Das Aktionsprogramm der Sozialdemokraten präsentiert sich in mancher Hinsicht als Gegenstück zum freisinnigen Wahlmanifest. Übereinstimmung herrscht zwar in der Sicht von der Dynamik unserer Zeit. Grosse Differenzen ergeben sich dagegen in der Empfehlung der politischen Mittel. Anpassung an die Dynamik der Zeit erreicht man nach dem Aktionsprogramm nur durch «demokratische Wirtschaftsplanung». Sie erfordert eine klare Unterordnung von Gewinn- und Einzelinteressen unter ein Inventar von Gemeinschaftsaufgaben. Gesamthaft gesehen, beschränkte sich also auch die Sozialdemokratie auf eine zeitgemässe Interpretation ihrer 1959 neu formulierten Doktrin. Sie wich eindeutigen Alternativen ebenso aus wie andere Parteien.

Der Parteitag der schweizerischen Sozialdemokratie, der am 21. Mai unter der Leitung von Parteipräsident Nationalrat Fritz Grütter (sp, BE) in Zürich tagte, hiess zwar das Parteiprogramm einstimmig gut. Im übrigen bot er aber — im Gegensatz zu den Konventen der Schwesterparteien — das Bild einer belebten, ja von inneren Spannungen bewegten Partei. Der Parteivorstand geriet bei verschiedenen Abstimmungen über Sektionsanträge in Minderheit, und zwar in einem Verhältnis von 1 zu 3 oder 4 (Aufhebung der betriebsweisen Plafonierung, grundsätzliche Überprüfung der Landwirtschaftspolitik unter Berücksichtigung der Integrationsprobleme, Kampf für existenzsichernde Renten der AHV).

Die Spannungen innerhalb der Sozialdemokratie machten sich nicht nur am Parteitag, sondern auch bei Wahlen bemerkbar. Im Wallis und Tessin endeten Aktionen von dissidenten Gruppen mit Ausschlüssen.

Nicht aus der Partei, aber aus der bernischen Grossratsfraktion ausgeschlossen wurden die beiden Grossräte Gassmann (BE, sp) und Villard (BE, sp). Sie hatten es unterlassen, der Fraktion ihre parlamentarischen Vorstösse statutengemäss vor dem Einreichen zu unterbreiten. Ganz offensichtlich waren aber die Disziplinarfragen bei diesen Ausschlüssen nur ein Symptom für tiefer liegende Differenzen.
Im Falle Gassmann manifestierten sich die bisher immer noch notdürftig ausgeglichenen Gegensätze zwischen separatistischen und berntreuen Anhängern innerhalb der jurassischen Sozialdemokratie, die sich bereits in den Nationalratswahlen bemerkbar gemacht hatten.
Der Fall Villard war ein weiteres Zeichen für den seit Jahren schwelenden Streit innerhalb der Bieler Sozialdemokratie, auf den wir in der letztjährigen Jahreschronik eingegangen sind. Villard ist Exponent der avantgardistischen Sektion Madretsch, die ihre Aufgabe darin sieht, gegen das «sozialistische Establishment» in Biel (repräsentiert in den Sektionen Mett, Bözingen und Stadt Biel) und darüber hinaus in Kanton und Bund zu demonstrieren. Sie ist ein Sammelbecken sozialistischer Nonkonformisten verschiedenster Färbungen, auch Anhänger kommunistischer Varianten eingeschlossen.

Der im Dezember 1967 neu gewählte Präsident der Bieler Gesamtpartei möchte versuchen, die Konflikte, soweit sie persönlich bedingt sind, zu versachlichen. Dass Sachliches und Persönliches aber nicht leicht auseinanderzuhalten sind, zeigt etwa die fristlose Entlassung Ahmad Hubers (BE, sp) als Mitarbeiter beim sozialdemokratischen Bundesstadtpressedienst. Ahmad, früher Albert Huber, der unter dem Pseudonym Georg Berner in der Zürcher Woche gewirkt hatte, betätigt sich nun unter dem zweiten Pseudonym Urs Schweizer bei der National-Zeitung. Die Entlassung scheint bedingt durch seine satirischen Kommentare zu einer Artikelserie, in der sich die schweizerischen Parteien vorstellten. Sie erscheinen manchem Leser freilich weniger satirisch als zynisch.

An der Jahresversammlung der Schweizerischen Vereinigung für politische Wissenschaft vom 9. März 1968 bekannte der Direktor des sozialistischen Parteiorgans Peuple-Sentinelle, René Meylan (NE, sp), der Sozialdemokrat habe zwei Seelen in seiner Brust. Seiner ideologischen Herkunft entsprechend, wolle er die sozialistische Gesellschaftsordnung verwirklichen, seiner jetzigen politischen Stellung nach aber möchte er als Angehöriger einer mitverantwortlichen Regierungspartei dem bestehenden Staate dienen. Damit ist der tiefere Grund der Spannungen innerhalb der Sozialdemokratie in lapidarer Kürze formuliert worden.
Es ist derselbe Zwiespalt, der auch die Zürcher Sozialdemokratie bei den Kantons-, National- und Ständeratswahlen in eine offene Krise führte. Der kantonale Parteisekretär Ueli Götsch, der vielen doktrinär orientierten Sozialdemokraten bestenfalls als guter Liberaler gilt, und der Volksrechtredaktor Ulrich Kägi, der in einer Artikelserie «Sozialismus heute» den Kapitalismus als die dem Industriezeitalter am besten angepasste Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung bezeichnete und damit die Anerkennung der NZZ fand, wurden im «Profil» mit einem «Ordnungsruf von links» zurechtgewiesen. Götschs These von den wechselnden Wahlbedürfnissen, welcher der Weltwocheredaktor R. Bigler seine Nomination zum sozialdemokratischen Ständeratskandidaten verdankte, rief der Gegenthese Lienhards, die Sozialdemokratie habe eine «bewusste Alternative zur bürgerlichen Politik» zu bringen.
In der Westschweiz zeigte der linke Flügel der Sozialdemokratie eine gewisse Bereitschaft, den Bündnisangeboten der PdA in Genf, in der Waadt und in Neuenburg entgegenzukommen.
In Neuenburg führte die Offerte einer Listenverbindung zwischen POP und Sozialdemokratie zu heftigen Diskussionen am ausserordentlichen kantonalen Parteikongress. Sie wurde aber mit 49 gegen 45 Stimmen abgelehnt.

Sozialdemokratische Partei (SP) 1967