Ende November 2023 zeigte sich der Bundesrat grundsätzlich positiv zum Kommissionsentwurf, der Opfer häuslicher Gewalt ohne Schweizer Pass durch Garantie der Härtefallpraxis im AIG besser schützen wollte. Einzig gegenüber der Einführung einer neuen Bestimmung, gemäss welcher die Integrationskriterien in solchen Fällen während drei Jahren keinen Einfluss auf die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung haben sollen, zeigte sich die Regierung skeptisch. Eine solche Regelung sei überflüssig, da ein bestehender Absatz eines Artikels im AIG bereits Ausnahmen für die Integrationskriterien aufgrund gewichtiger persönlicher Umstände vorsehe.
In der Wintersession 2023 beugte sich der Nationalrat als Erstrat über die Vorlage, zu der ein Nichteintretensantrag einer Minderheit Steinemann (svp, ZH) vorlag. Für die Kommission erläuterten Samira Marti (sp, BL) und Damien Cottier (fdp, NE) noch einmal die Hauptproblematik, die zur Erarbeitung der Vorlage geführt habe. In vielen Fällen häuslicher Gewalt sei der Aufenthaltsstatus des Opfers an denjenigen des Täters gebunden (etwa durch den Familiennachzug), sofern die Ehegemeinschaft nicht bereits mehr als drei Jahre bestünde oder die Opfer noch nicht ausreichend integriert seien. Falls dies nicht zutreffe, müssten die Opfer die ihnen angetane Gewalt im Rahmen eines Mitwirkungsverfahrens als systematisch und eine gewisse Intensität aufweisend nachweisen können, was sich oftmals als schwierig darstelle. Diese Situation führe gemäss Kommission dazu, dass betroffene Personen sich aus Angst vor Verlust des Aufenthaltsrechts nicht vom gewaltausübenden Lebenspartner trennen würden, weswegen der Opferschutz gestärkt werden müsse. Dies zeige auch der Umstand, dass die Schweiz die Istanbul-Konvention aus diesem Grund nur mit Vorbehalt hatte ratifizieren können, so Marti weiter. Gegen die Vorlage stellte sich eine Minderheit Steinemann. Ihr ging die Regelung viel zu weit und sie ortete darin Missbrauchspotential. Der Minderheitsantrag auf Nichteintreten fand jedoch über die geschlossen dafür einstehende SVP-Fraktion hinaus keine Fürsprecherinnen oder Fürsprecher, womit er mit 126 zu 65 Stimmen (1 Enthaltung) gegenüber dem Antrag der Kommissionsmehrheit auf Eintreten unterlag.
In der Detailberatung versuchten weitere durch Barbara Steinemann angeführte Minderheiten, die Vorlage abzuändern. So wollte eine Minderheit die Härtefallregelung nur für Personen einführen, die sich in einer Ehegemeinschaft befanden, während der Kommissionsentwurf eine solche auch für in eingetragener Partnerschaft oder im Konkubinat lebende Opfer häuslicher Gewalt, sowie im Falle der Gewaltausübung an den in der Familiengemeinschaft lebenden Kindern vorsah. Ferner beantragte eine weitere Minderheit Steinemann dem Bundesrat zu folgen und den Absatz zu den Integrationskriterien zu streichen. Im Rat blieben diese Minderheiten jedoch chancenlos, da sie ausserhalb der SVP-Fraktion nicht auf Unterstützung stiessen. Mit 100 zu 93 Stimmen (2 Enthaltungen) lediglich knapp abgelehnt wurde hingegen eine Minderheit Cottier, welche die Kriterien zur Feststellung häuslicher Gewalt etwas enger fassen wollte. Konkret forderte der Minderheitsantrag, dass die Inanspruchnahme einer notwendigen Beratung bei einer ausgewiesenen Fachstelle für häusliche Gewalt, sowie deren Auskünfte und Berichte, nicht als Indizien für das Vorliegen häuslicher Gewalt beigezogen werden dürften. Letztere Minderheit stiess zusätzlich zur SVP-Fraktion auch bei der gesamten FDP-Fraktion auf Zuspruch.
In der Gesamtabstimmung nahm der Nationalrat den unveränderten Entwurf unter Opposition der SVP-Fraktion mit 129 zu 65 Stimmen (1 Enthaltung) an, womit das Geschäft an den Ständerat ging.
Dossier: Gewalt gegen Frauen* / häusliche Gewalt (ab Ratifikation Istanbul-Konvention)