Bereits seit den 1990er-Jahren beschäftigen sich Politik, Justiz und medizinische Fachkreise mit der Frage, ob Schmerzen ohne nachweisbare körperliche Ursachen die Betroffenen zu einer Rente der Invalidenversicherung berechtigen. Seit 1991 und bis 2004 hatte das Bundesgericht die Frage bejaht, dann folgte ein Grundsatzurteil, wonach bei Schmerzstörungen ohne medizinisch belegte Ursache grundsätzlich keine IV-Rente gesprochen wird. Mit entsprechender Willensanstrengungen seien die Symptome in der Regel überwindbar. In der Folge weitete das Bundesgericht die entsprechende Rechtsprechung auch auf andere unklare Beschwerdebilder aus, zum Beispiel auf das chronische Erschöpfungssyndrom, Fibromyalgie und 2010 in einem viel beachteten Urteil auch auf Schleudertraumata. Die Betroffenen leiden an Kopfschmerzen, anderen Schmerzen, Schwindel, Übelkeit, ständiger Müdigkeit oder weiteren Symptomen, was bisweilen als „buntes Beschwerdebild" beschrieben wird. Verschiedene Urteile waren seither an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte EGMR weitergezogen worden, dieser hatte jedoch noch keinen der Fälle behandelt.
Mitte 2014 hatte ein renommierter Münchner Professor und Experte für psychosomatische Medizin ein Gutachten vorgelegt, das als wegweisend betrachtet wurde. Es hielt fest, dass die bundesrichterliche Praxis auf veralteten wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhe. Gemäss dem aktuellen Wissensstand seien zwar manche Beschwerden nicht durch Messungen belegbar und damit nicht objektiv beweisbar, dies gelte jedoch auch bei anerkannten psychischen Störungen wie schweren Depressionen, welche zu einer Rentenberechtigung im Rahmen der IV führen. Auch seien chronische Schmerzen und ähnliche Störungen nicht, wie es das Bundesgericht annimmt, weniger gravierend und leichter zu überwinden als schwere psychische Krankheiten, weshalb eine Ungleichbehandlung nicht gerechtfertigt sei. Das Bundesgericht verkenne zudem den Einfluss sozialer Faktoren auf den Krankheitsverlauf, obwohl dieser wissenschaftlich belegt ist. Als Folge des in der Fachwelt auf hohen Anklang stossenden Gutachtens wurde die Vermutung laut, das Bundesgericht könnte seine Praxis anpassen. Mehrere medizinische Fachgesellschaften begannen gemeinsam die Erarbeitung von Leitlinien für die so genannten somatoformen Störungen. An genau solchen medizinischen Richtlinien hatte es dem Bundesgericht bei seinem Urteil 2004 gefehlt, worauf es die Kriterien für eine Invalidität kurzerhand selbst festgelegt hatte.
In einem im Juni 2015 veröffentlichten Urteil milderte das Bundesgericht seine Praxis tatsächlich ab. Insbesondere gab es die Annahme auf, wonach die Versicherten ihre unklaren Symptome in der Regel mit einer zumutbaren Willensanstrengung überwinden könnten. Damit solle den gemachten Erfahrungen und der Kritik aus Medizinkreisen Rechnung getragen werden. Anstelle der Vermutung der grundsätzlichen Überwindbarkeit soll ein neues strukturiertes Beweisverfahren zur Anwendung kommen, mit dem das tatsächliche Leistungsvermögen der Versicherten gesamthaft und „ergebnisoffen" überprüft wird. Dazu soll ein weites Set an Indikatoren herangezogen werden, das auch die neuen Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften berücksichtigt. Eine Rente wird weiterhin nur bei so genannt objektiver Erwerbsunfähigkeit gesprochen. Vorerst blieb noch offen, wie sich die veränderte Bundesgerichtspraxis auf die Anzahl der Rentengewährungen durch die IV und damit auch auf die Kosten der IV auswirken würde. Vonseiten des Bundesamtes für Sozialversicherungen hiess es, die IV-Stellen müssten ihre Abläufe nun rasch anpassen. Es sei möglich, dass in Zukunft bei unklaren Beschwerdebildern vermehrt Teilrenten gesprochen würden, wodurch die Anzahl der Neurenten ansteigen könnte.
Im Dezember 2015 machte das Bundesgericht klar, die neue Beurteilungspraxis gelte nur für neue IV-Gesuche, nicht für bereits abgelehnte Fälle. Eine Neubeurteilung sei nicht vorgesehen, die Aussichten auf eine IV-Rente seien für Betroffene nicht grundsätzlich angestiegen. Die Forderung der Änderungen beim Nachweis vom Invalidität im Urteil vom Juni führe nicht dazu, dass nach den alten Kriterien getroffene Entscheide der IV rechtswidrig oder nicht vertretbar gewesen wären.
IV-Rente für Schmerzpatienten