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Im September 2023 wurde der Bericht zum Forschungsprojekt über die sexuellen Missbräuche innerhalb der schweizerischen katholischen Kirche seit 1950 unter grosser medialer und politischer Aufmerksamkeit veröffentlicht. Das Forschungsteam hatte darin in rund zwei Dutzend Archiven Akten von Missbrauchsfällen zusammengesucht, gelesen und einige Fälle analysiert. Ergänzend bezog es mediale Berichte zum Thema ein und führte Interviews mit Betroffenen, Expertinnen und Experten sowie mit Vertreterinnen und Vertretern der katholischen Kirche.

Die Studie identifizierte zwischen 1950 und 2023 insgesamt 1'002 Fälle von sexuellem Missbrauch mit 510 Täterinnen und Tätern und 921 Betroffenen. Während die Beschuldigten bis auf wenige Ausnahmen männlichen Geschlechts waren, waren 39 Prozent der Betroffenen weiblich. Mehrheitlich handelte es sich dabei um Minderjährige (74%), wobei die gesamte Altersspanne vertreten war. Doch bei mindestens 14 Prozent der Fälle handelte es sich auch um erwachsene Betroffene, was gemäss Bericht ein wichtiger Befund sei, da bisherige Untersuchungen nur Minderjährige in den Fokus genommen und somit eine grosse Gruppe an Betroffenen nicht berücksichtigt hätten. Die untersuchten Fälle fanden mehrheitlich vor der Jahrhundertwende statt (47% zwischen 1650 und 1969; 41% zwischen 1970 und 1999; 12% zwischen 2000 und 2022).

Zudem lieferte die Studie einen Überblick über die Archivsituation in der katholischen Kirche. So sei zwar der Zugang zu den Archiven grösstenteils gegeben gewesen, wie es die katholische Kirche im Vorfeld versprochen hatte, jedoch gab es in Bezug auf die Qualität der Archivierung teils grosse Unterschiede. Einzelne Archive hätten demnach grössere Schwächen in der Organisation sowie Lücken in der Dokumentation aufgewiesen. Eine Hürde stellte dabei eine Regel im kanonischen Recht der katholischen Kirche dar, wonach alle Akten zehn Jahre nach dem Vorfall oder bei Tod der beschuldigten Person vernichtet werden sollten. Obwohl die Mehrheit der Bistümer diese Regelung heute mehrheitlich nicht mehr umsetzten, fanden die Forschenden in einigen Archiven nach wie vor Hinweise auf eine solche Vernichtung von Akten. Zum «diplomatische[n] Schutz der Nuntiatur» erhielt das Forschungsteam zudem keinen Zugang in die Archive der Apostolischen Nuntiatur der Schweiz, der diplomatischen Vertretung des Vatikans. Da es Aufgabe des Nuntius ist, Brüche mit dem katholischen Recht, wie etwa sexueller Missbrauch, dem Papst zu melden, erachtete das Forschungsteam das entsprechende Archiv als wichtige Quelle für weitere Untersuchungen und befürchtete, dass die bisherigen Zahlen wohl nur «die Spitze des Eisberges» seien.

Weiter zeichnete der Bericht ein Bild über den Umgang der katholischen Kirche mit Fällen von sexuellem Missbrauch. So gebe es erst im 21. Jahrhundert schrittweise eine konsequentere Aufarbeitung und Verfolgung von sexuellem Missbrauch, während die Fälle zuvor meist «bagatellisiert» und oft «ausgesessen» worden seien. So seien Täterinnen und Täter etwa oft in andere Bistümer versetzt statt des Amtes enthoben worden, zudem habe es eine Schweigepflicht für Betroffene oder Mitwissende gegeben.

Der Bericht betonte zuletzt, dass die Ergebnisse mehrheitlich auch als Grundlage für zukünftige und weitergehende Untersuchungen dienen sollten. Entsprechend behandelte er auch Empfehlungen für weitergehende Untersuchungen und identifizierte Forschungslücken. Zentral sei etwa, dass die verschiedenen Strukturen der katholischen Kirche miteinbezogen würden und dass der Blick über die Bistümer hinausgehe. Untersucht werden müssten demnach unter anderem auch katholische Kinder- und Jugendverbände, wie etwa die Jungwacht-Blauring.

In der Folge kam es zu einer breit geführten medialen Debatte über den Bericht und dessen direkten Folgen, zudem wurden Forderungen an die katholische Kirche gestellt.

Ein prominent diskutiertes Thema waren dabei erstens die Strukturen der katholischen Kirche, welche Missbrauch potenziell fördern könnten. So kritisierten die Medien etwa das Pflichtzölibat, wonach geweihte Personen ihre Sexualität in keinerlei Form ausleben dürfen, als unrealistisch. Es verhindere, dass junge Männer einen gesunden Umgang mit der eigenen Sexualität erlernen könnten. Folglich würden sexuelle Präferenzstörungen wie Pädophilie wahrscheinlicher, zudem könnten Personen davon angezogen werden, die bereits ein gestörtes Sexualverhältnis haben. Unter anderem der Präsident der Schweizerischen Bischofskonferenz, Felix Gmür, forderte deshalb eine Abschaffung des Zölibats.
Zudem wurde die fehlende Gewaltenteilung innerhalb der katholischen Kirche kritisiert. So sind Bischöfe derzeit zugleich Legislative, Exekutive und Judikative, was einerseits Vertuschungen begünstige, andererseits Bischöfe in ein Dilemma zwischen Schutz ihrer Unterstellten und Pflicht zur Aufklärung der Taten stürzten. Folglich wurde eine bessere Machtteilung innerhalb der katholischen Kirche und eine Einschränkung der Macht der Bischöfe gefordert.

Zweitens hatte der Bericht auch direkte Auswirkungen für die katholische Kirche. So meldeten sich viele neue Betroffene von sexuellem Missbrauch bei den entsprechenden Meldestellen der katholischen Kirche. Viele Betroffene fänden nun den Mut, über den erfahrenen Missbrauch zu sprechen. Jedoch seien die Mehrheit der Betroffenen mittlerweile Seniorinnen und Senioren und die Fälle folglich verjährt. Bei den nicht verjährten Fällen hätten die Bistümer jedoch offiziell Strafanzeige erstattet. Zudem kam es nach der Veröffentlichung des Berichts zu zahlreichen Austritten aus der katholischen Kirche. Dies brachte starke finanzielle Einbussen für die katholische Kirche mit sich und stellte durch den Austritt vieler langjähriger, engagierter Freiwilliger auch das Funktionieren gewisser Gemeinden in Frage. Der durch diese Ereignisse mutmasslich verstärkte Austritt von vor allem aufgeschlossenen und liberalen Gläubigen bremse zusätzlich den Wertewandel innerhalb der katholischen Kirche, lautete der Tenor in den Medien. Nicht zuletzt sorgte der Auftrag des Papstes an den Churer Bischof Joseph Bonnemain, eine Voruntersuchung gegen sechs Bischöfe einzuleiten, für einige Diskussionen. Ein Berner Pfarrer hatte die Bischöfe gegenüber den Forschenden und dem Schweizer Nuntius beschuldigt, sexuellen Missbrauch begangen oder solchen vertuscht zu haben.

Nach der Veröffentlichung des Berichts kam es zudem zu einer Reihe von parlamentarischen Vorstössen, welche forderten, dass der Bund die Vorfälle selbst untersucht (Mo. 23.4302); dass die Beziehung zwischen Kirche und Staat klarer und transparenter geregelt wird (Po. 23.4294); dass die Kirche verpflichtet wird, einheitliche Schutzmassnahmen gegen sexuellen Missbrauch zu ergreifen (Mo. 23.4191; 23.4192; 23.4193; 21.4194; 21.4195; 23.4196); und dass die katholische Kirche als Konzern für Missbrauchsfälle haftbar gemacht werden kann (Pa.Iv. 23.460).

Die Bischofskonferenz versprach derweil gegenüber der Öffentlichkeit, dass ein Wertewandel innerhalb der katholischen Kirche angestrebt werde. Insbesondere der Churer Bischof Joseph Bonnemain betonte, dass es an der Zeit sei, dass die Kirche ihre Schuld eingestehe und entsprechende Massnahmen umsetze. Zudem soll gemäss Felix Gmür, dem Bischof des Bistums St.Gallen, ein unabhängiger kirchlicher Gerichtshof eingesetzt werden, der weiterhin unabhängig vom weltlichen Recht agiert und sich um strafrechtliche oder disziplinarische Verfahren innerhalb der Kirche kümmert. Dies müsse jedoch zuerst mit dem Vatikan abgesprochen werden, da dafür bisher keine kirchenrechtliche Grundlage bestehe. Die Medien bezweifelten jedoch die Umsetzung der Versprechen der Bischofskonferenz – bereits früher seien auf Versprechen keine Änderungen erfolgt. Erste Schritte unternahm hingegen das Bistum St. Gallen, das unter anderem die Forscherinnen der Universität Zürich mit einer zweiten Studie beauftragte und die Regelung, Akten nach 10 Jahren zu vernichten, aufhob – dies ohne grünes Licht aus Rom.

Archivöffnung der katholischen Kirche zur Untersuchung sexuellen Missbrauchs

Jahresrückblick 2022: Kultur, Sprache, Kirchen

Nach gut zwei Jahren Covid-19-Pandemie war es dieses Jahr endlich wieder so weit: Die Schweiz durfte die Kultur wieder ohne Einschränkungen geniessen. Bereits am 16. Februar 2022 hob der Bundesrat den Grossteil der nationalen Massnahmen – auch diejenigen im Kulturbereich – auf, woraufhin es in der Kultur ein breites Aufatmen und Erwachen gab. Konzerte und Festivals, sowie Museen, Theater oder Kinos konnten wieder gänzlich ohne Einschränkungen besucht werden. Dies führte auch dazu, dass der Kulturbereich – nach zwei Jahren verstärkter Aufmerksamkeit durch Covid-19 – in den Medien etwas aus dem Fokus geriet, wie Abbildung 2 der APS-Zeitungsanalyse zeigt.

Die Kulturpolitik der Schweiz war 2022 von drei grösseren Themen geprägt: der Abstimmung zur Revision des Filmförderungsgesetzes, dem neuen Bundesgesetz über den Jugendschutz in den Bereichen Film und Videospiele und der Frage, wie die Schweiz mit Nazi-Raubkunst umgehen soll.

Nachdem die Beratungen zur Revision des Filmförderungsgesetzes – Lex Netflix – nach langwierigen Diskussionen als letztes Geschäft der Kulturbotschaft 2021-2024 in der Herbstsession 2021 zu einem Abschluss gekommen war, ergriffen die Jungfreisinnigen, die Jungen Grünliberalen sowie die Junge SVP Ende Januar 2022 erfolgreich das Referendum. Streaming-Anbietende wie Netflix oder Disney+ sollten mit diesem Gesetz unter anderem dazu verpflichtet werden, vier Prozent des Umsatzes in das schweizerische Filmschaffen zu investieren oder für die Bewerbung Schweizer Filme einzusetzen. Zudem mussten die Plattformen 30 Prozent des Angebots mit europäischen Beiträgen füllen. Die bürgerlichen Jungparteien störten sich besonders an diesen beiden Punkten: Zum einen befürchteten sie, mit der Pflichtabgabe würde eine Erhöhung der Abo-Preise einhergehen, und zum anderen erachteten sie die Quote für europäische Filme und Serien als «bevormundend und eurozentristisch». Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger nahmen das Gesetz im Mai 2022 jedoch mit 58.1 Prozent Ja-Stimmen an. Der Abstimmungskampf war dann auch das einzige Ereignis des Jahres, welches im Bereich Kulturpolitik zu einem substantiellen Anstieg der medialen Berichterstattung führte (vgl. Abbildung 1 der APS-Zeitungsanalyse).

Ohne grosse mediale Beachtung fanden in der Herbstsession 2022 die Beratungen um das neue Bundesgesetz über den Jugendschutz in den Bereichen Film und Videospiele nach gut zwei Jahren ein Ende. Ziel des Gesetzes soll es sein, Kinder und Jugendliche besser vor Gewalt- und Sexualdarstellungen in Filmen und Videospielen zu schützen, etwa durch eine schweizweite Alterskennzeichnung und -kontrolle der Produkte. Die Verantwortung, diese Regelungen zu entwickeln, wurde den Branchenorganisationen überlassen, welche entsprechende Expertinnen und Experten hinzuziehen sollen.

Für hitzige mediale Debatten sorgte hingegen die Kunstsammlung von Emil Bührle, der gemäss Medien ein Nazisympathisant und Waffenlieferant im Zweiten Weltkrieg war. Als Teile seiner Sammlung im Sommer 2021 im Kunsthaus Zürich ausgestellt worden waren, waren darob hitzige Diskussionen entbrannt, insbesondere weil Bührle Nazi-Raubkunst besessen habe und die Provenienz bei einigen Werken der Sammlung nicht endgültig geklärt sei. Diese Debatte ging auch an Bundesbern nicht ohne Spuren vorbei. So nahmen die Räte eine Kommissionsmotion der WBK-NR an, welche die Schaffung einer Plattform für die Provenienzforschung von Kulturgütern forderte. Weiter hiessen sie eine Motion gut, mit der eine unabhängige Kommission für NS-verfolgungsbedingt entzogene Kulturgüter geschaffen werden sollte. Offen liessen die Räte, ob eine solche Kommission auch für Raubkunst aus kolonialen Kontexten geschaffen werden soll.

Rund um die kirchen- und religionspolitische Fragen blieb es in der Bundespolitik im Jahr 2022 eher ruhig, jedoch weckte die katholische Kirche der Schweiz einige mediale Aufmerksamkeit, wie erneut in der APS-Zeitungsanalyse ersichtlich wird. Der Universität Zürich war im Frühling 2022 in Form eines Pilotprojekts ein Forschungsauftrag erteilt worden, mit dem die sexuellen Missbräuche innerhalb der Schweizer katholischen Kirche seit 1950 wissenschaftlich untersucht werden sollten. Dabei sollte ein Fokus auf die Strukturen gelegt werden, welche dabei geholfen hatten, die Missbräuche zu vertuschen. Zu diesem Zweck öffnete die katholische Kirche der Schweiz ihre Geheimarchive für die Forschenden.
Heftige Debatten rief auch der vom Churer Bischof Joseph Maria Bonnemain eingeführte, für die Angestellten aller Ebenen der katholischen Kirche verbindliche Verhaltenskodex hervor, mit dem sexuellem Missbrauch vorgebeugt werden sollte. Einige Priester von Chur weigerten sich, den Kodex zu unterzeichnen, da einzelne Weisungen daraus der katholischen Lehre entgegenlaufen würden – so untersage er es etwa, sich negativ über die sexuelle Ausrichtung von Menschen auszusprechen.

Anfang 2022 verlängerte das SEM die muslimische Seelsorge in den Bundesasylzentren, welche Anfang 2021 in einzelnen Regionen als Pilotprojekt eingeführt worden war. Zuvor hatte eine Studie des Schweizerischen Zentrums für Islam und Gesellschaft (SZIG) der Universität Freiburg eine positive Bilanz gezogen. Sollten die Ergebnisse auch nach diesem Jahr positiv ausfallen, strebt das SEM eine permanente Einführung des Angebots und einen Ausbau auf alle Bundesasylzentren an – sofern die Finanzierung dafür gesichert werden kann. Bereits 2018 war ein entsprechendes Pilotprojekt aufgrund fehlender finanzieller Mittel auf Eis gelegt worden.

Jahresrückblick 2022: Kultur, Sprache, Kirchen
Dossier: Jahresrückblick 2022