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Akteure

  • Bregy, Philipp Matthias (mitte/centre, VS) NR/CN
  • Caroni, Andrea (fdp/plr, AR) SR/CE

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Auf Antrag der UREK-NR beschloss der Nationalrat in seiner Wintersession 2022, die Behandlungsfrist für eine parlamentarische Initiative Bregy (mitte, VS) betreffend eine Einschränkung des Verbandsbeschwerderecht im Natur- und Heimatschutzgesetz um zwei Jahre bis zur Wintersession 2024 zu verlängern. Die Kommission hatte den Antrag damit begründet, dass die Arbeiten zu einem Gesetzesentwurf noch im Gange seien. Der Entwurf soll unter anderem festlegen, bis zu welcher Gebäudegrösse das Verbandsbeschwerderecht eingeschränkt werden soll und welche Ausnahmen bei der Neuregelung vorzusehen sind.

Einschränkung des Verbandsbeschwerderechts im NHG bei Einzelprojekten innerhalb der Bauzone (Pa.Iv. 19.409)

In der Wintersession 2022 überwiesen sowohl der Ständerat (Mo. 22.4250) als auch der Nationalrat (Mo. 22.4249) eine jeweils gleichlautende Motion zur Erhöhung der Obergrenze für Gerichtsgebühren. Die von den beiden GPK eingereichten Vorstösse verlangten, dass die eidgenössischen Gerichte nach oben flexible Grenzen für Gerichtsgebühren ansetzen dürfen. Bei ihrer Prüfung der jetzigen Gebühren hätten die GPK festgestellt, dass die momentan geltenden Höchstansätze (CHF 200'000 beim Bundesgericht, CHF 100'000 bei Bundesanwaltschaft und Bundesstrafgericht, CHF 50'000 beim Bundesverwaltungsgericht) nicht genügten, wenn es um sehr hohe Streitwerte oder sehr komplexe Verfahren gehe. Es gehe nicht darum, die Gerichtsgebühren generell zu erhöhen, sondern lediglich darum, bei Spezialfällen Obergrenzen adäquat anzusetzen, begründeten die GPK ihre Vorstösse. Zwar waren bereits 2017 zwei ähnliche und ebenfalls gleichlautende Motionen angenommen worden, die im Rahmen der Revision des Bundesgerichtsgesetzes hätten umgesetzt werden sollen. Da die Räte diese Revision allerdings abgelehnt hätten, sei das Anliegen der flexiblen Obergrenze bisher nicht umgesetzt worden.
Der Bundesrat beantragte die Annahme der Motionen, wie er es bereits 2017 getan hatte, und erinnerte daran, dass bei der Umsetzung eine Motion Hefti (fdp, GL; Mo. 19.3228) und ein Postulat Caroni (fdp, AR; Po. 20.4399) berücksichtigt werden müssten.
Während die Motion im Ständerat ohne Diskussion durchgewunken wurde, lag im Nationalrat ein schriftlicher Antrag von Pirmin Schwander (svp, SZ) vor, der die Ablehnung der Motion beantragte. Es sei eine «Kernaufgabe des Staates» einen «niederschwelligen Zugang» zu den Gerichten zu garantieren. Höhere Gebühren würden aber auch höhere Gerichtskosten bedeuten, was den Zugang zu den Gerichten einschränke. Diesem Argument folgten 46 Fraktionskolleginnen und -kollegen Schwanders und ein Mitglied der FDP-Fraktion. Sie standen einer Mehrheit von 130 Stimmen gegenüber (6 Enthaltungen). Somit galten beide Motionen als angenommen.

Erhöhung der Obergrenze für Gerichtsgebühren (Mo. 22.4250 und Mo. 22.4249)

Mittels einer parlamentarischen Initiative wollte Nationalrat Michael Töngi (gp, LU) erreichen, dass bei Gebäudesanierungen der Anteil der Sanierungskosten, der als wertvermehrende Investition gilt und auf den Mietzins überwälzt werden kann, gesenkt wird. Heute dürfen bei umfassenden Sanierungen 50 bis 70 Prozent der Kosten als wertvermehrende Investitionen überwälzt werden. Laut Töngi habe nun aber eine Studie der Hochschule Luzern gezeigt, dass der Anteil der wertvermehrenden Investitionen tatsächlich zwischen 34 und 58 Prozent liege. Der Anteil an werterhaltenden Investitionen seien demnach höher als gedacht. Deshalb müsse der maximale Überwälzungssatz gesenkt werden. Dies sei nicht zum Nachteil der Vermieterseite, so Töngi. Falls der Anteil der wertvermehrenden Investitionen höher als der maximale Überwälzungssatz sei, könnten Vermietende nämlich anstatt des pauschalen Überwälzungssatzes die Kosten im Einzelnachweis belegen und einen höheren Anteil überwälzen.

Eine Mehrheit der RK-NR zeigte sich von Töngis Argumenten nicht überzeugt. Wie Kommissionssprecher Matthias Bregy (mitte, VS) in der Wintersession 2022 im Nationalrat erklärte, sei die Mehrheit der Kommission der Meinung, dass die parlamentarische Initiative wichtige Anreize für Gebäudesanierungen abbaue. Unter Berücksichtigung der generell überalteten Gebäude in der Schweiz müssten nämlich eher mehr Gebäudesanierungen vorgenommen werden – auch damit die Schweiz ihre Klimaziele erreichen könne. Der Nationalrat folgte dem Antrag seiner RK und stimmte mit 121 zu 68 Stimmen (bei 1 Enthaltung) dafür, der Initiative keine Folge zu geben. Einzig die Fraktionen der Grünen und der SP stimmten für die Initiative.

Mietrechtliche Überwälzungssätze den realen Werten anpassen (Pa.Iv 21.471)

In der Wintersession 2022 setzte der Nationalrat die Differenzbereinigung bei der ZPO-Revision fort. Nachdem die grossen, grundlegenden Streitpunkte bereits ausgeräumt worden waren, blieben noch viele technische und formalistische Detailfragen zu klären. Kommissionssprecher Bregy (mitte, VS) betonte einmal mehr, ein wichtiges Ziel der Revision sei die Laienfreundlichkeit der Zivilprozessordnung. Damit begründete die Kommission auch viele Anträge, wo sie eine vom Beschluss des Ständerates abweichende Meinung vertrat. Minderheitsanträge gab es demgegenüber nur wenige. Wo diese dem Ständerat folgen wollten, erachteten sie die Ergänzungen und Präzisierungen der Kommissionsmehrheit eher als unnötig oder gar hinderlich für die Rechtssicherheit. Die grosse Kammer befasste sich etwa mit den Folgen falscher Rechtsmittelbelehrungen, mit verschiedenen Fristen und mit Präzisierungen bei den Streitgenossenschaften. Viele Unklarheiten bestanden noch beim Schlichtungsverfahren. Hier ging es um die Folgen des Nichterscheinens, den Umfang der Entscheidbefugnis der Schlichtungsbehörde oder die Frage, ob Schlichtungsrichter und Richter im Hauptverfahren dieselbe Person sein dürfen. In den meisten Streitpunkten hielt der Nationalrat an seiner Position fest und schickte die Vorlage mit rund zwei Dutzend Differenzen zurück an den Ständerat.

Änderung der Zivilprozessordnung – Praxistauglichkeit und Rechtsdurchsetzung (BRG 20.026)
Dossier: Debatte über die Pressefreiheit in der Schweiz
Dossier: Revision der Zivilprozessordnung (2018–)

Im Rahmen der Bundesratswahlen 2022 kam es auch zu ausführlichen Diskussionen um die Vertretung der Regionen, die sich vorab um die sehr unterschiedliche bisherige Zahl an Bundesratsmitgliedern aus den verschiedenen Kantonen drehte. Vor den Ersatzwahlen 2022 wurde die Rangliste vom Kanton Zürich mit bisher 20 Vertreterinnen und Vertretern in der Landesregierung angeführt, gefolgt vom Kanton Waadt mit 15 und dem Kanton Bern mit 14 Vertrenden. Noch nie im Bundesrat vertreten waren bis dahin die Kantone Jura, Nidwalden, Schaffhausen, Schwyz und Uri.
Seit der entsprechenden Abstimmung im Februar 1999 spielt die Kantonsklausel allerdings keine Rolle mehr. Bis damals war es nicht möglich gewesen, dass zwei Regierungsmitglieder aus dem gleichen Kanton stammten. Unklar war hingegen seit je her, wie die Kantonszugehörigkeit genau definiert wird: durch den Wohnkanton oder den Bürgerkanton; und aus welchem Kanton stamnen verheiratete Frauen, die über mehrere Heimatrechte verfügten? So war etwa Ruth Dreifuss im Kanton Aargau heimatberechtigt, hatte aber dem Berner Stadtrat angehört und ihre Papiere kurz vor ihrer Wahl nach Genf verlegt. Bei der Diskussion um die Kantonszugehörigkeit eines Bundesratsmitglieds stellt sich überdies die Frage, ob Mitglieder der Landesregierung effektiv für «ihren» Kanton lobbyieren, wenn sie im Bundesrat sitzen. Nichtsdestotrotz war die Kantonszugehörigkeit der verschiedenen Kandidierenden recht laute mediale Begleitmusik der Bundesratsersatzwahlen 2022. Ob bei den Diskussionen um eine mögliche Nichtvertretung des Kantons Zürich bei der Kandidierendensuche der SVP, um lange Zeit untervertretene Kantone bei der Bewerbung von Heinz Tännler (ZG, svp) oder Eva Herzog (sp, VS), um Kandidierende aus Kantonen, die gar noch nie im Bundesrat vertreten waren bei den Kandidaturen von Michèle Blöchliger (NW, svp) oder Elisabeth Baume-Schneider (sp, JU), um die sich verändernden Chancen der Berner-SVP-Kandidaturen nach dem Rücktritt der Berner Bundesrätin Simonetta Sommaruga: Stets wurde dem Herkunftskanton Relevanz zugesprochen.

Für Diskussionen sorgte freilich auch die Vertretung der Sprachregionen. Dass es nach 1917 zum zweiten Mal in der Geschichte zu einer Mehrheit von nicht-deutschsprachigen Magistratinnen und Magistraten kommen könnte bzw. kam, wurde vor und nach den Ersatzwahlen vor allem von der FDP kritisiert. Die Freisinnigen forderten, dass dies nur für «eine kurze Übergangszeit» so bleiben dürfe. Diese Entscheidung obliege der Bundesversammlung, erwiderte SP-Fraktionspräsident Roger Nordmann (sp, VD). Die Schweiz gehe nicht unter, nur weil es keine deutschsprachige Mehrheit im Bundesrat gebe.

Das am meisten und nach den Ersatzwahlen vor allem in den Deutschschweizer Medien mit einiger Heftigkeit diskutierte Thema war dann freilich die Untervertretung der «urbanen Schweiz». Der Tages-Anzeiger sprach in seiner Online-Ausgabe davon, dass «dieser Mittwoch kein guter Tag für die Schweiz» gewesen sei. 70 Prozent der Bevölkerung und die «Fortschrittsmotoren» Zürich und Basel seien nun untervertreten. Offen forderte die Zeitung den baldigen Rücktritt von Alain Berset und Guy Parmelin, damit das Parlament dies nach den eidgenössischen Wahlen 2023 wieder korrigieren könne. Darüber hinaus wurde kritisiert, dass hinsichtlich Finanzausgleich lediglich noch «Nehmerkantone» in der Regierung vertreten seien. Andrea Caroni (fdp, AR) gab dem St. Galler Tagblatt zu Protokoll, dass er Angst habe, dass die «erhebliche sprachliche und geographische Schlagseite» im Bundesrat die Bundesverfassung strapaziere. Die Aargauer Zeitung sprach von einer «Ballenberg-Schweiz», die jetzt dominiere, obwohl eine «urbane Sichtweise» nötig wäre. Die Millionen Menschen, die in städtischen Räumen lebten, seien nun ohne Stimme in der Landesregierung, die mehr «Zerrbild als Abbild» sei, kritisierte erneut der Tages-Anzeiger. In ebendieser Zeitung befürchtete Hannes Germann (svp, SH) schliesslich, dass das Parlament «ein Chaos angerichtet» habe, weil dieses «krasse Ungleichgewicht» unschweizerisch sei.
Für die WoZ stellte dies aber aus städtischer Sicht kein Problem dar, da wesentlich wichtiger sei, welche unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen vertreten seien. Noch pragmatischer urteilten die Westschweizer Medien. Mauro Poggia (mcg, GE) brachte diese Haltung in La Liberté auf den Punkt: Er habe Vertrauen in die Intelligenz der Personen in der Landesregierung: «Ce n'est pas parce qu'on est d'origine paysanne qu'on ne pense pas aux villes.» Die Erfahrung, selber einmal zur Minderheit zu gehören, könne der Deutschschweiz vielleicht auch guttun, zitierte der Blick den Chefredaktor seiner Romandie-Ausgabe. Auch Alain Berset meldete sich zu Wort: Er könne kein Problem erkennen, weil die Menschen heute so mobil seien, dass sie sich nicht mehr in Schablonen wie Stadt und Land pressen liessen. Die Vernetzung sei so gross, dass die regionale Herkunft kaum mehr eine Rolle spiele.

Diskussionen um die Vertretung der Regionen im Rahmen der Bundesratswahlen 2022

Der Nationalrat beugte sich in der Wintersession 2022 als Zweitrat über die Revision des Sexualstrafrechts. Wie bereits in der Ständekammer wurde das Ziel des Revisionsprojekts, das in die Jahre gekommene Sexualstrafrecht an die veränderten gesellschaftlichen Wertvorstellungen anzupassen, auch im Nationalrat allseits begrüsst. Eintreten war somit unbestritten.

Die Debatte um den umstrittensten Punkt der Vorlage, die Modellwahl zwischen «Nur Ja heisst Ja» und «Nein heisst Nein», fand in der grossen Kammer im Vergleich zum Ständerat unter umgekehrten Vorzeichen statt: Während sich in der Kantonskammer eine Minderheit der Kommission erfolglos für die Zustimmungslösung ausgesprochen hatte, beantragte im Nationalrat die Mehrheit der vorberatenden Rechtskommission die Verankerung des «Nur-Ja-heisst-Ja»-Prinzips im Strafgesetzbuch. Gemäss Kommissionssprecherin Patricia von Falkenstein (ldp, BS) wolle man damit klar zum Ausdruck bringen, «dass einvernehmliche sexuelle Handlungen im Grundsatz immer auf der Einwilligung der daran beteiligten Personen beruhen sollen» und «dass Geschlechtsverkehr ohne Einwilligung als Vergewaltigung betrachtet wird». Mit der Zustimmungslösung solle bei der Aufklärung von Sexualdelikten zudem mehr das Verhalten des Täters oder der Täterin in den Fokus rücken, und nicht die Frage, ob und wie sich das Opfer gewehrt habe. Letzteres solle sich nicht schuldig fühlen, wenn es nicht in ausreichendem Mass Widerstand geleistet habe. Demgegenüber fordere die «Nein heisst Nein»-Lösung vom Opfer weiterhin einen zumutbaren Widerstand. Bundesrätin Karin Keller-Sutter argumentierte hingegen, dass das Widerspruchsprinzip klarer sei. Jemand könne auch aus Angst oder Unsicherheit Ja sagen, ohne dies tatsächlich zu wollen, wohingegen ein explizites oder stillschweigendes Nein – etwa eine ablehnende Geste oder Weinen – nicht als Zustimmung missverstanden werden könne. Über ein geäussertes Nein könne das Opfer im Strafverfahren allenfalls aussagen, über ein fehlendes Ja jedoch nicht, denn einen Negativbeweis gebe es nicht, ergänzte Philipp Matthias Bregy (mitte, VS), der mit seiner Minderheit ebenfalls für «Nein heisst Nein» eintrat. Wie schon im Ständerat herrschte derweil auch im Nationalrat weitgehende Einigkeit, dass der Unterschied zwischen den beiden Varianten juristisch gesehen «verschwindend klein» sei, wie es Tamara Funiciello (sp, BE) ausdrückte, und es vor allem um Signale gehe. Während die Advokatinnen und Advokaten der Zustimmungslösung darin eine gesellschaftliche Haltung sahen, die die sexuelle Selbstbestimmung betone, erachteten die Befürworterinnen und Befürworter der Widerspruchslösung das Strafrecht nicht als den richtigen Ort für Symbolik – so fasste Christa Markwalder (fdp, BE) die Positionen in ihrer gespaltenen Fraktion zusammen. Als eine Art Mittelweg bewarb eine Minderheit Nidegger (svp, GE) unterdessen die im Ständerat gescheiterte Umformulierung des Widerspruchsprinzips. Diese wollte durch die explizite Nennung von verbaler und nonverbaler Ablehnung die Fälle von sogenanntem Freezing – wenn das Opfer in einen Schockzustand gerät und dadurch widerstandsunfähig ist – besser abdecken. Bundesrätin Karin Keller-Sutter betonte indes, auch mit der Widerspruchslösung seien Freezing-Fälle abgedeckt und die Minderheit Nidegger bringe somit keinen Mehrwert. Die Minderheit Nidegger unterlag der «Nein-heisst-Nein»-Lösung wie vom Bundesrat vorgeschlagen denn auch deutlich mit 118 zu 64 Stimmen bei 8 Enthaltungen. Ebenso chancenlos blieb die Minderheit Reimann (svp, SG), die statt dem vorgesehenen Kaskadenprinzip in Art. 189 und 190 StGB – einer Definition des Grundtatbestands ohne Nötigung (Abs. 1), wobei Nötigung sowie Grausamkeit als zusätzliche Erschwernisse in den Absätzen 2 und 3 aufgeführt werden – einen eigenen Tatbestand für Verletzungen der sexuellen Integrität ohne Nötigung schaffen wollte, sodass das Nötigungselement in den Tatbeständen der sexuellen Nötigung und der Vergewaltigung erhalten bliebe. Dieses Konzept war allerdings bereits in der Vernehmlassung harsch kritisiert worden. «Nur Ja heisst Ja» setzte sich schliesslich mit 99 zu 88 Stimmen bei 3 Enthaltungen gegen «Nein heisst Nein» durch. Zum Durchbruch verhalfen der Zustimmungslösung neben den geschlossen dafür stimmenden Fraktionen der SP, der Grünen und der GLP Minderheiten aus der FDP- und der Mitte-Fraktion sowie SVP-Nationalrätin Céline Amaudruz (svp, GE).

Neben der Modellwahl diskutierte die grosse Kammer auch die Strafrahmen ausführlich. Hier hielt sie sich mit einer Ausnahme überall an die Vorschläge ihrer Kommissionsmehrheit und lehnte zahlreiche Minderheitsanträge aus den Reihen der SVP- und der Mitte-Fraktion ab, die schärfere Strafen forderten. Härtere Sanktionen seien ursprünglich das Ziel der Strafrahmenharmonisierung gewesen, wovon auch die vorliegende Revision Teil sei, argumentierte Barbara Steinemann (svp, ZH). Solange «Belästiger mit symbolischen Strafen aus dem Gerichtssaal davonlaufen» könnten, sei auch die Zustimmungslösung nur ein «Ablenkungsmanöver», warf sie der Ratsmehrheit vor. Letztere wollte allerdings den Ermessensspielraum der Gerichte nicht einschränken. Es wurde befürchtet, dass die Gerichte sonst höhere Massstäbe an die Beweiswürdigung setzen könnten und es damit zu weniger Verurteilungen kommen könnte. Eine Mindeststrafe müsse immer «auch den denkbar leichtesten Fall abdecken», mahnte Justizministerin Keller-Sutter. Einzig bei der Vergewaltigung mit Nötigung – dem neuen Art. 190 Abs. 2, der im Grundsatz dem heutigen Vergewaltigungstatbestand entspricht – folgte der Nationalrat mit 95 zu 90 Stimmen bei 5 Enthaltungen der Minderheit Steinemann und übernahm die bereits vom Ständerat vorgenommene Verschärfung. Damit beträgt die Mindeststrafe für diesen Tatbestand neu zwei Jahre Freiheitsstrafe, Geldstrafen sowie bedingte Strafen sind demnach ausgeschlossen. Vergewaltigerinnen und Vergewaltiger müssen damit künftig zwingend ins Gefängnis. Bisher betrug die Mindeststrafe für Vergewaltigung ein Jahr Freiheitsstrafe, wobei diese auch (teil-)bedingt ausgesprochen werden konnte.

In einem zweiten Block beriet die Volkskammer noch diverse weitere Anliegen im Bereich des Sexualstrafrechts. Die Forderung einer Minderheit Funiciello, dass verurteilte Sexualstraftäterinnen und -täter obligatorisch ein Lernprogramm absolvieren müssen, wie dies bei häuslicher Gewalt oder Pädokriminalität bereits der Fall ist, wurde mit 104 zu 85 Stimmen abgelehnt. Da die Art des Delikts nicht berücksichtigt würde, handle es sich um eine «undifferenzierte Massnahme», so Kommissionssprecherin von Falkenstein. Mit 98 zu 84 Stimmen bei 7 Enthaltungen sprach sich der Nationalrat indessen dafür aus, die Altersgrenze für die Unverjährbarkeit von Sexualverbrechen auf 16 Jahre anzuheben. Bislang lag diese bei 12 Jahren, wie es bei der Umsetzung der Unverjährbarkeitsinitiative festgelegt worden war. Die Mehrheit argumentierte, so falle die Grenze für die Unverjährbarkeit mit dem Alter der sexuellen Mündigkeit zusammen. Den neuen Tatbestand der Rachepornografie hiess die grosse Kammer stillschweigend gut, verfrachtete ihn aber in einen anderen Artikel innerhalb des StGB. Anders als der Ständerat nahm der Nationalrat stillschweigend auch einen Tatbestand für Grooming ins Gesetz auf. In der Vernehmlassung sei dieser Vorschlag sehr positiv aufgenommen worden, erklärte die Kommissionssprecherin. Das Anliegen einer Minderheit von Falkenstein, sexuelle Belästigung nicht nur in Form von Wort, Schrift und Bild zu bestrafen, sondern auch andere sexuell konnotierte Verhaltensweisen – beispielsweise Gesten oder Pfiffe – unter Strafe zu stellen, scheiterte mit 96 zu 93 Stimmen knapp. Bundesrätin Karin Keller-Sutter warnte vor einer «uferlosen Strafbarkeit», da mit der geforderten Ergänzung die Grenze zwischen strafbarem und straflosem Verhalten unklar wäre. Ebenfalls abgelehnt wurde ein Einzelantrag von Léonore Porchet (gp, VD), die ein Offizialdelikt für sexuelle Belästigungen im öffentlichen Raum einführen wollte. Die betroffene Person solle selbst entscheiden können, ob sie eine Strafverfolgung wünsche oder an ihrer Privatsphäre festhalten möchte, argumentierte Justizministerin Keller-Sutter dagegen.

In der Gesamtabstimmung nahm der Nationalrat den Entwurf mit 127 zu 58 Stimmen bei 5 Enthaltungen an. Mit der Ausnahme von Céline Amaudruz stellte sich die SVP-Fraktion geschlossen dagegen. Sie wurde von einigen Stimmen aus der Mitte-Fraktion unterstützt, aus der auch die Enthaltungen stammten. Das Ergebnis war Ausdruck der Enttäuschung des rechtsbürgerlichen Lagers über die ablehnende Haltung des Rats gegenüber Strafverschärfungen. SVP-Vertreterin Steinemann hatte schon in der Eintretensdebatte angekündigt, dass ihre Fraktion die Vorlage ablehnen werde, «sofern nicht deutlich schärfere Sanktionen resultieren».

Harmonisierung der Strafrahmen (BRG 18.043)
Dossier: Revision des Strafgesetzbuches (2008– )
Dossier: Harmonisierung der Strafrahmen (Besonderer Teil des Strafgesetzbuches)

Wie der Nationalrat nutze auch der Ständerat die erste Sitzung der Wintersession 2022 zur Wahl des Ständeratspräsidiums und der Mitglieder des Büro-SR für 2022/2023 und wie im Nationalrat wurde mit Brigitte Häberli-Koller (mitte, TG) auch im Ständerat ein Mitglied der Mitte für das höchste Amt auserkoren. Vor der Wahl der erst fünften Ständeratspräsidentin in der Geschichte der kleinen Kammer ergriff der scheidende Präsident, Thomas Hefti (fdp, GL), das Wort. Es sei gut, dass es in Demokratien befristete Amtszeiten gebe. Resultate von Wahlen nicht anzuerkennen oder ziviler Ungehorsam sei hingegen Gift für einen demokratischen Rechtsstaat. Hefti ging auf die abflauende Pandemie ein, die in der Schweiz auch deshalb glimpflich abgelaufen sei, weil – trotz aller Kritik – den Kantonen und dem Bundesrat vernünftige Lösungen gelungen seien. Es greife zu kurz, den Föderalismus für Fehler, die es natürlich auch gegeben habe, verantwortlich zu machen. Krisen seien «die Stunden der Exekutiven» aber von Diktatur zu sprechen, sei daneben. Auch aus dem Krieg in der Ukraine, einem von Russland angezettelten «Krieg gegen die westliche Welt» müsse die Schweiz Lehren ziehen. Es gelte, die Armee zu verstärken. Bei den Verhandlungen mit der EU – ebenfalls eine aktuelle Herausforderung – würde man vielleicht weiterkommen, wenn der EU verständlich gemacht werden könnte, dass die «sehr weitgehenden Rechte» der Mitbestimmung in der Schweiz nicht nur weltweit einzigartig, sondern auch für die supranationale Organisation nicht schädlich seien.

Nachdem Thomas Hefti mit grossem Applaus bedacht worden war, schritt die kleine Kammer zur Wahl ihrer neuen Präsidentin, die 45 von 46 Stimmen erhielt. Ein Wahlzettel war leer geblieben. Brigitte Häberli-Koller wurde mit starkem Beifall in ihr neues Amt begrüsst. Die Mitte-Politikerin – nach Josi Meier (cvp, LU; 1991), Françoise Saudan (fdp, GE; 2000), Erika Forster-Vannini (fdp, SG; 2009) und Karin Keller-Sutter (fdp, SG) die fünfte Ständeratspräsidentin – war bereits die zwölfte Kantonsvertretung aus dem Thurgau, die das oberste Amt in der kleinen Kammer ausüben durfte. Nur die Kantone Waadt (17), und Bern (15) stellten mehr Ständeratspräsidenten. Der Bund wisse, was er am Thurgau habe, startete die frischgebackene und insgesamt 200ste höchste Amtsträgerin in der kleinen Kammer ihre Antrittsrede mit einem Dank an die anwesende Kantonalregierung. Auch sie ging auf die aktuellen politischen Herausforderungen ein: Krisen und Wandel habe es schon immer gegeben, allerdings gebe es heute viel mehr Widersprüche, die Unsicherheiten und Ängste weckten und im schlimmsten Fall zu extremen Überzeugungen und einer gespaltenen Gesellschaft führten. Es müsse unterschieden werden zwischen berechtigter Meinungsfreiheit und «radikalen Forderungen bestimmter Gruppierungen». Die direkte Demokratie sei aber keine Tyrannei der Mehrheit, sondern biete «das beste und ehrlichste Ventil für die Bürgerinnen und Bürger», die Unzufriedenheit zeigen dürften, Abstimmungsergebnisse aber selbstverständlich akzeptieren würden. «Wir leben in einer direkten Demokratie, wo sich niemand auf der Strasse festkleben muss, wo niemand Gemälde mit Kartoffelstock bewerfen muss und wo man sich auch nirgendwo anketten muss.» Es sei zudem nicht fair, der Politik böswillige Absicht zu unterstellen, wenn sich ein Entscheid im Nachhinein als fehlerhaft herausstelle. Unzufriedenheit und Fehler müsse eine Demokratie aushalten und es sei an den Parlamentsmitgliedern, durch Ehrlichkeit und Transparenz wieder Vertrauen zu schaffen. Es gebe viel zu tun und die anstehenden Herausforderungen seien nur gemeinsam zu meistern, weshalb ihre Präsidentschaft auch unter dem Motto «Gemeinsam - Ensemble - Insieme - Ensemen» stehe

Nach einem musikalischen Intermezzo schritt die kleine Kammer zur Wahl der restlichen Mitglieder des Büros. Zur ersten Vizepräsidentin wurde Elisabeth Baume-Schneider (sp, JU) gewählt – ebenfalls mit 45 von 46 möglichen Stimmen (ein Zettel blieb auch hier leer); damit wird 2023/2024 erstmals eine Sozialdemokratin dem Ständerat vorstehen – es sei denn, die offizielle Kandidatin für die anstehenden Bundesratswahlen würde in die Landesregierung gewählt oder aber bei den eidgenössischen Wahlen 2023 in ihrem Kanton nicht bestätigt. Gleich zu zwei weiteren Nova führte die Wahl der zweiten Vizepräsidentin: Lisa Mazzone (gp, VD) ergänzte das erstmals reine Frauenpräsidium und wird – auch bei der Genferin eine Wiederwahl bei den Ständeratswahlen 2023 vorausgesetzt – 2024/2025 den Ständerat als erstes Mitglied der Grünen Partei präsidieren. Mazzone erhielt 44 von 46 möglichen Stimmen. Neben einer leeren Stimme entfiel eine auf eine andere Person. Die Ämter des Stimmenzählers und des Ersatzstimmenzählers werden von Männern besetzt. Andrea Caroni (fdp, AR) wurde mit 42 Stimmen gewählt (4 Wahlzettel blieben leer) und auf Stefan Engler (mitte, GR) entfielen 45 Stimmen (ein leerer Wahlzettel). Das Büro-SR wird immer dann mit einem weiteren Mitglied ergänzt, wenn Fraktionen mit mindestens fünf Mitgliedern im Ständerat ansonsten darin nicht vertreten sind. Dies war für das anstehende Amtsjahr der Fall für die SVP-Fraktion, die Werner Salzmann (svp, BE) zur Wahl vorschlug, der mit 43 Stimmen gewählt wurde (3 leere Wahlzettel).

In einem Festakt wurde die neue Ständeratspräsidentin zwei Tage nach ihrer Wahl in Frauenfeld gefeiert. Es sei zwar der bisherige Höhepunkt ihrer politischen Karriere, sie trete aber auch kurz vor dem Pensionsalter im Herbst noch einmal zu den Ständeratswahlen an, weil ihre Partei mit ihr die grössten Chancen sehe, gab die Mitte-Politikerin, die als Gemeinderätin, Grossrätin, von 2003 bis 2011 Nationalrätin und schliesslich ab 2011 Ständerätin die sogenannte «Ochsentour» hinter sich gebracht hatte, in einem Interview mit der Thurgauer Zeitung zu Protokoll.

Wahl Ständeratspräsidium 2022/2023
Dossier: Nationalrat und Ständerat. Wahl des Präsidiums und des Büros

In der Sommersession 2022 lancierte Ständerat Andrea Caroni (fdp, AR) eine parlamentarische Initiative zur Einführung eines «pacte civil de solidarité» (PACS) für die Schweiz. Ein entsprechendes Projekt solle sich konkret am Bericht des Bundesrats zur Einführung eines PACS orientieren. Konkret forderte der Initiant, Paaren eine Option zwischen der Ehe und dem weitgehend ungeregelten Konkubinat zu bieten, wie es bereits in Frankreich und den Benelux-Staaten geläufig sei. So könnten sich Personen in einer langjährigen Partnerschaft rechtlich absichern, ohne die Verpflichtungen einer Ehe einzugehen. Für einen PACS erachtete der Initiant eheähnliche Regelungen lediglich bei der Vertretung der Partnerschaft gegenüber Dritten und bei gemeinsamen Kindern als sinnvoll; deshalb sollte dieser eher als «Konkubinat plus» statt als «Ehe light» verstanden werden. Die RK-SR gab der parlamentarischen Initiative als erstberatende Kommission Anfang November 2022 mit 9 zu 2 Stimmen Folge.

Einen Pacs für die Schweiz (Pa. Iv. 22.448)

Am 15. Oktober 2022 enstand aus der Fusion der «Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (Auns)», dem «Komitee Nein zum schleichenden EU-Beitritt (EU-No)» und der «Unternehmer-Vereinigung gegen den EU-Beitritt» ein neuer nationalkonservativer und EU-skeptischer Verein namens «Pro Schweiz». An dessen Gründungsversammlung beschlossen die anwesenden Mitglieder, die von Alt-Bundesrat Christoph Blocher lancierte Neutralitätsinitiative inhaltlich sowie finanziell zu unterstützen. Die Volksinitiative entstand in Reaktion auf die Übernahme der EU-Sanktionen gegen Russland und die neue Auslegung der Neutralitätspolitik. Die Initiative wurde am 19. Oktober lanciert und hat das Ziel, eine «immerwährende» und «bewaffnete» Neutralität in der Verfassung zu verankern. Das Begehren will der Schweiz den Beitritt zu Militär- und Verteidigungsbündnissen und die Beteiligung an militärischen Auseinandersetzungen verbieten. Auch nichtmilitärische Zwangsmassnahmen wie Wirtschaftssanktionen sollen laut Initiative tabu werden. Die einzigen Ausnahmen bilden die Verpflichtungen gegenüber der UNO und Massnahmen zur Verhinderung der Umgehung von Sanktionen von Drittstaaten. Eine weitere Forderung der Initiative beinhaltet, dass die Schweiz ihre Neutralität nutzt, um Konflikte zu verhindern oder aufzulösen, indem sie sich als Vermittlerin einsetzt. Erstaunlicherweise war Christoph Blocher, der die Initiative massgebend vorangetrieben hatte, nicht Teil des Initiativkomitees. Blocher liess verlauten, dass er in seinem Alter keinen Abstimmungskampf mehr führen wolle. Präsidiert wurde das Initiativkomitee von SVP-Nationalrat Walter Wobmann (svp, SO), der in der Rolle des Abstimmungskämpfers schon bei der Minarett- und der Burka-Initiative erfolgreich gewesen war. Die Frist für das Sammeln der nötigen 100'000 Unterschriften läuft bis zum 8. Mai 2024.

Die Initiative stiess bei den Parlamentariern und Parlamentarierinnen anderer Parteien auf wenig Gegenliebe. Mitte-Fraktionschef Philipp Matthias Bregy (mitte, VS) sprach sich gegen das Begehren aus, da sich die Schweiz nicht «in jeder Krise hinter der Neutralität verstecken» dürfe. FDP-Nationalrat Hans-Peter Portmann (fdp, ZH) erachtete die SVP-Initiative als falschen Weg.

Lancierung der Volksinitiative «Wahrung der schweizerischen Neutralität (Neutralitätsinitative)»

Der Ständerat beriet in der Herbstsession 2022 die Vorlage der SPK-NR, mit der die Handlungsfähigkeit des Parlamentes in Krisensituationen verbessert werden soll. Im Grossen und Ganzen bestehe «grosse Harmonie» innerhalb der Kommission und gegenüber dem Nationalrat, leitete Kommissionssprecher Andrea Caroni (fdp, AR) die Anträge der SPK-SR ein. Er erinnerte daran, dass es in der Vorlage nicht darum gehe, die Kompetenzen des Bundesrats in Krisensituationen zu beschneiden, wie dies von vielen ursprünglichen Vorstössen gefordert worden sei, die es nicht in die Schlussvorlage geschafft hätten. Vielmehr solle das Parlament dank einer Klärung von Regeln und dank moderner Technik auch in Notsituationen weiterhin rasch und flexibel handeln können.
In der Folge beschloss der Ständerat Korrekturen einiger Details. Zu diskutieren gab dabei auch in der kleinen Kammer die Ermöglichung virtueller Teilnahme. Im Gegensatz zum Nationalrat wollte eine Minderheit Stöckli (sp, BE), dass Parlamentsmitglieder, die durch höhere Gewalt oder behördliche Anordnung nicht physisch an Sitzungen teilnehmen können, nicht nur virtuell an Abstimmungen, sondern auch an Wahlen teilnehmen können. Mit 29 zu 15 Stimmen wurde dieser Antrag allerdings abgelehnt. Wenn hingegen das gesamte Parlament aufgrund höherer Gewalt nicht physisch tagen kann, sollen virtuelle Teilnahmen gemäss der Kommissionsmehrheit sowohl bei Abstimmungen als auch bei Wahlen möglich sein. So müsse gerade bei Bundesratsrücktritten in Krisen sichergestellt werden, dass ein neuer Bundesrat gewählt werden könne, so die Argumentation von Kommissionssprecher Caroni. Eine Minderheit Fässler (mitte, AI), welche die nationalrätliche Fassung vorziehen und auf virtuelle Wahlen verzichten wollte, setzte sich hier allerdings durch. Darüber hinaus entschied der Ständerat, dass Abstimmungen nicht wiederholt werden sollen, wenn ein virtuell an einer Sitzung teilnehmendes Mitglied aus technischen Gründen nicht abstimmen kann.
Eine gewichtige Differenz zum Nationalrat sah die SPK-SR bei der vom Nationalrat beschlossenen Etablierung einer ständigen Verwaltungskommission vor – sie wollte gänzlich auf diese verzichten. Die Kommission sehe hier keine Vorteile und auch der Bezug zu einer Krisensituation erschliesse sich ihr nicht, begründete Andrea Caroni den Kommissionsantrag. Die heutige Verwaltungsdelegation könne auch in Krisenzeiten die Aufgaben einer Verwaltungskommission übernehmen. Der Ständerat folgte dem Antrag stillschweigend.
Bei der Frage der Fristen für die Stellungnahme bei Kommissionsmotionen durch den Bundesrat nahm die kleine Kammer nach kurzer Diskussion die von der Kommission empfohlene Position des Nationalrats ein und lehnte den Antrag von Bundeskanzler Walter Thurnherr, beim Status quo zu bleiben, ab. Kommissionssprecher Caroni wies darauf hin, dass es hier eine Regelung brauche, obwohl man während der Pandemie «das Glück [gehabt habe], auf einen Bundesrat zu stossen, der Motionen sehr schnell beantwortete», dies aber eben freiwillig getan habe. Mit der neuen Regelung müsste der Bundesrat bis zur nächsten Session Stellung nehmen, wenn Kommissionsmotionen spätestens eine Woche vor Beginn der Session eingereicht würden. Bisher liege diese Frist bei einem Monat vor Sessionsbeginn. Wenn man bedenke, dass mit der neuen Regelung ein entsprechender Vorstoss «rücksichtsvollerweise» wohl gegen Ende der Session traktandiert würde, blieben der Regierung also mit der neuen Regelung rund vier Wochen für eine Stellungnahme, so Caroni. Der Minderheitsantrag von Thomas Minder (parteilos, SH), der nicht nur für Kommissionsmotionen, sondern auch für dringliche Einzelmotionen kürzere Fristen für Regierungsstellungnahmen vorsehen wollte, wurde jedoch mit 29 zu 12 Stimmen abgelehnt.
Die Gesamtabstimmung passierte die Vorlage mit 39 zu 4 Stimmen. Die Verordnung wurde mit 41 zu 1 Stimme angenommen und das Geschäftsreglement des Ständerats erhielt oppositionslos 42 Stimmen. Da für Letzteres lediglich die kleine Kammer zuständig ist, wurde noch in der Herbstsession eine Schlussabstimmung abgehalten, in der das Geschäft mit 45 zu 0 Stimmen gutgeheissen wurde.

Kontrolle von Notrecht und Handlungsfähigkeit des Parlaments in Krisensituationen verbessern (Pa.Iv. 20.437, Pa.Iv 20.438))
Dossier: Parlament in Krisensituationen

Mit der stillschweigenden Annahme einer Motion Caroni (fdp, AR) richtete der Ständerat in der Herbstsession 2022 den Auftrag an den Bundesrat, die rechtlichen Grundlagen für ein zeitgemässes Abstammungsrecht zu entwerfen. Wie der Motionär forderte, sollte sich die Regierung dabei an ihrem Bericht zum Reformbedarf im Abstammungsrecht, insbesondere an den darin enthaltenen Schlussfolgerungen, orientieren. Der Bundesrat hatte die Motion zur Annahme beantragt. Als nächstes wird der Nationalrat als Zweitrat über den Vorstoss befinden.

Zeitgemässes Abstammungsrecht (Mo. 22.3235)

Der Nationalrat befasste sich in der Herbstsession 2022 erneut mit der Revision des Strassenverkehrsgesetzes. Wie Kommissionssprecher Bregy (mitte, VS) ausführte, hatte die KVF-NR im Juni 2022 zu den Artikeln, die den Rasertatbestand betreffen, einen Rückkommensantrag gestellt, dem ihre Schwesterkommission zugestimmt hatte. Die nationalrätliche Kommission schlug nun vor, beim Führerausweisentzug wieder zum geltenden Recht zurückzukehren. Dies bedeute, dass bei einem Raserdelikt weiterhin eine Mindestentzugsdauer von zwei Jahren vorgesehen wäre. Eine mildere Bestrafung solle aber möglich sein, wenn die Strafe auch nach Artikel 90 – der die Länge der Freiheitsstrafe betrifft – unterschritten werde. Bei ebendiesem Artikel 90 forderte die KVF-NR ebenfalls zum geltenden Recht zurückzuschwenken, was einem Freiheitsentzug von einem bis vier Jahren entspricht. Hierbei sollen Unterschreitungen der Mindeststrafe möglich sein, wenn ein Strafmilderungsgrund nach Artikel 48 StGB – also zum Beispiel achtenswerte Beweggründe oder schwere Drohung – besteht oder wenn die betreffende Person bezüglich Verkehrsdelikten noch keinen Eintrag im Strafregister hat. Man habe versucht, an den Regeln des geltenden Rechts festzuhalten und gleichzeitig den Gerichten einen notwendigen Ermessensspielraum zu geben, hielt Bregy fest.
In der Debatte stellte Jean-Luc Addor (svp, VS) die rhetorische Frage, ob es wichtiger sei, ein Referendum durch eine «extremistische Organisation» («organisation extrémiste») zu verhindern oder die Interessen der Verkehrsteilnehmenden zu vertreten, die «Opfer der Auswüchse von Via sicura» («victimes des excès de Via sicura») geworden seien. Er nahm damit Bezug auf die Stiftung Roadcross, die sich für Opfer des Strassenverkehrs einsetzt und die für den Fall, dass die Strafen für Raser gelockert werden sollten, mit dem Referendum gedroht hatte. Der Nationalrat nahm die Vorschläge seiner Kommission schliesslich stillschweigend an. Damit wurden zwei grosse Differenzen zum Ständerat geschaffen, kleinere Differenzen konnten jedoch ausgeräumt werden.

Teilrevision des Strassenverkehrsgesetzes (BRG 21.080)
Dossier: Wie soll mit Raserdelikten umgegangen werden?

Nicht wie geplant in der Sommersession, sondern erst in der Herbstsession 2022 befasste sich der Ständerat mit den beiden Motionen (Mo. 21.3689; Mo. 21.3690), die eine Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit forderten. Als «Evergreen» bezeichnete Daniel Fässler (mitte, AI) die Frage, ob es eine Überprüfung der Verfassungsmässigkeit von Bundesgesetzen brauche. In der Tat gab es schon einige entsprechende, allerdings stets erfolglose Vorstösse. Eine nur durch präsidialen Stichentscheid zustande gekommene Mehrheit der SPK-SR wollte einen neuen Anlauf versuchen und Kommissionssprecher Stefan Engler (mitte, GR) brachte entsprechend fünf Pro-Argumente vor: Erstens müsse die Bundesverfassung über den Gesetzen stehen, damit Grundrechte von Bürgerinnen und Bürgern effektiv geschützt würden. Zweitens sei die Autonomie der Kantone besser geschützt, wenn sich die Gliedstaaten bei einem Verfassungsgericht etwa gegen verfassungswidrige Zentralisierungsbestrebungen wehren könnten. Drittens würde das Ständemehr in seiner Rolle gewahrt, wenn kein Gesetz zur Anwendung komme, das nicht auf einer von Volk und Ständen angenommene Verfassungsgrundlage beruhe. Viertens seien die Grundrechte nicht nur durch die EMRK, sondern auch durch die nationale Verfassung effektiv geschützt – ein Schutz, der bei Gesetzesänderungen eingeklagt werden können muss. Fünftens ergäbe sich eine präventive Wirkung, weil sich das Parlament bei der Umsetzung von angenommenen Initiativen nicht mehr zu weit von der Verfassungsidee entfernen könne, wenn es eine Rüge von einer verfassungsgerichtlichen Instanz befürchten müsse. Um der starken Kommissionsminderheit gerecht zu werden, führte Engler auch fünf Argumente gegen die Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit an: Es gebe erstens keinen Handlungsbedarf, weil der historische Verfassungsgeber eine schwache Stellung der Judikative bewusst gewollt habe. Ein Verfassungsgericht drohe zum Gesetzgeber zu werden, wenn nicht mehr die Stimmbevölkerung das letzte Wort habe, ob sie ein Gesetz gutheissen wolle oder nicht. Drittens sei eine «Verpolitisierung» der Judikative zu befürchten. Das Parlament sei viertens besser geeignet, die letztlich stets politische Einschätzung vorzunehmen, ob ein Gesetz der Verfassung widerspreche oder nicht. Das Parlament würde sich also mit der Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit fünftens seiner eigenen Kompetenzen berauben.
In der darauffolgenden Debatte wurden zwar keine wirklich neuen Argumente mehr vorgebracht, einige langjährige Kantonsvertreter gaben aber zu Protokoll, weshalb sie ihre Meinung seit der letzten Diskussion vor rund elf Jahren geändert bzw. nicht geändert hatten. Andrea Caroni (fdp, AR) etwa – als Nationalrat selbst einst Urheber einer entsprechenden Motion – befürwortete nach wie vor eine bessere «Abfolge des Dialogs zwischen den Gewalten». Mathias Zopfi (gp, GL) sorgte für Heiterkeit, indem er die Verteidigung der Verfassungsgerichtsbarkeit eines jungen Rechtswissenschafters zitierte, der heute gegen die Motion kämpfe. «Wer hat nun recht: Fässler der Jüngere oder Fässler der Ältere?» Auch Carlo Sommaruga (sp, GE) erklärte, dass er seine Meinung innerhalb eines Jahrzehnts geändert habe. Er sei zum Schluss gekommen, dass das aktuelle System nicht nur sehr gut, sondern mit Blick auf die Vereinigten Staaten auch besser ohne Verfassungsgerichtsbarkeit funktioniere. Schliesslich wies auch Justizministerin Karin Keller-Sutter darauf hin, dass sie dieselbe Diskussion bereits 2012 «mitverfolgen durfte, allerdings in einer anderen Rolle». Sie erinnerte daran, dass die kleine Kammer das bestehende System bisher stets als gut austariert betrachtet habe. Auch der Bundesrat sei der Meinung, dass das stark gewichtete direktdemokratische Element einer Ausweitung der Verfassungsgerichtsbarkeit vorzuziehen sei, die zudem einen fundamentalen Eingriff in das politische System der Schweiz bedeuten würde. Die Kantone hätten zudem bereits heute zahlreiche Möglichkeiten, sich zu wehren. Wie schon 2012 sei der Bundesrat der Meinung, dass ein Nein kein Nein zum Rechtsstaat, sondern ein Ja zur heute gut funktionierenden Gewaltenteilung sei. Mit 29 zu 15 Stimmen (1 Enthaltung) folgte der Ständerat seiner Kommissionsminderheit und der Empfehlung des Bundesrats und lehnte die beiden Motionen ab.

Ein neuer Anlauf zur Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit (Mo. 21.3689 und Mo. 21.3690)
Dossier: Verfassungsgerichtsbarkeit

Im Rahmen der Vorbereitung für die Ukraine Reform Conference in Lugano, die auf Anfang Juli 2022 geplant war, tat sich einiges im EDA. Weil ein physisches Treffen der wichtigsten Vertreter, das im Januar 2022 am Rande des WEF vorgesehen gewesen wäre, aufgrund dessen Verschiebung nicht stattfinden konnte, wurde noch im Januar ersatzweise ein Online-Anlass organisiert, an dem nebst Bundespräsident Ignazio Cassis auch der ukrainische Präsident Volodymyr Zelenskyy teilnahm. Zelenskyy äusserte seine Erwartungen an die Konferenz. Es solle sich um eine Diskussionsplattform handeln, mit deren Hilfe darüber nachgedacht werden solle, wie die Resilienz der Ukraine gestärkt und ihre Transformation beschleunigt werden könnte. Im Zentrum des Anlasses sollten insbesondere die allgemeinen Wirtschaftsbeziehungen der Ukraine, die wirtschaftspolitischen Reformen und das rechtsstaatliche Investitionsumfeld stehen.

Angesichts des mittlerweile gestarteten russischen Aggressionskriegs in der Ukraine wurde die Konferenz im Mai 2022 umbenannt und sollte fortan unter dem Namen «Ukraine Recovery Conference» mit dem Ziel des Wiederaufbaus der Ukraine durchgeführt werden. Anlässlich des verschobenen WEF-Jahrestreffens in Davos Ende Mai 2022 informierten Bundespräsident Cassis, der ukrainische Premierminister Denys Shmyhal und Aussenminister Dmytro Kuleba über den geplanten Ablauf der Konferenz. Rund vierzig Staaten und 20 internationale Organisationen – darunter die OECD und die EBWE – seien bereits an die Konferenz eingeladen worden. Diese werde einen konkreten Wiederaufbau- und Entwicklungsplan zum Ziel haben und Diskussionen über Prioritäten, Methoden und Prinzipien des Wiederaufbaus und dessen Gestaltung in den Bereichen Wirtschaft, Infrastruktur, Umwelt und Soziales umfassen. Das EDA teilte mit, dass Reformen besprochen werden sollten, die den Wiederaufbau begleiten werden und «in der jetzigen Situation implementiert werden können».

Im Juni 2022 beschloss der Bundesrat aufgrund der anhaltenden internationalen Spannungen umfangreiche Sicherheitsmassnahmen während der Durchführung der Konferenz in Lugano. Da die Veranstaltung als «ausserordentliches Ereignis» klassifiziert wurde, beteiligte sich der Bund zu 80 Prozent an den anfallenden Sicherheitskosten, wobei er zudem den Einsatz von bis zu 1'600 Armeeangehörigen zur Unterstützung der Tessiner Kantonspolizei beschloss. Die Armee sollte auch den Luftraum in der Region Lugano überwachen und dessen Nutzung temporär einschränken.
Einige Tage darauf äusserten sich verschiedene Schweizer Politiker in der Zeitung «Blick» sehr kritisch über die anstehende Konferenz. SVP-Präsident Marco Chiesa (svp, TI) sah in der Veranstaltung keinen Sinn, da es sich weder um eine Reformkonferenz, noch einen Friedensgipfel handle. Für Letzteres hätte es die Einladung beider Kriegsparteien bedurft, zudem sei der Krieg noch in vollem Gange und somit sei unklar «was überhaupt aufgebaut werden muss». Auch für Mitte-Fraktionschef Philipp Bregy (mitte, VS) waren Ziel und Zweck der Lugano-Konferenz nicht klar erkennbar, weshalb die Mitte eine Klärung durch Aussenminister Cassis erwartete. SP-Nationalrat Eric Nussbaumer (sp, BL) mahnte, dass die Konferenz «sorgfältig in die laufenden internationalen Bemühungen eingebettet» werden müsse, um zur Beendigung des Krieges beitragen zu können.
Bundespräsident Cassis liess sich von den kritischen Stimmen nicht beirren und betonte an einer Pressekonferenz Ende Juni, dass eine Absage der Konferenz ein negatives Signal vonseiten der internationalen Gemeinschaft darstellen würde. Die Schweiz, die sich mit ihrer langen Tradition der Guten Dienste für Stabilität in Europa einsetze, könne sich nicht zurückziehen. Zumindest die Tessiner Regierung zeigte sich stolz, einen solchen Anlass beherbergen zu dürfen. Norman Gobbi (lega, TI) sah darin eine Chance für Lugano, sich als Stadt mit internationalem Charakter zu profilieren und zugleich zum Frieden in Europa beizutragen. Die Aargauer Zeitung merkte an, dass die Konferenz zeitlich optimal gelegen sei, fänden doch im Vorfeld mit dem EU-Gipfel und der Diskussion über den Kandidatenstatus der Ukraine, dem G7-Gipfel und dem NATO-Gipfel zahlreiche internationale Treffen statt. Dadurch müsse man in Lugano nicht zusätzlich auch noch über anderweitige politische und sicherheitsrelevante Kriegsthemen diskutieren, sondern könne sich auf das angekündigte Programm fokussieren. Auch Simon Pidoux – EDA-Sonderbotschafter für die Ukraine-Reformkonferenz – hob gegenüber Le Temps den Nutzen der Konferenz hervor. Sie biete dem Privatsektor im In- und Ausland eine erste Gelegenheit, direkt mit der ukrainischen Regierung in Kontakt zu treten und deren Bedürfnisse im Rahmen des Wiederaufbaus in Erfahrung zu bringen.

Neuerliche Kritik kam Ende Juni auf, nachdem der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zum Abschluss des G7-Gipfels eine eigene Ukraine-Wiederaufbaukonferenz ankündigten. SVP-Nationalrat und Mitglied der APK-NR Franz Grüter (svp, LU) meinte darin ein Zeichen der fehlenden Wahrnehmung der Lugano-Konferenz zu erkennen. Nationalrat Fabian Molina (sp, ZH) warf dem EDA vor, konzeptionelle Fehler gemacht zu haben, wenn sich die europäischen Partner schon nicht auf ein koordiniertes Vorgehen einigen könnten. Das EDA teilte hingegen mit, dass sich die internationalen Bemühungen angesichts der Komplexität des Wiederaufbaus ergänzen würden. Der politisch-diplomatische Prozess werde in Lugano initiiert, die Konferenz stelle also nur den Beginn des Wiederaufbauprozesses dar.

Kurz vor Beginn der Konferenz unterzeichneten UVEK-Vorsteherin Simonetta Sommaruga und der ukrainische Umweltminister Ruslan Strilets ein bilaterales Klimaabkommen, das zusätzliche Mittel für den Klimaschutz mobilisieren soll.

Die Konferenz wurde am 4. Juli von Bundespräsident Cassis eröffnet, der in seiner Willkommensrede verlangte, dass sich der ursprüngliche Zweck der Konferenz (institutionelle Reformen) und der neue Zweck (zielgerichteter Wiederaufbau) ergänzen müssten. Obwohl Präsident Zelenskyy nur virtuell an der Konferenz teilnehmen konnte, war die Ukraine durch Premierminister Schmyhal prominent vor Ort vertreten. Das EDA teilte mit, dass in den folgenden beiden Tagen Gespräche über den Wiederaufbau- und Entwicklungsplan der Ukraine, die Beiträge der internationalen Partner, die Prinzipien des Wiederaufbaus aber auch separate Arbeitsgespräche in den Bereichen Wirtschaft, Soziales, Digitalisierung, Infrastruktur und Umweltschutz stattfinden würden. Die Konferenz wurde mit der Veröffentlichung der sogenannten «Lugano-Deklaration», die die wichtigsten Ergebnisse der Konferenz vorstellt, abgeschlossen. Das Dokument und die darin formulierten «Lugano-Prinzipien» diene als gemeinsamer Richtwert für die Zukunft und solle den weiteren Wiederaufbauprozess prägen, erklärte Cassis. Die Schlusserklärung verurteilte die russische Aggression, forderte den Rückzug aller russischen Truppen und verpflichtete die in Lugano anwesenden Staaten, die Ukraine kurz- und langfristig beim Wiederaufbau zu unterstützen.
Cassis stellte die sieben Kernprinzipien in seiner Abschlussrede vor: Partnerschaft: der Wiederaufbauprozess wird von der Ukraine gesteuert und mit internationalen Partnern vorangetrieben; Fokus auf Reformen: Wiederaufbau und der Ausbau von Reformen bedingen sich gegenseitig; Transparenz und Rechenschaftspflicht, eine unabhängige Justiz und die Bekämpfung von Korruption; Demokratische Partizipation unter Einbezug lokaler Gemeinschaften; Multi-Stakeholder Engagement: nationale und internationale Akteure werden miteinbezogen; Gleichheit, kein Ausschluss von Minderheiten; Nachhaltigkeit gemäss der Agenda 2030 und dem Abkommen von Paris, der Wiederaufbau und die Reformen beschränken sich nicht nur auf Infrastruktur und Institutionen sondern umfassen auch soziale, wirtschaftliche und ökologische Aspekte.

Die britische Aussenministerin Elizabeth Truss hatte schon zu Beginn der Konferenz angekündigt, dass 2023 eine weitere Konferenz durch das Vereinigte Königreich organisiert werde, Deutschland hatte verlauten lassen selbiges im Jahr 2024 zu tun und EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen hatte die Initiative für eine Wiederaufbau-Plattform vorgestellt, deren Grundstein die Lugano-Prinzipien darstellten.
Das EDA teilte im Anschluss an die Konferenz überdies mit, dass das SECO in Lugano zwei Abkommen mit der Weltbank und der EBWE abgeschlossen habe, die Beiträge von jeweils CHF 10 Mio. für deren Ukraine-Programme vorsähen. Dadurch sollten die nichtmilitärischen Kernfunktionen der Ukraine aufrechterhalten, das wirtschaftliche Reformprogramm an das Wiederaufbauprogramm angepasst und die Wettbewerbsfähigkeit ukrainischer KMUs erhalten werden. Zudem beschlossen das SECO und die DEZA, die Beiträge an die Ukraine bis Ende 2023 auf über CHF 100 Mio. zu verdoppeln und Bundespräsident Cassis kündigte an, CHF 15 Mio. für die digitale Transformation in der Ukraine zu sprechen.

Ukraine Reform Conference in Lugano
Dossier: Schweizer Reaktion auf die russischen Aggressionen in der Ukraine (ab 2014)

Auf Antrag seiner vorberatenden Rechtskommission folgte der Ständerat im Sommer 2022 den Modifikationen des Nationalrats und stimmte in der Gesamtabstimmung der UWG-Revision zur Unterbindung von Preisbindungsklauseln von Online-Buchungsplattformbetreibenden gegenüber Beherbergungsstätten mit 38 zu 7 Stimmen zu. Damit soll das bestehende Verbot von weiten Preisparitätsklauseln nicht nur durch ein Verbot von engen Preisparitätsklauseln ergänzt werden, wie es der Bundesrat vorgeschlagen hatte, sondern auch durch ein Verbot von sogenannten Angebots- und Konditionenparitätsklauseln. Der Ständerat wollte damit Schweizer Beherbergungsbetriebe vor missbräuchlicher Marktmacht von grossen Online-Plattformen schützen. Zudem verwiesen die befürwortenden Stimmen wie beispielsweise Pirmin Bischof (mitte, SO) auf das umliegende Ausland, wo solche «Knebelverträge» ebenfalls untersagt seien. Andrea Caroni (fdp, AR) und Ruedi Noser (fdp, ZH) argumentierten vergeblich dagegen, dass die Online-Plattformen wertvolle Dienstleistungen anböten, man nicht für eine einzelne Branche Ausnahmen machen und der Staat nicht in den freien Markt eingreifen dürfe. Dieser Argumentation schlossen sich Vertreter der FDP und der SVP an, die in der Gesamtabstimmung gegen die Gesetzesanpassung votierten, aber deutlich unterlagen. In der Folge schrieb die kleine Kammer die Motion Bischof (Mo. 16.3902) ab.
Der Ständerat winkte die Gesetzesanpassung in der Schlussabstimmung in derselben Session mit 38 zu 7 Stimmen deutlich durch. Gegen die Änderung sprachen sich vorwiegend Vertreter der FDP-Fraktion aus, die bereits im Vorfeld das Eingreifen des Staates in die Wirtschaftsfreiheit einer einzelnen Branche kritisiert hatten. Der Nationalrat hiess die Vorlage in der Schlussabstimmung gleichentags mit 116 zu 78 Stimmen bei 2 Enthaltungen ebenfalls gut. Dagegen sprachen sich hier Mehrheiten der SVP-, der FDP- und der GLP-Fraktionen aus. Wie die Medien schrieben, habe das Parlament mit dieser «Lex Booking» – mit Verweis auf booking.com, den Platzhirsch unter den Online-Buchungsplattformen – das «Ende der Knebelverträge» beschlossen. Ob mit der Massnahme tiefere Preise für die Konsumentinnen und Konsumenten erzielt werden könnten, sei gemäss der Aargauer Zeitung umstritten. Zufrieden zeigte sich in derselben Zeitung der Unternehmerverband Hotelleriesuisse, weil Beherbergungsbetriebe dank des Gesetzes mehr Freiheiten in der Preisgestaltung zurückbekämen.

Loi fédérale contre la concurrence déloyale (LCD). Modification (MCF 21.079)
Dossier: Verbot von Preisbindungsklauseln in der Hotellerie

Afin d'accélérer et de garantir le processus de remboursement des crédits Covid-19, le député valaisan Philipp Matthias Bregy (centre, VS) préconise la mise en place d'un système incitatif. Concrètement, il propose le remboursement de la totalité des dommages causés par la pandémie du Covid-19 si l'entreprise rembourse son crédit Covid-19 dans les délais.
Le Conseil fédéral s'est opposé à la motion. Il estime d'abord que le remboursement des dommages causés par la pandémie du Covid-19 créerait une distorsion de concurrence. Ensuite, il précise que ces dommages sont difficilement mesurables, et surtout qu'une grande partie a déjà été couverte par des aides sectorielles, par les indemnités de chômage partiel et par les allocations pour perte de gain (APG).
Le député a retiré sa motion.

Mise en place d'un système incitatif de remboursement des crédits Covid-19 (Mo.20.3857)
Dossier: Covid-19-Kredit

Im März 2022 forderten Ständerat Sommaruga (sp, GE) und die Fraktion der SP (Mo. 22.3214) im Nationalrat in fast identischen Motionen die Schaffung einer Taskforce für die Sperrung von russischen und belorussischen Oligarchengeldern. Die Taskforce solle die Guthaben von reichen russischen und belorussischen Staatsangehörigen, die auf der Liste der im Kontext des Ukrainekriegs sanktionierten Personen stehen, finden, sperren und gegebenenfalls konfiszieren. Sommaruga und die SP-Fraktion nannten eine ähnliche Taskforce aus den Vereinigten Staaten als Vorbild und kritisierten das SECO dafür, dass es seit Kriegsbeginn nur eine Deklarationspflicht für solche Gelder eingeführt habe. Der Bundesrat gestand in seiner Stellungnahme, dass die Umsetzung der Sanktionen die verschiedenen Departemente vor neue Herausforderungen stelle. Die Prozesse zwischen Bundesbehörden und privaten Unternehmen funktionierten jedoch gut und seien effizient, zumindest deuteten die zahlreichen Meldungen und die hohe Summe an eingefrorenen Vermögenswerten darauf hin. Die Schaffung einer Taskforce erachtete der Bundesrat zu jenem Zeitpunkt daher als nicht notwendig. Die Schweiz habe zudem auf Einladung der Europäischen Kommission schon an mehreren Treffen der EU-Taskforce «Freeze and Seize» teilgenommen und werde sich weiterhin darum bemühen, die Wirksamkeit der Sanktionsdurchsetzung in Europa zu stärken. Aus diesen Gründen beantragte der Bundesrat die Ablehnung beider Motionen.

In der Sommersession 2022 diskutierte der Ständerat über die Motion Sommaruga und beschloss auf einen Ordnungsantrag von Benedikt Würth (fdp, SG), den Vorstoss zur Vorprüfung der zuständigen Kommission zuzuweisen. Würth erklärte, dass es unabhängig vom Ukraine-Krieg einige Entwicklungen im Bereich der «Financial Action Task Force» gebe, beispielsweise zur Identifizierung der wirtschaftlich berechtigten Personen bei juristischen Personen. Er verlangte daher, dass der Ständerat einen Bericht des EFD zur Feststellung der wirtschaftlich Berechtigten von juristischen Personen an den Bundesrat im dritten Quartal 2022 abwarten solle, um dessen Erkenntnisse in die Beurteilung einfliessen zu lassen. Motionär Sommaruga begrüsste den Ordnungsantrag, da das heikle Thema noch einige vertiefte Abklärungen nötig mache. Sommaruga forderte, dass sich die Rechtskommission mit der Motion befassen solle, da sie sich sowieso im Rahmen von Anhörungen mit der Thematik beschäftige. Tatsächlich wurde das Geschäft in der Folge der RK-SR zugewiesen.

Ebenfalls in der Sommersession 2022 befasst sich der Nationalrat im Rahmen einer ausserordentlichen Session mit der Motion der SP-Fraktion. Baptiste Hurni (sp, NE) kritisierte den Bundesrat scharf dafür, dass die Schweiz bislang nur CHF 6 Mrd. von insgesamt über CHF 200 Mrd. blockiert habe, die gemäss Schätzungen der Schweizerischer Bankiervereinigung in der Schweiz liegen würden. Er störte sich auch daran, dass der Bundesrat zwar von der multilateralen Taskforce «Russian Elites, Proxies, and Oligarchs» der G7-Staaten Kenntnis genommen habe, aber noch keine Entscheidung betreffend eine Teilnahme gefällt habe. Auch seine Parteikollegin Mattea Meyer (sp, ZH) plädierte dafür, mehr Gelder zu blockieren und den Krieg in der Ukraine «nicht mehr aus der Schweiz heraus» mitzufinanzieren. Die Meldepflicht des SECO sei hierfür nicht ausreichend, denn es sei zu einfach, die jetzigen Kontrollen zu umgehen. Die Grünliberalen kritisierten in der Person von Jürg Grossen (glp, BE) die mangelhafte Umsetzung der beschlossenen Sanktionen. Man anerkenne zwar, dass die Sperrung der Vermögenswerte nicht einfach sei – beispielsweise weil die Betroffenen mehrere Staatsbürgerschaften hätten –, aber man erwarte die Schaffung eines sauberen rechtstaatlichen Verfahrens, wie dies auch beim Potentatengeldergesetz geschehen sei. Grossen meinte, dass eine Taskforce diesbezüglich eine wichtige Aufnahme übernehmen könne. Auch die Fraktion der Grünen unterstützte das Motionsanliegen. Die Mitte sei zwar dafür, dass Bewegung in die Sanktionsumsetzung komme, lehne das Motionsanliegen jedoch ab, erklärte Philipp Bregy (mitte, VS). Die Beschlagnahmung von Vermögen sei rechtsstaatlich nicht vertretbar, nur eine Sperrung wäre vorstellbar. Da sich die Motion inhatlich nicht splitten lasse, lehne die Mitte diese deswegen ab. Bregy kündigte aber an, dass man das Thema einer Taskforce in der APK-NR wieder aufnehmen werde, falls der Bundesrat den Prozess nicht selber vorantreibe. Beat Walti (fdp, ZH) erklärte hingegen, dass die FDP mit der Arbeit der bestehenden Koordinationsgruppe Sanktionspolitik zufrieden sei und auch die «Bestrebungen bezüglich der Mitwirkung in der international ausgerufenen Taskforce» für erfolgversprechend befände. Gregor Rutz (svp, ZH) lehnte die Motion schliesslich im Namen der SVP-Fraktion gänzlich ab und warf den Unterstützerinnen und Unterstützern vor, sich gegen grundlegende Prinzipien des Rechtsstaats zu wenden. Bundesrat Parmelin erläuterte, dass die Umsetzung der Sanktionen durch die betroffenen Bundesstellen mittlerweile effizient verlaufe und auch Vermögenswerte eingefroren würden. Eine neue Taskforce erbringe keinen Mehrwert, da die Behörden im Rahmen der geltenden Rechtsgrundlagen bereits nach Vermögen suchten und diese blockieren könnten. Eine Einziehung von Vermögenswerten wäre hingegen rechtlich nicht möglich und würde eine Gesetzesrevision nötig machen, erläuterte der Bundesrat. Die grosse Kammer lehnte den Vorstoss der SP-Fraktion mit 103 zu 78 Stimmen (bei 3 Enthaltungen) gegen den Willen der SP, der Grünliberalen und der Grünen ab.

Schaffung einer Taskforce für die Sperrung von russischen und belorussischen Oligarchengeldern (Mo. 22.3236 & Mo. 22.3883)

Während die Motion Beat Flach (glp, ZH) bezüglich gesetzlicher Anpassungen am Stockwerkeigentumsrecht in der Herbstsession 2019 noch vom Nationalrat angenommen worden war, lehnte sie der Ständerat in der Sommersession 2022 stillschweigend ab. Die kleine Kammer folgte damit dem Antrag ihrer RK-SR. Diese wiederum begründete ihren Antrag damit, dass das Parlament 2019 eine beinahe deckungsgleiche Motion von Andrea Caroni (fdp, AR; Mo. 19.3410) an den Bundesrat überwiesen hatte. Der Bundesrat erarbeite derzeit einen Vorentwurf und eine Vernehmlassung sei für die zweite Hälfte des Jahres 2023 geplant, so die Kommission. Folglich sahen die RK-SR und der Ständerat – trotz Anerkennen des Handlungsbedarfs beim Stockwerkeigentumsrecht – keinen inhaltlichen Mehrwert in der Motion und lehnten diese ab.

Gesetzliche Anpassungen am Stockwerkeigentumsrecht (Mo. 19.3347)
Dossier: Stockwerkeigentum

In der Sommersession 2022 befasste sich der Ständerat als Erstrat mit der Revision des Sexualstrafrechts. Unbestritten war, dass die Reform notwendig sei, weil die geltenden Normen nicht mehr zeitgemäss seien. Sowohl im Rat als auch in den Medien war vielerseits von einem «Quantensprung» die Rede. Der Rat trat denn auch ohne Gegenantrag auf das Geschäft ein. Auch Bundesrätin Karin Keller-Sutter bezeichnete die Abschaffung des Nötigungselements beim Vergewaltigungstatbestand als «Meilenstein». Gleichzeitig warnte sie aber davor, zu hohe Erwartungen in diese Revision zu setzen: Sie sei zwar «ein wichtiger Schritt», werde aber «Beweisschwierigkeiten bei Sexualdelikten als typische Vieraugendelikte nicht beseitigen».

Kernpunkt der Revision war die Neufassung der Tatbestände der sexuellen Nötigung und der Vergewaltigung (Art. 189 und 190 StGB). So war denn auch die Debatte im Ständerat geprägt von der Frage, wann eine Vergewaltigung eine Vergewaltigung ist bzw. ob eine sexuelle Handlung strafbar sein soll, wenn sie «gegen den Willen» oder aber «ohne Einwilligung» der betroffenen Person vorgenommen wird. Während sich der Bundesrat und die Mehrheit der RK-SR für die Widerspruchslösung aussprachen («Nein heisst Nein»), wollte eine Minderheit Mazzone (gp, GE) das Zustimmungsprinzip («Nur Ja heisst Ja») im Gesetz verankern. Einig war man sich weitgehend darin, dass sich die beiden Varianten in Bezug auf die konkreten Konsequenzen für die Strafrechtspraxis im Endeffekt kaum unterscheiden. Ob die Staatsanwaltschaft das Nein oder das «Nicht-Ja» beweisen müsse, letztlich werde in beiden Fällen «das ablehnende Signal» gesucht, erklärte Andrea Caroni (fdp, AR), der der Kommissionsmehrheit angehörte. Auch wenn eine Person im Laufe eines sexuellen Kontakts, dem sie anfänglich zugestimmt hat, ihre Meinung ändere, müsse sich dieser Meinungsumschwung auf irgendeine Weise manifestieren, also durch ein Nein oder konkludentes ablehnendes Verhalten – etwa Kopfschütteln, eine abwehrende Geste oder Weinen – zum Ausdruck gebracht werden, ergänzte Bundesrätin Keller-Sutter. Je nach Situation mutiere die Zustimmungslösung demnach zur Widerspruchslösung, weshalb Letztere praxisnäher und transparenter sei, so die Justizministerin. Minderheitsvertreterin Mazzone argumentierte, von der Widerspruchslösung würden jene Fälle nicht erfasst, in denen das Opfer in einen Schockzustand gerate und zu jeglicher Äusserung von Widerstand unfähig sei; hier könne nur auf die fehlende Einwilligung abgestellt werden. Bundesrätin Keller-Sutter versicherte jedoch, die Fälle von sogenanntem Freezing würden vom Mehrheitsvorschlag ebenfalls abgedeckt. Wenn das Opfer widerstandsunfähig sei, sei es entweder durch Einschüchterung oder Drohung in diesen Zustand gebracht worden – dann liege eine Nötigung vor – oder es sei zwar selbst in diesen Zustand geraten, der Täter oder die Täterin nutze diesen Umstand aber aus, womit eine Schändung nach Art. 191 StGB vorliege.
Einig waren sich beide Lager wiederum darin, dass sich die beiden Varianten sehr wohl in der Symbolik unterschieden, die die Strafnorm an die Gesellschaft aussende. Lisa Mazzone fragte rhetorisch, ob es denn nicht in der Verantwortung der sexuell handelnden Person liege, sich im Zweifelsfall über den Willen des passiven Gegenübers zu erkundigen; sonst gehe die handelnde Person eben das Risiko ein, eine Straftat zu begehen. Gemäss Eva Herzog (sp, BS) bringe das Prinzip «Nur Ja heisst Ja» zum Ausdruck, dass sich bei Sexualkontakten zwei Menschen auf Augenhöhe begegnen. Die Grundeinstellung, dass Frauen oft Nein sagten, aber schon Ja meinten, sei immer noch verbreitet und es gehe «um eine Veränderung der Bilder in den Köpfen». Die Kommissionsmehrheit sah es indes nicht als Aufgabe des Strafrechts, die Gesellschaft zu erziehen. Deren Mitglied Beat Rieder (mitte, VS) befürchtete gar eine «falsche Kriminalisierung der Sexualität», indem sexuelle Kontakte grundsätzlich als strafbar angesehen würden, ausser das Gegenüber habe zugestimmt. Die Widerspruchslösung gehe hingegen davon aus, dass sexuelle Kontakte «in aller Regel im gegenseitigen Einverständnis» erfolgten und verkörpere damit eine «positive Sichtweise auf die Sexualität». Mit 25 zu 18 Stimmen sprach sich der Ständerat für die Variante der Kommissionsmehrheit und damit für «Nein heisst Nein» aus. Ein Einzelantrag Gmür-Schönenberger (mitte, LU), der die Widerspruchslösung anders formulieren wollte, um das Freezing deutlicher zu erfassen, scheiterte mit 23 zu 10 Stimmen bei 10 Enthaltungen.

In einem zweiten Schritt befasste sich die Kantonskammer mit der Abschaffung des Nötigungselements in den beiden Tatbeständen von Art. 189 und 190 StGB. Die Kommission schlug dazu ein Kaskadenprinzip vor: Der Grundtatbestand im jeweiligen Absatz 1 deckt demnach sexuelle Handlungen gegen den Willen einer Person ab. Wird das Opfer genötigt, kommt dies gemäss Absatz 2 erschwerend hinzu. Absatz 3 regelt die zusätzliche Erschwernis der Grausamkeit sowie des Einsatzes einer gefährlichen Waffe oder eines gefährlichen Gegenstandes. Werner Salzmann (svp, BE) brachte indessen mit einem Einzelantrag den Vorschlag aus dem Vernehmlassungsentwurf wieder aufs Tapet. Dieser hatte für sexuelle Übergriffe ohne Nötigung einen eigenen Tatbestand vorgesehen, während das Nötigungselement bei den Tatbeständen der sexuellen Nötigung und der Vergewaltigung erhalten bleiben sollte. Salzmann gab zu bedenken, dass es ein falsches Signal an die Gesellschaft aussenden würde, wenn unter der Bezeichnung «Vergewaltigung» künftig noch geringere Strafen ausgesprochen würden – «[w]ir haben jetzt schon lächerlich milde Strafen für Vergewaltigungen» –, weil auch Verletzungen der sexuellen Integrität ohne Nötigung hierunter subsumiert würden. Kommissionssprecher Sommaruga (sp, GE) und Bundesrätin Keller-Sutter hielten dem entgegen, dass dieses Konzept in der Vernehmlassung auf breite Kritik gestossen war, weil damit «eine Art unechte oder minderwertige Vergewaltigung» geschaffen würde, wie es die Justizministerin ausdrückte. Mit 39 zu 4 Stimmen befürwortete der Ständerat die Kaskadenlösung klar.
Weiter diskutierte die Ständekammer die Höhe der Strafen für die neu gefassten Tatbestände der sexuellen Nötigung und der Vergewaltigung. Mit mehreren Einzelanträgen wollte Werner Salzmann die Mindeststrafen für verschiedene Tatbestände erhöhen, blieb damit aber chancenlos. Die grosse Mehrheit der kleinen Kammer wollte den Ermessensspielraum der Gerichte nicht zu stark einschränken, weil stets auch der denkbar mildeste Fall adäquat bestraft werden können müsse. Eine Minderheit Engler (mitte, GR) beantragte gegenüber der Kommissionsmehrheit eine höhere Mindeststrafe für Vergewaltigung mit Nötigung (neu Art. 190 Abs. 2 StGB). Die Kommissionsmehrheit hatte hier mindestens ein Jahr Freiheitsstrafe vorgesehen. Die Minderheit Engler forderte mindestens zwei Jahre Freiheitsstrafe, damit hier keine bedingten Strafen ausgesprochen werden können. Diesen Minderheitsantrag hiess der Ständerat mit 23 zu 20 Stimmen gut.

Am zweiten Tag der Behandlung stimmte die Kantonskammer mit 37 zu 6 Stimmen dem Antrag ihrer Kommissionsmehrheit zu, mit Art. 197a einen neuen Tatbestand für Rachepornografie im StGB zu verankern. Dieser stellt das unbefugte Weiterleiten von nicht öffentlichen sexuellen Inhalten unter Strafe. Der Bundesrat hatte vergeblich für dessen Ablehnung plädiert. Er hätte zuerst den genauen Handlungsbedarf abklären wollen, was er im Bericht zum Postulat 21.3969 zu tun im Begriff sei, wie Bundesrätin Keller-Sutter erläuterte.
Mit einem ebenfalls neuen Art. 197b wollte Isabelle Chassot (mitte, FR) zudem das Grooming, also das Anbahnen sexueller Kontakte mit Minderjährigen, unter Strafe stellen. Die Kommission hatte nach der Vernehmlassung in ihrem Entwurf auf einen solchen Artikel verzichtet, weil die versuchte sexuelle Handlung mit einem Kind oder die versuchte Herstellung von Kinderpornografie bereits strafbar seien, wie Bundesrätin Keller-Sutter anmerkte. Jemanden zu bestrafen, der noch nicht einmal einen Versuch unternommen habe, wäre ein «Sündenfall im Strafrecht», urteilte Kommissionsmitglied Daniel Jositsch (sp, ZH). Die Ständekammer lehnte den Antrag Chassot mit 21 zu 18 Stimmen bei 4 Enthaltungen schliesslich ab.

In der Gesamtabstimmung nahm der Ständerat die Vorlage einstimmig an. Angesichts der lauten gesellschaftlichen Forderungen nach einer «Nur-Ja-heisst-Ja»-Regelung im Sexualstrafrecht wurde der Entscheid des Ständerats in den Medien ausführlich kommentiert und auch kritisiert. Das enttäuschte Lager setzte die Hoffnung nun in den Nationalrat.

Harmonisierung der Strafrahmen (BRG 18.043)
Dossier: Revision des Strafgesetzbuches (2008– )
Dossier: Harmonisierung der Strafrahmen (Besonderer Teil des Strafgesetzbuches)

Das Postulat Caroni (fdp, AR) betreffend die Frage eines besseren Zugangs zu geschlossenen Märkten des Bundes schrieb der Ständerat im Juni 2022 stillschweigend ab. Der Bundesrat hatte im Dezember 2021 einen Bericht zu insgesamt 16 geschlossenen Märkten und möglichen Verbesserungsmöglichkeiten in deren Zugangsverfahren veröffentlicht. Darin war er zum Ergebnis gelangt, dass keine legislativen Anpassungen vorgenommen werden müssten.

Améliorer l'accès aux marchés fermés de la Confédération (Po. 19.3701)
Dossier: Zugang zu den geschlossenen Märkten des Bundes

Nach dem Ständerat nahm auch der Nationalrat in der Sommersession 2022 die Motion von Ständerat Thomas Minder (parteilos, SH) an, mit der Namensänderungen für Personen mit Landesverweis verunmöglicht werden sollen. Mit 107 zu 59 Stimmen folgte er der Empfehlung des Bundesrates und einer Mehrheit der RK-NR. Ähnlich wie der Motionär wies die Rechtskommission darauf hin, dass mit einem Verbot der Namensänderung für des Landes verwiesene Personen verhindert werden könne, dass diese mit neu angenommener Identität eine Gefährdung darstellten. Zudem sei laut Kommissionssprecher Philipp Matthias Bregy (mitte, VS) auch klar, dass bei einem rechtskräftigen Landesverweis der Schutz der Bevölkerung über den individuellen Interessen eines Verurteilten stehe. Minderheitssprecher Christian Dandrès (sp, GE) warf Minder hingegen Effekthascherei aufgrund der medialen Berichterstattung rund um den Dschihadisten Osama M. vor und betonte, dass die Namensänderung von ausgewiesenen Personen in speziellen Fällen, beispielsweise zur Resozialisierung oder Integration nach abgelaufenem Landesverweis, gerechtfertigt sein könne. Bundesrätin Karin Keller-Sutter verneinte jedoch im Namen des Bundesrates, dass es bei Personen, die das Land verlassen müssen, um Integration gehen könne, und unterstützte das Anliegen der Motion.

Keine Namensänderung für Personen mit Landesverweis (Mo. 21.4183)

Mit 7 zu 5 Stimmen (1 Enthaltung) beantragte die SPK-SR die Motion von Werner Salzmann (svp, BE) mit der Forderung, dass das Parlament bei der Anordnung einer ausserordentlichen Lage gemäss EpG einbezogen werden müsse, abzulehnen. Sie verwies in ihrem Bericht darauf, dass bereits eine Revision des Epidemiengesetzes in Angriff genommen worden sei, in der die Frage nach der Rolle des Parlamentes berücksichtigt werde. Darüber hinaus würden die Mitwirkungsrechte der Bundesversammlung im Falle von Krisen auch im Rahmen zweier parlamentarischer Initiativen (Pa.Iv. 20.437 & Pa.Iv. 20.438), denen zuvor Folge gegeben worden war, neu geregelt.
In der Ratsdebatte in der Sommersession 2022, die nötig war, weil eine starke Kommissionsminderheit für Annahme der Motion plädierte, wurde gleichzeitig die ähnliche Motion von Jakob Stark (svp, TG, Mo. 21.3033) für einen besseren Einbezug des Parlaments bei der Bekämpfung von Pandemien behandelt. Für die SPK-SR erörterte Andrea Caroni (fdp, AR) ein formelles und ein inhaltliches Argument, die gegen die Motionen sprächen: Es gehe formell bei beiden Motionen nicht um die Revision des EpG, sondern um die Rolle der Bundesversammlung in Krisen – dies sei aber bereits Gegenstand einer laufenden Gesetzesrevision, womit die Vorstösse eigentlich bereits erfüllt seien. Inhaltlich würde die Motion Salzmann die parlamentarische Genehmigung der Ausrufung der ausserordentlichen Lage durch den Bundesrat fordern. Der Nationalrat habe aber Vorstösse und Anträge zu solchen «Genehmigungspflichten» bereits in grosser Zahl im Rahmen der Diskussionen um die Covid-19-Pandemie abgelehnt. Das Parlament könne nicht so rasch handeln wie die Exekutive, wäre deshalb stets zu spät und könne entsprechend kaum präventiv entscheiden. In der auf den parlamentarischen Initiativen beruhenden Revision des Parlamentsrechts werde deshalb auf eine Beschleunigung der Behandlung von Motionen gepocht. «Fazit:», so Caroni, «Die Reformen sind unterwegs», weshalb die Motionen unnötig seien.
Werner Salzmann verteidigte seinen Vorstoss damit, dass sich im Parlament ein Gefühl der Machtlosigkeit eingestellt habe, nachdem der Bundesrat die ausserordentliche Lage gemäss Epidemiengesetz ausgerufen habe. Natürlich müsse der Bundesrat rasch handeln können und er habe laut dem Epidemiengesetz auch das Recht dazu, aber auch eine nachträgliche Genehmigungspflicht hätte letztlich die Legitimität des bundesrätlichen Entscheides erhöht.
Daniel Fässler (mitte, AI) unterstützte die Minderheitenposition von Salzmann. Die Pandemie habe gezeigt, wie weitreichend die Folgen sein könnten, wenn der Bundesrat die ausserordentliche Lage ausrufe. Dies sei vom Epidemiengesetz zwar so gewollt, es sei aber zu klären, ob dies auch weiterhin so sein solle oder ob es nicht besser wäre, auch das Parlament – wenn nötig – mit einer nachträglichen Genehmigung mit in die Verantwortung zu nehmen. Es sei wahrscheinlich, dass die laufenden Revisionen diese Klärung vornehmen würden, die Ablehnung der Motion Salzmann wäre aber ein falsches Zeichen an den Bundesrat. Zudem müsse die Frage des Einbezugs des Parlaments in der Tat auch ganz spezifisch im Epidemiengesetz geregelt werden. Heidi Z'graggen (mitte, UR) urteilte, dass das aktuelle Epidemiengesetz dem Bundesrat «zu viel Machtfülle» verleihe. Diese sei im internationalen Vergleich sogar «einzigartig» gross: Eine Studie zeige, dass die Schweiz gemäss eines «Machtkonzentrationsindex» von 34 Ländern an neunter Stelle liege – hinter acht osteuropäischen Staaten. Freilich habe der bundesrätliche Machtzuwachs auf gesetzlichen Grundlagen beruht und der Bundesrat habe in der Pandemie auch gute Arbeit geleistet, trotzdem brauche gerade ein solcher situativer Machtzuwachs Gegengewichte in der Legislative. Nur wenn das Parlament eingebunden würde, schaffe dies «zuhanden der Bevölkerung und der Kantone die dringend notwendige Öffentlichkeit und Legitimation», was mit der Annahme der Motion Salzmann bekräftigt werden müsse.
Gesundheitsminister Alain Berset erinnerte die kleine Kammer am Schluss der Debatte in einem ziemlich ausführlichen Votum daran, dass es für den Bundesrat nicht einfach oder gar angenehm gewesen sei, die Verantwortung zu übernehmen, als das Parlament zu Beginn der Pandemie seine Arbeit eingestellt habe. Der Bundesrat habe sich aber sogar in dieser Situation bemüht, mit dem Parlament via Kommissionen in Kontakt zu bleiben. Hingegen hätten jene Leute, die den Bundesrat ob der zu grossen Machtfülle kritisiert hätten, keine Verantwortung übernommen, als die ausserordentliche Lage nicht mehr gegolten habe. Er halte zudem im Epidemiengesetz nicht den Artikel 7 zur ausserordentlichen Lage für zentral, auf den die Motion Salzmanns ziele, sondern den Artikel 6 zur besonderen Lage, da diese wesentlich häufiger sei, und bei der die Verantwortung des Parlaments ebenfalls geregelt werden müsse. Schliesslich sei bei der Schaffung des Epidemiengesetzes im Jahr 2012 nicht über die ausserordentliche Lage, sondern über Impfungen diskutiert worden. Die Bedeutung bestimmter Gesetzesbestimmungen zeige sich folglich erst, wenn sie in der Realität angewendet werden müssten. Es brauche aber, darin gehe der Bundesrat mit dem Parlament einig, in Anbetracht der Erfahrungen der letzten Monate Revisionen. Diese seien mit einem neuen Epidemiengesetz auf gutem Weg. Die Motionen seien inhaltlich zwar wichtig und ihre Anliegen müssten einfliessen, dafür brauche es aber eben keinen weiteren Gesetzesauftrag an den Bundesrat.
Dies sah auch die Mehrheit des Ständerats so: Mit 26 zu 18 Stimmen (1 Enthaltung) wurde die Motion Salzmann abgelehnt. Unterstützung erhielt der Vorstoss vor allem aus den Fraktionen der SVP und der Mitte.

Parlament bei der Anordnung einer ausserordentlichen Lage gemäss EpG mit einbeziehen (Mo. 21.3034)
Dossier: Parlament in Krisensituationen

Mit 7 zu 2 Stimmen (3 Enthaltungen) beantragte die SPK-SR im Mai 2022, die Motion von Jakob Stark (svp, TG) abzulehnen, die einen besseren Einbezug des Parlaments bei der Bekämpfung zukünftiger Pandemien forderte. Sie verwies in ihrem Bericht darauf, dass die Mitwirkungsrechte der Bundesversammlung im Falle von Krisen auch im Rahmen zweier parlamentarischer Initiativen (Pa.Iv. 20.437 & Pa.Iv. 20.438), denen zuvor Folge gegeben worden war, neu geregelt würden. Das Anliegen Starks müsse im Rahmen jener Revision diskutiert werden. Allerdings habe der Nationalrat ähnliche Vorstösse (z.B. Pa.Iv. 20.452) bereits als «nicht krisentauglich» abgelehnt – dies sei ein weiterer Grund für die Empfehlung, die Motion abzulehnen, so der Kommissionsbericht.
In der Ratsdebatte in der Sommersession 2022, die nötig war, weil die Kommissionsminderheit für Annahme der Motion plädierte, wurde gleichzeitig die ähnliche Motion von Werner Salzmann (svp, BE; Mo. 21.3034) behandelt, die den besseren Einbezug des Parlaments bei der Anordnung einer ausserordentlichen Lage forderte. Für die Mehrheit der SPK-SR erörterte Andrea Caroni (fdp, AR) ein formelles und ein inhaltliches Argument, die gegen die Motionen sprächen. Es gehe formell bei beiden Motionen nicht um die Revision des Epidemiengesetzes (EpG), sondern um die Rolle der Bundesversammlung in Krisen – dies sei aber bereits Gegenstand einer laufenden Gesetzesrevision, womit die Vorstösse eigentlich bereits erfüllt seien. Auch das EpG werde momentan revidiert. Inhaltlich würde die Motion Stark die parlamentarische Genehmigung von Notverordnungen des Bundesrats fordern. Der Nationalrat habe Vorstösse und Anträge zu solchen «Genehmigungspflichten» aber bereits in grosser Zahl abgelehnt, weil das Parlament stets zu spät wäre und nicht präventiv entscheiden könne. In der auf den parlamentarischen Initiativen beruhenden Revision des Parlamentsrechts werde deshalb eher auf eine Beschleunigung der Behandlung von Motionen gepocht. «Fazit», so Caroni, «[d]ie Reformen sind unterwegs», weshalb die Motionen unnötig seien. Jakob Stark verteidigte sein Anliegen damit, dass die «unzureichende rechtliche Einbindung des Parlaments» während der Pandemie «in staatspolitischer Hinsicht einen schwerwiegenden Mangel» dargestellt habe. Es habe weder eine parlamentarische noch eine öffentliche Diskussion über die Beschlüsse des Bundesrats stattgefunden. Er habe mit Genugtuung zur Kenntnis genommen, dass die Frage des Einbezugs des Parlaments in Krisensituationen in die aktuellen Revisionen einfliesse. Damit aber wirklich eingehend diskutiert und sichergestellt werde, dass das Parlament auch in Krisen das letzte Wort habe und nicht «zum Vernehmlassungs- und Konsultationspartner des Bundesrates degradiert» werde, wolle er an seiner Motion festhalten.
Gesundheitsminister Alain Berset erinnerte die kleine Kammer am Schluss der Debatte in einem ziemlich ausführlichen Votum daran, dass es für den Bundesrat nicht einfach oder gar angenehm gewesen sei, die Verantwortung zu übernehmen, als das Parlament zu Beginn der Covid-19-Pandemie auf eigenen Wunsch hin seine Arbeit eingestellt habe. Der Bundesrat habe sich aber sogar in dieser Situation bemüht, mit dem Parlament via Kommissionen in Kontakt zu bleiben. Berset erinnerte daran, dass jene Leute, die den Bundesrat ob der zu grossen Machtfülle kritisiert hätten, keine Verantwortung übernommen hätten, als die ausserordentliche Lage dann nicht mehr galt. Es brauche aber, darin gehe der Bundesrat mit dem Parlament einig, in Anbetracht der Erfahrungen der letzten Monate Revisionen. Diese seien mit dem geplanten neuen Epidemiengesetz auf gutem Weg. Die Motionen brauche es dazu aber nicht. Mit 35 zu 7 Stimmen (3 Enthaltungen) lehnte der Ständerat die Motion von Jakob Stark ab. Einzig die Parteikollegen Starks unterstützten dessen Vorstoss. Auch die Motion Salzmann wurde abgelehnt.

Besserer Einbezug des Parlaments bei der Bekämpfung zukünftiger Pandemien (Mo. 21.3033)
Dossier: Parlament in Krisensituationen

In der Sondersession vom Mai 2022 behandelte der Nationalrat die Änderung der Zivilprozessordnung zur Verbesserung der Praxistauglichkeit und der Rechtsdurchsetzung als Zweitrat. Wie Kommissionssprecher Philipp Matthias Bregy (mitte, VS) berichtete, hatte sich die RK-NR in der Vorberatung mit 139 Anträgen zu beschäftigen. Wie schon in der Ständekammer verlief die Ratsdebatte angesichts des Umfangs der Vorlage wenig kontrovers, da es sich um viele technische Detailfragen handelte. Nach dem unbestrittenen Eintreten folgte auch die grosse Kammer in den allermeisten Punkten ohne grosse Diskussion ihrer Kommissionsmehrheit. Diese habe bei den vorgeschlagenen Anpassungen vor allem darauf geachtet, ein «laienfreundliches Gesetz» zu gestalten, so Berichterstatter Bregy.
Ausführlich diskutiert wurde – wie schon im Erstrat – die Sprachenfrage: Nachdem sich der Ständerat dagegen ausgesprochen hatte, dass die Kantone in Zivilverfahren neben ihren Amtssprachen auch andere Landessprachen und Englisch als Verfahrenssprache zulassen dürfen, wenn beide Parteien damit einverstanden sind, präsentierte die nationalrätliche Kommissionsmehrheit einen Kompromissvorschlag. Gegenüber dem bundesrätlichen Vorschlag sah sie zwei Einschränkungen vor: Erstens soll ein Verzicht auf die Amtssprache nicht vor Verfahrensbeginn erfolgen können – dies um zu verhindern, dass Unternehmen etwa in ihren AGB der Gegenpartei schweizweit ihre bevorzugte Sprache aufzwingen können – und zweitens soll ein Verfahren in Englisch nur bei handelsrechtlichen Streitigkeiten möglich sein. Zwei links-grüne Minderheiten wollten hingegen dem Ständerat folgen und auf die Möglichkeit zu anderen Sprachen – bzw. wenigstens auf die anderen Landessprachen – verzichten. Sie sorgten sich um den Stand der Minderheitensprachen, wenn auch in der Romandie und im Tessin auf Deutsch prozessiert werden könnte, und um die Qualität der Rechtsprechung, wenn der ganze Justizapparat plötzlich in mehreren Sprachen funktionieren müsste. Ein Verzicht auf die Möglichkeit zu Verfahren in englischer Sprache wäre aus Sicht von Bundesrätin Karin Keller-Sutter «sehr bedauerlich», weil dies eine zentrale Voraussetzung für die Schaffung internationaler Handelsgerichte sei und damit die Bestrebungen danach als gescheitert anzusehen wären. Gegen den Widerstand von Links-Grün folgte der Nationalrat in dieser Frage deutlich seiner Kommissionsmehrheit.
Ebenfalls erfolglos blieben sowohl das links-grüne Lager als auch die SVP-Fraktion mit verschiedenen Minderheitsanträgen für eine weitere Senkung der Prozesskosten. Sie wollten damit den Zugang zum Gericht erleichtern, da mit den aktuellen Kostenhürden «Prozessieren für den Mittelstand praktisch unerschwinglich» sei, wie es Sibel Arslan (basta, BS) formulierte. Da sie eine andere Vorstellung davon hatten, wie dies zu bewerkstelligen sei, unterstützten sich die beiden Lager jedoch nicht gegenseitig. Die obsiegende Mehrheit argumentierte, dass es – über die vom Bundesrat vorgeschlagenen Anpassungen hinaus – die Aufgabe der Kantone sei, die Tarife zu senken.
Für eine grössere Debatte sorgte auch das Mitwirkungsverweigerungsrecht für Unternehmensjuristinnen und -juristen. Damit sollen Schweizer Unternehmen im Ausland davor geschützt werden, mehr offenlegen zu müssen als die Konkurrenz aus Staaten, die einen solchen Berufsgeheimnisschutz für Unternehmensjuristinnen und -juristen kennen. Der Ständerat hatte hier gegenüber dem bundesrätlichen Vorschlag Einschränkungen vorgenommen, «die der Bundesrat nicht zwingend unterstützen möchte», wie Karin Keller-Sutter erklärte. Am liebsten hätte der Bundesrat an seiner eigenen Version festgehalten, die «das Ergebnis einer langen Diskussion und eines Reifeprozesses» sei und der parlamentarischen Initiative Markwalder (fdp, BE; Pa.Iv. 15.409) entspreche, so die Bundesrätin. Eine entsprechende Minderheit Markwalder blieb aber chancenlos. Die Mehrheit der RK-NR präsentierte indes eine Weiterentwicklung der ständerätlichen Lösung, die derjenigen des Bundesrates laut der Justizministerin inhaltlich «sehr nahe» stehe, weshalb die Regierung nach dem Motto «Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach» diesen Antrag unterstützte. Dieser wurde von der grossen Kammer sodann auch angenommen. Dagegen sprachen sich die SP- und die Grüne Fraktion aus, die nur ein weniger weitgehendes Mitwirkungsverweigerungsrecht akzeptiert hätten.
Dem Beschluss des Ständerates, wonach im Zivilverfahren elektronische Instrumente, wie zum Beispiel Videokonferenzen, eingesetzt werden können, stimmte im Grundsatz auch die Volkskammer zu. Sie präzisierte allerdings, dass dazu in jedem Fall die Zustimmung aller Parteien erforderlich ist.
Eine letzte lebhafte Debatte entzündete sich an den Voraussetzungen für provisorische Massnahmen gegen Medien, konkret an der Frage, wann die Veröffentlichung eines Medienberichts mittels superprovisorischer Verfügung vorläufig verhindert werden kann. Der Ständerat hatte beschlossen, dass dies möglich sein soll, wenn der Bericht – zusätzlich zu weiteren Kriterien – für die gesuchstellende Partei einen schweren Nachteil verursacht oder verursachen kann – im Unterschied zum «besonders schweren Nachteil», der nach geltendem Recht verlangt wird. Die Ratslinke sah darin einen Angriff auf die Pressefreiheit, der überdies klammheimlich in einer grossen Gesetzesrevision versteckt werde. Auch wenn über die praktischen Auswirkungen dieser Änderung Unklarheit herrschte, sei sie doch ein «schwieriges Signal», so Min Li Marti (sp, ZH). Ein Einzelantrag Dandrès (sp, GE) zur Auskopplung dieser Frage aus der ZPO-Revision durch Auslagerung in einen separaten Entwurf wurde von der bürgerlichen Ratsmehrheit ebenso abgelehnt wie der Minderheitsantrag, der bei der Fassung des Bundesrates bleiben und die Voraussetzungen inhaltlich unverändert lassen wollte. Mit 99 zu 81 Stimmen bei 7 Enthaltungen stimmte der Nationalrat dem Beschluss seiner Schwesterkammer zu und besiegelte damit die Streichung des Wortes «besonders». Dies sei kein Entscheid gegen die Medienfreiheit, sondern für den Schutz einzelner Menschen, erklärte Judith Bellaïche (glp, ZH). «Das Recht auf Medienfreiheit beinhaltet nicht pauschal das Recht, Existenzen zu zerstören», so die GLP-Vertreterin.
In der Gesamtabstimmung hiess die grosse Kammer den Entwurf mit 183 zu 1 Stimme (Lukas Reimann; svp, SG) bei 2 Enthaltungen (Christian Dandrès, Yvette Estermann; svp, LU) gut. Zudem stimmte sie der Abschreibung der Postulate Po. 13.3688 und Po. 14.3804 sowie der Motionen Mo. 14.4008 und Mo. 17.3868 stillschweigend zu.

Änderung der Zivilprozessordnung – Praxistauglichkeit und Rechtsdurchsetzung (BRG 20.026)
Dossier: Debatte über die Pressefreiheit in der Schweiz
Dossier: Revision der Zivilprozessordnung (2018–)

Mit einem im März 2022 erschienenen Bericht erfüllte der Bundesrat die Forderung zweier Postulate, die Abklärungen zur Einführung eines «neue[n] Rechtsinstitut[s] mit weniger umfassenden Rechtsfolgen [im Vergleich zur Ehe]» nach dem französischen Vorbild des «pacte civil de solidarité» (Pacs) verlangten (Po. 15.3431; Po. 15.4082). Da der Bundesrat in diesem Zusammenhang auch eine Übersicht über das Konkubinat in der Schweiz erstellte, erfüllte der Bericht ferner ein Postulat Caroni (fdp, AR), das ebendies verlangt hatte (Po. 18.3234).
Bezüglich des bestehenden Konkubinatsvertrags brachte der Bericht zutage, dass dieses Instrument bislang wenig genutzt worden war. Es bestehe eine «Rechtsunsicherheit in Zusammenhang mit dieser Verbindungsform» und die mit einem Konkubinatsvertrag zu regelnden Angelegenheiten seien nicht abschliessend. Insbesondere wenn Beziehungen zu Drittpersonen tangiert würden oder wenn es um Bereiche gehe, für welche zwingende Gesetzesbestimmungen vorliegen, könnten die entsprechenden Punkte nicht in einem Konkubinatsvertrag geregelt werden. Etwa bezüglich Zuteilung der Familienwohnung, Adoption oder Sozialversicherungen sei es für ein Konkubinatspaar «unmöglich, zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit demjenigen eines Ehepaares vergleichbar ist». Darüber hinaus bestehe innerhalb der Bevölkerung auch ein mangelndes Wissen über die Wirkung eines Konkubinatsvertrags. So habe etwa eine 2004 im Rahmen einer Nationalfondsstudie durchgeführte Umfrage ergeben, dass fast die Hälfte der Befragten der Überzeugung war, bei vorliegendem Konkubinatsvertrag könne der Konkubinatspartner einer verstorbenen Person ohne zusätzliche Verfügung Erbansprüche geltend machen.
Einen Pacs, mit dem auch Rechtsbeziehungen gegenüber Dritten geregelt werden könnten und der jederzeit wieder aufgelöst werden könnte, nannte der Bundesrat in seinem Bericht «eine Möglichkeit [...], die diskutiert werden kann»; vor dessen Einführung bedürfe es jedoch «einer gesellschafts- und rechtspolitischen Beurteilung». Der Bundesrat verzichtete auf Empfehlungen, führte im Anhang seines Berichts jedoch auf, wie ein Pacs aussehen könnte. Im Unterschied zum Konkubinatsvertrag würde ein Pacs etwa zum Familienunterhalt wie bei Vorliegen eines Ehevertrags verpflichten, ebenso wäre bei Auflösung des gemeinsamen Mietverhältnisses oder bei Verkauf von gemeinsamem Wohneigentum die Zustimmung beider Vertragsparteien nötig, was im Konkubinat nicht per se gegeben ist. Weiter könnten sich die einem Pacs unterstellten Partner in medizinischen Belangen vertreten, wie dies bislang nur Ehepartner tun können. Nicht zuletzt könnte ein Pacs auch bezüglich Sozialversicherungen die Gleichstellung mit verheirateten Personen schaffen. Im Unterschied zum Modell der Ehe hätte der vom Bundesrat vorgeschlagene Pacs hingegen etwa keine erbrechtlichen Auswirkungen und würde im Regelfall keine Unterhaltsansprüche nach der Trennung begründen. Gegenüber dem Tages-Anzeiger gab sich Andrea Caroni als Urheber von zwei der drei mit dem Bericht erfüllten Postulate zufrieden. Er plane nun, die Arbeiten zur Einführung eines Pacs mittels verbindlicherer parlamentarischer Vorstösse voranzutreiben.

Un PACS pour la Suisse (Po. 15.3431; Po. 15.4082)
Dossier: Ein Pacs nach Schweizer Art?