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Jahresrückblick 2022: Aussenpolitik

Nach der Corona-Pandemie und dem institutionellen Rahmenabkommen 2020 und 2021 wurde das Jahr 2022 nun von einem gänzlich neuen Thema dominiert: Der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine löste in der Schweiz nicht nur Diskussionen zum Sanktionswesen aus, sondern auch eine Grundsatzdebatte zur Schweizer Neutralitätspolitik. Die APS-Zeitungsanalyse für das Jahr 2022 zeigt – im Vergleich zu den Vorjahren – das Aufkommen komplett neuer Themenschwerpunkte wie «Neutralität» und «Sanktionen» in der Medienberichterstattung (vgl. Abbildung 2 der Analyse im Anhang). Wenig überraschend zeigen sich Ausschläge in der Artikelzahl zum Thema Aussenpolitik im Februar und März rund um den Kriegsausbruch in der Ukraine. Zwar nahm der prozentuale Anteil der Berichte dazu in den folgenden Monaten ab, hielt sich aber bis in den Herbst hinein auf einem hohen Niveau.

Das Jahr 2022 begann aussenpolitisch mit einem grossen Paukenschlag, dem Kriegsausbruch in der Ukraine Ende Februar, der den Bundesrat gemäss Medien völlig auf dem falschen Fuss erwischte. Noch im Januar hatten sich die Aussenminister Russlands und der USA in Genf getroffen, um die angespannte Lage an der russisch-ukrainischen Grenze zu deeskalieren. Aussenminister Cassis hatte damals von einer «freundschaftlichen, aber konzentrierten Stimmung» gesprochen. Der Angriff Russlands auf die Ukraine im Donbass löste im Parlament, wie auch in der Bevölkerung heftige Reaktionen aus. Stände- und Nationalrat verabschiedeten wenige Tage nach Kriegsausbruch eine Erklärung, mit der sie einen sofortigen Waffenstillstand verlangten, und übten in der Folge Druck auf den Bundesrat aus, wirtschaftliche Sanktionen der EU zu übernehmen. Nach mehreren verbalen Verurteilungen des Vorgehen Russlands als völkerrechtswidrig und aufgrund des massiven Drucks aus dem In- und Ausland beschloss der Bundesrat am 27. Februar die Übernahme der Sanktionspakete der EU gegen Russland. Bundespräsident Cassis wurde in der Folge nicht müde zu betonen, dass die Schweiz ihre Neutralität mit dieser Art der Sanktionsübernahme beibehalte. In den folgenden Wochen und Monaten übernahm die Schweiz sämtliche Ausweitungen der Sanktionen der EU gegen Russland – und später auch gegen Belarus. Fast zeitgleich zur Übernahme des EU-Sanktionsregimes gab die Regierung bekannt, die ukrainische Bevölkerung mit Hilfsgütern zu unterstützen. Ein erstes Paket in Höhe von CHF 8 Mio. wurde in raschen Abständen durch weitere Hilfsgüterlieferungen und die finanzielle Unterstützung von humanitären Organisationen ergänzt. Im Bereich der Guten Dienste unterstützte die Schweiz den Reform- und Wiederaufbauprozess in der Ukraine mithilfe der von langer Hand geplanten Ukraine Recovery Conference, die im Juli in Lugano stattfand. Die seit 2017 jährlich stattfindende Ukraine Reform Conference wurde angesichts des Kriegsgeschehens umbenannt und inhaltlich neu ausgerichtet.

Der Erlass und die Übernahme von Sanktionen stellten nicht nur den Bundesrat, sondern auch das Parlament vor neue Fragen und hielten dieses auf Trab. Davon zeugen nicht nur die parlamentarischen Vorstösse zum Thema, sondern auch die intensiven Debatten, die im Rahmen der Anpassung des Embargogesetzes geführt wurden. Eine bereits im Jahr 2019 eingereichte parlamentarische Initiative zur Einführung einer Rechtsgrundlage für gezielte Sanktionen bei schweren Menschenrechtsverletzungen und Korruption durch hochrangige Politiker und Politikerinnen erhielt aufgrund der geopolitischen Umstände besondere Relevanz. Zwar wurde diese vom Ständerat abgelehnt, doch trug sie massgeblich zu einer umfassenden Debatte innerhalb des Parlaments über das Schweizer Sanktionswesen bei. Im Mai 2022 verlangte die APK-NR vom Bundesrat mittels einer Kommissionsmotion die Entwicklung einer kohärenten, umfassenden und eigenständigen Sanktionspolitik. Der reine Nachvollzug von EU- und UNO-Sanktionen genügten nach Ansicht der Kommission nicht, um die Landesinteressen der Schweiz in den Bereichen Sicherheit, Versorgungssicherheit und Rechtsstaatlichkeit zu gewährleisten.

Eng mit den Überlegungen zur Sanktionsthematik verknüpft war die Frage, inwiefern die Schweiz diese mit ihrer Neutralität respektive mit ihrer Neutralitätspolitik vereinbaren könne. Während die SVP die Schweizer Neutralität durch die übernommenen EU-Sanktionen als bedroht erachtete, liess Alt-Bundesrat Blocher bezüglich der Sanktionsübernahme verlauten: «Wer hier mitmacht, ist eine Kriegspartei.» Derweil wünschte sich die APK-SR vom Bundesrat in einem Postulat mehr Klarheit und Orientierung in der Neutralitätspolitik. Diese Forderung versprach der Bundesrat durch einen aktualisierten Neutralitätsbericht – der letzte stammte aus dem Jahr 1993 – zu erfüllen. Aussenminister Cassis scheiterte jedoch Anfang September mit der Konzeptionierung der von ihm geprägten «kooperativen Neutralität», als der Gesamtbundesrat den Neutralitätsbericht zurückwies. Erst Ende Oktober verabschiedete die Regierung den Bericht in Erfüllung des Postulats und beschloss, an der Neutralitätspraxis aus dem Jahr 1993 festzuhalten. Im gleichen Monat kündigte die neu gegründete nationalkonservative Gruppierung «Pro Schweiz» an ihrer Gründungsversammlung die Lancierung einer Volksinitiative an, mit der sie die «immerwährende bewaffnete Neutralität» der Schweiz in der Verfassung festschreiben will.

Wenn auch nicht im gleichen Ausmass wie in den Jahren zuvor, sorgten aber auch im Jahr 2022 die bilateralen Beziehungen mit der EU für einige Schlagzeilen. Insbesondere die vom Bundesrat im Januar vorgestellte neue Stossrichtung für das Verhandlungspaket mit der EU sorgte aufgrund des gewählten sektoriellen Ansatzes vielerorts für Kopfschütteln, nicht zuletzt bei EU-Vertreterinnen und -Vertretern selbst. Auch das Parlament kämpfte weiterhin mit den Nachwehen des gescheiterten Rahmenabkommens und beschäftigte sich mit der Vielzahl der 2021 eingereichten parlamentarischen Vorstösse, deren Forderungen von einer nachhaltigen Zusammenarbeit mit der EU, über einen EWR-Beitritt bis zum EU-Beitritt reichten. Der vom Bundesrat versprochene Europabericht, welcher eine Vielzahl der Vorstösse hätte beantworten sollen, liess indes auf sich warten. Im März schwebte überdies die Abstimmung über das Frontex-Referendum wie ein Damoklesschwert über der sowieso schon belasteten Beziehung mit der EU. Ein Nein hätte unter Umständen den Ausschluss aus dem Schengen/Dublin-Abkommen nach sich ziehen können. Zwar verschwanden entsprechende Diskussionen nach dem deutlichen Ja im März 2022 rasch, ein im Sommer publik gewordener Briefwechsel zwischen EU-Vize-Kommissionspräsident Maros Sefčovič und Staatssekretärin Livia Leu warf jedoch ein erneut negatives Licht auf den Stand der bilateralen Verhandlungen. Daraus ging hervor, dass auf beiden Seiten weiterhin Unklarheiten über die jeweiligen Forderungen und roten Linien existierten. Etwas Versöhnlichkeit zeigte das Parlament im März, als es einer Aktualisierung des Abkommens mit der Europäischen Gemeinschaft über Zollerleichterungen und Zollsicherheit zustimmte, sowie in der Herbstsession mit der Annahme zweier Vorlagen zur Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands. Auch die Anpassungen der Systeme ETIAS und VIS waren in beiden Räten ungefährdet.

Im Gegensatz zu den stagnierenden Beziehungen zur EU zeigte sich die Schweiz sehr aktiv im Umgang mit einzelnen Partnerländern. Das Verhältnis zum Vereinigten Königreich wurde im Frühling 2022 unter anderem durch ein Mobilitätsabkommen für Dienstleistungserbringende, ein Sozialversicherungsabkommen und durch einen Präsidialbesuch von Bundespräsident Cassis in London gestärkt. Ebenfalls im Frühjahr reiste Cassis wenige Wochen nach der Annahme des neuen Grenzgängerabkommens mit Italien im Parlament nach Italien, um sich unter anderem mit dem italienischen Aussenminister Luigi di Maio zu treffen. Generell zeigte sich Cassis in seiner Doppelrolle als Aussenminister und Bundespräsident sehr reise- und gesprächsfreudig. Das belegen unter anderem Staatsbesuche in Österreich und der Tschechischen Republik, Polen und Moldawien, Japan, Niger und dem Vatikan, aber auch Gespräche mit dem Aussenminister der VAE und der slowakischen Präsidentin Zuzana Čaputová.
In seiner Chinapolitik musste der Bundesrat 2022 innenpolitisch mehrere Dämpfer hinnehmen: Das Parlament stimmte gegen seinen Willen mehreren Motionen zu, mit denen die wirtschaftlichen Beziehungen mit China und der Whole-of-Switzerland-Ansatz anders ausgestaltet werden sollen.
Auf multinationaler Ebene stach insbesondere die erfolgreiche Wahl der Schweiz als nichtständiges Mitglied des UNO-Sicherheitsrats im Juni hervor. Darüber hinaus beschloss das Parlament, dass sich die Schweiz weiterhin an der internationalen Währungshilfe beteiligen soll, und verabschiedete einen Verpflichtungskredit in Höhe von CHF 10 Mrd. bis 2028, der als Notreserve bei starken Störungen des internationalen Währungssystems eingesetzt werden kann.

Jahresrückblick 2022: Aussenpolitik
Dossier: Jahresrückblick 2022

Die Diskussionen um das Thema «Frauen im Bundesrat» begannen bereits fünf Tage nach dem Rücktritt von Ueli Maurer und begleiteten die ganzen Bundesratswahlen 2022. Die NZZ titelte zu Beginn, dass die SVP «auffällig viele Bundesratskandidatinnen» habe und «plötzlich Frauenpartei» sei. Auch wenn Magdalena Martullo-Blocher (svp, GR) und Diana Gutjahr (svp, TG) bereits abgesagt hätten, hätten die Medien mit Esther Friedli (svp, SG), Natalie Rickli (svp, ZH), Monika Rüegger (svp, OW) und Cornelia Stamm Hurter (SH, svp) «für eine Partei ohne Frauenförderungsprogramm [...] erstaunlich viele valable Kandidatinnen» ausgemacht. Nachdem bis auf die Nidwalder Regierungsrätin Michèle Blöchliger (NW, svp) alle Kandidatinnen abgesagt hatten, drehte jedoch der Wind in der Berichterstattung: Der SVP mangle es an Frauen, titelte etwa 24Heures. Sie bleibe «le parti des hommes», schrieb Le Temps, wofür sie die lediglich knapp 20 Prozent gewählten SVP-Frauen im nationalen Parlament, aber auch das Verhalten der Männer in der Partei als Belege ins Feld führte. Ueli Maurer habe 2014 Frauen beispielsweise als «Gebrauchtgegenstände im Haushalt» bezeichnet. Entsprechend habe Michèle Blöchliger gegen die männlichen SVP-Schwergewichte auch keine Chance. Der Tages-Anzeiger erinnerte daran, dass die SVP in Geschlechterfragen bereits einmal weiter gewesen sei: Im Jahr 2000 habe sie Rita Fuhrer als Bundesratskandidatin vorgeschlagen, das Parlament habe damals jedoch Samuel Schmid gewählt. Die Sonntagszeitung sprach ob der vielen Absagen hingegen von einer «Partei der Feiglinginnen».
Zwar forderten nicht wenige Exponentinnen und Exponenten der SVP – etwa Toni Brunner (svp, SG), der der Findungskommission angehörte, Nationalrätin Céline Amaudruz (svp, GE) oder gar Christoph Blocher –, dass die Partei dem Parlament eine Kandidatin und einen Kandidaten zur Auswahl präsentiere. Letztlich war die einzige Frau unter den offiziell Kandidierenden allerdings chancenlos: In der Fraktion sprachen sich nur 4 (von 51) Mitgliedern für die Nidwaldner Kandidatin Blöchlinger aus.

Nicht nur die Gleichstellung von Frauen und Männern, auch die Genderdebatte erhielt im Zusammenhang mit den Wahlen einige mediale Aufmerksamkeit. So sorgte eine im Rahmen seiner Rücktrittsankündigung gemachte Aussage von Ueli Maurer für Kritik, wonach es keine Rolle spiele, ob eine Frau oder ein Mann seine Nachfolge übernehmen werde – «solange es kein ‹Es› ist, geht es ja noch». Das Transgender-Netzwerk forderte vom scheidenden Bundesrat eine Entschuldigung und Kim de l’Horizon, die genderfluide, nichtbinäre Person, die mit ihrem Debütroman 2022 mit dem Schweizer und dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet worden war, fragte in einem NZZ-Feuilletonbeitrag, was so schlimm am Körper von Kim de l'Horizon sei, dass ihn Ueli Maurer von politischer Führung ausschliessen wolle. Kim de l'Horizon lade den noch amtierenden Bundesrat auf ein Bier ein, damit dieser ein «Es» kennenlernen könne.

Diese Debatten waren jedoch in der Folge auch deshalb nur noch Randthema, weil die Gleichstellungsdiskussion kurz nach dem Rücktritt von Simonetta Sommaruga auf die SP übersprangen, nachdem die Parteileitung bekannt gegeben hatte, dass die SP auf ein reines Frauenticket setzen werde. Es sei «logisch», dass die SP nur Frauen aufstelle, weil sie mit Alain Berset bereits einen Mann in der Regierung habe, war zwar zuerst der allgemeine mediale Tenor gewesen. Auch nachdem Daniel Jositsch (sp, ZH), der selber Ambitionen auf den Sitz in der Bundesregierung hegte, diese Entscheidung kritisiert und eine eigene Kandidatur in den Raum gestellt hatte, war im linken Lager unbestritten, dass nur eine Frau als Nachfolgerin von Simonetta Sommaruga in Frage kommen würde – auch wenn dieser Entscheid auch von einigen SP-Frauen kritisiert wurde. Einige Kritik wurde jedoch auch aus dem bürgerlichen Lager laut.

Für mehr mediale Aufmerksamkeit sorgte hingegen die von Tamara Funiciello (sp, ZH) lancierte Überlegung, dass es im Bundesrat mehr junge Mütter mit schulpflichtigen Kindern brauche, damit die Gleichstellung und die Diskussion um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie Fortschritte machten. Im Sonntagsblick wurde vermutet, dass junge Mütter wohl bei einer Wahl stärker in der Kritik stehen und wahlweise als schlechte Mutter oder schlechte Bundesrätin gelten würden. Mit Elisabeth Kopp, Micheline Calmy-Rey und Eveline Widmer-Schlumpf seien zwar bereits Mütter in der Landesregierung gewesen, nur die Tochter von Elisabeth Kopp sei damals allerdings im schulpflichtigen Alter gewesen, berichtete der Tages-Anzeiger. Karin Keller-Sutter habe vor einigen Jahren gar gesagt, dass ihre politische Karriere mit Kindern nicht möglich gewesen wäre. In anderen Ländern sei es hingegen Realität, dass junge Frauen mit Kindern Regierungsverantwortung übernähmen. Natürlich sei es in der Schweiz unüblich, dass jemand zwischen 30 und 40 Bundesrätin werde, dennoch sei es nie jemandem in den Sinn gekommen, bei Alain Berset in der entsprechenden Situation nach Vereinbarkeit von Amt und Familie zu fragen, so der Tages-Anzeiger. Freilich habe es auch schon Männer gegeben, die aus familiären Gründen auf einen Bundesratsposten verzichtet hätten, aktuell etwa Marcel Dettling (svp, SZ) bei der Nachfolge von Ueli Maurer. Die NZZ meinte hingegen, dass die Frage nicht sei, ob die Schweiz dafür bereit sei, sondern ob junge Schweizer Mütter sich überhaupt zur Verfügung stellen würden.
Vor allem bei der Kandidatur von Evi Allemann (BE, sp) war das Thema «junge Mütter im Bundesrat» Gegenstand jedes Interviews mit der Bernerin. Es sei «vielleicht eine neue Selbstverständlichkeit», dass junge Frauen, die vor 20 Jahren gewählt worden seien, dank ihrer Erfahrung mehr Verantwortung übernehmen wollten, mutmasste Evi Allemann in einem dieser Interviews. Ihre Arbeit im Regierungsrat des Kantons Bern zeige, dass es sehr wohl möglich sei, Kinder zu haben und ein Regierungsamt zu bekleiden, gab sie dabei zu Protokoll.

Dass Politikerinnen auch medial anders beurteilt werden als Politiker, zeigte dann auch die Kandidatur von Eva Herzog (sp, BS). Nicht ihre Mutterschaft, sondern ihr Alter war häufig Gegenstand der Berichterstattung: «Es ist halt immer das Gleiche. Zuerst sind die Frauen zu jung und unerfahren, dann haben sie Kinder und es geht nicht, und am Schluss sind sie zu alt», kritisierte die Basler Ständerätin die entsprechenden Diskussionen. Beim SVP-Kandidaten Heinz Tännler (ZG, svp), der 62 Jahre alt sei, rede niemand über das Alter. Letztlich gehe es im Bundesrat aber weder um Geschlecht, Familie oder Alter, sondern um Dossierkenntnisse, so Eva Herzog.
Interessanterweise wurde das Thema Vereinbarkeit von Amt und Familie in der Deutschschweizer Presse wesentlich virulenter diskutiert als in der Westschweizer Presse. Als möglichen Grund erachtete Min Li Marti (sp, ZH) in einem Interview mit der NZZ, dass die Vorstellung, dass Familie Privatsache sei und eine Frau, die sich nicht den Kindern widme, eine Rabenmutter sei, in der Deutschschweiz viel stärker verbreitet sei als in der Romandie.

Als positiv wurde es hingegen vielfach erachtet, dass die Diskussion um Frauenvertretung im Bundesrat heute wesentlich wichtiger sei als noch vor ein paar Jahren. Dass die Vertretung von Frauen in der Politik heute viel stärker als Selbstverständlichkeit betrachtet werde, sei ein grosser Fortschritt, urteilte etwa der Tages-Anzeiger. Vielleicht würden künftig andere Kriterien wichtiger. In der Tat gab es im Vorfeld der Ersatzwahlen etwa auch Forderungen für eine bessere Repräsentation hinsichtlich Ausbildung und von «Nicht-Studierten» im Bundesrat. Im Zusammenhang mit möglichen Wahlkriterien wurde zudem oft darauf hingewiesen, dass die früher bedeutende Konfessionszugehörigkeit heute überhaupt keine Rolle mehr spiele.

Mehrfach Grund für Kritik lieferte schliesslich die mediale Berichterstattung zu den Wahlen selbst. So spielten bei der Analyse der Gründe für die Wahl Albert Röstis und Elisabeth Baume-Schneiders in den meisten Deutschschweizer Medien Geschlechterdiskussionen eine relevante Rolle. Hervorgehoben wurde vor allem die im Vergleich zu Eva Herzog sympathischere Art der Jurassierin. Die NZZ beispielsweise kritisierte, dass die «sich zugänglicher und mütterlicher» präsentierende Elisabeth Baume-Schneider die «pragmatisch, kompetent und maximal unabhängig» und «überdurchschnittlich starke Kandidatin» Eva Herzog habe übertrumpfen können. Dies habe einen «schale[n] Nachgeschmack». Bei den beiden SVP-Kandidaten waren solche Attribute kaum zu finden. Zwar wurde anders als noch bei früheren Bundesrätinnenwahlen kaum über Frisur oder Kleidung geschrieben, trotzdem war auffällig, dass nur bei den Frauen ein «sympathisches und mütterliches» Auftreten als möglicher Wahlgrund aufgeführt wurde, nicht aber bei den beiden Männern. Albert Rösti wurde weder als «väterlich» noch als «zugänglich» beschrieben. Er sei zwar «ein fröhlicher Mensch», so die NZZ, er habe aber eine «andere Eigenschaft, die ihn für den harten Job eines Bundesrats empfiehlt: Er ist zäh».

Umgekehrt wurde insbesondere von verschiedenen Frauen mehrfach kritisiert, dass einmal mehr, wie bereits bei der Wahl von Ruth Metzler 1999, nicht die kompetentere, sondern die «Frohnatur», wie es die NZZ ausdrückte, gewonnen habe. «Starke Frauen» hätten es demnach schwer, von den Männern gewählt zu werden, lautete die Kritik. Hingegen verwies die NZZ darauf, dass auch bei den Männern nicht selten der «Gmögigere» gewinne.

Gleichstellungsdiskussionen im Rahmen der Bundesratswahlen 2022

Im Oktober 2022 wurde unter dem Namen «Pro Schweiz» eine neue nationalkonservative und EU-skeptische Gruppierung aus der Taufe gehoben. Sie ist das Produkt einer Dreierfusion aus der «Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz» (Auns), dem «Komitee Nein zum schleichenden EU-Beitritt (EU-No)» und der «Unternehmer-Vereinigung gegen den EU-Beitritt». Bereits im Frühling hatten die drei Organisationen je separat der Fusion – und damit ihrer Auflösung – zugestimmt.

Zum Gründungspräsidenten von Pro Schweiz wurde Stephan Rietiker (ZG, svp) gewählt, mit 15 Gegenstimmen bei 450 Anwesenden – die einzige Abstimmung an der Gründungsversammlung, die nicht einstimmig ausfiel, wie die NZZ festhielt. Für Rietiker ist das Pro-Schweiz-Präsidium das erste politische Amt: Bisher habe ihm für ein regelmässiges politisches Engagement wegen beruflicher Verpflichtungen die Zeit gefehlt, wie er der AZ erklärte. Nun plane er einen Tag pro Woche für Pro Schweiz einzusetzen, entlöhnt werde sein Präsidium nicht. Der 65-jährige US-schweizerische Doppelbürger ist Medtech-Unternehmer, Arzt, Oberst im Generalstab und ehemaliger kurzzeitiger Präsident des Fussballklubs Grasshoppers. Zu Rietikers parteipolitischem Werdegang wusste die NZZ zu berichten, dass dieser in seinen jungen Jahren die NZZ abbestellte, weil sie ihm «zu links» war, und der Autopartei beitrat. Später sei er FDP-Mitglied, dann parteilos und wieder FDP-Mitglied gewesen, bevor er vor zwanzig Jahren zur SVP wechselte. Ein gewisses politisches Engagement entwickelte Rietiker als Kritiker der behördlichen Covid-19-Politik, im Herbst 2021 kam er zu Medienauftritten im Abstimmungskampf gegen die zweite Revision des Covid-19-Gesetzes. Im Zusammenhang mit diesem Engagement wurde gemäss NZZ Christoph Blocher (ZH, svp), der als graue Eminenz von Pro Schweiz gilt, auf Rietiker aufmerksam und fragte ihn schliesslich für das Pro-Schweiz-Präsidium an.
Mehr politische Erfahrung brachte der Vizepräsident von Pro Schweiz mit: Nationalrat Walter Wobmann (SO, svp) ist insbesondere als Vater der Initiativen für ein Minarettverbot und für ein Verhüllungsverbot bekannt. Wie Wobmann sind auch die meisten weiteren Mitglieder des 13-köpfigen Gründungsvorstands daneben in der SVP aktiv, so unter anderem die Nationalratsmitglieder Piero Marchesi (TI), Pierre-André Page (FR) und Therese Schläpfer (ZH) sowie die alt Nationalräte Adrian Amstutz (BE), Christoph Mörgeli (ZH) und Ulrich Schlüer (ZH). Geschäftsführer wurde Werner Gartenmann, der dieselbe Funktion schon bei der Auns ausgeübt hatte. Angesichts des doch stark parteipolitisch geprägten Vorstands äusserten einige Medien in ihren Kommentaren Zweifel, ob das von Rietiker formulierte Ziel, Pro Schweiz wieder über die SVP hinaus im bürgerlichen Lager abzustützen – wie die Auns in deren Anfangszeiten –, realistisch sei. Auch die angestrebte Verjüngung der Mitgliederbasis fand im Gründungsvorstand – und gemäss Medienberichten auch in der Teilnehmerschaft der Gründungsversammlung – noch keinen Niederschlag. Nicht im Gründungsvorstand sassen Lukas Reimann (SG, svp) und Roger Köppel (ZH, svp), die bisherigen Präsidenten der Auns und des Komitees «EU-No».

Stark betont wurde in den Pressekommentaren die Rolle von Christoph Blocher, der bei Pro Schweiz zwar kein Amt übernahm, aber der Haupttreiber hinter der Fusion gewesen war und auch den Gründungsakt der neuen Organisation leitete. Blocher war 1986 selbst Gründungspräsident der Auns gewesen und hatte diese zu ihrem grösstem Erfolg geführt, nämlich zum Sieg in der EWR-Abstimmung 1992. Auch das 2013 gegründete Komitee «EU-No» hatte Blocher früher präsidiert. Die Fusion bezeichnete er als notwendig, um dem konservativen Lager zu mehr Schlagkraft zu verhelfen; Pro Schweiz solle eine direktdemokratische «Kampforganisation» «gegen die Gegner der Schweiz im Innern» werden. Die Auns hingegen habe zuletzt an Kraft eingebüsst und war nach Blochers Einschätzung nicht mehr referendumsfähig. Nichtsdestotrotz war die Auns mit 20'000 zahlenden Mitgliedern und Einnahmen von rund einer Million Franken pro Jahr die mit Abstand grösste Fusionspartnerin. Pro Schweiz zählte bei ihrer Gründung gemäss NZZ 25'000 Mitglieder.

Dafür, dass sich Pro Schweiz inhaltlich wesentlich anders positionieren würde als die Auns, sahen die Medienkommentare keine Anhaltspunkte; die Fusion wurde als primär organisatorische und personelle Neuaufstellung dargestellt. Allerdings habe sich Rietiker über seine Pläne noch nicht stark in die Karten blicken lassen, sondern in seiner Antrittsrede eher allgemein über die Freiheit, die EU, die Zuwanderung, die «Woke-Kultur», die Medien, die Corona-Massnahmen, das «Gutmenschentum», eine «dilettantische Energiepolitik» des Bundes, die «skandalösen» Sanktionen gegen Russland und eine anzustrebende Orientierung an wachsenden Märkten in Asien und Amerika statt der EU gesprochen. Ein konkretes Projekt beschloss Pro Schweiz indessen gleich noch an der Gründungsversammlung – die Lancierung der Neutralitätsinitiative, welche ihrerseits eine Idee Blochers ist.

Ablösung der Auns durch «Pro Schweiz»

Am 15. Oktober 2022 enstand aus der Fusion der «Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (Auns)», dem «Komitee Nein zum schleichenden EU-Beitritt (EU-No)» und der «Unternehmer-Vereinigung gegen den EU-Beitritt» ein neuer nationalkonservativer und EU-skeptischer Verein namens «Pro Schweiz». An dessen Gründungsversammlung beschlossen die anwesenden Mitglieder, die von Alt-Bundesrat Christoph Blocher lancierte Neutralitätsinitiative inhaltlich sowie finanziell zu unterstützen. Die Volksinitiative entstand in Reaktion auf die Übernahme der EU-Sanktionen gegen Russland und die neue Auslegung der Neutralitätspolitik. Die Initiative wurde am 19. Oktober lanciert und hat das Ziel, eine «immerwährende» und «bewaffnete» Neutralität in der Verfassung zu verankern. Das Begehren will der Schweiz den Beitritt zu Militär- und Verteidigungsbündnissen und die Beteiligung an militärischen Auseinandersetzungen verbieten. Auch nichtmilitärische Zwangsmassnahmen wie Wirtschaftssanktionen sollen laut Initiative tabu werden. Die einzigen Ausnahmen bilden die Verpflichtungen gegenüber der UNO und Massnahmen zur Verhinderung der Umgehung von Sanktionen von Drittstaaten. Eine weitere Forderung der Initiative beinhaltet, dass die Schweiz ihre Neutralität nutzt, um Konflikte zu verhindern oder aufzulösen, indem sie sich als Vermittlerin einsetzt. Erstaunlicherweise war Christoph Blocher, der die Initiative massgebend vorangetrieben hatte, nicht Teil des Initiativkomitees. Blocher liess verlauten, dass er in seinem Alter keinen Abstimmungskampf mehr führen wolle. Präsidiert wurde das Initiativkomitee von SVP-Nationalrat Walter Wobmann (svp, SO), der in der Rolle des Abstimmungskämpfers schon bei der Minarett- und der Burka-Initiative erfolgreich gewesen war. Die Frist für das Sammeln der nötigen 100'000 Unterschriften läuft bis zum 8. Mai 2024.

Die Initiative stiess bei den Parlamentariern und Parlamentarierinnen anderer Parteien auf wenig Gegenliebe. Mitte-Fraktionschef Philipp Matthias Bregy (mitte, VS) sprach sich gegen das Begehren aus, da sich die Schweiz nicht «in jeder Krise hinter der Neutralität verstecken» dürfe. FDP-Nationalrat Hans-Peter Portmann (fdp, ZH) erachtete die SVP-Initiative als falschen Weg.

Lancierung der Volksinitiative «Wahrung der schweizerischen Neutralität (Neutralitätsinitative)»

30. September 2022: Der Rücktritt von Ueli Maurer

Obwohl immer wieder über seinen Rücktritt spekuliert worden war, kam die Ankündigung von Ueli Maurer, nach 14 Jahren Regierungstätigkeit Ende 2022 sein Bundesratsmandat niederzulegen, einigermassen überraschend. Maurer selber hatte nach den letzten Spekulationen vor gut einem Jahr verlauten lassen, er werde mindestens bis Ende Legislatur (also bis Oktober 2023) in der Regierung bleiben und dann vielleicht gar nochmals vier Jahre anhängen. Am 30. September 2022 liess er dann aber an einer Pressekonferenz verlauten, er wolle wieder «der normale Ueli» sein und habe noch einige private Projekte in Planung. Mit 71 Jahren war Maurer der älteste amtierende Bundesrat seit Einführung der Zauberformel. Maurer war 2008 für Samuel Schmid in den Bundesrat gewählt worden und hatte damit die kurze Oppositionsphase der SVP beendet. Er hatte zuerst das Verteidigungsdepartement übernommen, bevor er 2015 ins Finanzdepartement gewechselt war. In den Medien wurde Maurer als «erfolgreichster Politiker der Schweiz» (St. Galler-Tagblatt) beschrieben, allerdings auch dafür kritisiert, dass er häufig mit den Grenzen der Kollegialität gespielt habe und aufgrund seines schlechten Französisch nur einen «reduzierten Kontakt mit der Romandie» gepflegt habe (Le Temps). Im Parlament habe er als Finanzminister grossen Respekt genossen, gaben mehrere Parlamentsmitglieder zu Protokoll. Gelobt wurden zudem seine umgängliche Art, seine Dossierkenntnis und sein Pragmatismus. Er sei sich treu, bodenständig und bescheiden geblieben, urteilte der Blick. Der «widerborstige Bauernsohn» habe sich «nicht vom System vereinnahmen lassen», fasste die Aargauer Zeitung zusammen. Der «erstaunlich wandlungsfähige» Maurer gehöre «zu den Politikern, die zu Anfang ihrer Karriere belächelt, später gefürchtet oder gehasst und am Schluss respektiert werden», befand die NZZ. Auch der «launische Umgang» mit den Medien war Gegenstand der medialen Würdigungen: Der Tages-Anzeiger bezeichnete den SVP-Magistraten als den letzten «Oppositions-Bundesrat» – «mäandriered zwischen den Rollen als Staatsmann und Oppositioneller» habe er es allerdings geschafft, die Konkordanz nach den unruhigen Jahren nach Christoph Blocher und Eveline Widmer-Schlumpf wieder zu stabilisieren. Die Weltwoche vermutete, dass «dem Berner Politikbetrieb» die Spontanität Maurers bald fehlen werde. Kritischer urteilte die WoZ: Maurer habe «wesentlich dazu beigetragen [...], rechtspopulistische Hetze zu normalisieren».

Bereits am Tag nach der Rücktrittsankündigung überboten sich die Medien mit Spekulationen über mögliche Nachfolgerinnen und Nachfolger von Ueli Maurer. Am häufigsten genannt wurden die Nationalrätinnen Esther Friedli (svp, SG) und Céline Amaudruz (svp, GE), die Zürcher Regierungsrätin Natalie Rickli (ZH, svp), die Nationalräte Albert Rösti (svp, BE), Gregor Rutz (svp, ZH) und Thomas Aeschi (svp, ZG), der frühere Parteipräsident und Nationalrat Toni Brunner (SG, svp) sowie der Aargauer Regierungrat Jean-Pierre Gallati (AG, svp). Albert Rösti galt in den meisten Medien als Kronfavorit. Seine einzige Schwäche sei, dass Christoph Blocher, der «noch immer ein entscheidendes Wort mitzureden» habe, wie der Blick wusste, gegen ihn ein Veto einlegen könnte. Dies gelte nicht für Esther Friedli, die als mögliche erste SVP-Bundesrätin gehandelt wurde. Dass neben Karin Keller-Sutter eine zweite St. Gallerin bereits in der Regierung sitze, sei kein Problem, urteilten vor allem die Ostschweizer Medien. Eine früher oft gehandelte Anwärterin auf einen Bundesratssitz, Magdalena Martullo-Blocher gab hingegen noch am Tag von Maurers Rücktritt bekannt, kein Interesse am Regierungsamt zu haben. Ebenfalls unverzüglich aus dem Rennen nahmen sich Roger Köppel (svp, ZH) und Franz Grüter (svp, LU). Auch Diana Gutjahr (svp, TG) erteilte entsprechenden medialen Anfragen eine Absage, da für sie «als junge Mutter [...] der richtige Zeitpunkt für eine Bundesratskandidatur nicht gegeben» sei, wie das St. Galler-Tagblatt bedauerte. Auch Toni Brunner schloss einen Rücktritt auf die nationale Bühne bald aus und nach einiger Bedenkzeit verzichtete auch seine Lebenspartnerin Esther Friedli. Sie wolle ihre regionale Verankerung für den Ständeratswahlkampf nutzen, der aufgrund des Rücktritts von Paul Rechsteiner (sp, SG) im kommenden Frühling 2023 anstand. Bundesrätin werden sei hingegen kein Lebensziel von ihr.

Nachdem sowohl Natalie Rickli als auch der ebenfalls angefragte Regierungsrat Ernst Stocker (ZH, svp) und auch Gregor Rutz bekannt gegeben hatten, nicht für die Nachfolge Maurers kandidieren zu wollen, schien sich abzuzeichnen, dass der Kanton Zürich in Kürze zum zweiten Mal in der Geschichte nicht im Bundesrat vertreten sein könnte. Nur während knapp sieben Jahren zwischen dem Rücktritt von Elisabeth Kopp (1989) und der Wahl von Moritz Leuenberger (1995) war der bevölkerungsreichste Kanton der Schweiz nicht in der eidgenössischen Regierung präsent gewesen und stellte folglich bisher mit 20 Magistratinnen und Magistraten die meisten Bundesratsmitglieder aller Kantone. Von einer «Blamage» für die kantonalzürcherische SVP, die es versäumt habe, rechtzeitig für mögliche Nachfolgerinnen und Nachfolger zu sorgen, sprach in der Folge der Tages-Anzeiger. Dass der Zürcher Flügel nicht vertreten sei, sei aber auch darauf zurückzuführen, dass die Kantonalpartei aufgrund der reihenweisen Absagen eine «Partei der Nein-Sager» sei, so der Blick weiter. Die «oppositionelle DNA der Zürcher SVP» entpuppe sich jetzt als Nachteil, analysierte die Aargauer Zeitung.

Im Gegensatz zum «Personalproblem» der Zürcher habe die Berner SVP einen Kandidaten zu viel, kommentierte der Tages-Anzeiger die Kandidatur von Werner Salzmann (svp, BE), der am 6. Oktober als erster offiziell ankündigte, Bundesrat werden zu wollen. Der Berner Ständerat betonte, er sei als Oberst der Schweizer Armee und Sicherheitspolitiker ein idealer Kandidat für das VBS. Salzmann stamme aus der Familie des BGB-Parteigründers Rudolf Minger, dem ersten Bundesrat der BGB (und späteren SVP) und habe entsprechend ein «Bundesrat-Gen», so der Tages-Anzeiger. Salzmann könne dem Favoriten Rösti zwar gefährlich werden, innerhalb der Berner SVP werde aber befürchtet, dass der Ständeratssitz verloren gehen könnte, wenn Salzmann in den Bundesrat gewählt würde, spekulierte der Tages-Anzeiger weiter. Wenige Tage später, am 10. Oktober 2023, gab auch Albert Rösti seine Kandidatur bekannt. Der Zweikampf zwischen den beiden Bernern bringe ein wenig Salz in den Wahlkampf, urteilte La Liberté. Allerdings vermuteten die Medien, dass der ehemalige Parteipräsident Rösti im Parlament mehr Rückhalt habe als Salzmann. Die BZ urteilte entsprechend, dass Röstis Kandidatur höchstens «wegen internen Widerstands» scheitern könnte. Die NZZ befand gar, dass die Kandidatur Röstis für Langeweile sorge, weil der «anstandslos anständige [...] Panorama-Politiker» kaum anecke – was eine wichtige Voraussetzung sei, um genügend Stimmen aus dem Parlament zu erhalten. Skeptischer zeigte sich die WoZ, die sich fragte, weshalb dem «Ölkönig», der «eine riesige Schadensbilanz» aufweise, so viele Sympathien zuflögen. Starke Kritik erwuchs Rösti auch in der Weltwoche, die befürchtete, dass Rösti seinen SVP-Kurs wohl aufgeben werde, wenn er im Bundesrat sitzen werde. Roger Köppel, Chefredaktor der Weltwoche, warnte vor einem «Kuckucksei» und einem «Trojanischen Pferd» für die SVP im Bundesrat. Rösti sei «der Prototyp eines Pöstchenjägers, ein Hansdampf an allen Kassen» und er sei mit seinem «Naturell des Jasagers» und als «Briefträger bezahlter Interessen» «der Falsche». Im Sonntagsblick wurde vermutet, dass «Atom-Rösti» auch deshalb im Parlament die grössten Chancen habe, weil er nicht die Kernthemen der SVP vertrete, sondern Energiepolitik betreibe. Würde er dem UVEK vorstehen, wäre dies «ein Coup», so der Sonntagsblick. Die zahlreichen Lobby-Mandate Röstis waren in der Folge ein ziemlich häufiges mediales Thema. Der Blick erinnerte schliesslich daran, dass die SVP mit den letzten Berner Vertretern in der Landesregierung nicht sehr glücklich gewesen sei. Sowohl Adolf Ogi, der innerparteilich als zu europafreundlich gegolten habe, als auch Samuel Schmid, der als «halber Bundesrat» bezeichnet worden war, hätten in der SVP selber nur wenig Rückhalt gehabt.

Am 15. Oktober gab der Zuger Finanzdirektor Heinz Tännler (ZG, svp), seit 2006 in der Zuger Kantonsregierung, bekannt, dass er die Innerschweiz und einen «boomenden Kanton» vertreten wolle. Als «zupackender Wirtschaftspolitiker» wolle er den beiden Berner Bewerbungen etwas entgegensetzen und der Partei eine Auswahl bieten. Es sei nicht gut, dass die Zentralschweiz seit dem Rücktritt von Kaspar Villiger im Jahr 2003 nicht mehr im Bundesrat vertreten sei. In zahlreichen Gesprächen sei er darauf aufmerksam gemacht worden, dass «diese Region wieder eine Stimme in der Landesregierung haben» müsse. Er wolle aber auch alle anderen finanzstarken Kantone vertreten, so Tännler in der Ankündigung seiner Kandidatur. In den Medien wurden Tännler trotz Exekutiverfahrung eher geringe Chancen eingeräumt, da er im Gegensatz zu Salzmann und Rösti nicht dem Bundesparlament angehöre, was häufig ein Nachteil sei. Zudem stehe er als Finanzdirektor des reichen Kantons Zug vor allem bei Linken in Verdacht, «Politik für die Reichen und Mächtigen zu machen», so die Bewertung der NZZ.

Am 18. Oktober meldete auch Michèle Blöchliger (svp, NW), seit 2018 Gesundheitsministerin des Kantons Nidwalden, ihre Ambitionen an. Sie sei überzeugt, dass sie «den nötigen Rucksack» mitbringe, den es für das Amt als Bundesrätin brauche: Sie sei sich gewohnt, das Kollegialitätsprinzip zu achten, habe politische Exekutiverfahrung und bringe mit einer englischsprachigen Mutter wichtige Sprachkompetenzen mit. Die SVP könne aufatmen, weil sie doch noch eine Frau gefunden habe, befand 24Heurers. Für die Nidwaldner Regierungsrätin und Rechtsanwältin «mit juristischem Gewissen», wie die Nidwaldner Zeitung wusste, spreche nicht nur ihr Geschlecht, sondern auch der Umstand, dass aus dem Innerschweizer Kanton noch nie jemand in der Landesregierung gesessen habe. Zudem sei sie parteiintern gut vernetzt und der Umstand, dass auch innerhalb der SVP viele eine Frau auf einem Zweierticket forderten, erhöhe ihre Chancen ebenfalls, waren sich viele Medien einig. Allerdings sei sie in Bundesbern etwa auch im Vergleich zu Tännler praktisch unbekannt und liefe Gefahr, sich «in einer undankbaren Rolle als Alibikandidatin» wiederzufinden, prognostizierte die NZZ. Für Schlagzeilen sorgte in der Folge die Aussage Blöchligers, dass Wikipedia nicht zutreffende Angaben über sie verbreite. Sie besitze – im Gegensatz zu den Informationen auf Wikipedia – die britische Staatsangehörigkeit seit dem Tod ihrer Mutter nicht mehr. Der Tages-Anzeiger, der diese Aussage überprüfte, fand allerdings heraus, dass Blöchliger nie formell auf den britischen Pass verzichtet habe. Die Zeitung machte daraus auch deshalb eine Geschichte, weil die SVP 2019 mit einem Vorstoss – erfolglos – das Verbot einer doppelten Staatsbürgerschaft von Bundesratsmitgliedern gefordert hatte. «Blöchligers Hin und Her um ihre zweite Nationalität» biete neuen «Zunder für diese Debatte», so der Tages-Anzeiger. Blöchliger selber gab bekannt, dass sie offiziell auf die britische Staatsangehörigkeit verzichten werde. Allerdings war die Geschichte für viele Medien ein gefundenes Fressen. Der Tages-Anzeiger urteilte, dass sich Blöchliger mit der versuchten Vertuschung ihrer doppelten Staatsbürgerschaft – «um der eigenen Partei zu gefallen» – wohl selbst aus dem Rennen genommen habe. Als «denkbar schlecht» bezeichnete die Weltwoche den Kampagnenstart Blöchligers.

Weitere Kandidatinnen und Kandidaten hatten entsprechend der Terminplanung der SVP bis zum 21. Oktober Zeit, ihr Interesse zu bekunden. Einen Tag vor Ablauf dieser Frist meldete sich die SVP Zürich mit einem eigentlichen Überraschungscoup doch noch zurück und präsentierte den 2021 aus dem Nationalrat zurückgetretenen Hans-Ueli Vogt (svp, ZH) als Kandidierenden. Er sei aus der Politik ausgestiegen, weil ihm die parlamentarische Arbeit nicht zugesagt habe, das Bundesratsamt reize ihn aber, erklärte Vogt. Er wolle «ein Opfer erbringen», zudem sei seine Kandidatur «weder eine Verlegenheitslösung noch eine Alibiübung», gab Vogt der NZZ zu Protokoll, eine urbane Vertretung in der Landesregierung sei zudem wichtig. «Professor Vogt» sei der «Wunschkandidat» der Zürcher Kantonalsektion, betonte Kantonalpräsident Domenik Ledergerber (ZH, svp), der den Kandidierenden als «gründlich, aber zielstrebig, urban und doch bodenständig» beschrieb. In den Medien wurde die Kandidatur begrüsst. Nun habe Zürich doch noch einen Kandidaten, freute sich etwa die NZZ. Vogt sei in Bern auch nach seinem Rücktritt 2021 noch genügend bekannt und werde nach wie vor als seriöser Sachpolitiker geschätzt; vor allem auf linker Seite könne er punkten, ergänzte die NZZ. Auch 24Heures urteilte, dass Vogt mit den Eigenschaften «Intello, urbain, gay» das Zeug habe, die Kampagne aufzumischen. Innerhalb der SVP sei Vogt allerdings ein «OVNI», ein unbekanntes Flugobjekt, urteilte La Liberté. Seine Chancen wurden auch vom Tages-Anzeiger vor allem im Vergleich mit dem «berechenbareren» Albert Rösti als geringer eingestuft. Vogt sei gleichzeitig «Verlegenheitslösung und Befreiungsschlag» für die Zürcher SVP, befand die Weltwoche.

Da bis zum Ende der Meldefrist alle weiteren Favoriten abgesagt hatten – darunter etwa auch Thomas Aeschi, der nach seinem Misserfolg 2015 auf eine zweite Bundesratskandidatur verzichten und sich auf seine Parlamentsarbeit konzentrierten wollte, oder der Aargauer Regierungsrat Jean-Pierre Gallati (AG, svp), der sich bis Meldeschluss bedeckt gehalten hatte – und sich keine neuen Personen mehr gemeldet hatten, standen mit Werner Salzmann, Albert Rösti, Heinz Tännler, Michèle Blöchliger und Hans-Ueli Vogt die fünf Kandidierenden für die Nachfolge von Ueli Maurer fest. Die Partei habe sich knapp gerettet, fasste die Aargauer Zeitung zusammen. Mit einer Frau und einem Kandidaten aus Zürich könne die SVP nun doch verschiedene Optionen bieten. Die Empfehlung der Kandidierenden durch die jeweiligen Kantonalsektionen war Formsache. Für Spannung sorgte einzig die Frage, ob die Kantonalberner Sektion eine Vorselektion treffen und lediglich einen der beiden Kandidierenden vorschlagen würde. Sie schob die Frage einer allfälligen Vorselektion allerdings an die nationale Findungskommission weiter und nominierte sowohl Albert Rösti als auch Werner Salzmann einstimmig. Besagte Findungskommission nahm sich dann bis Mitte November Zeit, die Kandidierenden auf Herz und Nieren zu prüfen, um der Fraktion einen Vorschlag zu unterbreiten.
Wie schon die Kantonalberner scheute sich dann allerdings auch die Findungskommission, eine Vorentscheidung zu treffen. Alle fünf Kandidierenden seien wählbar und in den Hauptthemen strikt auf der Parteilinie. Sie würden einen eindrücklichen Leistungsausweis und die nötige Führungserfahrung mitbringen. Die von alt-Nationalrat Caspar Baader (BL, svp) präsidierte Kommission empfehle der Fraktion zudem, ein Zweierticket zu bilden. Somit stand also die Fraktion in der Verantwortung, die Vorauswahl zu treffen. An der Favoritenrolle von Albert Rösti ändere dies nichts, waren sich die Medien einig. Spannend sei einzig, wer neben ihm aufs Ticket komme, so etwa die NZZ.
Am 18. November entschied sich dann die SVP-Fraktion für ein Zweierticket aus Albert Rösti und Hans-Ueli Vogt. Rösti sei in der ersten Runde mit 26 von 51 Stimmen zum einen Kandidaten auf dem Zweierticket bestimmt worden, wussten die Medien zu berichten. In dieser ersten Runde hätten Michèle Blöchliger vier und Heinz Tännler lediglich eine Stimme auf sich vereinen können. Vogt sei auf 13 und Salzmann auf 5 Stimmen gekommen. Dreimal sei es dann in der Folge zu einem 25:25 Unentschieden zwischen dem Berner und dem Zürcher Kandidaten gekommen, bevor wahrscheinlich eine sich bis dahin enthaltende Stimme in der fünften Runde den Ausschlag für Hans-Ueli Vogt gegeben habe. Das Ringen zeige, dass fraktionsintern befürchtet werde, dass Vogt im Parlament auf linker Seite Stimmen holen könnte und so zum «Rösti-Verhinderer» werde, analysierte die NZZ. Das Rennen zwischen Bern und Zürich sei nun neu lanciert, waren sich die meisten Medien einig.

Bundesratsersatzwahlen 2022 – Nachfolge von Ueli Maurer und Simonetta Sommaruga
Dossier: Bundesratswahlen seit 2008

Mit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine Ende Februar 2022 und der Übernahme der EU-Sanktionspakete durch die Schweiz entspann sich innerhalb des Landes eine Grundsatzdebatte über die Ausgestaltung der Schweizer Neutralität. Mittendrin in dieser Debatte stand Bundespräsident und Aussenminister Ignazio Cassis. Zwar sei die Übernahme der EU-Sanktionen «ein einmaliger Schritt der Schweiz» gewesen, erklärte Cassis den Medienschaffenden Anfang März, doch das Neutralitätsrecht werde dadurch nicht tangiert. Das war zwar unbestritten, doch im Ausland wurde diese neue Ausrichtung der «Neutralitätspolitik» vielerorts als Aufgabe der traditionsreichen Neutralität verstanden. Im Interview mit der NZZ verteidigte der Aussenminister den Bundesrat gegen den Vorwurf, dass dieser die Sanktionen nur aufgrund des steigenden internationalen Drucks umgesetzt habe. Dabei gab Bundesrat Cassis auch einen Einblick in seine Auffassung des Begriffs «Neutralität», wobei er zwischen Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik unterschied: Für ihn sei das Neutralitätsrecht völkerrechtlich klar definiert, indem es den Export von Waffen an kriegsführende Staaten untersage. Bei der Neutralitätspolitik gehe es jedoch darum, wie die Schweiz ihre Werte wie Freiheit, Demokratie und Völkerrecht unter einer neutralen Position vereinen könne. Dieser Aushandlungsprozess ergebe von Fall zu Fall andere Ergebnisse. Für Cassis war klar: «Neutralität heisst nicht Gleichgültigkeit, sondern dass wir gegenüber anderen Ländern militärisch nicht Partei ergreifen.» Ganz anders fiel indes die Einschätzung von Alt-Bundesrat Christoph Blocher zur Übernahme der EU-Sanktionen in der NZZ aus. Er bezichtigte die Schweiz, mit der Sanktionsübernahme zur Kriegspartei geworden zu sein, da sie als neutraler Staat nicht Partei ergreifen dürfe. Noch einmal anders äusserte sich ein weiterer SVP-Alt-Bundesrat – Adolf Ogi. Er argumentierte, dass sich die Schweiz nicht mehr hinter der Neutralität verstecken könne und klarmachen müsse, «dass wir auf der Seite der Menschenrechte stehen».

Ende März schickte sich Cassis an, die Missverständnisse in Bezug auf die Schweizer Neutralität ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen und gab innerhalb des EDA einen Bericht zur Neutralität in Auftrag. Der letzte offizielle Bericht dieser Art stammte aus dem Jahr 1993, die neue Version sollte noch vor Sommer 2022 veröffentlicht werden.
Mit dem WEF stand Ende Mai ein aussenpolitisch höchst brisanter Anlass auf dem Programm. Nicht nur stand der erste Tag des Treffens ganz im Zeichen des Ukrainekriegs, auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nahm mittels einer Videoansprache daran teil. Bundespräsident Cassis nutzte seine Eröffnungsrede dazu, der Weltöffentlichkeit die aktuelle Auslegung der Schweizer Neutralitätspolitik zu erklären. Er bezeichnete die Haltung der Schweiz als «kooperative Neutralität», eine Wortschöpfung, die gemäss Cassis vermitteln soll, dass sich die Schweiz für gemeinsame Grundwerte und Friedensbemühungen einsetzt. Für diesen Alleingang – Cassis erklärte gegenüber den Medien, dass der Begriff «relativ spontan entstanden» sei – erntete der Aussenminister in den folgenden Tagen Lob und Kritik. Der Tages-Anzeiger schrieb, dass die Schweiz keine neuen Adjektive brauche, insbesondere weil Cassis selber eingestanden habe, dass die kooperative Neutralität für die Schweiz nichts Neues sei. In der NZZ wurde Cassis hingegen dafür gelobt, eine «echte Diskussion über die Neutralität» lanciert zu haben. SP-Fraktionspräsident Roger Nordmann (sp, VD) verlangte im Sonntagsblick eine «saubere Auslegeordnung» und eine klare Unterscheidung zwischen Neutralitätsrecht – die völkerrechtlich festgelegten Verpflichtungen – und Neutralitätspolitik – die politische Handhabung von Fragen, die nicht die militärische Neutralität betreffen. Er forderte eine engere Kooperation mit der EU im Rahmen ihrer Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik. Sein Parteikollege Fabian Molina (sp, ZH) schlug hingegen vor, den Begriff der «kooperativen Neutralität» durch eine Kooperation mit den restlichen neutralen Staaten Europas zu institutionalisieren.

Der angekündigte Neutralitätsbericht des EDA erschien entgegen den Ankündigungen von Departementsvorsteher Cassis nicht vor dem Sommer. Im September und Oktober wurden daher die Parteien aktiv, namentlich die SVP und die SP. Die SP bezog in einem Anfang September publizierten Positionspapier Stellung zur Auslegung der Schweizer Neutralität. Darin sprach sie sich für die Weiterführung der Neutralität aus, forderte aber zugleich ein «Update». Die Partei verlangte unter anderem eine engere Zusammenarbeit mit der EU zur Erhaltung der europäischen Souveränität; eine Reduktion der Auslandsabhängigkeit in der Energieversorgung und bei essenziellen Gütern; einen proaktiven Kampf gegen globale Oligarchen; ein erhöhtes Engagement für Friedensförderung, ohne internationalen Bündnissen wie der NATO beizutreten; sowie restriktive Exportgesetze für militärische Güter.
Unterstützt durch Christoph Blocher und weitere prominente Parteimitglieder wie Thomas Aeschi (svp, ZG) und Walter Wobmann (svp, SO) lancierte die neu gegründete Vereinigung «Pro Schweiz» Mitte Oktober eine Volksinitiative. Diese sollte eine bewaffnete immerwährende Neutralität in der Verfassung verankern. Wirtschaftssanktionen und andere Zwangsmassnahmen wie Ausreiseverbote gegen kriegsführende Staaten wären gemäss Initiativtext verboten.

Am 6. September zitierte LeTemps aus dem durchgesickerten Entwurf des Neutralitätsberichts, der dann doch schon im Sommer an die Medien gelangt war. In diesem würden fünf Varianten einer zeitgemässen Neutralitätskonzeption geprüft. Cassis habe den Gesamtbundesrat aber bis anhin nicht von seiner Idee der «kooperativen Neutralität» zu überzeugen vermocht. Einer der Hauptstreitpunkte im Bundesrat sei gemäss LeTemps die Wiederausfuhr von Kriegsmaterial, das bereits an andere Länder geliefert wurde. Cassis plädierte dafür, eine Wiederausfuhr unter bestimmten Auflagen zu bewilligen, was bei den SP- und SVP-Bundesratsmitgliedern auf Widerstand gestossen sein soll.
Tags darauf gab der Bundesrat in einer Medienmitteilung bekannt, dass die im Neutralitätsbericht von 1993 definierte Neutralitätspolitik weiterhin ihre Gültigkeit behalte. Diese lasse der Schweiz einen «hinreichend grossen Handlungsspielraum», um auf den Ukraine-Krieg und dessen Folgen zu reagieren. Das habe der Bundesrat bei der Beratung des Neutralitätsberichts, welcher in Erfüllung des Postulats der APK-SR (Po. 22.3385) erstellt worden sei, beschlossen. Der Bericht sollte gestützt auf die Aussprache angepasst und im Herbst vom Bundesrat verabschiedet werden. Damit gab die Regierung auch zu verstehen, dass der Entwurf des Neutralitätsberichts von Bundespräsident Cassis keine Mehrheit gefunden hatte. Stattdessen wolle sie im Folgejahr im Rahmen der nächsten aussenpolitischen Strategie eine Auslegeordnung vornehmen, die auch die Neutralitätspolitik abdecken soll.
Die Ablehnung der «kooperativen Neutralität» wurde in der Öffentlichkeit als «herbe Niederlage» (Republik) des Aussenministers wahrgenommen und teilweise mit Häme bedacht. Die Republik mutmasste, dass der Bundesrat dem Ausland damit signalisieren wolle, dass sich die Schweizer Neutralität trotz Ukraine-Krieg nicht grundlegend verändert habe. Zudem versuche man wohl, der Neutralitätsinitiative von Pro Schweiz keinen Nährboden zu bieten. Nationalrätin Christa Markwalder (fdp, BE) hingegen kam ihrem Parteikollegen zu Hilfe und kritisierte die fehlende Kollegialität im Gremium. Sie warf den Bundesratsmitgliedern zudem vor, sich zu verhalten, als ob sich die Welt nicht verändert habe.

Cassis' Neutralitätsbericht scheitert im Bundesrat
Dossier: Die Schweizer Neutralität

Am 23. Februar 2022 verurteilte die Schweizer Regierung erstmals öffentlich das völkerrechtswidrige Vorgehen Russlands in der Ostukraine. Der Bundesrat beobachte die Lage wegen der Eskalationsgefahr mit grosser Sorge und setze sich für eine friedliche Lösung des Konflikts ein, unter anderem durch die Unterstützung der OSZE. Um der Umgehung der EU-Sanktionen gegen Russland vorzubeugen, werde man die Sanktionen analysieren und anschliessend entscheiden, wie man zu verfahren habe. Der Bundesrat verwies in seiner Medienmitteilung auf das Embargogesetz, auf dessen Grundlage der Bund Zwangsmassnahmen erlassen könne, um Sanktionen der UNO, der OSZE oder der wichtigsten Handelspartner durchzusetzen.
Tags darauf veröffentlichte der Bundesrat eine Erklärung von Bundespräsident Cassis, in der er sich zum bewaffneten Konflikt in der Ukraine äusserte. Der Bundesrat verurteile die Intervention Russlands «aufs Schärfste» und rufe die Konfliktparteien dazu auf, das humanitäre Völkerrecht zu respektieren, so Cassis. Er nahm auch Bezug auf die zusätzlich erlassenen Sanktionen der EU gegen Russland. Diese hatte Finanz- und Reisesanktionen gegen Banken und Geschäftspersonen sowie gegen Mitglieder der Duma, der Armee und der Regierung erhoben, aber auch Handelsrestriktionen bezüglich der Regionen Donetsk und Luhansk erlassen. Zudem wurde der Zugang zum europäischen Finanz- und Kapitalmarkt für die russische Regierung und die Zentralbank beschränkt. Der Bundespräsident kündigte an, dass die Schweiz diese Sanktionen in Form von «Umgehungsverhinderungsmassnahmen» in die Verordnung zur Verhinderung der Umgehung der EU-Sanktionen aus dem Jahr 2014 übernehmen werde. Man werde die Liste der von der EU sanktionierten Personen und Unternehmen grundsätzlich übernehmen. Auf Nachfrage der anwesenden Journalistinnen und Journalisten bei der Pressekonferenz konnte Cassis in der Folge jedoch nicht bestätigen, dass die Schweiz die EU-Sanktionen übernehmen werde. Laut Sonntagsblick und Republik gebe es keine Grundlage für die Genehmigung von konkreten Sanktionen, weil Wirtschaftsminister Parmelin dem Gesamtbundesrat aus Versehen keinen formellen Antrag dazu vorgelegt habe. Wie die Sonntagszeitung berichtete, lud die APK-NR Aussenminister Cassis in der Folge zu einer ausserordentlichen Sitzung ein, an der er die Sanktionspolitik der Schweiz rechtfertigten sollte. Während in allen Parteien eine Mehrheit für die Übernahme von Sanktionen vorhanden sei, lehne die SVP dies unter Berufung auf die Schweizer Neutralität ab, so die Sonntagszeitung weiter. Alt-Bundesrat Blocher verurteilte indes die Sanktionsübernahme in der Aargauer Zeitung und betonte, die Schweiz sei dadurch eine «Kriegspartei» geworden.
Die zurückhaltende Reaktion des Bundesrats stiess bei den meisten Parteien und der Bevölkerung auf Unverständnis und sorgte für Kritik. Der Sonntagsblick zitierte Mitte-Präsident Gerhard Pfister (mitte, ZG), für den die Massnahmen nicht weit genug gingen, und FDP-Präsident Burkart (fdp, AG), der eine vollumfängliche Übernahme der EU-Sanktionen forderte. In Bern kam es zur grössten Friedensdemonstration seit dem Irakkrieg im Jahr 2003, an der nicht mit Kritik am Bundesrat gespart wurde. Auch aussenpolitisch wurde Druck auf den Bundesrat ausgeübt: Sowohl die USA wie auch die EU brachten dem Vorgehen des Bundesrats wenig Verständnis entgegen. EU-Botschafter Mavromichalis ermutigte die Schweiz, «Mut und Entschlossenheit» zu zeigen und die EU-Sanktionen zu unterstützen. Die stellvertretende Aussenministerin der USA – Wendy Sherman – ging sogar noch weiter und suchte ein direktes Gespräch mit Staatssekretärin Livia Leu, um die Lage in der Ukraine zu besprechen.

Nur vier Tage später reagierte der Bundesrat im Rahmen einer ausserordentlichen Sitzung auf die dramatische Lage in der Ukraine und beschloss die Übernahme der Sanktionspakete der EU gegen Russland sowie Hilfsgüterlieferungen für die ukrainische Bevölkerung. Die Schweiz setzte mit sofortiger Wirkung die Güter- und Finanzsanktionen der EU um, was zur Folge hatte, dass die Vermögen der sanktionierten Personen und Unternehmen gesperrt und die Eröffnung neuer Geschäftsbeziehungen verboten wurden. Gegen Präsident Putin, Premierminister Mishustin und Aussenminister Lavrov wurden aufgrund schwerwiegender Verstösse gegen das Völkerrecht zusätzliche Finanzsanktionen erlassen. Das Einfuhr-, Ausfuhr- und Investitionsverbot, das seit 2014 für das Gebiet der Krim angewendet wurde, erweiterte der Bundesrat auf die Regionen Donezk und Luhansk. Ausserdem entschied der Bundesrat, das Abkommen über Visaerleichterungen mit Russland teilweise zu suspendieren und Einreiseverbote gegen verschiedene Personen zu erlassen, die einen Bezug zur Schweiz hatten und Vladimir Putin nahestanden. Im Sinne der Luftraumsperrungen anderer europäischer Länder wurde auch der schweizerische Luftraum für sämtliche russischen Flüge gesperrt, mit Ausnahme von Flugbewegungen für humanitäre, medizinische und diplomatische Zwecke. Trotz der in diesem Ausmass bisher noch nie dagewesenen Sanktionsübernahmen betonte der Bundesrat, dass er die Neutralität bei seiner Entscheidung berücksichtigt habe und die Schweiz auch weiterhin mit ihren Guten Diensten zur Lösung des Konflikts beitragen wolle. Dieser Kurswechsel wurde in den Medien positiv aufgenommen, wenngleich der Bundesrat für seine Zögerlichkeit kritisiert wurde. Die AZ bezeichnete den Entscheid als «Berner Pirouette», während die WOZ die Entscheidfindung der Exekutive mit einem tagelangen Irrlauf verglich. Aussenminister Cassis verteidigte sich im Interview mit dem Sonntagsblick Anfang März und argumentierte, dass der Bundesrat «selten etwas so Wichtiges so schnell entschieden» habe. Er warb für Verständnis, denn der Bundesrat habe zuerst einen Weg finden müssen, so weit wie möglich mit der EU mitzuziehen, ohne die Neutralität zu verletzen und damit die Handlungsfähigkeit der Schweizer Diplomatie einzuschränken.

Es sollte nicht lange dauern, bis die Schweizer Exekutive am 4. März das Sanktionsregime wiederum dem neusten Stand der EU anpassen musste. Der Bundesrat beschloss daher die Totalrevision der «Verordnung über Massnahmen im Zusammenhang mit der Situation in der Ukraine». Neu war der Export aller doppelt (zivil und militärisch) verwendbarer Güter nach Russland verboten und zwar unabhängig vom Endverwendungszweck oder dem Endverwender. Auch die Ausfuhr von Gütern, die zur militärischen oder technologischen Stärkung Russlands oder zur Entwicklung des Verteidigungs- und Sicherheitssektors beitragen könnten, untersagte der Bundesrat. Darunter fielen auch die Vermittlung oder das Bereitstellen von Finanzmitteln und die Erbringung technischer Hilfe. Weitere Ausfuhrverbote betrafen Güter und Dienstleistungen im Ölsektor und in der Luft- und Raumfahrtindustrie sowie damit zusammenhängende Dienstleistungen wie Versicherungen, Inspektionen, Vermittlungsdienste und Finanzhilfen. Die Finanzsanktionen wurden ebenfalls ausgeweitet; so beschloss die Regierung das Verbot von Transaktionen mit der russischen Zentralbank und den Ausschluss Russlands aus dem Kommunikationsnetzwerk SWIFT. Erneut wurde der Bundesrat nicht müde zu betonen, dass die Umsetzung der Sanktionen nicht gegen die Schweizer Neutralität verstosse und dass damit keine humanitären Aktivitäten behindert würden.

Eine Woche später entschied der Bundesrat, Überfluggesuche der beiden Konfliktparteien und anderer Staaten, die diese mit Kriegsmaterial unterstützen wollten, nicht zu genehmigen. Der Schweizer Luftraum blieb somit in der Folge für sämtliche Flüge, die im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt standen, verboten, ausgenommen davon waren weiterhin Überflüge aus humanitären oder medizinischen Zwecken. Die SVP reagierte auf diesen Ausbau der Sanktionen, indem Roger Köppel (svp, ZH) im Nationalrat anlässlich der Diskussion über den Schweizer Sitz im UNO-Sicherheitsrat nicht nur auf dessen Ablehnung pochte, sondern auch eine Beendigung der Sanktionen gegen Russland forderte.

Am 16. März übernahm die Schweiz auch die Sanktionen, welche die EU gegen Belarus wegen dessen Mitverantwortung an den russischen Völkerrechtsverletzungen in der Ukraine erhoben hatte. Auch in diesem Fall handelte es sich um Güter- und Finanzsanktionen, die inhaltlich sehr stark an die Sanktionen gegen Russland angelehnt waren. Abweichend davon wurden jedoch auch Einfuhrverbote geschaffen, die unter anderem den Import von Holz- und Kautschukprodukten, Eisen, Stahl und Zement untersagten.

Die schrittweise Ausdehnung der Sanktionen gegen Russland setzte sich am 18. März fort, als die Schweiz das vierte Sanktionspaket der EU nachvollzog. Dieses umfasste weitergehende Massnahmen im Güterbereich, Einschränkungen von Transaktionen mit gewissen russischen Staatsunternehmen, ein Verbot von Ratingdiensten für russische Kunden sowie den Entzug der Meistbegünstigungsbehandlung Russlands im Rahmen der WTO.

Und nur sieben Tage später folgte eine weitere Ausdehnung der Sanktionen, die nun auch die Ausfuhr von Gütern für den Energiesektor und damit verbundene Dienstleistungen unmöglich machten. Ebenso verboten wurde die Beteiligung und Bereitstellung von Darlehen oder anderweitigen Finanzmitteln an Energieunternehmen. Auch neue Einfuhr- und Ausfuhrverbote gegenüber Russland fanden sich auf der Liste der EU-Sanktionen, darunter Importe von Eisen- und Stahlerzeugnissen aus oder mit Ursprung in Russland und Exporte von Luxusgütern und Gütern zur «maritimen Navigation». Etwas überraschend entschied sich der Bundesrat hingegen dazu, die anfangs März erlassenen Massnahmen der EU gegen russische Medienkanäle nicht zu übernehmen. Sputnik und Russia Today durften somit weiterhin in der Schweiz publizieren und ausstrahlen, obwohl der Bundesrat anerkannte, dass die Sender als Propagandawerkzeuge zur Streuung von Desinformation genutzt würden.
Eine Umfrage des Forschungsinstituts Gallup International, die Ende März im Sonntagsblick veröffentlicht wurde, zeigte auf, dass ein Grossteil der Schweizer Bevölkerung die Sanktionen für angemessen befand (50%) oder gar schärfere Massnahmen forderte (34%). Eine Mehrheit befürchtete jedoch auch wirtschaftliche Schäden und eine Inflation sowie Probleme bei der Energieversorgung. Nichtsdestotrotz war die Unterstützung für das Sanktionsregime ungebrochen gross. Derweil forderte der ukrainische Botschafter in der Schweiz, Artym Rybchenko, vom Bundesrat mehr Initiative bei der Beschlagnahmung von Vermögenswerten russischer Oligarchen. Obwohl Rybchenko Bundespräsident Cassis zugute hielt, schon viel für die Ukraine getan zu haben, erwartete er mehr und schnellere Sanktionen in den Bereichen Finanzen, Energie und Banken.

Anfang April tauchten Bilder auf, die den Verdacht auf russische Kriegsverbrechen in der Ukraine erhärteten. Bundesrätin Karin Keller-Sutter verurteilte die Handlungen Russlands in einem NZZ-Interview explizit als «Kriegsverbrechen» und äusserte die Erwartung, dass die EU und damit auch die Schweiz ihre Sanktionen gegen Russland verstärken würden. Noch im gleichen Monat kam es dann in zwei Etappen tatsächlich zu einer weiteren Übernahme von EU-Sanktionen gegen Russland und Belarus: Das fünfte Sanktionspaket umfasste ein Importverbot für Kohle, Holz, Zement, Meeresfrüchte und Wodka, die für Russland wichtige Einnahmequellen darstellten, sowie ein Exportverbot von Kerosin und weiterer Güter, die der Stärkung der industriellen Kapazitäten Russlands dienen könnten. Auch die finanzielle Unterstützung von öffentlichen russischen Einrichtungen wurde untersagt. Das WBF sanktionierte des Weiteren über 200 natürliche und juristische Organisationen, darunter zwei Töchter des russischen Präsidenten Putin. In Abweichung zur EU sah die Schweiz jedoch noch davon ab, die Vergabe öffentlicher Aufträge an russische Staatsangehörige und in Russland ansässige Organisationen zu verbieten. Die Umsetzung eines solchen Verbots habe Fragen hinsichtlich der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen und dessen Geltungsbereich aufgeworfen. Bis Ende Juni 2022 sollten die zuständigen Stellen die Unklarheiten jedoch klären und in einem Bericht Stellung dazu beziehen. Wie die NZZ berichtete, wurde zunehmend die Forderung laut, dass die Schweiz «aktiv» nach den Vermögen der von den Sanktionen betroffenen Personen suchen müsse. Während Banken dies im Rahmen der Geldwäschereibekämpfung sowieso tun müssten, verfügten kantonale Grundbuchämter kaum über die nötigen Ressourcen, um derartige Abklärung vorzunehmen, erklärte die NZZ.

Ende April sorgten zwei mit den Sanktionen zusammenhängende Enthüllungen für medialen Wirbel. Zuerst gelangte ein vertraulicher Brief der GPDel an die Medien, in dem diese den Bundesrat für dessen schlechte Vorbereitung auf die russische Invasion im Februar rügte. Le Temps zitierte aus dem Brief und führte aus, dass die Kerngruppe Sicherheit – zusammengesetzt aus der Staatssekretärin des EDA sowie den Direktoren des NDB und des Fedpol – den Sicherheitsausschuss des Bundesrats unzureichend und zu spät informiert habe. Viola Amherd, Karin Keller-Sutter und Ignazio Cassis, die Teil des Ausschusses seien, hätten daher den Gesamtbundesrat nicht adäquat über die Lage in der Ukraine aufklären können.
Kurz darauf machte CH Media öffentlich, dass das Seco Deutschland daran gehindert habe, Panzermunition aus der Schweiz in die Ukraine zu exportieren. Das Seco erklärte, dass das Schweizer Gesetz den Export von Kriegsmaterial verbiete, wenn das Empfängerland in einen internen oder internationalen bewaffneten Konflikt verwickelt sei. Während dieser Entscheid von einer Mehrheit der Schweizer Parteien gutgeheissen wurde, äusserte sich Mitte-Präsident Gerhard Pfister gegenteilig. Er argumentierte, dass der Bundesrat seine notrechtlichen Kompetenzen ausnutzen könnte, um im Rahmen des Embargogesetzes derartige Lieferungen an die Ukraine zu erlauben, solange dabei die Interessen der Schweiz gewahrt würden. Das Seco schob dieser Forderung aber in seiner Stellungnahme einen Riegel vor und argumentierte, die von Pfister angesprochene Klausel in der Bundesverfassung käme nur zum Tragen, wenn eine klare gesetzliche Regelung fehle oder die Anwendung ebenjener Klausel im Gesetz explizit vorgesehen werde. Im Gegensatz zum Embargogesetz – wo der Bundesrat durchaus Spielraum beim Erlass von Sanktionen hat – sei das beim Kriegsmaterialgesetz aber nicht der Fall, so das Seco.

Die Schweiz übernimmt die EU-Sanktionen gegen Russland
Dossier: Schweizer Reaktion auf die russischen Aggressionen in der Ukraine (ab 2014)
Dossier: Die Schweizer Neutralität

Im Jahr 2021 drehte sich die mediale Debatte im Energiebereich stark um die Frage, wie die Stromproduktion der Schweiz in Zukunft aussehen soll. Es kam die Befürchtung auf, dass künftig eine Strommangellage entstehen könnte. Dies war insbesondere auf drei Entwicklungen zurückzuführen: Erstens werden durch die schrittweise Ausserbetriebnahme der Schweizer Atomkraftwerke rund 40 Prozent der heutigen Schweizer Stromproduktion wegfallen, wie die NZZ schrieb. Zweitens wird durch den Ausbau der erneuerbaren Energien eine unregelmässigere Stromproduktion stattfinden, die speziell in den Wintermonaten zu einem Nachfrageüberhang führen könnte. Diese Lücke könnten womöglich zukünftig auch umliegende Länder nicht schliessen, da sich diese in einer ähnlichen Situation befinden und ihre Energieproduktion mittel- bis langfristig ebenfalls CO2-neutral gestalten möchten, erklärte die Argauer Zeitung. Drittens führte der Entscheid des Bundesrates, die Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen abzubrechen, dazu, dass vorerst auch kein sektorielles Stromabkommen mit der EU abgeschlossen werden kann. Die EU hatte den Abschluss des Stromabkommens an das Zustandekommen des Rahmenabkommens geknüpft. Die Stromversorgungssicherheit leidet damit insofern, als die Schweiz von wichtigen Gremien und Plattformen des EU-Strombinnenmarktes ausgeschlossen wird und Stromlieferungen in die Schweiz teilweise unsicherer werden. Nach dem Scheitern des Rahmenabkommens sei deshalb klar geworden, dass die Situation schwierig werde, resümierte der Tages-Anzeiger. Die Schweizer Energiestrategie 2050 basiere auf der Annahme, dass ein Stromabkommen mit der EU bestehe, erklärte Ex-Nationalrat und heutiger ElCom-Präsident Werner Luginbühl anlässlich der jährlichen Medienkonferenz der nationalen Regulierungsbehörde. Ohne Abkommen werde es daher zunehmend schwierig, die Nachfrage jederzeit decken zu können. Auch das Bundesamt für Bevölkerungsschutz schätzte 2020 einen längeren Stromausfall als eine der derzeit grössten Gefahren für das Land ein.

Durch das Ausbleiben eines solchen bilateralen Abkommens droht der Schweiz – als erste Folge – der Ausschluss vom Regelenergiemarkt. So können kurzfristige Strom-Reservekapazitäten nicht mit den EU-Ländern gehandelt werden, was insbesondere die Stromversorgungssicherheit tangiert. Dies wiederum habe finanzielle Folgen, da die Stromkonzerne ihren Trumpf in den Alpen, die Pumpspeicherkraftwerke, nicht vollständig ausspielen können, um bei Spitzenzeiten mit abrufbarem Stromangebot mitmischen zu können, berichtete die NZZ. Gemäss dem Tages-Anzeiger warte Swissgrid seit Oktober 2020 auf ein Signal aus Brüssel, um die Handelsplattform formell nutzen zu können. Wie dieselbe Zeitung weiter schrieb, sei es aber vornehmlich der EU-Kommission ein Anliegen, die Schweiz von dieser Plattform auszuschliessen. Sie setze deshalb Druck auf Länder wie Deutschland und Frankreich auf, um die Schweiz nicht mehr an den Verhandlungstisch einzuladen. Als zweite Folge eines fehlenden bilateralen Abkommens kann Swissgrid auch nicht in wichtigen regulatorischen Gremien mit anderen Übertragungsnetzbetreibern Einsitz nehmen. Dies führe zu fehlender Koordination und ungeplanten Lastflüssen, respektive zur Situation, dass plötzlich unerwartet eine gewisse Strommenge durch die Schweiz fliesst und eine flexible und ineffiziente Ausgleichsmassnahme durch die Zuschaltung von Schweizer Wasserkraftkapazitäten nötig wird, erklärte die NZZ. BFE-Sprecherin Marianne Zünd resümierte, dass sich die Situation für alle Akteure in der Schweiz verschlechtern werde. «Trotz physischer Verbundenheit wird die Schweiz aber zunehmend zu einer Strominsel», schrieb die NZZ im April 2021.

Als Rezept gegen die drohende Strommangellage präsentierte der Bundesrat im Sommer unter der Federführung von Energieministerin Simonetta Sommaruga die Botschaft zur Revision des EnG und des StromVG. Die darin vorgesehenen Massnahmen waren in den entsprechenden Vernehmlassungen (Vernehmlassung des EnG; Vernehmlassung des StromVG) – zumindest im Falle des EnG – mehrheitlich auf positive Resonanz gestossen. Dieser Mantelerlass für eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien sah nebst dem Ausbau und der Förderung der erneuerbaren Energien im Inland die Schaffung einer zusätzlichen Speicherreserve für die Wintermonate vor. Der Bundesrat wollte damit als Lösung für den Wegfall der Bandenergie aus den Atomkraftwerken die Kapazitäten im Inland stark mit erneuerbaren Energien ausbauen und eigenständig für mehr Versorgungssicherheit im Winter sorgen. Gleichzeitig gab Energieministerin Simonetta Sommaruga bekannt, den inländischen Strommarkt liberalisieren zu wollen. Der Strommarkt soll damit dank den Marktkräften effizienter werden, die erneuerbaren Energien besser integrieren, innovative Geschäftsmodelle ermöglichen und gleichzeitig den Konsumentinnen und Konsumenten bei der Stromanbieterwahl Wahlfreiheit lassen, wie der Bundesrat in einer Medienmitteilung bekannt gab.

Frischen Schub verlieh der medialen Debatte im Herbst 2021 eine Videobotschaft des Wirtschaftsministers Guy Parmelin. Darin richtete sich der Waadtländer Bundesrat an Unternehmerinnen und Unternehmer in der Schweiz mit der Bitte, sich auf allfällige Strommangellagen vorzubereiten und Konzepte auszuarbeiten, um in Notsituationen rasch stromintensive Aktivitäten kurzfristig aussetzen zu können. Konkret richtete sich diese Botschaft an rund 30'000 Unternehmen in der Schweiz, die einen jährlichen Stromverbrauch von über 100'000 kWh aufweisen. Solche Firmen könnten durch eine allfällige Anordnung des Bundesrates dazu verpflichtet werden, einen gewissen Prozentsatz am Stromverbrauch während einer Strommangellage einzusparen, erklärte der Tages-Anzeiger. Die Warnung des Wirtschaftsministers basierte auf einer Studie zur Versorgungssicherheit, die der Bundesrat in Auftrag gegeben hatte. In dieser Analyse war insbesondere ein Faktor dafür verantwortlich, dass gerade ab 2025 mit einem Engpass zu rechnen sei: Eine Vorgabe der EU, wonach ab 2025 mindestens 70 Prozent der grenzüberschreitenden Kapazitäten zwischen den EU-Staaten gehandelt werden müssen. Diese Regelung habe zur Folge, dass Exporte in Nicht-EU-Länder wie die Schweiz verringert würden und die inländische Netzstabilität hierzulande stark sinke, schlussfolgerte die Studie. Um ungeplante Lastflüsse auszugleichen, würden Wasserkraftreserven aufgebraucht werden müssen, die eigentlich für den Winter wichtig wären, um die dann anfallende Nachfrage decken zu können. In der politischen Debatte musste Energieministerin Simonetta Sommaruga viel Kritik einstecken und die Situation erklären. Sie habe sich über das alarmistische Vorpreschen ihres Amtskollegen Parmelin geärgert, folgerte beispielsweise der Tages-Anzeiger.

Nicht sehr verwunderlich präsentierten verschiedenste Politikerinnen und Politiker einen bunten Strauss an möglichen Massnahmen, um eine solche Strommangellage zu verhindern. Während die einen darauf beharrten, nun endlich mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien vorwärts zu machen, forderten andere die Wiederbelebung der totgesagten Atomkraft, wie es beispielsweise der grosse Nachbar Frankreich unter Präsident Emanuel Macron tat. Schon im Sommer, nachdem das Schweizer Stimmvolk das CO2-Gesetz in einem Referendum knapp versenkt hatte und das Stromabkommen auf den Sankt-Nimmerleins-Tag («aux calendes grecques») verschoben worden war, wie «Le Temps» witzelte, berichtete dieselbe Zeitung von einer Wiederentdeckung der Atomenergie: Einerseits würde ein Weiterbetrieb der bestehenden Anlagen die Stromversorgungsknappheit entschärfen, andererseits eine relativ CO2-neutrale Energie liefern, so das Blatt. Weiter gingen Exponentinnen und Exponenten der SVP, die den Bau von neuen Atomkraftwerken auf das politische Parkett brachten. Die Atomkraft sei plötzlich wieder «en vogue», schrieb der Tages-Anzeiger dazu. Der Berner Nationalrat Albert Rösti wollte deshalb im Rahmen der Beratungen zum bereits erwähnten Mantelerlass für eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien eine dahingehende Änderung des KEG beantragen, die das Neubauverbot für AKWs kippen würde. Auch Alt-Bundesrat Christoph Blocher weibelte in den Medien für neue AKWs, doch alle grossen Stromkonzerne in der Schweiz winkten bei der Frage nach neuen Anlagen ab; zu teuer, betriebswirtschaftlich nicht rentabel und gesellschaftlich nicht erwünscht, war der Tenor. Einen etwas anderen Ansatz wählte die Mitte-Partei: Parteipräsident Gerhard Pfister (mitte, ZG) brachte die Idee von einer Strom-Neat auf, die sich Parteikollege Beat Rieder (mitte, VS) ausgedacht habe. So könnte die EU von einer starken Stromleitung durch die Schweiz profitieren. Im Gegenzug würde die Schweiz bei wichtigen Gremien mitmachen dürfen, sodass die Versorgungssicherheit und die Netzstabilität verbessert würden, erhoffte sich Pfister von der Idee. Wie verschiedenste Medien schrieben, sei es aber fraglich, wie zentral die Schweiz als Stromdrehscheibe in Europa überhaupt noch sein werde. Derzeit sei es vor allem Italien, das ein starkes Interesse an einer funktionierenden Durchleitung durch die Schweiz habe. Mit dem Forcieren einer Starkstrom-Erdverkabelung zwischen Italien und Österreich schwinde allerdings diese Schweizer Trumpfkarte. Wichtig sei die Schweiz jedoch vorwiegend in Sachen Stromspeicherung, da dank den Pumpspeicherkraftwerken überschüssiger Strom auf dem EU-Markt gespeichert werden könnte. Eine andere Forderung, die auch schon länger in den politischen Debatten kursierte, war die Forderung für den Bau von Gaskraftwerken, die bei einer Strommangellage kurzfristig mit abrufbaren Kapazitäten einspringen könnten. Wie die Westschweizer Zeitung «24 heures» schrieb, schlage die Vereinigung Powerloop, der Fachverband für Energiefragen der Energiestrategie 2050, den Bau von rund 2000 kleinen Gaskraftwerken vor. Diese könnten einfach realisiert werden, bräuchten wenig Platz und könnten bei Bedarf einfach abgebaut werden, wenn dies die Situation verlange. Gemäss Aargauer Zeitung betrachtete auch der Bund CO2-kompensierte Gaskraftwerke als eine mögliche Übergangslösung. Allgemein stellt die Situation den Schweizer Strommarkt vor «riesige[...] Herausforderungen», prophezeite etwa die Aargauer Zeitung. Handkehrum könne die Gefahr eines Stromengpasses aber auch als Chance gesehen werden, damit sich das Land in eine nachhaltigere Energiewirtschaft bewege, sinnierte beispielsweise «Le Temps».

Strommangellage ab 2025
Dossier: Stromabkommen mit der EU

Alt-Bundesrat Moritz Leuenberger geriet ob eines Interviews in der «NZZ am Sonntag» Anfang Februar 2021 ins Visier der Bundesanwaltschaft. Auf die Frage, ob «Regierungen in Krisen das Volk belügen» dürften, brachte Leuenberger im Sonntagsinterview das Beispiel der Befreiung von Geiseln: «Wir haben stets verneint, für die Befreiung von Geiseln Lösegelder bezahlt zu haben. [...] Kommt eine Geisel frei, ist wohl meist bezahlt worden. Aber da steht nicht ‹Lösegeld› auf dem Einzahlungsschein, sondern da werden irgendwo Spesen abgebucht.»
Christoph Blocher, ehemaliger Bundesratskollege von Leuenberger, störte sich an dieser Aussage. Sie lade nachgerade zu weiteren Entführungen ein, zudem sei zu prüfen, ob Leuenberger mit seiner Aussage das Amtsgeheimnis verletzt habe. Diese Forderung wurde gemäss Medien auch von Nationalrat Thierry Burkhart (fdp, AG) unterstützt.
Obwohl Leuenberger rasch erklärte, die Aussage tue ihm leid und in seiner Amtszeit (1995-2010) seien nie Lösegelder bezahlt worden, schaltete sich in der Folge die Bundesanwaltschaft ein, weil es sich bei einer Amtsgeheimnisverletzung, die auch von ehemaligen Bundesratsmitgliedern begangen werden kann, um ein Offizialdelikt handelt. Um eine Untersuchung einleiten zu können, brauchte die Strafbehörde allerdings die Zustimmung des amtierenden Bundesratskollegiums, die sie bereits Ende Februar beantragte.
Ende April 2021 gab die aktuelle Regierung dann allerdings bekannt, dass sie keine Ermächtigung für eine Strafuntersuchung erteile. Sie erklärte in ihrer Medienmitteilung explizit, dass die Schweiz in Entführungsfällen kein Lösegeld bezahle, aber auch keine Informationen über die Strategie zur Lösung solcher Fälle weitergebe, um die eigene Position nicht zu schwächen und die betroffenen Schweizer Bürgerinnen und Bürger nicht zu gefährden. Eine Untersuchung der Aussage Leuenbergers hätte nun aber eine detaillierte Analyse solcher Strategien zur Folge, was nicht im Interesse der Schweiz sei.

Hat Moritz Leuenberger das Amtsgeheimnis verletzt?

Statt der verlangten CHF 2.77 Mio. sprach die Regierung dem ehemaligen Justizminister Christoph Blocher CHF 1.1 Mio. des bisher nicht eingeforderten Ruhegehalts zu. Basierend auf einer Empfehlung der FinDel wurde die nachträgliche Rückzahlung auf fünf Jahre beschränkt und eine Verjährung früherer Forderungen geltend gemacht. Hatte Christoph Blocher zuerst noch mit juristischen Schritten gedroht, begnügte er sich schliesslich mit den CHF 1.1 Mio. Es sei ihm grundsätzlich darum gegangen, eine Diskussion um dieses Ruhegehalt auszulösen, erklärte er gegenüber dem Blick.
Dies schien auch deshalb gelungen zu sein, weil Mike Egger (svp, SG) in der Folge einen Vorstoss einreichte, mit dem die Ruhegehälter abgeschafft werden sollten (Mo. 20.4698) – dagegen hatte sich der Bundesrat freilich schon im Rahmen eines früheren Postulatsberichts ausgesprochen. Ehemalige Magistratinnen und Magistraten erhalten – wenn sie nicht mehr arbeitstätig sind – pro Jahr einen halben Bundesratslohn, also rund CHF 225'000. Pro Jahr werden total rund CHF 15 Mio. an rund hundert ehemalige Magistratspersonen oder ihre Hinterbliebenen ausbezahlt. Darunter finden sich rund drei Viertel ehemalige Bundesrichterinnen und -richter und ein Viertel ehemalige Mitglieder des Bundesrats bzw. ehemalige Bundeskanzlerinnen oder Bundeskanzler.
Bezüglich rückwirkender Forderungen empfahl die eidgenössische Finanzkontrolle in der Folge der Bundeskanzlei, künftig solche Ansprüche möglichst ganz auszuschliessen oder höchstens «zeitlich eng zu beschränken».

Alt-Bundesrat Christoph Blocher fordert rückwirkend Bundesratsruhegehalt
Dossier: Ruhestandsgehälter von Magistratspersonen

Die Frühjahrssession 2021, in der die Behandlung der zweiten Revision des Covid-19-Gesetzes anstand, fiel mitten in die Diskussionen über stärkere Lockerungen der Covid-19-Massnahmen. In den letzten zwei Monaten waren die Stimmen, die eine weitergehende Lockerung der Einschränkungen forderten, immer lauter geworden. Zwar hatte der Bundesrat einen ersten, vorsichtigen Öffnungsschritt auf den 1. März 2021 angekündigt, mit dem Läden, Museen und Aussenbereiche von Sport- und Freizeitanlagen wieder geöffnet werden sollten. Für Ärger sorgte jedoch, dass er beispielsweise die Restaurants, auch deren Terrassen, weiterhin geschlossen lassen und auch keinen verbindlichen Öffnungstermin angeben wollte. Dies führte zu starker Kritik am Bundesrat, dieser entscheide eigenmächtig und würde die Kantone und das Parlament nur noch pro forma anhören – liess etwa Mike Egger (svp, SG) verlauten. Insbesondere die SVP übte Kritik am Bundesrat und forderte eine unverzügliche Öffnung. Alt-Bundesrat Christoph Blocher nannte Gesundheitsminister Berset implizit einen Diktator und Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher (svp, GR) unterstellte dem Bundesrat, eine «Diktatur» eingeführt und die Demokratie ausgeschaltet zu haben. Die Kritik an Gesundheitsminister Berset ging gar soweit, dass sich die SVP-Bundesräte Maurer und Parmelin an einer bundesrätlichen Pressekonferenz hinter ihren Regierungskollegen stellen und betonen mussten, dass die Regierung ihre Entscheidungen in corpore treffe.

Vor der Session forderten dann verschiedene Kommissionen verbindliche frühere Öffnungen: Die WBK-SR verlangte in ihrem Mitbericht allgemein konkrete Kriterien für einen Lockdown-Ausstieg im Kultur- und Sportbereich, die SGK-NR wollte Gastrounternehmen, Kultur- und Freizeitbetriebe spätestens ab dem 22. März 2021 öffnen lassen und die WAK-SR regte in einem Brief an den Bundesrat ebenfalls entsprechende Lockerungen an. Die WAK-NR beantragte schliesslich mit 12 zu 11 Stimmen bei 1 Enthaltung, «in der Änderung des Covid-19-Gesetzes die Wiedereröffnung der Restaurants per 22. März 2021 vorzusehen». Darüber hinaus wollte die WAK-NR die Dauer eines möglichen durch den Bundesrat ausgesprochenen Lockdowns (Schliessung von Publikumseinrichtungen, Homeoffice-Pflicht) im Covid-19-Gesetz auf 90 Tage begrenzen und die Information der Öffentlichkeit durch die Covid-19-Task-Force im Rahmen der bundesrätlichen Pressekonferenz beenden – neu sollten also nur noch Bundesrat und Parlament an der Pressekonferenz öffentlich informieren. Die Kommissionsmehrheit war der Ansicht, dass die epidemiologische Lage eine entsprechende Öffnung erlaube und die Einschränkungen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens deshalb nicht mehr zu rechtfertigen seien. Zudem reichte die Kommission die Vorlage für eine Erklärung des Nationalrats ein, die ebenfalls die Forderung nach einer schnellen Öffnung beinhaltete.
Dieses Vorgehen der WAK-NR warf in den Medien hohe Wellen. Kritisiert wurde insbesondere die Idee, einen verbindlichen Öffnungstermin ins Gesetz zu schreiben. Damit binde man dem Bundesrat die Hände und er könnte bei einem Anstieg der Fallzahlen nicht mehr reagieren, mahnte etwa Mitte-Fraktionschefin Andrea Gmür (mitte, LU), die jedoch die Forderungen nach einem Strategiewechsel durchaus teilte. WAK-SR-Präsident Levrat (sp, FR) erachtete die Forderung der WAK-NR gar als verfassungswidrig, zumal der Bundesrat mit dem Schutz der Bevölkerung betraut sei, nicht das Parlament. Man könne das «Ende der Pandemie nicht per Gesetz festlegen», betonte er gegenüber den Medien. Entsprechend sei die Stimmung vor der ersten Ratssitzung aufgeheizt, wie die Medien ausführlich berichteten.

Neben der Öffnungsdebatte beschäftigten sich die Kommissionen jedoch auch mit Aspekten der eigentlichen Gesetzesrevision. Die WBK-SR verlangte unter anderem einen Verzicht auf die Notwendigkeit von Lohnsenkungen für Sportvereine, die A-Fonds-perdu-Beiträge erhalten. Die FK-SR wollte die Schwelle für die Härtefallhilfe senken und diese ab einem Umsatzausfall von 25 Prozent (bisher 40 Prozent) gewähren. Die SGK-NR forderte, die Bestimmungen zur Kurzarbeit, welche noch auf Ende März 2021 befristet waren, bis Ende 2021 zu verlängern. Erneut wollte die Kommission zudem die Verzugszinsen unter anderem bei der direkten Bundessteuer aussetzen. Darüber hinaus schlug die SGK-NR auch Vorschüsse für den Fall vor, dass ein Hilfegesuch von den Kantonen nicht innert 30 Tagen bearbeitet werden kann. Die WAK-SR wollte zudem den Zugang zu Härtefallhilfen auf Unternehmen ausdehnen, die zwischen dem 1. März 2020 und dem 30. Oktober 2020 gegründet wurden – bisher mussten die Unternehmen vor dem 1. März 2020 gegründet worden sein. Zudem sollte der Bund neu bei Härtefallhilfen für Unternehmen bis zu einem Jahresumsatz von CHF 5 Mio. 80 Prozent (bisher: 70 Prozent) der Kosten übernehmen, im Gegenzug aber einen Teil von hohen A-Fonds-perdu-Beiträgen an grössere Unternehmen in bestimmten Fällen rückfordern können.

Zweite Revision des Covid-19-Gesetzes (Änderung und Zusatzkredit; BRG 21.016)
Dossier: Covid-19-Gesetz und Revisionen

Jahresrückblick 2020: Institutionen und Volksrechte

Der Bundesrat stand als Führungsgremium 2020 ganz besonders auf dem Prüfstand, musste er doch aufgrund der Corona-Pandemie mittels Notrechts regieren. Darüber, wie gut ihm dies gelang, gingen die Meinungen auseinander. Die Konjunktur der sich bunt ablösenden Vertrauensbekundungen und Kritiken schien sich dabei mit der Virulenz der Pandemiewellen zu decken. War das entgegengebrachte Vertrauen zu Beginn des Lockdowns im März sehr gross, nahm die Kritik am Führungsstil der Exekutive und an den föderalistischen Lösungen mit dem Rückgang der Fallzahlen und insbesondere auch in der zweiten Welle zu. Eine parlamentarische Aufarbeitung der Bewältigung der Pandemie durch die Bundesbehörden durch die GPK, aber auch verschiedene Vorstösse zum Umgang des Bundesrats mit Notrecht werden wohl noch einige Zeit zu reden geben. Für eine Weile ausser Rang und Traktanden fallen werden hingegen die alle vier Jahre nach den eidgenössischen Wahlen stattfindenden Diskussionen um die parlamentarische Behandlung der Legislaturplanung sowie die bereits fünfjährige Diskussion über ein Verordnungsveto, die vom Ständerat abrupt beendet wurde. Im Gegensatz dazu wird wohl die Regelung über das Ruhegehalt ehemaliger Magistratspersonen noch Anlass zu Diskussionen geben. Den Stein ins Rollen brachte 2020 die medial virulent kommentierte Rückzahlung der Ruhestandsrente an alt-Bundesrat Christoph Blocher.

Wie kann und soll das Parlament seine Aufsicht über die Verwaltung verbessern? Diese Frage stand auch aufgrund des Jahresberichts der GPK und der GPDel im Raum. Dieser machte auf einige Mängel aufmerksam, was unter anderem zur Forderung an den Bundesrat führte, eine Beratungs- und Anlaufstelle bei Administrativ- und Disziplinaruntersuchungen einzurichten. Der seit 2016 in den Räten debattierten Schaffung einer ausserordentlichen Aufsichtsdelegation, die mit den Rechten einer PUK ausgestattet wäre, aber wesentlich schneller eingesetzt werden könnte, blies hingegen vor allem aus dem Ständerat ein steifer Wind entgegen. Ein Dorn im Auge waren dem Parlament auch die Kader der bundesnahen Betriebe: 2021 wird das Parlament über einen Lohndeckel und ein Verbot von Abgangsentschädigungen diskutieren.

Das Parlament selber machte im Pandemie-Jahr eher negativ auf sich aufmerksam. Paul Rechsteiner (sp, SG) sprach mit Bezug auf den der Covid-19-Pandemie geschuldeten, jähen Abbruch der Frühjahrssession von einem «Tiefpunkt der Parlamentsgeschichte des Landes». Das Parlament nahm seine Arbeit jedoch bereits im Mai 2020 im Rahmen einer ausserordentlichen Session zur Bewältigung der Covid-19-Krise wieder auf; Teile davon, etwa die FinDel waren auch in der Zwischenzeit tätig geblieben. Dass die ausserordentliche Session aufgrund von Hygienevorschriften an einem alternativen Standort durchgeführt werden musste – man einigte sich für diese Session und für die ordentliche Sommersession auf den Standort BernExpo – machte eine Reihe von Anpassungen des Parlamentsrechts nötig. Diese evozierten im Falle der Abstimmungsmodalitäten im Ständerat einen medialen Sturm im Wasserglas. Die Pandemie vermochte damit ziemlich gut zu verdeutlichen, wie wenig krisenresistent die Parlamentsstrukturen sind, was zahlreiche Vorstösse für mögliche Verbesserungen nach sich zog. Kritisiert wurde das Parlament auch abgesehen von Covid-19 und zwar, weil der Nationalrat eine eher zahnlos gewordene, schon 2015 gestellte Forderung für transparenteres Lobbying versenkte und damit auch künftig wenig darüber bekannt sein wird, wer im Bundeshaus zur Vertretung welcher Interessen ein- und ausgeht.

Der Zufall will es, dass die SVP 2021 turnusgemäss gleichzeitig alle drei höchsten politischen Ämter besetzen wird. In der Wintersession wurden Andreas Aebi (svp, BE) zum Nationalratspräsidenten, Alex Kuprecht (svp, SZ) zum Ständeratspräsidenten und Guy Parmelin zum Bundespräsidenten gekürt. In den Medien wurde diskutiert, wie es Parmelin wohl gelingen werde, die Schweiz aus der Covid-19-Krise zu führen. 2020 standen Regierung und Parlament aber nur selten im Fokus der Medien – ganz im Gegensatz zu den Vorjahren als die Bundesratserneuerungs- und -ersatzwahlen für viel Medienrummel gesorgt hatten (vgl. Abb. 2: Anteil Zeitungsberichte pro Jahr).

Viel Druckerschwärze verbrauchten die Medien für verschiedene Ereignisse hinsichtlich der Organisation der Bundesrechtspflege. Zum einen gab die Causa Lauber viel zu reden. Gegen den Bundesanwalt wurde ein Amtsenthebungsverfahren angestrengt, dem Michael Lauber mit seinem Rücktritt allerdings zuvorkam. Die Wahl eines neuen Bundesanwalts wurde zwar auf die Wintersession 2020 angesetzt, mangels geeigneter Kandidierender freilich auf 2021 verschoben. Die zunehmend in die mediale Kritik geratenen eidgenössischen Gerichte, aber auch der Vorschlag der SVP, ihren eigenen Bundesrichter abzuwählen, waren Nahrung für die 2021 anstehenden Diskussionen um die Justizinitiative. Was Letztere anbelangt, beschlossen die beiden Rechtskommissionen Ende Jahr, einen indirekten Gegenvorschlag zur Initiative auszuarbeiten.

Auch die direkte Demokratie wurde von den Auswirkungen der Covid-Pandemie nicht verschont, mussten doch die Volksabstimmungen vom 20. Mai verschoben werden. Darüber hinaus verfügte der Bundesrat Ende März einen Fristenstillstand bei den Initiativen und fakultativen Referenden: Bis Ende Mai durften keine Unterschriften mehr gesammelt werden und die Sammelfristen wurden entsprechend verlängert. Auftrieb erhielten dadurch Forderungen nach Digitalisierung der Ausübung politischer Rechte (z.B. Mo. 20.3908 oder der Bericht zu Civic Tech). Viel Aufmerksamkeit erhielt dadurch auch der in den Medien so benannte «Supersonntag»: Beim Urnengang vom 27. September standen gleich fünf Vorlagen zur Entscheidung (Begrenzungsinitiative, Kampfjetbeschaffung, Jagdgesetz, Vaterschaftsurlaub, Kinderabzüge). Nachdem Covid-19 die direkte Demokratie eine Weile ausser Gefecht gesetzt hatte, wurde die Abstimmung sozusagen als «Frischzellenkur» betrachtet. In der Tat wurde – trotz Corona-bedingt schwierigerer Meinungsbildung – seit 1971 erst an vier anderen Wochenenden eine höhere Stimmbeteiligung gemessen, als die am Supersonntag erreichten 59.3 Prozent.
Das Parlament beschäftigte sich 2020 mit zwei weiteren Geschäften, die einen Einfluss auf die Volksrechte haben könnten: Mit der ständerätlichen Detailberatung in der Herbstsession übersprang die Idee, völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter dem obligatorischen Referendum zu unterstellen, eine erste Hürde. Auf der langen Bank befand sich hingegen die Transparenzinitiative, deren Aushandlung eines indirekten Gegenvorschlags die Räte 2020 in Beschlag genommen hatte; Letzterer wird aber wohl aufgrund des Widerstands im Nationalrat eher nicht zustandekommen.

Jahresrückblick 2020: Institutionen und Volksrechte
Dossier: Jahresrückblick 2020

Ohne Diskussion überwies der Ständerat das Postulat Hegglin (cvp, ZG) für eine «zeitgemässe Besoldungs- und Ruhegehaltsregelung für Magistratspersonen». Peter Hegglin dankte in seinen Ausführungen dem Bundesrat für den Antrag auf Annahme des Postulats und erinnerte daran, dass die momentan geltende Regelung 1989 eingeführt worden sei, heute aber nicht mehr genüge. Damals sei man davon ausgegangen, dass gewählte Personen nach einer Abwahl oder einem Rücktritt keine Vorsorge, kein neues Einkommen oder keine Rente hätten, weshalb ein Ruhegehalt angezeigt gewesen sei. Dies entspreche aber kaum mehr einer modernen Gehaltsordnung. Bundeskanzler Walter Thurnherr, der die bundesrätliche Empfehlung zur Annahme des Postulats in der kleinen Kammer begründete, erinnerte daran, dass die aktuelle Regelung sehr effektiv und einfach sei und es erlaube, die Magistratspersonen vor möglichen Interessenbindungen und -konflikten zu bewahren. Allerdings sehe der Bundesrat Handlungsbedarf im Vollzug der Besoldungs- und Ruhestandsregelungen. Ausdrücklich wolle man die Zulässigkeit von rückwirkenden Auszahlungen regeln. Damit stellte der Bundeskanzler den Bezug zur Causa Blocher her, ohne den ehemaligen Bundesrat zu erwähnen.

Zeitgemässe Besoldungs- und Ruhestandsregelungen für Magistratspersonen (Po. 20.4099)
Dossier: Ruhestandsgehälter von Magistratspersonen

Nachdem die FinDel dem Bundesrat empfohlen hatte, nicht auf die Forderung von alt-Bundesrat Christoph Blocher nach Rückzahlung seines Ruhegehalts einzugehen, entschied sich die Regierung vorerst, von Blocher selber eine schriftliche Erklärung für seine Beweggründe zu verlangen. Man gebe ihm «rechtliches Gehör», berichtete der Ex-Justizminister in der Sonntags-Zeitung. Er habe nach seiner Nichtwiederwahl auf die Auszahlung der Rente, nicht aber auf seinen Rentenanspruch verzichtet, präzisierte er. Es sei ihm damals von der Bundeskanzlei zugesichert worden, dass ein nachträglicher Bezug möglich sei, betonte Blocher gemäss NZZ.

In der Zwischenzeit wurde diese Frage gar in Umfragen behandelt. Im Rahmen der Tamedia-Umfrage im Vorfeld der eidgenössischen Abstimmungen vom November 2020 (Konzernverantwortungsinitiative und Verbot der Kriegsmaterialfinanzierung) konnten sich die Befragten auch zum Rentenbezug äussern. 74 Prozent der Befragten verneinten den Anspruch des Milliardärs auf ein Ruhegehalt. Selbst die SVP-Anhängerschaft habe sich mehrheitlich gegen den Erhalt der Rente ausgesprochen, wusste die Sonntags-Zeitung zu berichten.

Ende Oktober entschied sich der Bundesrat, Christoph Blocher ein Ruhegehalt für die letzten fünf Jahre auszubezahlen. Da das geltende Recht nicht klar sei, habe die Regierung im Juli die Regelung zuerst grosszügig ausgelegt und die FinDel um eine Beurteilung gebeten. Nachdem diese empfohlen habe, ganz auf eine rückwirkende Auszahlung zu verzichten, sei der Bundesrat auf diese ursprüngliche Idee zurückgekommen. Er teile die Ansicht der FinDel, dass eine nachträgliche Begleichung nicht dem Zweck der Ruhestandsregelungen entspreche, sei aber, gestützt auf zwei Rechtsgutachten, der Meinung, dass dennoch ein rechtlicher Anspruch bestehe, der freilich einer Verjährungsfrist von fünf Jahren unterstehe. Bis eine definitive Regelung bestehe, würden deshalb entsprechende Anträge gutgeheissen, man unterstütze jedoch die Ausarbeitung einer Rechtsgrundlage, mit der dies zukünftig nicht mehr möglich sei.
Für Christoph Blocher bedeutete dieser Entscheid, dass er von den geforderten CHF 2.7 Mio. noch CHF 1.125 Mio. erhalten würde. In der Presse wurde der Entscheid des Bundesrats mit Unverständnis aufgenommen: «Eine Million für Blocher, nichts für Gewerbler», betitelte der Blick den gleichentags gefällten Entscheid des Bundesrats, wegen Covid-19 Discos und Clubs zu schliessen. Dass ein 80-jähriger Multimilliardär Millionen verlange, während Krankenpflegerinnen für wenig Geld Übermenschliches leisteten, sei ein Affront, kommentierte das Boulevardblatt.

Alt-Bundesrat Christoph Blocher fordert rückwirkend Bundesratsruhegehalt
Dossier: Ruhestandsgehälter von Magistratspersonen

In der Herbstsession 2020 beendete der Nationalrat die Diskussionen um die Überbrückungshilfe für Parlamentarierinnen und Parlamentarier, indem er mit 106 zu 81 Stimmen (2 Enthaltungen) beschloss, nicht auf das Geschäft einzutreten. Damit folgte die grosse Kammer ihrer SPK-NR, die zuvor mit 13 zu 11 Stimmen Nicht-Eintreten empfohlen hatte. Ursprünglich hatte die Kommission entsprechend der ursprünglichen Forderung einer parlamentarischen Initiative Rickli (svp, ZH) vorgesehen, diese finanzielle Hilfe für ehemalige Parlamentsmitglieder gänzlich abzuschaffen. Nachdem der Nationalrat die Vorlage abgeschwächt hatte – neu sollten nur noch abgewählte, nicht aber freiwillig zurücktretende Parlamentsmitglieder von einer finanziellen Überbrückung profitieren –, war der Ständerat in der Sommersession 2020 gar nicht erst auf die Vorlage eingetreten.
Es sei eine lange Geschichte, die sich im Kreis drehe, fasste Kommissionssprecher Matthias Jauslin (fdp, AG) zusammen. Eine Minderheit kritisiere dabei – «vielleicht auch zurecht» –, wie der Ständerat mit der Vorlage umgehe: «Wenn dem Ständerat etwas nicht passt, wird es vom Tisch gewischt». Allerdings sei damit zu rechnen, dass die kleine Kammer auch ein zweites Mal nicht eintreten werde, selbst wenn sich der Nationalrat nun mit der Vorlage beschäftigen würde, mahnte Jauslin. Es gelte deshalb, der Sache ein Ende zu bereiten. Für besagte Minderheit wiederholte Gregor Rutz (svp, ZH) noch einmal die bereits bekannten Argumente: Ratsmitglieder, die neben der Arbeitslosenversicherung als Milizparlamentarierinnen und -parlamentarier nach einem geplanten Rücktritt auch noch Einkommen erzielten, sollten nicht in den Genuss staatlich finanzierter Überbrückungshilfe kommen. Der Ständerat brauche ab und zu ein paar Monate mehr; auch er werde aber die Wichtigkeit der Angelegenheit noch erkennen. Die rhetorische Frage von Ada Marra (sp, VD), ob es niemand seltsam finde, dass die Kommissionsminderheit von einem Fraktionsmitglied jener Partei angeführt werde, die nichts dagegen einzuwenden habe, dass Christoph Blocher, AHV-Bezüger und reich, ebenfalls eine Art von Überbrückungshilfe beanspruche, blieb unbeantwortet – die Vaudoise spielte auf die Forderung des alt-Bundesrats an, sein Ruhegehalt nachträglich beziehen zu können. In der Folge warb Marianne Streiff-Feller (evp, BE) im Namen der Mitte-Fraktion für die 2019 gefundene Kompromisslösung und entsprechend für Eintreten und Kurt Fluri (fdp, SO) gab bekannt, dass die FDP-Fraktion auch aus finanziellen Überlegungen für Nicht-Eintreten stimmen werde: Auch mit der abgeschwächten Lösung würden nur unwesentliche Einsparungen der pro Jahr im Schnitt rund CHF 100'000 betragenden Überbrückungshilfen gemacht. Entsprechend stammten die Stimmen, die das Geschäft – erfolglos – gerne noch einmal an die kleine Kammer geschickt hätten, aus der geschlossen stimmenden SVP-Fraktion, aus der Mitte-Fraktion (28 befürwortende, 1 Gegenstimme) und aus der FDP-Fraktion (4 abweichende, befürwortende Stimmen).

Überbrückungshilfe für Parlamentarierinnen und Parlamentarier (Pa. Iv. 16.460)

Peter Hegglin (cvp, ZG), seines Zeichens Präsident der FinDel nahm die virulent diskutierte Forderung von alt-Bundesrat Christoph Blocher, sein Ruhegehalt rückwirkend beziehen zu wollen, Mitte September 2020 zum Anlass, das aktuelle Besoldungs- und Ruhegehaltssystem für Magistratspersonen zu überdenken – freilich ohne in seinem Vorstoss die Causa Blocher zu erwähnen. Die «systemischen Ungereimtheiten» und die «Schwierigkeiten im Vollzug», welche das aktuelle System verursache, könnten durch eine moderne Ordnung – einer «Lex Blocher», wie der Blick die Forderung bezeichnete – überwunden werden, so der Zuger Ständerat. Er schlug etwa vor, auch für Magistratspersonen eine berufliche Vorsorge oder Abgangsentschädigungen einzuführen. Das aktuelle Ruhegehalt sei eingeführt worden, um eine Einkommenslücke zu verhindern, wenn ein Bundesratsmitglied zurücktrete oder abgewählt werde. Dies sei nicht mehr zeitgemäss.
Der Bundesrat beantragte Mitte November die Annahme des Postulats, begründete diesen Antrag jedoch nicht.

Zeitgemässe Besoldungs- und Ruhestandsregelungen für Magistratspersonen (Po. 20.4099)
Dossier: Ruhestandsgehälter von Magistratspersonen

Anfang September 2020 äusserte sich die FinDel zur Frage der rückwirkenden Auszahlung von Ruhegehältern für Magistratspersonen. Anlass dazu war die Anfrage des Bundesrats gewesen, über die Forderung von alt-Bundesrat Christoph Blocher nach einer Rückzahlung seiner Ruhestandsrente über rund CHF 2.7 Mio. zu beraten. In ihrer Medienmitteilung empfahl die Finanzdelegation, Ruhegehälter nicht rückwirkend auszuzahlen. Sie hielt fest, dass die aktuelle Regelung keine eigentliche Rente im Sinne einer Pensionskasse sei, sondern ein Ruhegehalt, mit dem «ein standesgemässes Leben nach dem Ausscheiden aus dem Amt» ermöglicht werden solle. Es gebe allerdings keine gesetzliche Grundlage, mit der ein Anspruch auf eine rückwirkende Auszahlung begründet werden könne. Würde ein solcher Anspruch bewilligt, hätte dies präjudizielle Wirkung und würde wohl nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprechen. Ein nachträglicher Bezug käme dem Bezug eines angesparten Pensionskassenkapitals gleich, aber eben nicht der Idee eines Ruhegehaltes. Da zudem der Grundsatz der Sparsamkeit gelte, dürften nur Ruhegehälter ausbezahlt werden, wenn sie tatsächlich geschuldet seien. Da das jetzige System auf «überholten Arbeitsmarktbedingungen und Vorsorgemöglichkeiten» beruhe, werde sich die FinDel auch überlegen, wie ein zeitgemässes Ruhegehaltssystem ausgearbeitet werden könnte.
Freilich äusserte sich die FinDel nicht explizit zur Causa Blocher. Dafür habe man keine gesetzlich geregelte Zuständigkeit, gab der Präsident der FinDel, Peter Hegglin (cvp, ZG), der NZZ zu Protokoll und spielte damit den Ball an den Bundesrat zurück, für den es freilich schwierig sein dürfte, von der Stellungnahme der FinDel abzuweichen, so Hegglin in der Aargauer Zeitung.

Alt-Bundesrat Christoph Blocher fordert rückwirkend Bundesratsruhegehalt
Dossier: Ruhestandsgehälter von Magistratspersonen

Als «unnötiges Sommertheater» bezeichnete die Sonntagszeitung das in den Medien lautstark begleitete Hin und Her um die Forderung von alt-Bundesrat Christoph Blocher, sein Ruhegehalt nachträglich beziehen zu wollen. Der ehemalige Magistrat – Blocher war von 2003 bis 2007 Justizminister – hatte im Juni 2020 CHF 2.7 Mio. an Rückzahlungen gefordert. Zwar waren Besoldung und Ruhestandsgehälter der Bundesrätinnen und Bundesräte immer wieder mal Gegenstand parlamentarischer Vorstösse und medialer Berichterstattung, die Forderung Blochers, die Anfang Juli publik geworden war, löste aber eine mittlere Lawine aus. In den Medien wurden «Erstaunen» (Blick) und «Empörung» (Tages-Anzeiger) geäussert. Erstaunen über den Umstand, dass einer der reichsten Schweizer eine solche Forderung überhaupt stellte. Die Aargauer Zeitung vermutete, dass Blocher zwar reich, aber nicht genügend liquide sei. Empörung wurde in den Medien laut, weil Blocher nach seiner Nichtwiederwahl selber lautstark auf die Rente verzichtet habe – was von der Weltwoche und einigen SVP-Exponenten allerdings bestritten wurde – und selber zu den stärksten Kritikern der Ruhestandsregel gehört habe. Mit seinem Verzicht habe er sich nach seiner Abwahl gebrüstet, erinnerte sich der Tages-Anzeiger. Zudem stiess vielen Kommentierenden der Zeitpunkt der Forderung sauer auf. Angesichts der Corona-Krise sei die Forderung «an Dreistigkeit kaum zu überbieten» (Tages-Anzeiger). Blocher selber verteidigte seinen Anspruch. Dieser stehe ihm gesetzlich zu. Der jährliche Nichtbezug sei sogar zum Vorteil des Staates gewesen, da das Geld in der Kasse geblieben sei. Allerdings wäre es ein Geschenk an den Staat, wenn er die Rente jetzt nicht beziehen würde. Und wie der Staat momentan verfahre, dürfe man ihm keine Geschenke machen.

Die Forderung Blochers wurde aus verschiedenen Gründen zum Politikum – zu einem «acte politique», wie Le Temps titelte. Zum einen reagierten verschiedene politische Exponenten recht heftig. Es sei nur schwer nachzuvollziehen gab Cédric Wermuth (sp, AG) zu Protokoll, dass ein Multimilliardär mitten in einer Krise Geld beziehe, dass er nicht nötig habe. Gerhard Pfister (cvp, ZG) wurde im Tages-Anzeiger folgendermassen zitiert: «Es ist jedem selber überlassen, wie er die Differenzierung zwischen legal und legitim für sich formulieren will.» In verschiedenen Kommentaren wurde vermutet, dass die Sache der SVP nicht gerade dienlich sei – auch im Hinblick auf die anstehende Abstimmung über die Begrenzungsinitiative. Blocher spiele seinen Gegnern in die Hände und schade seinem Ansehen, urteilte die Sonntagszeitung. SVP-nahe Kreise wiederholten im Gegensatz dazu das Narrativ, dass Blocher «das Geld besser einzusetzen» wisse «als die aktuelle Staatselite» – so z.B. SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi (svp, ZG) in der Sonntagszeitung. Die Weltwoche warf den Journalisten, die Blocher Schamlosigkeit unterstellten, ihrerseits Charaktermangel vor.
Zum anderen musste der Bundesrat über die Gewährung der Forderung entscheiden und auch die FinDel sollte sich als übergeordnete Instanz der Sache noch annehmen. Die aktuelle Regelung sieht vor, dass eine Magistratsperson bei Rücktritt oder Abwahl ein Ruhegehalt von einem halben Jahreslohn pro Jahr erhält, was aktuell rund CHF 225'000 pro Jahr entspricht. Sind die ehemaligen Bundesrätinnen und Bundesräte nach Ausscheiden aus dem Amt arbeitstätig, wird das Ruhegehalt gekürzt oder ganz gestrichen, wenn die Einnahmen durch die berufliche Tätigkeit die CHF 225'000 übersteigen – nicht einberechnet wird dabei freilich das Vermögen der Magistratspersonen. Wer wie viel Ruhegehalt bezieht, wird nicht bekanntgegeben, die Bundeskanzlei weist jeweils nur die Gesamtsumme an Ruhegehältern aus – 2019 betrug dieser Betrag rund CHF 4.5 Mio., die von 19 Personen (darunter zwei ex-Bundeskanzler) beansprucht worden seien, wie der «Blick» zu berichten wusste. Nicht geregelt war bisher allerdings, ob und wie Ruhegehälter rückwirkend ausbezahlt werden. Die NZZ erhoffte sich als Folge der Geschichte denn auch Reformen des «relativ feudalen» Ruhegehalts, die dann vermutlich «Christoph Blocher zu verdanken» wären.

Der Bundesrat entschied am 1. Juli 2020, dass er der Forderung Blochers Folge leisten und ihm CHF 2.7 Mio. auszahlen wolle, beauftragte aber die Bundeskanzlei und das EJPD, die gesetzliche Lage abzuklären und eine Regelung zu prüfen, mit der ein rückwirkender Bezug zukünftig verunmöglicht werde. Zudem solle die FinDel noch die Frage klären, ob Ansprüche allenfalls nach fünf Jahren verjähren würden. In diesem Fall erhielte Blocher statt CHF 2.7 Mio. noch rund CHF 1.1. Mio.

Alt-Bundesrat Christoph Blocher fordert rückwirkend Bundesratsruhegehalt
Dossier: Ruhestandsgehälter von Magistratspersonen

Flavia Kleiner trat per 20. Juni 2020 von ihrem Amt als Co-Präsidentin der wirtschafts- und gesellschaftsliberalen Bewegung Operation Libero zurück, wie diese bereits im Mai 2020 per Medienmitteilung kommuniziert hatte. Kleiner hatte das Amt als Co-Präsidentin seit der Gründung 2014 inne, zuletzt zusammen mit Co-Präsidentin Laura Zimmermann, die weiterhin im Amt bleibt.
Die Operation Libero wurde von Kleiner 2014 mitgegründet, laut Medienmitteilung aus Frust über die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative der SVP. In der Medienmitteilung zu ihrem Rücktritt zog Kleiner eine positive Bilanz zu den vergangenen sechs Jahren: Demnach sei es der Bewegung gelungen, gemeinsam mit anderen Organisationen und Parteien «den Mythos der Unbesiegbarkeit der SVP» zu brechen. Die Organisation habe dazu beigetragen, die «Post-Blocher-Ära» einzuläuten und fortschrittliche Allianzen und Netzwerke in der Schweizer Politiklandschaft zu formen. Ein kleiner Seitenhieb auf die SVP hätte denn auch der Zeitpunkt von Kleiners Rücktritt werden sollen: Ursprünglich hätte dieser im unmittelbaren Nachgang zur Abstimmung über die Begrenzungsinitiative der SVP stattfinden sollen, doch wurde der Abstimmungstermin aufgrund der Corona-Pandemie auf September verschoben.
Die Nachfolge Kleiners trat Stefan Manser-Egli an, der sich gemäss Interview in der Aargauer Zeitung etwa für ein liberaleres Bürgerrecht einsetzen wolle.

Flavia Kleiner tritt zurück (Operation Libero)

Eine Folge der eidgenössischen Wahlen 2019, die einen massiven Wahlgewinn der Grünen und eine Niederlage der Polparteien mit sich gebracht hatten, waren die virulenten Diskussionen um die Zusammensetzung und die Bestellung des Bundesrats. Auf der einen Seite wurde eine neue Zauberformel gefordert. Das Parlament müsse bei der Bestellung der Regierung rascher auf Veränderungen reagieren können. Auf der anderen Seite wurden Reformen gefordert, die eine Erhöhung der Zahl der Regierungsmitglieder, Koalitionsverhandlungen oder einen eigentlichen Systemwechsel weg von der Konkordanzidee vorsahen.

Die Zauberformel, die 1959 mit der Idee eingeführt worden war, dass die drei grössten Parteien je zwei und die viertgrösste Partei einen Sitz erhalten soll, wurde durch die aktuellen Wahlresultate gleich mehrfach in Frage gestellt. Jahrzehntelang passte die Formel gut zu den Kräfteverhältnissen, weil die FDP, die CVP und die SP bei den Nationalratswahlen jeweils mehr als 20 Prozent Wähleranteile hinter sich wussten und die SVP auf jeweils etwas mehr als zehn Prozent zählen konnte. Eine erste Verschiebung der Kräfteverhältnisse führte 2003 zu einem Sitzwechsel von der CVP zur SVP. Nach einer durch die Nichtbestätigung von Christoph Blocher 2007 beginnenden Übergangsphase, während der CVP, SVP und BDP je einen Sitz hatten, kehrte man mit der Wahl von Guy Parmelin im Jahr 2015 wieder zu dieser 2-2-2-1-Verteilung zurück – neu mit der CVP als Juniorpartner. War diese Verteilung freilich schon 2015 hinterfragbar, geriet sie 2019 vollends in die Kritik, weil mit der SVP nur noch eine Partei über 20 Prozent Wähleranteil verfügte (25.6%), aber vier Parteien neu über 10 Prozent lagen: Die SP mit 16.8 Prozent, die FDP mit 15.1 Prozent, die Grünen mit 13.2 Prozent und die CVP mit 11.4 Prozent. Diese Verteilung liess Raum für zahlreiche Rechenspiele, die in den Medien für viel Gesprächsstoff sorgten und die Diskussionen im Vorfeld der Bundesratswahlen anheizten.

Eine neue Zauberformel wurde natürlich insbesondere von den Gewinnerinnen und Gewinnern der eidgenössischen Wahlen 2019 gefordert. Die Frage war freilich, auf wessen Kosten die Grünen einen Bundesratssitz erhalten sollten. Wahlweise vorgeschlagen wurde, dass die CVP als neu kleinste Partei verzichten müsse. Aber auch die FDP und die SP hätten eigentlich – je nach Berechnung – keinen Anspruch auf zwei Sitze. Die GP selber forderte – unterstützt von der SP – den Sitz von FDP-Bundesrat Ignazio Cassis. Mediale Aufmerksamkeit erhielt ein Vorschlag von Christoph Blocher, der eine Proporz-Zusammensetzung vorschlug, die der SVP zwei Sitze und allen anderen Parteien inklusive der GLP (die bei den Wahlen auf 7.8% Wähleranteil gewachsen war) je einen Sitz zugestand. Freilich wurde in der Diskussion auch die Frage laut, ob für die Berechnung der Zusammensetzung lediglich die Wählerprozente, also nur die Zusammensetzung des Nationalrats, oder nicht vielmehr die Sitzverteilung in National- und Ständerat herangezogen werden müssten. Auf der Basis der totalen Anzahl Sitze aus beiden Kammern wäre die CVP (total 38 Sitze) wiederum stärker als die GP (total 33 Sitze), was für den Status Quo sprechen würde.
Eine Erweiterung der Diskussion wurde durch die Überlegung geschaffen, nicht Parteien, sondern Blöcke zu betrachten. Die NZZ schlug vor, den Polen – bestehend aus SVP auf der einen und SP zusammen mit den Grünen auf der anderen Seite – je zwei Sitze und den Parteien in der Mitte (FDP, CVP und allenfalls GLP) drei Sitze zuzusprechen. Wenn die Grünen einen Sitz erhielten und die SP ihre beiden Sitze behalten würde, dann wäre das linke Lager, das kumuliert auf rund 30 Prozent Wählerstärke komme, stark übervertreten, so die Argumentation der NZZ.

Als Problem für eine flexiblere Gestaltung der Regierungszusammensetzung wurde zudem die variable Amtszeit der Bundesrätinnen und Bundesräte ausgemacht. Würde die Amtszeit eines Regierungsmitglieds auf acht Jahre fixiert – inklusive der Verpflichtung, nicht freiwillig vor Ablauf dieser Zeit zurückzutreten – ergäben sich bei jeder Gesamterneuerungswahl Vakanzen, die eine Neuausrichtung der parteipolitischen Zusammensetzung des Bundesrats vereinfachen würden, schlug CVP-Parteipräsident Gerhard Pfister (cvp, ZG) als weitere – schon etwas ältere – Idee vor.

Ein weiteres, medial diskutiertes Problem der starren 2-2-2-1-Zauberformel war die Repräsentativität des Bundesrats. Wurden 1959 durch die vier Regierungsparteien noch 85 Prozent der Wählerschaft (gemessen anhand der Wählerprozente bei den Nationalratswahlen) repräsentiert, sank dieser Wert aufgrund der zunehmenden Volatilität, aber auch aufgrund der Ausdifferenzierung des Parteiensystems 2019 erstmals unter 70 Prozent (68.9%). Die «formule magique» verliere ihre Magie, urteilte die Zeitung Le Temps auf Basis dieser Zahlen. In der Regierung müsse sich der Wille der Wählenden unmittelbar niederschlagen; wer fordere, dass die Grünen ihren Wahlerfolg in vier Jahren noch einmal bestätigen müssten, um einen Anspruch auf Einbindung in die Regierung zu haben, sei deshalb «ein schlechter Demokrat», urteilte der Tages-Anzeiger. Letztlich seien es «nicht die Wahlprozente, sondern die Mandatsträger im National- und im Ständerat», welche über die Regierungszusammensetzung entschieden. Dies sei «die eigentliche Machtarithmetik der Bundesratswahlen», kommentierte der emeritierte Historiker Urs Altermatt in der NZZ.

Als Alternative zu einer neuen Zauberformel und als Möglichkeit einer besseren Repräsentation wurde eine weitere alte Idee hervorgekramt: die Erhöhung der Zahl der Regierungsmitglieder auf neun. Zwar waren in der Vergangenheit zahlreiche Vorstösse für eine Umsetzung dieser Idee gescheitert – etwa im Rahmen der Staatsleitungs- und Regierungsreform zu Beginn des Jahrtausends, aber auch bei Debatten zu einzelnen Reformvorschlägen –, die elf Prozent Wähleranteil, die rein arithmetisch bei neun Sitzen für einen Bundesratssitz reichen würden, würden aber ermöglichen, dass die Grünen einen Sitz erhielten, ohne dass die CVP einen Sitz abgeben müsste, so ein Argument in der Aargauer Zeitung. Insbesondere Christian Levrat (sp, FR) machte sich in den Medien für die Erhöhung der Anzahl Regierungsmitglieder stark. Damit könne nicht nur dem Anspruch der Grünen genüge getan werden, so der SP-Parteipräsident, sondern es sei auch nicht mehr zeitgemäss, lediglich sieben Minister zu haben. Dies sei weltweit fast einmalig wenig.

Weitere Vorschläge stellten die Idee der Konkordanz grundsätzlich in Frage. Nicht die wichtigsten Kräfte sollten in der Regierung vertreten sein, stattdessen müsse man ein Oppositionssystem einführen, in welchem wahlweise eine Mitte-Rechts- oder eine Mitte-Links-Regierung einer linken oder rechten Opposition gegenüberstehe, so ein Vorschlag im Tages-Anzeiger. Auch die Idee, dass Parteien mit programmatischen Koalitionsvorschlägen für die Regierung kandidieren könnten, würde das bestehende Konkordanzsystem verändern. Man müsse aber in der Tat mehr über politische Inhalte als bloss über Formeln sprechen, forderte die Aargauer Zeitung.

Man komme wohl in Zukunft nicht darum herum, die Regierungszusammensetzung nach jeden Gesamterneuerungswahlen neu zu diskutieren, folgerte der Tages-Anzeiger. Freilich steht die Konkordanz und die Zusammensetzung der Regierung schon seit einigen Jahren und stets bei Bundesratswahlen zur Diskussion, nur um dann für die nächsten vier Jahre wieder aus dem Fokus der Medien zu verschwinden. Um ebendies nach den Bundesratswahlen 2019, die hinsichtlich Regierungszusammensetzung trotz aller Reformdiskussionen den Status Quo zementierten, zu verhindern, schlug Gerhard Pfister einen «Konkordanzgipfel» vor, wie ihn die Medien betitelten: «Wir müssen die Zauberformel im Bundesrat, die Konkordanz in der Landesregierung, neu erfinden», gab Pfister im Sonntags-Blick zu Protokoll. Es gehöre zum Schweizer System, dass man gemeinsam nach Lösungen suche, begrüsste GLP-Parteipräsident Jürg Grossen (glp, BE) die Initiative der CVP. Alle Parteien waren sich einig, dass die Regeln den zunehmend volatiler werdenden Wahlresultaten angepasst werden müssen. Wie diese Anpassung auszusehen hat, blieb hingegen naturgemäss umstritten.

Reformideen im Nachgang der Bundesratswahlen 2019

Lange Zeit waren die Gesamterneuerungswahlen des Bundesrats fast eine Pflichtübung. Das hatte vor allem damit zu tun, dass die eidgenössischen Wahlen lange Jahre kaum politische Verschiebungen nach sich zogen. Zwar war die alte Zauberformel (2 CVP, 2 FDP, 2 SP, 1 SVP) mit dem Wahlerfolg der SVP stark hinterfragt und schliesslich nach einigen Jahren der Transition mit mehr oder weniger gehässigen und aufreibenden Regierungswahlen, der Nichtwiederwahl von Ruth Metzler (2003) sowie Christoph Blocher (2007) und einem Intermezzo der BDP in der Regierung gesprengt worden. Nach den eidgenössischen Wahlen 2015, dem Rücktritt von Eveline Widmer-Schlumpf aus der nationalen Exekutive und dem Einzug eines zweiten SVP-Regierungsmitglieds schien dann aber eine neue Formel gefunden: 2 FDP, 2 SP, 2 SVP, 1 CVP.

Schon im Vorfeld der eidgenössischen Wahlen 2019 war freilich spekuliert worden, dass die Grüne Partei die CVP hinsichtlich des Wähleranteils überflügeln könnte und damit einen Anspruch auf einen Sitz in der nationalen Regierung hätte – umso mehr, wenn sich die Grünen mit der GLP quasi zu einem gemeinsamen Sitz für die «Öko-Parteien» zusammenraufen könnten, wie die Aargauer Zeitung spekulierte. Falls sich die CVP halten könnte, wäre auch der Angriff auf einen der beiden FDP-Sitze denkbar, so die Hypothese zahlreicher Medien. Die angegriffenen Parteien wehrten sich mit dem Argument, dass eine Partei ihren Wahlerfolg zuerst bestätigen müsse, bevor sie einen Anspruch auf eine Regierungsbeteiligung erhalten könne. Dies sei auch bei der SVP der Fall gewesen – so etwa FDP-Parteipräsidentin Petra Gössi (fdp, SZ) bereits Mitte August 2019 in der Zeitung Blick. Zudem dürfe nicht nur der Wähleranteil bei den Nationalratswahlen in die Berechnung einfliessen, sondern man müsse auch die Vertretung im Ständerat berücksichtigen. Martin Bäumle (glp, ZH), Ex-Präsident der GLP, gab zudem zu verstehen, dass ein Öko-Lager aus GP und GLP kaum denkbar sei; zu unterschiedlich sei man in diversen Sachfragen. Ebenfalls früh wurde in den Medien über einen möglichen Rücktritt von Ueli Maurer spekuliert, was aus der vermeintlichen Pflichtübung eine spannende Wahl gemacht hätte. Maurer gab dann allerdings Anfang November bekannt, noch eine weitere Legislatur anzuhängen.

Die aussergewöhnlichen Erfolge der Grünen Partei bei den eidgenössischen Wahlen 2019 gaben dann den Diskussionen über die parteipolitische Zusammensetzung des Bundesrats sehr rasch wieder ganz viel Nahrung und schafften Raum für allerlei Reformvorschläge zur Bestimmung der Landesregierung. In der Tat hatten die Grünen mit 13 Prozent Wähleranteil die CVP (11.4%) deutlich überflügelt und als viertstärkste Partei abgelöst. Die GLP kam neu auf 7.8 Prozent. Die NZZ rechnete vor, dass die aktuelle Regierung so wenig Wählerinnen und Wähler vertrete wie zuletzt vor 60 Jahren. Die Grünen und die Grünliberalen hätten rein rechnerisch ein Anrecht auf je einen Bundesratssitz.
Neben den medial zahlreich vorgetragenen Berechnungen wurde allerdings auch inhaltlich und historisch argumentiert. Der Einbezug in die Regierung sei immer auch an den Umstand geknüpft gewesen, dass eine Oppositionspartei auch in verschiedenen Sachthemen glaubhaft ihre Referendumsmacht ausspielen könne, wurde etwa argumentiert. Zwar sei das Klimathema wichtig und würde wohl auch nachhaltig bleiben, die Grünen und die GLP müssten aber – wie auch die SVP mit ihren gewonnenen Volksbegehren – mit Abstimmungserfolgen ihren Anspruch noch untermauern, so ein Kommentar in der NZZ. Die Grünen würden trotz Wahlgewinnen keinen Regierungssitz erhalten, weil «niemand Angst vor ihnen hat», wie die Aargauer Zeitung diesen Umstand verdeutlichte. Argumentiert wurde zudem, dass eine «Abwahl» – eigentlich handelt es sich um eine Nichtwiederwahl – nicht dem politischen System der Schweiz entspreche. Es brauche mehrere Wahlen, bei denen sich eine Partei konsolidieren müsse, um die Stabilität in der Regierung auch über längere Zeit zu gewährleisten, kommentierte dazu der Blick.

Der Tages-Anzeiger führte gar eine Umfrage durch, die aufzeigte, dass eine Mehrheit der Befragten die Zeit für einen grünen Bundesrat noch nicht für gekommen hielt. Wer ein grünes Bundesratsmitglied jedoch befürwortete (rund 40% der Befragten), wünschte sich, dass dies auf Kosten eines Sitzes der SVP (50%) oder der FDP (21%), aber eher nicht auf Kosten der CVP (10%) oder der SP (6%) gehen solle.
Für die WoZ war allerdings klar: «Cassis muss weg!» In der Tat forderte auch Regula Rytz (gp, BE) via Medien, dass die FDP freiwillig auf einen Sitz verzichte, da sie als lediglich drittgrösste Partei keinen Anspruch auf zwei Sitze habe. In der Folge schienen sich die Medien dann in der Tat vor allem auf den zweiten Sitz der FDP einzuschiessen. Freilich wurden auch andere Modelle diskutiert – so etwa ein von Christoph Blocher in der Sonntagszeitung skizziertes Modell mit der SVP, die zwei Sitze behalten würde, und allen anderen grösseren Parteien (SP, FDP, CVP, GP, GLP) mit je einem Sitz –, «sämtliche Planspiele» drehten sich aber «um einen Namen: Aussenminister Ignazio Cassis», fasste die Aargauer Zeitung die allgemeine Stimmung zusammen. Er sei «der perfekte Feind», «visionslos und führungsschwach». Der Aussenminister befinde sich im «Trommelfeuer» befand die Weltwoche. Häufig wurde seine Haltung im Europadossier kritisiert und entweder ein Rücktritt oder wenigstens ein Departementswechsel gefordert. Mit Ersterem müsste allerdings die Minderheitenfrage neu gestellt werden, war doch die Vertretung des Tessins mit ein Hauptgrund für die Wahl Cassis im Jahr 2017. Der amtierende Aussenminister selber gab im Sonntags-Blick zu Protokoll, dass er sich als Tessiner häufig benachteiligt fühle und spielte so geschickt die Minderheitenkarte, wie verschiedene Medien tags darauf kommentierten. Die Sonntags-Zeitung wusste dann noch ein anderes Szenario zu präsentieren: Einige SVP-Parlamentarier – das Sonntagsblatt zitierte Andreas Glarner (svp, AG) und Mike Egger (svp, SG) – griffen Simonetta Sommaruga an und forderten, dass die SP zugunsten der Grünen auf einen Sitz verzichten müsse. Die CVP sei in «Versuchung», wagte sich dann auch die NZZ in die Debatte einzuschalten. Würde sie Hand bieten für einen grünen Sitz auf Kosten der FDP, dann könnte sie im Bundesrat «das Zünglein an der Waage» spielen und Mehrheiten nach links oder nach rechts schaffen. Die NZZ rechnete freilich auch vor, dass grün-links mit zusammen rund 30 Prozent Wähleranteil mit drei von sieben Regierungssitzen klar übervertreten wäre, denn die GLP dürfe man nicht zu den Grünen zählen. Dies hatten vor allem die Grünen selbst implizit immer wieder gemacht, indem sie vorrechneten, dass die GLP und die GP zusammen auf 21 Prozent Wähleranteile kämen.

Neben Kommentaren und Planspielen warteten die Medien auch mit möglichen grünen Bundesratsanwärterinnen und -anwärtern auf. Häufig gehandelte Namen waren die scheidende Parteipräsidentin Regula Rytz, die Waatländer Staatsrätin Béatrice Métraux (VD, gp), die Neo-Ständerätin Maya Graf (gp, BL), der Berner alt-Regierungsrat Bernhard Pulver (BE, gp), der amtierende Fraktionschef der Grünen, Balthasar Glättli (gp, ZH) oder der Zürcher Nationalrat Bastien Girod (gp, ZH). Ins Gespräch brachte sich zudem der Genfer Staatsrat Antonio Hodgers (GE, gp).

Die Grünen selber gaben sich lange Zeit bedeckt und waren sich wohl auch bewusst, dass eine Kampfkandidatur nur geringe Chancen hätte. Sie entschieden sich zwar an ihrer Delegiertenversammlung Anfang November in Bern für eine forschere Gangart und forderten einen grünen Bundesratssitz – Regula Rytz sprach davon, dass vorzeitige Rücktritte aus dem Bundesrat ein Ärgernis seien, weil sie Anpassungen nach Wahlverschiebungen erschweren würden. Mit der Forderung war einstweilen aber noch kein Name verknüpft, was der Partei prompt als «Lavieren» ausgelegt wurde (Blick). «Der grüne Favorit», wie der Tages-Anzeiger Bernhard Pulver betitelte, sagte Mitte November, dass er nicht zur Verfügung stehe. Auch der Berner Stadtpräsident Alec von Graffenried (BE, gp) und die Aargauer alt-Regierungsrätin Susanne Hochuli (AG, gp), die ebenfalls als Kandidierende gehandelt worden waren, sagten via Medien, dass sie nicht zur Verfügung stünden.
Die «Kronfavoritin» (Tages-Anzeiger) Regula Rytz ihrerseits stand im zweiten Umgang der Ständeratswahlen im Kanton Bern. Ihr wurden intakte Chancen eingeräumt und wohl auch um diese nicht zu gefährden, versicherte sie, dass sie auf eine Bundesratskandidatur verzichten würde, sollte sie für den Kanton Bern in die kleine Kammer gewählt werden. Da sie dies allerdings verpasste, kündigte die Bernerin rund 20 Tage vor den Bundesratswahlen ihre Kandidatur an – noch bevor die Fraktion offiziell beschlossen hatte, eine Kandidatur einzureichen. Nach einer solchen Richtungswahl, wie es die eidgenössischen Wahlen gewesen seien, könne man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, erklärte sie gegenüber der Presse. Sie wolle für die Menschen und die Natur Verantwortung übernehmen. Ihr Angriff gelte aber nur dem FDP-Sitz von Ignazio Cassis. Würde sie für ein anderes Regierungsmitglied gewählt, würde sie die Wahl nicht annehmen – so die Bernerin. Die Fraktion der Grünen gab dann allerdings tags darauf bekannt, dass es nicht um die Person, sondern um die Übervertretung der FDP gehe. Ein Angriff auf Karin Keller-Sutter schien damit nicht wirklich ausgeschlossen. Die nach aussen als wenig abgesprochen erscheinende Strategie für die Ansage der Kampfwahl brachte der GP Kritik ein. Die Partei zeige sich «unbeholfen» und der Start sei «misslungen», urteilte etwa die NZZ. Auch die Weltwoche redete von einem «verpatzten Start» und die Sonntagszeitung sprach gar von dilettantischem Vorgehen. Es sei, als wären die Grünen ein Sprinter, der kurz vor dem Ziel auf die Uhr schaue und sich hinknie, um die Schuhe zu binden, so die Zeitung weiter.

Eine medial oft diskutierte Frage im Vorfeld der Wahlen war, welche Parteien die Grünen in ihrem Anliegen unterstützen würden. Klar schien, dass die FDP nicht Hand bieten würde. Auch die SVP würde – wenn überhaupt – die GP nur auf Kosten der SP unterstützen. Die CVP bzw. die neue Mitte-Fraktion (CVP zusammen mit BDP und EVP) entschied, Rytz nicht einmal zu einem Hearing einzuladen. Man sei nicht gegen eine grüne Vertretung in der Regierung, es sei aber «etwas zu früh», liess sich CVP-Parteipräsident Gerhard Pfister (cvp, ZG) in der Sonntagszeitung zitieren. Die GLP und die SP gaben bekannt, Rytz vor den Wahlen anhören zu wollen. Für Schlagzeilen sorgte dabei SP-Parteipräsident Christian Levrat (sp, FR), der die CVP aufforderte, mitzuhelfen, die Grünen in die Regierung zu hieven. Die Schweiz wäre sonst die einzige Demokratie, in der Wahlen keine Auswirkungen auf die Regierungszusammensetzung hätten. Zudem würde sich die Weigerung der CVP wohl über kurz oder lang rächen. Bei der GLP zeigte sich das Dilemma zwischen ökologischem und liberalem Gedankengut. Insbesondere in der Europafrage fanden sich die GLP und der amtierende Aussenminister eher auf der gleichen Linie. Für Rytz spreche das ökologische Anliegen, gegen sie ihre eher linke Ausrichtung, erklärte Tiana Moser (glp, ZH) dann den Entscheid für Stimmfreigabe der GLP. Zudem würde Rytz ohne Absprache mit den Grünliberalen den «Sitz der Ökokräfte» für sich beanspruchen. Letztlich stellte sich einzig die SP-Fraktion offiziell hinter Rytz. Die eher laue Unterstützung und der Versuch der amtierenden Regierungsparteien, die eigene Macht zu zementieren, mache das Unterfangen «grüne Bundesrätin» für Regula Rytz zu einer «mission impossible», fasste die Zeitung Le Temps die Situation dann kurz vor den Wahlen zusammen.

Nicht die Medien, nicht Umfragen und «nicht die Wahlprozente» (NZZ), sondern die Vereinigte Bundesversammlung bestimmt freilich letztlich, welche Parteien in der Regierung vertreten sein sollen. Und diese Entscheidung brachte das Resultat, das viele im Vorfeld aufgrund der Aussagen der verschiedenen Parteien auch erwartet hatten: die Wiederwahl aller Amtierenden und das Scheitern des Angriffs der Grünen. Auch die Ansprachen der Fraktionschefinnen und -chefs im Vorfeld der einzelnen Wahlen – die Erneuerungswahlen finden in der Reihenfolge der Amtszeit der Bundesratsmitglieder statt – machten dies bereits deutlich. Die CVP plädierte für Konkordanz und Stabilität und die SVP betonte, dass zum Erfolgsmodell Schweiz die angemessene Vertretung der Landesteile in der Regierung gehöre – die Diskriminierung der kleinsten Sprachregion durch die Grüne Partei sei abzulehnen. Die GLP erklärte, dass die Stärkung der ökologischen Anliegen und der Wähleranteil der Grünen zum Vorteil für Rytz gereiche, ihre Positionierung am linken Rand und der fehlende Anspruch von links-grün auf drei Sitze aber gegen sie spreche. Die SP erklärte, die Zauberformel sei keine exakte Wissenschaft, aber die beiden stärksten Parteien sollten zwei Sitze und die restlichen jeweils einen Sitz erhalten, was für Regula Rytz spreche. Die Fraktion der Grünen geisselte den Umstand, dass die Regierungsparteien während der Legislatur Sitze «austauschten» und so bewusst verunmöglichten, dass das Parlament die Resultate nach eidgenössischen Wahlen berücksichtigen könne. Die FDP schliesslich wollte sich einer künftigen Diskussion um eine Anpassung der Zusammensetzung des Bundesrats nicht verschliessen, amtierende Regierungsmitglieder dürften aber nicht abgewählt werden.

Der Angriff der Grünen folgte bei der fünften Wahl, auch wenn der Name Regula Rytz schon bei der Bestätigungswahl von Simonetta Sommaruga auftauchte. Gegen die 145 Stimmen, die Ignazio Cassis erhielt, war Regula Rytz jedoch chancenlos. Sie erhielt 82 Stimmen, was in den Medien als schlechtes Abschneiden kommentiert wurde, hätten doch die Grünen (35 Stimmen) und die SP (48 Stimmen) in der Vereinigten Bundesversammlung gemeinsam über 83 Stimmen verfügt. Weil darunter sicherlich auch ein paar CVP- und GLP-Stimmen seien, müsse dies wohl so interpretiert werden, dass einige SP-Parlamentarierinnen und -Parlamentarier die grüne Konkurrenz fürchteten; Ignazio Cassis könne hingegen zufrieden sein. Von den 244 Wahlzetteln waren 6 leer geblieben und 11 enthielten andere Namen als «Rytz» oder «Cassis».
Schon zuvor hatten die meisten Parlamentsmitglieder auf Experimente verzichtet. Bei der ersten Wahl wurde der amtsälteste Bundesrat, Ueli Maurer, mit 213 von 221 gültigen Wahlzetteln gewählt. 23 der 244 ausgeteilten Bulletins waren leer geblieben und acht auf Diverse entfallen. Beim Wahlgang für Simonetta Sommaruga entfielen 13 Stimmen auf Regula Rytz und 13 Stimmen auf Diverse. Da ein Wahlzettel ungültig war und 25 leer blieben, durfte sich die künftige Bundespräsidentin über 192 Stimmen freuen. Alain Berset erhielt 214 Stimmen. Bei ihm waren 14 Wahlzettel leer geblieben und 16 auf Diverse entfallen. Die Anzahl ungültige (1) und Leerstimmen (39) wuchs dann bei Guy Parmelin wieder an, so dass der Wirtschaftsminister noch 191 Stimmen erhielt – 13 Stimmen entfielen auf Diverse. Einen eigentlichen «Exploit» (Tages-Anzeiger) erzielte Viola Amherd bei der sechsten Wahl. Mit 218 Stimmen erhielt sie die zweitmeisten Stimmen der Geschichte; nur Hans-Peter Tschudi hatte 1971 mehr Stimmen erhalten, nämlich 220. Elf Stimmen blieben leer und 14 entfielen auf Diverse. Eingelangt waren nur noch 243 Wahlzettel. Ein etwas seltsames Gebaren zeigt sich bei der letzten Wahl. Karin Keller-Sutter wurde zwar auch hier im Amt bestätigt, sie erhielt aber lediglich 169 Stimmen, da von den 244 ausgeteilten Wahlzetteln 37 leer und einer ungültig eingelegt wurden und 21 Stimmen auf Marcel Dobler (fdp, SG) sowie 16 auf Diverse entfielen. In den Medien wurde spekuliert, dass dies wohl eine Retourkutsche vor allem von Ostschweizer SVP-Mitgliedern gewesen sei, weil Keller-Sutter sich im St. Galler Ständeratswahlkampf zugunsten von Paul Rechsteiner (sp, SG) ausgesprochen habe.

Der Angriff der Grünen sei zwar gescheitert, dies könne für die Partei aber auch befreiend sein, könne sie nun doch Oppositionspolitik betreiben und mit Hilfe der direkten Demokratie den Druck auf die anderen Parteien erhöhen, urteilte Le Temps nach den Wahlen. Ihr Anspruch auf einen Bundesratssitz sei nach diesen Bundesratswahlen nicht einfach vom Tisch, kommentierte Balthasar Glättli. In zahlreichen Medien wurde zudem die Stabilität des politischen Systems betont – auch der Umstand, dass es zu keinem Departementswechsel kam, obwohl kurz über einen Wechsel zwischen Alain Berset und Ignazio Cassis spekuliert worden war, wurde als Indiz dafür gewertet. Doch Stabilität bedeute nicht Stillstand; die neuen Mehrheiten im Nationalrat müssten sich auch auf die Diskussionen um eine neue Zauberformel auswirken – so die einhellige Meinung der Kommentatoren. An einem vor allem von der CVP geforderten «Konkordanzgipfel» sollten Ideen für die künftige Zusammensetzung der Landesregierung beraten werden. Entsprechende Gespräche wurden auf Frühling 2020 terminiert.

Gesamterneuerungswahlen des Bundesrats 2019
Dossier: Bundesratswahlen seit 2008

Nach den Erfolgen sowohl in den National- als auch in den Ständeratswahlen 2019 forderten die Grünen in den darauffolgenden Bundesratswahlen einen Bundesratssitz. Zwar hatte Parteipräsidentin Regula Rytz (gp, BE) am Wahlsonntag der eidgenössischen Wahlen auf eine klare Aussage dazu verzichtet und lediglich angemerkt, dass die Verteilung der Bundesratssitze nicht mehr passe. Am 22. November 2019 gab Rytz jedoch ihre Kandidatur für die Bundesratswahlen offiziell bekannt. Man habe so lange mit dem Entscheid gewartet – die Ankündigung von Rytz kam fast einen Monat nach den Nationalratsergebnissen und drei Wochen vor den Bundesratswahlen –, da man in Gesprächen mit den anderen Parteien die Wahlchancen abzuschätzen versucht habe, erklärte Rytz gegenüber dem Tages-Anzeiger. Diese Gespräche seien positiv verlaufen, woraufhin die Grünen den FDP-Sitz von Ignazio Cassis angriffen. Die FDP sei im Bundesrat rechnerisch übervertreten, weshalb Rytz eine neue Zauberformel vorschlug, gemäss der die beiden grössten Parteien SP und SVP je zwei Sitze und FDP, CVP und die Grünen je einen Sitz haben sollten. Rytz betonte die Dringlichkeit einer Fortsetzung der Klimaschutzdiskussionen und die entsprechende Unterstützung in der Stimmbevölkerung. Aus diesem Grund sei der Anspruch der Grünen auf einen Bundesratssitz gerechtfertigt, obwohl mit Ignazio Cassis ein Vertreter einer sprachlichen Minderheit angegriffen werde. Man könne – so Rytz – nicht alle Ansprüche befriedigen.
Die Zeitungen kommentierte diese verspätete Kandidatur von Rytz und ihren Start in den Bundesratswahlkampf als misslungen. Die NZZ begründete die späte Bekanntgabe damit, dass Rytz ihrer Ständeratskandidatur Priorität eingeräumt habe und folglich bei einer Wahl in den Ständerat auf die Bundesratskandidatur verzichtet hätte. Stattdessen hätte sich Rytz aus dem Ständeratsrennen nehmen und sich auf die Bundesratswahl konzentrieren müssen – war sich die Presse einig. Als entsprechend klein schätzten sie auch ihre Chancen, gewählt zu werden, ein, betonten dabei aber vor allem die entscheidende Rolle der GLP-Fraktion auf einer Seite und der CVP-EVP-BDP-Fraktion auf der anderen Seite.

Am Tag der Wahl stellte sich neben den Grünen nur die Sozialdemokratische Fraktion offiziell hinter die Forderung, die Zauberformel zu ändern und die grüne Kandidatin Regula Rytz zulasten von FDP-Bundesrat Ignazio Cassis zu unterstützen. Im Rahmen der parlamentarischen Debatte betonte SP-Fraktionspräsident Roger Nordmann (sp, VD), dass die Zusammensetzung des Bundesrates mit einer Mehrheit von je zwei Bundesratssitzen der FDP und der SVP aufgrund der Wahlerfolge der Grünen nicht mehr repräsentativ sei für die Schweiz und das Parlament. Keine Unterstützung erhielt Rytz von den übrigen Parteien. Die Grünliberale Fraktion entschied sich zwar für Stimmfreigabe, was für einigen Unmut bei den Grünen sorgte. Einige GLP-Mitglieder äusserten sich diesbezüglich im Tages-Anzeiger und erklärten, dass sie sich eine gemeinsame Strategie mit den Grünen für einen Bundesratssitz gewünscht hätten. Absprachen diesbezüglich hätten jedoch nicht stattgefunden. Auch von der CVP-Fraktion erfuhren die Grünen keine Unterstützung, diese gab an, Ignazio Cassis zu unterstützen. Nach den Wahlen äusserte sich Balthasar Glättli im Sonntags-Blick kritisch gegenüber der CVP und stellte in Aussicht, dass die Grünen zukünftig auch den Sitz von Viola Amherd angreifen könnten, falls die CVP keinen Beitrag zu einer griffigeren Klimapolitik leiste. Da auch die FDP- und die SVP-Fraktion Ignazio Cassis unterstützten, setzte sich dieser mit 145 Stimmen durch. Regula Rytz erhielt 82 Stimmen, 11 Stimmen entfielen auf Verschiedene.

Im Zusammenhang mit der Forderung der Grünen nach einem Bundesratssitz berichteten die Medien ausgiebig über eine neue Zauberformel und somit über eine neue Zusammensetzung des Bundesrates. In einem Interview schlug SP-Parteipräsident Christian Levrat (sp, FR) vor, den Bundesrat auf neun Mitgliedern zu erweitern; dies gäbe mehr Spielraum, um die grossen Parteien angemessen in die Regierung zu integrieren, die Regionen wären besser vertreten und die Bundesräte würden entlastet. Altbundesrat Christoph Blocher schlug stattdessen vor, dass sowohl die SP als auch die FDP zukünftig nur jeweils einen Sitz haben und stattdessen auch die Grünen und Grünliberalen je einen Sitz erhalten sollten (sogenannte Formel Christoph Blocher: 2-1-1-1-1-1).

Forderung der Grünen um einen Bundesratssitz

Die 2016 in den Aargauer Regierungsrat gewählte Franziska Roth (AG, svp) sah sich schon bald nach ihrer Wahl teilweise heftiger medialer und parteipolitischer Kritik ausgesetzt, in der der politischen Quereinsteigerin mangelhafte Amtsführung und schlechte Dossierkenntnisse vorgeworfen wurde. Als die Gesundheitsministerin Anfang 2019 dann zurückschlug und dem Parlament vorwarf, versteckte Interessen zu verfolgen, und dabei auch ihre eigene Partei nicht schonte, nahm die Kritik nur noch weiter zu. Anfang März 2019 wurde Roth gar von den Fraktionen der FDP, der CVP und der GP in einer parlamentarischen Erklärung wegen mangelnden Respekts gegenüber Parlamentsmitgliedern, schlechter Kommunikation und fehlenden Bemühens um Zusammenarbeit mit dem Parlament gemassregelt. Sie werde wohl auch für ihre Partei, die SVP zum Problem, augurte die NZZ nach der «Standpauke», die in der Schweiz nur selten so vorkomme. Auch aufgrund verschiedener Abgänge von Führungspersonal im Departement von Roth entschied sich der Gesamtregierungsrat noch Anfang März 2019 eine unabhängige Analyse zu den «Problemen im Gesundheitsdepartement» durchzuführen. Roth wurde zudem die Federführung über den Neubau des Kantonsspitals Aarau entzogen. Doch es sollte für Roth tags darauf gar noch schlimmer kommen, stellte ihr doch ihre eigene Partei ein Ultimatum: Nach einer parteiinternen Aussprache gab SVP-Kantonalpräsident Thomas Burgherr an einer Medienkonferenz bekannt, dass sich die SVP Konsequenzen überlegen werde, wenn sich die «prekäre» Amtsführung im Gesundheitsdepartement bis im Sommer nicht bessere. Die SVP fürchtete negative Auswirkungen auf die anstehenden Nationalratswahlen. Roth selber, die an besagter Medienkonferenz nicht anwesend war, schloss einen Rücktritt freilich kategorisch aus. Im Sonntags-Blick wurde die Frage gestellt, ob Frauen in der Politik mit härterer Kritik konfrontiert würden als Männer, und auch die Weltwoche wunderte sich, dass der Regierungsrätin ein Rücktritt nahegelegt werde, «obschon sich diese nichts Gravierendes hat zuschulden kommen lassen».
Eine weitere Eskalationsstufe nahm die Geschichte Ende April 2019, als Franziska Roth bekannt gab, aus der SVP auszutreten und künftig als Parteilose ihr Regierungsmandat weiterzuführen. Sie gab zwar Mängel in ihrer eigenen Kommunikation zu, warf ihrer Partei aber vor, sie mit «diffusen Vorwürfen» einzudecken und diese nicht zu konkretisieren. Man habe sie «genötigt», zurückzutreten. Der Tages-Anzeiger wertete dies als «Beispiel für die schlechte Verfassung der (Aargauer) SVP». Die Volkspartei selbst gab bekannt, dass sie sich in Roth getäuscht habe, und entschuldigte sich für ihre Nomination. Es fehle ihr an Wille, Interesse und Talent, gab die Partei den Medien bekannt und forderte den Rücktritt der Regierungsrätin. Für Schlagzeilen sorgte daraufhin alt-Bundesrat Christoph Blocher, welcher der Aargauer Parteispitze mangelndes Fingerspitzengefühl vorwarf. Die Weltwoche ortete derweil «Führungsversagen und Personalprobleme bei der Aargauer SVP». Die WoZ wiederum sah die Affäre als «Ausdruck der Krise», die in der SVP schwele.
Mitte Juni 2019 nahm dann eine der «wohl bizarrsten politischen Karrieren, die es in der Schweiz je gab» – wie die NZZ kommentierte – mit der Rücktrittsankündigung von Franziska Roth ein Ende: Sie könne nicht so tätig sein, wie sie das gerne würde, weshalb sie per Ende Juli 2019 von ihrem Amt zurücktrete. In der Folge entschied der Regierungsrat, den Bericht zum Gesundheitsdepartement zu sistieren.

Der Rücktritt setzte die Parteien unter Zugzwang, wurde doch der Termin für die Ersatzwahl von Franziska Roth auf den 20. Oktober 2019 gesetzt – zeitgleich mit den Nationalratswahlen. Diese Terminwahl sorgte für Unmut bei den meisten Parteien, die sich nach einem Treffen der Parteipräsidenten per Brief beim Regierungsrat beschwerten. Nicht unterschreiben wollten den Brief allerdings die GP und die SVP. Die NZZ vermutete feilich, dass vor allem die SVP «in Nöte» geraten werde und dass die anderen Parteien wohl Morgenluft witterten, da die SVP wohl nicht so rasch einen Ersatz für Roth finden würde, das Vertrauen in die Partei angeschlagen und damit der zweite Sitz in der fünfköpfigen Regierung in Gefahr sei. Allerdings sei der Anspruch der mit über 30 Prozent Wähleranteil mit Abstand stärksten Partei im Kanton Aargau auf zwei der fünf Exekutivmandate nicht ungerechtfertigt. Mit dem Ausscheiden von Franziska Roth drohte die Regierung im Kanton Aargau überdies rein männlich zu werden, weshalb sich bei der Nominierung der verschiedenen Kandidaturen jeweils auch die Frauenfrage stellte.
Als erste nominierte die GP mit Grossrat Severin Lüscher (AG, gp) einen Mann. Er weise als Hausarzt die nötige gesundheitspolitische Kompetenz für das freie Departement auf, was wichtiger sei als das Geschlecht, wurde bei seiner Nominierung begründet. Auch die SVP präsentierte ihren Kandidaten bereits Mitte Juli: Jean-Pierre Gallati (AG, svp) war Fraktionspräsident im Grossrat und dort vor allem durch seine scharfe Kritik an Franziska Roth aufgefallen. Die SP kündigte Ende Juli an, mit Yvonne Feri (sp, AG) ins Rennen zu steigen. Die SP-Nationalrätin war bereits 2016 zu den Regierungsratswahlen angetreten und damals im für den fünften Sitz nötigen zweiten Wahlgang Franziska Roth nur sehr knapp unterlegen. Erst Mitte August gaben die Grünliberalen bekannt, dass sie ebenfalls antreten werden. Mit Doris Aebi (AG, glp) sollte erstmals ein kantonaler Regierungssitz erobert werden. Aebi hatte bis 2000 für die SP im Kantonsrat in Solothurn gesessen und dort 1997 für den Regierungsrat kandidiert, bevor sie in den Kanton Aargau umgezogen war und die Partei gewechselt hatte. Medial diskutierten Sukkurs erhielt die Kandidatin von der früheren Aargauer FDP-Ständerätin Christine Egerszegi. Die FDP hatte bereits im Juli angekündigt, eine Kandidatur stellen zu wollen, und nominierten Mitte August eine Kandidatin: Der laut der Aargauer Zeitung am rechten Flügel der FDP politisierenden Jeanine Glarner (AG, fdp) wurden gute Chancen eingeräumt, im bürgerlichen Lager viele Stimmen zu holen. Mit Pius Lischer kandidierte auch ein Parteiloser, der bereits seit vielen Jahren erfolglos versucht, im Kanton Aargau in ein politisches Amt gewählt zu werden.
Gleich drei der fünf Kandidierenden bewarben sich gleichzeitig auch um ein Nationalratsmandat: Yvonne Feri, Jeanine Glarner und Jean-Pierre Gallati dürften vom doppelten Wahlkampf profitieren, urteilte die Aargauer Zeitung. Für einigen Wirbel sorgte die frühere Regierungsrätin Susanne Hochuli (AG, gp), die sich im lokalen TV nicht nur für ihren Parteikollegen Severin Lüscher, sondern auch für den SVP-Kandidaten Jean-Pierre Gallati aussprach – nicht aber für die SP-Kandidatin Yvonne Feri. Auch der kantonale Gewerbeverband gab an, Jean-Pierre Gallati zu unterstützen, nicht aber Jeanine Glarner oder Doris Aebi, weil Erstere keine Unternehmerin und Letztere in der falschen Partei sei. Da das neue Regierungsmitglied das Departement für Gesundheit und Soziales übernehmen würde, wurden im Wahlkampf vor allem Gesundheitsthemen, die Sozialhilfe und das Asylwesen debattiert. Im Schlüsseldepartement würden einige wichtige Dossiers warten, die dringend angegangen werden müssten, betonte die Aargauer Zeitung. Insbesondere der Spital-Neubau aber auch die Revision des Spitalgesetzes seien dringlich.
Mit fünf Kandidaturen aus dem gesamten politischen Spektrum für einen Sitz war von Beginn weg klar, dass es einen zweiten Wahlgang brauchen würde. In der Tat übertraf am «Super-Wahlsonntag», wie die Aargauer Zeitung titelte, niemand das absolute Mehr von 91'012 Stimmen. Am nächsten kam ihm der SVP-Kandidat Jean-Pierre Gallati mit 63'830 Stimmen, gefolgt von Yvonne Feri, die aber mit 44'765 Stimmen schon deutlich zurück lag. Auf den Plätzen folgten Jeanine Glarner (27'940 Stimmen), Doris Aebi (21'882 Stimmen) und Severin Lüscher (20'311 Stimmen). Pius Lischer erhielt 1'345 Stimmen. Die Stimmbeteiligung lag bei 43.9 Prozent.

Der Ausgang des zweiten Wahlgangs, der auf den 24. November 2019 angesetzt wurde, war auch davon abhängig, wer im Rennen bleiben und gegen Gallati antreten würde. Dabei kam es im Zusammenhang mit den ebenfalls im zweiten Wahlgang zur Entscheidung anstehenden Ständeratswahlen zu parteiinternen Absprachen: Rot-Grün einigte sich darauf, für den Einzug in den Ständerat mit Ruth Müri (AG, gp) und in den Regierungsrat mit Yvonne Feri zu kämpfen. Im Gegenzug trat Severin Lüscher nicht mehr für den zweiten Wahlgang an und Cédric Wermuth (sp, AG) zog sich bei den Ständeratswahlen zurück. Weil sich zudem sowohl Jeanine Glarner als auch Doris Aebi zurückzogen, hoffte Yvonne Feri auf die Unterstützung der weiblichen Wählerschaft. In der Tat verband Aebi ihren Verzicht mit dem Wunsch, eine Aufsplittung der Frauenstimmen zu verhindern. Weil auch Pius Lischer nicht zum zweiten Wahlgang antrat, kam es Ende November zum Zweikampf zwischen den Kandidierenden der SP und der SVP. Dabei wurde auch entschieden, welche der beiden Parteien einen zweiten Sitz in der kantonalen Regierung erobern und ob die Aargauer Regierung nur noch aus Männern bestehen würde. Das Rennen zwischen der «linken Frau» und dem «rechten Mann», wie die Aargauer Zeitung titelte, machte schliesslich der SVP-Vertreter Jean-Pierre Gallati – äusserst knapp mit lediglich 1'593 Stimmen Vorsprung. Gallati, der auch in den Nationalrat gewählt wurde, das Amt aber bereits nach der ersten Session wieder niederlegte, erhielt 77'462 Stimmen. Wie erwartet übernahm er das Gesundheitsdepartement. Yvonne Feri, die 75'869 Stimmen erhielt und damit zum zweiten Mal hintereinander nur knapp unterlegen war, konnte sich ihrerseits mit dem Nationalratsmandat trösten, das sie seit 2011 innehat. Die Wahlbeteiligung betrug 37.4 Prozent. Die Medien urteilten, dass die SVP mit einem blauen Auge davon gekommen sei (NZZ), dass aber die Karten wohl schon in weniger als einem Jahr bei den Gesamterneuerungswahlen neu gemischt würden. Für Diskussion sorgte, dass das Gremium nun wieder «frauenlos» ist (Tages-Anzeiger). Bisher waren neben Franziska Roth (2016-2019), Susanne Hochuli (2009-2016) und Stéphanie Mörikofer-Zwerz (AG, fdp; 1993-2001) überhaupt erst drei Frauen in den Aargauer Regierungsrat gewählt worden.

Ersatzwahlen für Franziska Roth

Im Kanton Zürich kandidierten bei den Nationalratswahlen 2019 insgesamt 966 Personen auf 32 Listen. Der Frauenanteil unter den Kandidierenden betrug 43 Prozent. Während die Anzahl Listen gegenüber 2015 leicht zurückging, bedeuteten die Zahl der Kandidierenden und der Frauenanteil neue Höchstwerte. Zu vergeben waren im bevölkerungsreichsten Kanton der Schweiz weiterhin 35 Sitze.

Bei den Wahlen vor vier Jahren hatte sich entgegen dem nationalen Trend die SP als Siegerin feiern lassen können. Sie hatte damals zwei zusätzliche Sitze gewonnen. Auch die SVP und die FDP hatten zulegen können. Die Verteilung der 35 Zürcher Nationalratssitze lautete seither: 12 SVP, 9 SP, 5 FDP, 3 GLP, 2 GPS, 2 CVP, 1 BDP, 1 EVP. Die Ergebnisse der Kantonsratswahlen im März 2019 deuteten darauf hin, dass es für die SVP schwierig werden könnte, bei den nationalen Wahlen im Oktober ihre zwölf Sitze zu halten. Nach der veritablen Wahlschlappe bei den kantonalen Wahlen war auf Druck von Parteidoyen Christoph Blocher fast die gesamte Parteileitung zurückgetreten. So stieg die SVP mit einem jungen Interimspräsidenten, Patrick Walder, in den Wahlkampf. Die Partei hatte zudem zwei Rücktritte zu verkraften – Jürg Stahl und Hans Egloff verzichteten auf einen erneute Legislatur. Dafür gab bei der Volkspartei der 2015 nicht wiedergewählte Christoph Mörgeli sein Comeback als Nationalratskandidat. Die SVP verband dieses Jahr ihre Listen einzig mit der EDU. Die Gewinner bei den Kantonsratswahlen waren die Grünliberalen und die Grünen gewesen. Die guten Resultate und das aktuell heisseste Thema – die Klimapolitik – machten beiden Parteien Hoffnung auf Sitzgewinne auch bei den nationalen Wahlen. Die beiden Zugpferde der Zürcher Grünen – der Fraktionspräsident Balthasar Glättli und der ehemalige Vizepräsident der Grünen Schweiz Bastien Girod – reihten sich auf der Hauptliste nur auf den Plätzen drei und vier ein. Angeführt wurde die Liste von zwei Frauen – der ehemaligen Nationalrätin Katharina Prelicz-Huber sowie Parteipräsidentin Marionna Schlatter-Schmid. Auf der Liste vertreten war ursprünglich auch das bekannte Model Tamy Glauser. Allerdings zog Glauser ihre Kandidatur zurück, nachdem sie mit einer «sehr unbedarften Aussage» über die angeblich heilende Wirkung von Veganer-Blut auf einer Online-Plattform heftige Reaktionen ausgelöst hatte. Die andere Partei der Stunde, die Grünliberalen, hatten auf das Wahljahr hin ihre Parteispitze ausgewechselt. Das junge Duo Nicola Forster und Corina Gredig bildeten neu ein Co-Präsidium. Dank diesem frischen Wind und einer Listenverbindung mit der CVP, der BDP und der EVP erhoffte sich die GLP, die angestrebten Sitzgewinne zu realisieren. Eine gänzlich andere Stimmung herrschte derweil bei den Sozialdemokraten. Am meisten Schlagzeilen generierte die SP im Wahljahr durch das parteiinterne Seilziehen über die künftige politische Ausrichtung der Partei. Anhänger des sozialliberalen Flügels fühlten sich dabei zunehmend marginalisiert. Der Konflikt führte schliesslich dazu, dass zuerst die ehemalige Nationalrätin Chantal Galladé und danach der amtierende Nationalrat und ehemalige Parteipräsident Daniel Frei aus der Partei austraten und zur GLP wechselten. In Freis Fall geschah dies, nachdem die SP ihn bereits auf ihre Nationalratsliste gesetzt hatte. Frei verzichtete letztlich ganz auf eine Teilnahme an den Nationalratswahlen. Neben Verlusten von Parteiangehörigen und Wählerinnen und Wählern an die GLP befürchteten die Genossen zusätzlich, dass linke Wechselwähler bei der «Klimawahl» eher die Listenpartnerin, die Grünen, wählen würden und die SP so Sitze verlieren könnte. Auch im Lager der Christdemokraten kam es zu einem Wirbel um eine Personalie. Kathy Riklin (CVP) wurde nach zwanzig Jahren als Nationalrätin von ihrer Partei nicht mehr nominiert. Stattdessen kandidierte Riklin für die Christlichsoziale Vereinigung – mit geringen Chancen auf eine Wiederwahl. Bei der FDP kandidierte der aufstrebende Jungpolitiker und ehemalige Präsident der Jungfreisinnigen, Andri Silberschmidt. Da sämtliche fünf bisherigen Freisinnigen erneut zur Wahl antraten, erklärte die FDP offiziell den Gewinn eines Sitzes zum Ziel. Trotz dieses hochgesteckten Ziels ging die FDP keine Listenverbindung mit anderen Parteien ein. Die Zürcher EVP ist seit 100 Jahren fast ausnahmslos im Nationalrat vertreten, da sie auf eine treue Wählerschaft zählen kann. Ihr Sitz schien daher auch dieses Jahr nicht in Gefahr. Ganz anders sah die Ausgangslage bei der anderen Partei aus, welche 2015 einen Sitz geholt hatte: Bei der BDP ging es ums politische Überleben, nachdem die Partei im März bei den kantonalen Wahlen alle ihre fünf Sitze im Kantonsparlament verloren hatte.

Am Wahlsonntag dominierte die Farbe Grün. Sowohl die Grünen (+7.2 Prozentpunkte, neu 14.1%) als auch die Grünliberalen (+5.8 Prozentpunkte, neu 14.0%) konnten ihre Wähleranteile deutlich ausbauen und gewannen je drei zusätzliche Sitze. Für die Grünen zog neben den beiden Bisherigen und den Spitzenkandidatinnen Schlatter-Schmid und Perlicz-Huber auch noch Meret Schneider in die Grosse Kammer ein. Bei den Grünliberalen gab es nach dem Rücktritt von Thomas Weibel sogar Platz für vier neue Gesichter. Corina Gredig, Jörg Mäder, Judith Bellaïche und Barbara Schaffner vertreten neu den Kanton Zürich in Bundesbern. Co-Präsident Nicola Forster verpasste den Einzug ins Parlament nur knapp. Auf der Verliererseite befanden sich die SVP und die SP, welche je zwei Sitze abgeben mussten. Am meisten Wähleranteile verlor die SP (-4.1 Prozentpunkte, neu 17.3%). Trotzdem schaffte eine neue Sozialdemokratin den Sprung in den Nationalrat, denn Céline Widmer setzte sich gleich vor zwei bisherige Nationalräte – Martin Naef und Thomas Hardegger –, die beide die Wiederwahl verpassten. Die SVP verlor beinahe so viele Wählerprozente (-4.0 Prozentpunkte, neu 26.7%) wie die SP. Während Martin Haab, der erst im Juni für Jürg Stahl nachgerutscht war, sein Mandat verteidigen konnte, verpasste Claudio Zanetti nach nur einer Legislatur im Nationalrat seine Wiederwahl. Auch Christoph Mörgeli verpasste seinen Wiedereinzug in die Grosse Kammer. Ebenfalls zu den Verlierern des Tages gehörten die CVP und die BDP. Die CVP konnte ihren Wähleranteil zwar leicht ausbauen (+0.2 Prozentpunkte, neu 4.4%), verlor aber trotzdem einen ihrer beiden Sitze. Für die BDP verkam die Wahl zu einem veritablen Desaster. Sie verlor über die Hälfte ihres Wähleranteils (neu 1.6%) und mit der Nicht-Wiederwahl von Rosmarie Quadranti war die BDP Zürich ab sofort nicht mehr im Nationalrat vertreten. Die FDP verlor zwar 1.6 Prozentpunkte ihres Wähleranteils (neu 13.7%) und war damit neu nur noch die fünftstärkste Kraft im Kanton, doch immerhin konnte sie ihre fünf Sitze verteidigen. Andri Silberschmidt schaffte den Einzug ins Parlament und verdrängte damit den Direktor des SGV Hans-Ulrich Bigler – eine herbe Niederlage für den Gewerbeverband, da neben Bigler auch Verbandspräsident Jean-François Rime (svp, FR) abgewählt wurde. Die EVP (+0.2 Prozentpunkte, neu 3.3%) verteidigte den Sitz von Niklaus Gugger problemlos. Das beste Resultat aller Kandidierenden erzielte Roger Köppel (svp) mit 121'098 Stimmen. Die Zusammensetzung der Zürcher Nationalratsdelegation lautete damit neu: 10 SVP, 7 SP, 6 GLP, 5 GP, 5 FDP, 1 CVP, 1 EVP. Der Frauenanteil unter den Gewählten betrug neu 45.7 Prozent. Die Stimmbeteiligung fiel gegenüber 2015 um 2.8 Prozentpunkte (2019: 44.4%).

Nationalratswahlen 2019 – Zürich
Dossier: Eidgenössische Wahlen 2019 - Überblick

Als grösste Verliererin der Nationalratswahlen 2019 machten die Medien die SVP aus. Im Nationalrat verlor die Partei 12 Mandate (neu: 53 Sitze) und 3.8 Prozentpunkte Wähleranteile (neu: 25.6 Prozent). Die Partei bestätigte damit den negativen Trend, der schon in den kantonalen Erneuerungswahlen ersichtlich gewesen war, blieb aber trotzdem stärkste Kraft im Nationalrat. SVP-alt-Bundesrat Christoph Blocher nannte die Resultate auf Tele Blocher zwar «nicht schön», sie seien aber auch «keine Katastrophe». Die Medien vermuteten, dass die Partei wohl höhere Verluste erwartet habe. Trotz der Verluste erhielt Parteipräsident Albert Rösti (svp, BE) (svp, BE) von der Parteiführung viel Lob: Er sei im Wahlkampf sehr fleissig und präsent gewesen, zitierte die NZZ eine nicht namentlich genannte Person in der SVP-Führung. Auch Christoph Blocher bestätigte in einem Interview, dass ein Wechsel in der Parteileitung als Folge der schlechten Wahlresultate nicht geplant sei.

Im Wahlkampf hatte die SVP bereits im August 2019 für einige Beachtung gesorgt. Sie warb nämlich anfänglich auf einem Plakat für die National- und Ständeratswahlen 2019 mit dem Slogan «Sollen Linke und Nette die Schweiz zerstören?». Auf dem Plakat war ein Apfel zu sehen, der von fünf Würmern in den Parteifarben der politischen Gegner und einem Wurm mit einer EU-Flagge zerfressen wurde. Wie Albert Rösti in einem Blick-Interview erklärte, zeige das Plakat die zentrale Botschaft der SVP: Die SVP sei die einzige Partei, die keinen Rahmenvertrag mit automatischer Übernahme von EU-Recht wolle. Die Medien spekulierten, dass die SVP damit versuche, das EU-Thema anstelle des unter hoher Aufmerksamkeit stehenden, aber von der Volkspartei weniger stark bearbeiteten Klimawandels ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu stellen, zumal ein weiteres Kernthema der SVP, nämlich die Asylpolitik aufgrund der niedrigen Asylquoten wohl zu wenig mobilisieren würde.
Das Plakat sorgte in den sozialen Medien für viel Kritik, wie der Tages-Anzeiger berichtete. Zudem wurde es auch parteiintern kritisiert: Franz Grüter argumentierte in den Medien Medien, dass es eine bessere Bildsprache gäbe, um die Botschaft zu transportieren. Auch der Berner SVP-Kantonalpräsident und Ständeratskandidat Werner Salzmann, der Nationalrat Thomas Burgherr und weitere SVP-Kantonalpolitiker und -politikerinnen äusserten ihre Skepsis gegenüber dem Plakat. Parteipräsident Alfred Rösti verteidigte die Affiche und bestätigte gegenüber dem Sonntags-Blick, dass der «schöne Schweizer Apfel tatsächlich ausgehöhlt wird!». So werde die Schweiz etwa auch durch Abgaben und Steuern oder die Zuwanderung im Innern ausgehöhlt. Auch der Verantwortliche für die Wahlkampagne der SVP, Adrian Amstutz (svp, BE), wies gegenüber der NZZ den Vorwurf zurück, die Partei sei mit dem Motiv zu weit gegangen, und bestätigte, dass der Apfel Hauptsujet der SVP-Wahlkampagne 2019 bleiben werde.

Resultate der SVP bei den Nationalratswahlen