehrmals Vorstösse mit ähnlicher Stossrichtung eingereicht, aber stets abgelehnt worden.

Qualifiziertes Ständemehr bei Doppelmehr-Abstimmungen (Pa.Iv. 20.484)
Dossier: Vorstösse zur Abschwächung des klassischen Ständemehrs

Nachdem bei der Volksabstimmung vom 29. November 2020 die Konzernverantwortungsinitiative zwar das Volksmehr (50.7% Ja-Stimmenanteil), nicht aber das Kantonsmehr (8 1/2 Kantone sagten Ja) erreicht hatte, wurden Diskussionen über das Ständemehr laut. Dies war freilich nicht das erste Mal: Bis zu diesem Zeitpunkt waren 14 Abstimmungsvorlagen, bei denen sowohl das Volks- als auch das Ständemehr nötig war, an einer der beiden Hürden gescheitert; viermal war zwar das Stände-, nicht aber das Volksmehr (3 Volksinitiativen, 1 obligatorisches Referendum) und zehnmal das Volks- nicht aber das Ständemehr erreicht worden (1 Volksinitiative, 9 obligatorische Referenden). Stets waren Rufe nach einer Änderung dieser Doppelmehrregelung laut geworden, zuletzt 2013 bei der Abstimmung über den Familienartikel, der ebenfalls am Kantonsveto gescheitert war.
Das Ständemehr gehöre auf den «Müllhaufen der Geschichte» fanden aktuell etwa die Juso und die grüne Fraktion reichte noch am Tag nach der Abstimmung eine parlamentarische Initiative für eine Reform des Ständemehrs ein. Gefordert wurde, dass mindestens eine Zweidrittelmehrheit der Standesstimmen erforderlich sein müsse (statt die einfache Mehrheit), um ein Volksmehr zu überstimmen. Die direkte Demokratie sei «in Schieflage», begründete Regula Rytz (gp, BE) in einem Interview im Tages-Anzeiger den Vorstoss. Die kleinen Kantone hätten zu viel Einfluss und die Romandie laufe Gefahr, als Minderheit überstimmt zu werden. Zudem bestehe die Gefahr, dass Volksinitiativen trotz Mehrheiten nicht mehr angenommen würden. Die WoZ kam zum Schluss, dass das Ständemehr immer dann «seine Vetomacht entfalten kann, wenn die konservativen Deutschschweizer Kantone eine Verfassungsänderung ablehnen».
Spielregeln ändern wollten «schlechte Verlierer», kritisierte hingegen Ruedi Noser (fdp, ZH). Die Verfassung dürfe nicht von einer kleinen Mehrheit geändert werden können. Auch Andrea Gmür (cvp, LU) sah im Ständemehr einen wichtigen Minderheitenschutz, da auch die weniger grossen Kantone mit «einer Bevölkerung, die anders denkt als jene in den Städten» zugunsten des sozialen Zusammenhalts eingebunden werden müssten. In der Tat ging es bei den Reformdebatten oft auch um den «Stadt-Land-Graben», weil die grossen Städte von den kleinen, bevölkerungsarmen Landkantone überstimmt würden, so die Überlegung dahinter. Vielfach wurde deshalb eine Art Standesstimme für die grossen Städte gefordert. Vorgeschlagen wurden aber auch Regeln für ein sogenanntes «stärkeres Mehr»: Bei fehlendem Doppelmehr würde das stärkere Mehr (in Prozent) der beiden entscheiden. Auch gewichtete Standesstimmen abhängig von der Bevölkerungsgrösse eines Kantons (z.B. ZH 5 Stimmen; AI 1 Stimme) wurden vorgeschlagen. Bei all diesen Vorschlägen stellte sich jedoch das Problem, dass eine Änderung des doppelten Mehrs eine Verfassungsänderung wäre und deshalb ein Ständemehr benötigt – was Reformen aber unwahrscheinlich macht.

Ständemehr - Diskussionen nach dem 27.11.2020

In der Herbstsession 2020 beugte sich der Ständerat als Erstrat über die Vorlage des Bundesrats, mit der durch eine Verfassungsänderung ein obligatorisches Referendum für völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter eingeführt werden soll. Eintreten war umstritten. Für die Kommission nahm Andrea Caroni (fdp, AR) Stellung, der mit einer Motion am Ursprung der Vorlage gestanden hatte. Er pries diese als optimale Ergänzung zum bereits bestehenden obligatorischen Staatsvertragsreferendum an. Dieses sei unvollständig, weil es lediglich den Beitritt zu supranationalen Organisationen regle. Es gebe aber Staatsverträge, welche die Verfassung ebenfalls beeinflussten, ohne einen Beitritt zu verlangen. Das neu geschaffene Instrument könne diese Lücke schliessen und der Bundesrat habe es geschafft, klare Kriterien für die Anwendung zu definieren. Betroffen seien Verträge, die zwingend eine Verfassungsänderung mit sich bringen, und solche, die materiell Verfassungsrang haben – also wenn Grundrechte, der Föderalismus oder die Organisation der Bundesbehörden tangiert werden. Dieses neue Referendum würde die Legitimität eines Vertrags stärken, wobei die Zahl solcher Abstimmungen gemäss Caroni gering bleiben werde.
Eine Minderheit Jositsch (sp, ZH) beantragte Nichteintreten. Der Zürcher SP-Ständerat begründete seinen Antrag damit, dass eine neue Regelung nicht notwendig sei. Es gebe gar kein Problem, das einen neuen Verfassungsartikel rechtfertigen würde. Dem widersprach Daniel Fässler (cvp, AI): Weil die internationale Vernetzung zunehme, werde auch der Konflikt zwischen Landesrecht und Völkerrecht zunehmen, betonte er. Deshalb sei es wichtig, hier frühzeitig eine gute Regelung zu finden. Eine 28 zu 14-Merhheit beschloss in der Folge Eintreten.
In der Detailberatung scheiterte ein Einzelantrag Rechsteiner (sp, SG), der bei der Präzisierung der Kriterien die «Grundrechte» nicht erwähnt haben wollte. Der St. Galler Ständerat argumentierte vergeblich, dass zahlreiche Verträge unter dieses Kriterium fallen würden, die dann nicht mehr einfach ratifiziert werden könnten, sondern von Volk und Ständen abgesegnet werden müssten. Als Beispiel nannte er die Kinderrechtskonvention oder die Behindertenkonvention. Die anwesende Bundesrätin Karin Keller-Sutter verneinte jedoch, dass diese Beispiele unter die neue Bestimmung fallen würden. Abgelehnt wurde auch ein Minderheitsantrag Chiesa (svp, TI), der gefordert hätte, dass das Referendum nicht nur die allfällige Verfassungsänderung, sondern auch den Vertrag umfassen müsse. Dadurch sollte vermieden werden, dass eine Verfassungsänderung faktisch nicht mehr abgelehnt werden könnte, weil man den Vertrag ja schon eingegangen wäre. Die Mehrheit wandte sich gegen dieses Ansinnen, weil es auch die Möglichkeit geben müsse, die Umsetzung eines Vertrags auf Gesetzesstufe zu regeln, wie die Justizministerin ausführte.
Somit nahm der Rat im Vergleich zur bundesrätlichen Vorlage lediglich eine sprachliche Präzisierung vor und schickte das Geschäft nach der Gesamtabstimmung, in der sich 27 Rätinnen und Räte für und 12 gegen den Entwurf aussprachen, an den Nationalrat.

Obligatorisches Referendum für völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter (BRG. 20.016)
Dossier: Obligatorisches Referendum für völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter

Nachdem die SPK-NR der von einer parlamentarischen Initiative Wermuth (sp, AG) vorgeschlagenen Einführung eines konstruktiven Referendums noch positiv gegenübergestanden und der Initiative mit 15 zu 10 Stimmen Folge gegeben hatte, lehnte die SPK-SR das Begehren Ende Juni 2020 mit 10 zu 0 Stimmen bei 2 Enthaltungen deutlich ab. Cédric Wermuth schlug vor, dass 50'000 Bürgerinnen und Bürger oder 8 Kantone mit einem Referendum einen Gegenvorschlag zu einem Bundesbeschluss oder einem Gesetz vorbringen können. Es sei unbefriedigend, lediglich Ja oder Nein sagen zu dürfen, wenn man nur mit Teilen einer Vorlage einverstanden sei. Zudem könne ein Referendum ergriffen werden, ohne Verantwortung für die Folgen eines Neins übernehmen zu müssen. Ein «Volksgegenvorschlag» wie der Aargauer Genosse seine Idee nannte, würde die Komitees hingegen stärker in die Lösungsfindung einbinden.
Die SPK-SR begründete ihre Ablehnung mit der Angst vor einer Schwächung des institutionellen Gefüges. Das Parlament und nicht die Stimmbevölkerung sei in der Pflicht, einen tragfähigen Kompromiss zu schmieden. Zudem würden – da für die Ausformulierung eines konstruktiven Referendums Expertenwissen benötigt werde – nicht die Volksrechte gestärkt, sondern eher die Einflussmöglichkeiten der Verbände verbessert. Schliesslich würde das Abstimmungsprozedere für ein Referendum mit Gegenvorschlag wesentlich komplizierter.

Einführung eines konstruktiven Referendums (Pa. Iv. 18.446)

Die SPK-SR beantragte dem Ständerat, die parlamentarische Initiative Minder (parteilos, SH), die den Grundsatz der Einheit der Materie auch für Bundeserlasse forderte, abzulehnen. Dies, nachdem sie das Begehren zuerst gutgeheissen, nach dem ablehnenden Entscheid ihrer Schwesterkommission aber umgeschwenkt war. Andrea Caroni (fdp, AR) erörterte in der entsprechenden Sommersessions-Debatte 2020 in der kleinen Kammer für seine Kommission diesen Stimmungswandel. In der Bundesverfassung sei explizit vorgesehen, dass der Grundsatz für Verfassungsrevisionen gelte, nicht aber für Bestimmungen des Gesetzgebers. Man habe also bei der Verfassung strenger sein wollen als beim Gesetzgebungsprozess, wo ein gewisser Spielraum bestehen müsse. Die Willensfreiheit sei zudem bei Paketen – also Gesetzesvorlagen mit Verknüpfungen von eigentlich sachfremden Teilen – nicht eingeschränkt. Die Stimmberechtigten könnten sagen, ob sie dieses Paket wollten oder nicht. «Nein» sagen könne zudem auch, wer grundsätzlich gegen Paketlösungen sei. Schliesslich sei das Kriterium der Einheit der Materie «extrem wolkig» und man würde eigentlich immer einen Zusammenhang finden. Man würde Gefahr laufen, dass das Kriterium nicht rechtlich, sondern politisch verwendet würde. Thomas Minder meldete sich anschliessend als Urheber des Vorstosses zu Wort. Es zeige sich, dass nun selbst Juristinnen und Juristen «mehr Freude am politischen Kuhhandel als an einer juristisch sauberen Gesetzgebung haben». Der Bundesrat selber lege kein Gesetz vor, das nicht der Einheit der Materie entspreche. Es sei dem Parlament vorbehalten, eine bundesrätliche Vorlage dann in unterschiedliche Erlasse aufzuteilen, aber diese Ergänzung einer Vorlage mit zahlreichen weiteren Themen sei nicht der Sinn der Sache. Es sei ein «seltsames staatspolitisches Verständnis», wenn Einheit der Materie auf Verfassungsstufe gelten solle, «wenn das Volk legiferiert», nicht aber «wenn wir auf Bundesebene legiferieren» – so Minder. Kompromisse seien auch ohne Pakete möglich, wenn diese gesplittet und Kuhhändel sozusagen sequentiell getätigt würden. Eine 28 zu 11 Stimmen-Mehrheit des Ständerats sah dies jedoch wie dessen Kommission und versenkte den Vorschlag.

Einheit der Materie (Pa. Iv. 18.436)

Weil die SPK-NR der zuvor von ihrer Schwesterkommission gutgeheissenen parlamentarischen Initiative Minder (parteilos, SH) für die Wahrung der Einheit der Materie auch bei Erlassen nicht Folgegeben wollte, musste die SPK-SR entscheiden, ob sie dem Ständerat Antrag für Folgegeben stellen wollte.
Mit 8 zu 3 Stimmen bei 2 Enthaltungen entschied sich die Kommission dagegen und kam damit auf ihren ursprünglichen Entscheid zurück. Man sei zum Schluss gekommen, dass es genügend Spielraum für Kompromisse geben müsse und die Räte die Möglichkeit haben sollten, verschiedene Themen zu verknüpfen, damit ein Konsens gefunden werden könne. Aufgabe des Parlaments sei es, «gesetzgeberische Lösungen für gesellschaftliche Probleme zu suchen». Ein von der parlamentarischen Initiative vorgeschlagenes gesetzlich geregeltes Verbot sei nicht zielführend, weil es verhindere, dass durch Kombination verschiedener Gegenstände möglichst breite Mehrheiten geschaffen werden können. Wenn die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger mit der Verknüpfung sachfremder Themen nicht einverstanden seien, könnten sie dies an der Urne kundtun und eine entsprechende Vorlage ablehnen. Interessant war dabei die Begründung hinsichtlich der ursprünglichen Kritik des Vorstosses, nämlich der Gefahr, dass bei Fehlen einer Einheit der Materie die unverfälschte Stimmabgabe nicht möglich sei. Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern seien auch im Alltag damit vertraut, Vorteile und Nachteile gegeneinander abzuwägen, betonte die Kommission. Es sei auch bei solchen verknüpften Vorlagen so, dass sie abgelehnt würden, wenn die Mehrheit der Stimmberechtigten zwar gewisse Vorteile fänden, die Nachteile insgesamt aber überwiegten. Von der Kommission nicht angesprochen wurde jedoch die Frage, weshalb dies bei Gesetzesvorlagen, nicht aber bei Volksinitiativen der Fall sein soll, bei der das Fehlen der Einheit der Materie ja Grund für eine Ungültigerklärung bleibt.

Einheit der Materie (Pa. Iv. 18.436)

Anfang 2020 legte der Bundesrat die Botschaft zum obligatorischen Referendum für völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter vor. Die Idee ging auf eine Motion Caroni (fdp, AR; Mo. 15.3557) zurück, die von den Räten fast oppositionslos durchgewunken worden war. Im Ständerat gab es freilich eine kleine Minderheit, die auf das hohe Konfliktpotenzial der Idee verwiesen hatte, völkerrechtliche Verträge mit Verfassungsrang oder Verträge, deren Umsetzung eine Verfassungsänderung nach sich ziehen, dem obligatorischen Referendum zu unterstellen.
Der Bundesrat begründete in seiner Botschaft, dass wichtige völkerrechtliche Verträge heute schon als obligatorische Referenden der Stimmbevölkerung und den Kantonen vorgelegt würden, dass dies also Teil ungeschriebenen Rechts sei («Referendum sui generis»). Die ausdrückliche Verankerung in der Bundesverfassung, wie sie von der Botschaft vorgesehen sei, werde also vor allem Rechtssicherheit schaffen. Dem verfassten obligatorischen Staatsvertragsreferendum untersteht bisher der Beitritt zu internationalen Organisationen und supranationalen Gemeinschaften. Mit dem vorgelegten Entwurf sollen nun auch völkerrechtliche Verträge, die Bestimmungen mit Verfassungsrang aufweisen – also etwa Grundrechte oder die föderalistische Aufgabenteilung tangieren oder institutionelle Änderungen nach sich ziehen – oder deren Umsetzung eine Änderung der Bundesverfassung erforderlich macht, dem obligatorischen Referendum unterstehen. In ihrer Botschaft verwies die Regierung auf drei Fälle, die in der Vergangenheit einem (ungeschriebenen) obligatorischen Staatsvertragsreferendum unterstellt wurden: Ein Referendum «sui generis» lag beim Beitritt der Schweiz zum Völkerbund 1920 vor. Auch der Abschluss des Freihandelsabkommens mit der EWG von 1972 wurde vom Parlament dem obligatorischen Referendum unterstellt. Bundesrat und Parlament beurteilten zudem, dass der Vertrag über einen Beitritt zum EWR Verfassungscharakter hatte. Auch dieser wurde dem obligatorischen Staatsvertragsreferendum sui generis unterstellt – nicht aber die Abstimmung über die Bilateralen II, welche «keine tiefgreifenden Änderungen unseres Staatswesens herbeiführen», so die damalige Begründung, nur das fakultative Staatsvertragsreferendum zuzulassen. Auch in Zukunft werde das obligatorische Staatsvertragsreferendum wohl nur selten zur Anwendung kommen. Die Botschaft basierte zum Teil auf dem vom Bundesrat damals vorgeschlagenen direkten Gegenentwurf zur Initiative «Staatsverträge vors Volk!», den das Parlament allerdings abgelehnt hatte.

In der Vernehmlassung war der bundesrätliche Entwurf mehrheitlich auf Zustimmung gestossen. Von den Parteien verlangte die SVP Anpassungen und die SP lehnte den Entwurf ab. Der Grossteil der Kantone unterstütze den Vorentwurf und von den teilnehmenden Interessengruppen und Privatpersonen hielten sich Gegner und Befürworter die Waage – so die Botschaft. Die Kritiker hoben einerseits hervor, dass kein Handlungsdruck bestehe. Es wurde davor gewarnt, dass es bei ungenügender Konkretisierung zahlreiche Verträge geben könnte, bei denen ein Grundrechtsbezug hergestellt werden könnte und deren Abschluss dann mit dem erforderlichen Volks- und Ständemehr erheblich erschwert würde. Auf der anderen Seite wurde ein Ausbau gefordert. Auch Instrumente, die zum Zeitpunkt der Unterzeichnung zwar nicht bindend, später aber eine Bindungswirkung entfalteten (Soft Law), sollten dem obligatorischen Referendum unterstellt werden. Damit spiegelten sich die aktuellen Diskussionen über die Einbindung des Parlaments beim Abschluss von Soft Law – etwa beim UNO-Migrationspakt – und vor allem über den Rahmenvertrag mit der EU in den Vernehmlassungsantworten. Dies wird sich wohl auch bei den parlamentarischen Beratungen zeigen, die wohl noch im Jahr 2020 stattfinden werden.

Obligatorisches Referendum für völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter (BRG. 20.016)
Dossier: Obligatorisches Referendum für völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter

Jahresrückblick 2019: Institutionen und Volksrechte

Der Bundesrat stand aus mindestens vier Gründen 2019 im Fokus der politischen Debatte. Zuerst gab die Departementsverteilung im Nachgang der Bundesratsersatzwahlen vom Dezember 2018, bei denen Doris Leuthard (cvp) und Johann Schneider-Ammann (fdp) durch Viola Amherd (cvp) und Karin Keller-Sutter (fdp) ersetzt worden waren, zu reden (vgl. auch den entsprechenden Peak bei der Medienberichterstattung). Nicht nur, dass mit Viola Amherd zum ersten Mal in der Geschichte der Schweiz eine Frau das VBS übernahm, sondern auch der Wechsel von Guy Parmelin ins WBF und von Simonetta Sommaruga ins UVEK wurden in den Medien diskutiert. Kommentiert wurde dabei insbesondere, dass die Verteilung offenbar erst nach einem Mehrheitsbeschluss innerhalb des Gremiums zustande gekommen war, was als schlechter Start und Herausforderung für die künftige Konkordanz interpretiert wurde. Mit der Wahl von zwei Frauen in die Landesregierung wurde der Debatte um die verfassungsmässige Festschreibung einer Frauenquote im Bundesrat der Wind aus den Segeln genommen. Ein entsprechender Vorstoss, der vom Ständerat noch angenommen worden war, wurde vom Nationalrat versenkt. Auch die Idee einer Karenzfrist, also das Verbot für ehemalige Magistratspersonen, Mandate von Unternehmen anzunehmen, die in Beziehung zu ihrem Regierungsamt stehen, wurde – wie schon 2015abgelehnt. Die Gesamterneuerungswahlen für den Bundesrat Ende Jahr lösten eine breite und medial stark begleitete Debatte um Zauberformel, Konkordanz, Systemstabilität und die Ansprüche der bei den Wahlen 2019 sehr erfolgreichen Grünen Partei auf einen Bundesratssitz aus. Die Mehrheit des Parlaments entschied sich, Regula Rytz, die Sprengkandidatin der Grünen, nicht anstelle von Ignazio Cassis in die Exekutive zu wählen.

Auch die Zusammenarbeit zwischen Regierung und Parlament war im Berichtjahr Gegenstand parlamentarischer Arbeit. Beraten wurde dabei insbesondere die Idee eines Verordnungsvetos. Die auf eine parlamentarische Initiative Aeschi (svp, ZG; Pa.Iv. 14.422) zurückgehende, 2014 eingereichte Idee sieht vor, dass ein Drittel der Mitglieder eines Rates gegen die Veröffentlichung einer bundesrätlichen Verordnung ein Veto einlegen kann, wenn die Stossrichtung der Verordnung nicht dem Willen des Parlaments entspricht. Während sich eine Mehrheit des Nationalrats davon eine präventive Wirkung erhoffte, lehnte die Mehrheit des Ständerats die Vorlage als zu kompliziert ab. Ein weiteres Mal abgelehnt wurde – ebenfalls nach längeren Diskussionen – die Idee einer Neuorganisation der Legislaturplanung. Das Parlament debattiert in schöner Regelmässigkeit seit der 2002 eingeführten Änderung, ob die Diskussionen um die zahlreichen Änderungsanträge an der Legislaturplanung zielführend seien. Der Antrag, die Planung wie vor 2002 einfach zur Kenntnis nehmen zu können und eben nicht als Bundesbeschluss behandeln zu müssen, stiess aber im Parlament erneut auf taube Ohren. Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass die Diskussion nach den eidgenössischen Wahlen 2019 erneut losgehen wird.

Im Nationalrat wurde 2019 die Frage erörtert, wie politisch die Verwaltung sei. Während eine Motion Bigler (fdp, ZH; Mo. 17.4127), die eine Offenlegung der Interessenbindungen von Kaderangestellten verlangt, von der grossen Kammer angenommen wurde, lehnte diese ein Postulat Burgherr (svp, AG; Po. 17.3423) ab, mit dem hätte untersucht werden sollen, wann und wie die Verwaltung effektiv politischen Einfluss ausübt. Dauerbrenner im Parlament waren auch 2019 Sparmassnahmen bei den Personalkosten in der Verwaltung. Diese sollten, wäre es nach dem Nationalrat gegangen, mit Hilfe von Digitalisierung oder durch einen Ausgabenstopp in den Griff bekommen werden – der Ständerat verweigerte aber jeweils seinen Segen dazu.

Im letzten Jahr der 50. Legislatur kam es im Parlament noch zu fünf Mutationen. Insgesamt wurden in der 50. Legislatur 26 Nationalrats- und zwei Ständeratsmandate ersetzt; rund ein Drittel der Mutationen war durch die SP-Fraktion zu verantworten. Das Büro-NR will sich in einem Bericht auf ein Postulat Feri (sp, AG; Po. 18.4252) der Vereinbarkeit der Parlamentsarbeit mit Familie und Beruf annehmen, einem Thema, das in den letzten Jahren immer virulenter zu werden scheint, wie verschiedene Vorstösse zeigen. Nicht einig wurde man sich in den Räten über verschiedene Spesenregelungen. Die SPK-NR entschloss sich deshalb, mit einer Kommissionsinitiative (Pa.Iv. 19.431) wenigstens die Übernachtungsentschädigungen einheitlicher zu organisieren. Diskutiert wurde im Parlament auch 2019 wieder über Regeln für transparenteres Lobbying. Die seit Langem schwelende Debatte, die spätestens 2015 mit der sogenannten «Kasachstan-Affäre» viel Fahrt aufgenommen hatte, wurde allerdings stark abgebremst: Fast wäre auch der letzte, ziemlich zahnlose Vorstoss in diese Richtung versandet, wenn nicht der nach den eidgenössischen neu zusammengesetzte Nationalrat den Nichteintretensentscheid auf einen Vorschlag der SPK-SR sozusagen in letzter Minute zurückgenommen hätte.

Etwas stärker in den Fokus als auch schon geriet 2019 die Judikative, was sich auch in der Medienkonjunktur zu diesem Thema zwischen März und September 2019 beobachten lässt. Dies hatte einerseits damit zu tun, dass im Nationalrat über die Revision des ziemlich umstrittenen Bundesgerichtsgesetzes debattiert wurde – insbesondere die subsidiäre Verfassungsbeschwerde wird wohl auch 2020 noch zu reden geben, auch wenn der Ständerat kurz vor Ende Jahr beschloss, nicht auf die Vorlage einzutreten. Andererseits standen einige Ersatzwahlen an, die jedoch in aller Regel geräuschlos über die Bühne gehen. Beinahe wäre jedoch eine Ersatzwahl ans Bundesgericht zur Ausnahme dieser Regel geworden, da die GK entgegen den Gepflogenheiten nicht die am stärksten untervertretene SVP, sondern die CVP berücksichtigte, was beinahe zu einer noch nie vorgekommenen Kampfwahl geführt hätte. Dafür, dass das Gerichtswesen auch in Zukunft im Gespräch bleibt, wird wohl auch die 2019 zustande gekommene Justizinitiative sorgen, die vorschlägt, oberste Richterinnen und Richter per Losverfahren zu bestimmen, um eben diese starke, dem Proporzgedanken geschuldete Verbindung zwischen Judikative und Parteien zu verhindern. Viel zu schreiben gab zudem die Bundesanwaltschaft. Nach langen und stark medial begleiteten Diskussionen zu einer Disziplinaruntersuchung um den amtierenden Bundesanwalts Michael Lauber wurde dieser erst nach einer Verschiebung der Wahl von der Sommer- in die Herbstsession und äusserst knapp für eine dritte Amtsperiode bestätigt.

Im Wahljahr 2019 trat die Nutzung der direkten Demokratie ein wenig in den Hintergrund. An zwei Abstimmungswochenenden wurde lediglich über drei Vorlagen abgestimmt. Dabei folgte die Mehrheit der Stimmbevölkerung sowohl bei den beiden Referenden (STAF und Waffenschutzrichtlinie) als auch bei der Zersiedelungsinitiative der Empfehlung von Parlament und Bundesrat. Die Ablehnung der Zersiedelungsinitiative bedeutet zudem, dass in der 50. Legislatur kein einziges Volksbegehren Erfolg hatte. Die wahlbedingte Abstimmungspause wird wohl in den folgenden Jahren zu einigen Abstimmungswochenenden mit mehreren Vorlagen führen, sind doch Ende 2019 ganze 16 Volksinitiativen im Unterschriftenstadium und 19 abstimmungsreif oder beim Bundesrat oder im Parlament in Beratung. Dafür, dass in Zukunft die direkte Demokratie umfassender genutzt werden könnte, sorgte das Parlament zudem mit seiner Entscheidung zur Kündigung von Staatsverträgen, die zukünftig nicht mehr dem Bundesrat, sondern der Legislative und im Falle eines Referendums der Stimmbevölkerung obliegt. Eines der anstehenden Volksbegehren ist die Transparenzinitiative, für die die SPK-SR 2019 einen indirekten Gegenentwurf in die Vernehmlassung gab, mit dem die Offenlegung der Finanzierung von Wahl- und Abstimmungskampagnen im Gesetz geregelt werden soll und der in der Wintersession vom Ständerat mit Anpassungen gutgeheissen wurde.

Einen herben Dämpfer erlitt 2019 die Idee des elektronischen Wählens und Abstimmens. Nachdem der Kanton Genf bereits Ende 2018 sein E-Voting-System eingestellt hatte und das System der Post in einem öffentlich ausgeschriebenen Stresstest den Anforderungen nicht standgehalten hatte, bestanden keine brauchbaren technischen Angebote mehr für die effektive Durchführung von «Vote électronique». Daher entschied sich der Bundesrat, sein Ziel, E-Voting als ordentlichen Stimmkanal einzuführen, vorläufig zu sistieren. Gegenwind erhielt der elektronische Stimmkanal zudem von einer Anfang 2019 lancierten Volksinitiative für ein E-Voting-Moratorium. Immerhin entschied sich der Nationalrat für eine Motion Zanetti (svp, ZH; Mo. 19.3294) mit dem Ziel, die Abstimmungsunterlagen elektronisch zustellen zu können.

Jahresrückblick 2019: Institutionen und Volksrechte
Dossier: Jahresrückblick 2019