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  • Comte, Raphaël (fdp/plr, NE) SR/CE
  • Markwalder, Christa (fdp/plr, BE) NR/CN

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Nachdem die eidgenössischen Räte eine Umsetzung des Anliegens für einen Berufsgeheimnisschutz für Unternehmensjuristinnen und -juristen im Rahmen der ZPO-Revision gutgeheissen hatten, beantragte die RK-NR ihrem Rat, die entsprechende parlamentarische Initiative Markwalder (fdp, BE) abzuschreiben. Die Volkskammer folgte diesem Antrag in der Wintersession 2022 stillschweigend, womit das Geschäft erledigt ist.

Berufsgeheimnisschutz für Unternehmensjuristinnen und -juristen (Pa.Iv. 15.409)
Dossier: Revision der Zivilprozessordnung (2018–)

Der Nationalrat beugte sich in der Wintersession 2022 als Zweitrat über die Revision des Sexualstrafrechts. Wie bereits in der Ständekammer wurde das Ziel des Revisionsprojekts, das in die Jahre gekommene Sexualstrafrecht an die veränderten gesellschaftlichen Wertvorstellungen anzupassen, auch im Nationalrat allseits begrüsst. Eintreten war somit unbestritten.

Die Debatte um den umstrittensten Punkt der Vorlage, die Modellwahl zwischen «Nur Ja heisst Ja» und «Nein heisst Nein», fand in der grossen Kammer im Vergleich zum Ständerat unter umgekehrten Vorzeichen statt: Während sich in der Kantonskammer eine Minderheit der Kommission erfolglos für die Zustimmungslösung ausgesprochen hatte, beantragte im Nationalrat die Mehrheit der vorberatenden Rechtskommission die Verankerung des «Nur-Ja-heisst-Ja»-Prinzips im Strafgesetzbuch. Gemäss Kommissionssprecherin Patricia von Falkenstein (ldp, BS) wolle man damit klar zum Ausdruck bringen, «dass einvernehmliche sexuelle Handlungen im Grundsatz immer auf der Einwilligung der daran beteiligten Personen beruhen sollen» und «dass Geschlechtsverkehr ohne Einwilligung als Vergewaltigung betrachtet wird». Mit der Zustimmungslösung solle bei der Aufklärung von Sexualdelikten zudem mehr das Verhalten des Täters oder der Täterin in den Fokus rücken, und nicht die Frage, ob und wie sich das Opfer gewehrt habe. Letzteres solle sich nicht schuldig fühlen, wenn es nicht in ausreichendem Mass Widerstand geleistet habe. Demgegenüber fordere die «Nein heisst Nein»-Lösung vom Opfer weiterhin einen zumutbaren Widerstand. Bundesrätin Karin Keller-Sutter argumentierte hingegen, dass das Widerspruchsprinzip klarer sei. Jemand könne auch aus Angst oder Unsicherheit Ja sagen, ohne dies tatsächlich zu wollen, wohingegen ein explizites oder stillschweigendes Nein – etwa eine ablehnende Geste oder Weinen – nicht als Zustimmung missverstanden werden könne. Über ein geäussertes Nein könne das Opfer im Strafverfahren allenfalls aussagen, über ein fehlendes Ja jedoch nicht, denn einen Negativbeweis gebe es nicht, ergänzte Philipp Matthias Bregy (mitte, VS), der mit seiner Minderheit ebenfalls für «Nein heisst Nein» eintrat. Wie schon im Ständerat herrschte derweil auch im Nationalrat weitgehende Einigkeit, dass der Unterschied zwischen den beiden Varianten juristisch gesehen «verschwindend klein» sei, wie es Tamara Funiciello (sp, BE) ausdrückte, und es vor allem um Signale gehe. Während die Advokatinnen und Advokaten der Zustimmungslösung darin eine gesellschaftliche Haltung sahen, die die sexuelle Selbstbestimmung betone, erachteten die Befürworterinnen und Befürworter der Widerspruchslösung das Strafrecht nicht als den richtigen Ort für Symbolik – so fasste Christa Markwalder (fdp, BE) die Positionen in ihrer gespaltenen Fraktion zusammen. Als eine Art Mittelweg bewarb eine Minderheit Nidegger (svp, GE) unterdessen die im Ständerat gescheiterte Umformulierung des Widerspruchsprinzips. Diese wollte durch die explizite Nennung von verbaler und nonverbaler Ablehnung die Fälle von sogenanntem Freezing – wenn das Opfer in einen Schockzustand gerät und dadurch widerstandsunfähig ist – besser abdecken. Bundesrätin Karin Keller-Sutter betonte indes, auch mit der Widerspruchslösung seien Freezing-Fälle abgedeckt und die Minderheit Nidegger bringe somit keinen Mehrwert. Die Minderheit Nidegger unterlag der «Nein-heisst-Nein»-Lösung wie vom Bundesrat vorgeschlagen denn auch deutlich mit 118 zu 64 Stimmen bei 8 Enthaltungen. Ebenso chancenlos blieb die Minderheit Reimann (svp, SG), die statt dem vorgesehenen Kaskadenprinzip in Art. 189 und 190 StGB – einer Definition des Grundtatbestands ohne Nötigung (Abs. 1), wobei Nötigung sowie Grausamkeit als zusätzliche Erschwernisse in den Absätzen 2 und 3 aufgeführt werden – einen eigenen Tatbestand für Verletzungen der sexuellen Integrität ohne Nötigung schaffen wollte, sodass das Nötigungselement in den Tatbeständen der sexuellen Nötigung und der Vergewaltigung erhalten bliebe. Dieses Konzept war allerdings bereits in der Vernehmlassung harsch kritisiert worden. «Nur Ja heisst Ja» setzte sich schliesslich mit 99 zu 88 Stimmen bei 3 Enthaltungen gegen «Nein heisst Nein» durch. Zum Durchbruch verhalfen der Zustimmungslösung neben den geschlossen dafür stimmenden Fraktionen der SP, der Grünen und der GLP Minderheiten aus der FDP- und der Mitte-Fraktion sowie SVP-Nationalrätin Céline Amaudruz (svp, GE).

Neben der Modellwahl diskutierte die grosse Kammer auch die Strafrahmen ausführlich. Hier hielt sie sich mit einer Ausnahme überall an die Vorschläge ihrer Kommissionsmehrheit und lehnte zahlreiche Minderheitsanträge aus den Reihen der SVP- und der Mitte-Fraktion ab, die schärfere Strafen forderten. Härtere Sanktionen seien ursprünglich das Ziel der Strafrahmenharmonisierung gewesen, wovon auch die vorliegende Revision Teil sei, argumentierte Barbara Steinemann (svp, ZH). Solange «Belästiger mit symbolischen Strafen aus dem Gerichtssaal davonlaufen» könnten, sei auch die Zustimmungslösung nur ein «Ablenkungsmanöver», warf sie der Ratsmehrheit vor. Letztere wollte allerdings den Ermessensspielraum der Gerichte nicht einschränken. Es wurde befürchtet, dass die Gerichte sonst höhere Massstäbe an die Beweiswürdigung setzen könnten und es damit zu weniger Verurteilungen kommen könnte. Eine Mindeststrafe müsse immer «auch den denkbar leichtesten Fall abdecken», mahnte Justizministerin Keller-Sutter. Einzig bei der Vergewaltigung mit Nötigung – dem neuen Art. 190 Abs. 2, der im Grundsatz dem heutigen Vergewaltigungstatbestand entspricht – folgte der Nationalrat mit 95 zu 90 Stimmen bei 5 Enthaltungen der Minderheit Steinemann und übernahm die bereits vom Ständerat vorgenommene Verschärfung. Damit beträgt die Mindeststrafe für diesen Tatbestand neu zwei Jahre Freiheitsstrafe, Geldstrafen sowie bedingte Strafen sind demnach ausgeschlossen. Vergewaltigerinnen und Vergewaltiger müssen damit künftig zwingend ins Gefängnis. Bisher betrug die Mindeststrafe für Vergewaltigung ein Jahr Freiheitsstrafe, wobei diese auch (teil-)bedingt ausgesprochen werden konnte.

In einem zweiten Block beriet die Volkskammer noch diverse weitere Anliegen im Bereich des Sexualstrafrechts. Die Forderung einer Minderheit Funiciello, dass verurteilte Sexualstraftäterinnen und -täter obligatorisch ein Lernprogramm absolvieren müssen, wie dies bei häuslicher Gewalt oder Pädokriminalität bereits der Fall ist, wurde mit 104 zu 85 Stimmen abgelehnt. Da die Art des Delikts nicht berücksichtigt würde, handle es sich um eine «undifferenzierte Massnahme», so Kommissionssprecherin von Falkenstein. Mit 98 zu 84 Stimmen bei 7 Enthaltungen sprach sich der Nationalrat indessen dafür aus, die Altersgrenze für die Unverjährbarkeit von Sexualverbrechen auf 16 Jahre anzuheben. Bislang lag diese bei 12 Jahren, wie es bei der Umsetzung der Unverjährbarkeitsinitiative festgelegt worden war. Die Mehrheit argumentierte, so falle die Grenze für die Unverjährbarkeit mit dem Alter der sexuellen Mündigkeit zusammen. Den neuen Tatbestand der Rachepornografie hiess die grosse Kammer stillschweigend gut, verfrachtete ihn aber in einen anderen Artikel innerhalb des StGB. Anders als der Ständerat nahm der Nationalrat stillschweigend auch einen Tatbestand für Grooming ins Gesetz auf. In der Vernehmlassung sei dieser Vorschlag sehr positiv aufgenommen worden, erklärte die Kommissionssprecherin. Das Anliegen einer Minderheit von Falkenstein, sexuelle Belästigung nicht nur in Form von Wort, Schrift und Bild zu bestrafen, sondern auch andere sexuell konnotierte Verhaltensweisen – beispielsweise Gesten oder Pfiffe – unter Strafe zu stellen, scheiterte mit 96 zu 93 Stimmen knapp. Bundesrätin Karin Keller-Sutter warnte vor einer «uferlosen Strafbarkeit», da mit der geforderten Ergänzung die Grenze zwischen strafbarem und straflosem Verhalten unklar wäre. Ebenfalls abgelehnt wurde ein Einzelantrag von Léonore Porchet (gp, VD), die ein Offizialdelikt für sexuelle Belästigungen im öffentlichen Raum einführen wollte. Die betroffene Person solle selbst entscheiden können, ob sie eine Strafverfolgung wünsche oder an ihrer Privatsphäre festhalten möchte, argumentierte Justizministerin Keller-Sutter dagegen.

In der Gesamtabstimmung nahm der Nationalrat den Entwurf mit 127 zu 58 Stimmen bei 5 Enthaltungen an. Mit der Ausnahme von Céline Amaudruz stellte sich die SVP-Fraktion geschlossen dagegen. Sie wurde von einigen Stimmen aus der Mitte-Fraktion unterstützt, aus der auch die Enthaltungen stammten. Das Ergebnis war Ausdruck der Enttäuschung des rechtsbürgerlichen Lagers über die ablehnende Haltung des Rats gegenüber Strafverschärfungen. SVP-Vertreterin Steinemann hatte schon in der Eintretensdebatte angekündigt, dass ihre Fraktion die Vorlage ablehnen werde, «sofern nicht deutlich schärfere Sanktionen resultieren».

Harmonisierung der Strafrahmen (BRG 18.043)
Dossier: Revision des Strafgesetzbuches (2008– )
Dossier: Harmonisierung der Strafrahmen (Besonderer Teil des Strafgesetzbuches)

Mit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine Ende Februar 2022 und der Übernahme der EU-Sanktionspakete durch die Schweiz entspann sich innerhalb des Landes eine Grundsatzdebatte über die Ausgestaltung der Schweizer Neutralität. Mittendrin in dieser Debatte stand Bundespräsident und Aussenminister Ignazio Cassis. Zwar sei die Übernahme der EU-Sanktionen «ein einmaliger Schritt der Schweiz» gewesen, erklärte Cassis den Medienschaffenden Anfang März, doch das Neutralitätsrecht werde dadurch nicht tangiert. Das war zwar unbestritten, doch im Ausland wurde diese neue Ausrichtung der «Neutralitätspolitik» vielerorts als Aufgabe der traditionsreichen Neutralität verstanden. Im Interview mit der NZZ verteidigte der Aussenminister den Bundesrat gegen den Vorwurf, dass dieser die Sanktionen nur aufgrund des steigenden internationalen Drucks umgesetzt habe. Dabei gab Bundesrat Cassis auch einen Einblick in seine Auffassung des Begriffs «Neutralität», wobei er zwischen Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik unterschied: Für ihn sei das Neutralitätsrecht völkerrechtlich klar definiert, indem es den Export von Waffen an kriegsführende Staaten untersage. Bei der Neutralitätspolitik gehe es jedoch darum, wie die Schweiz ihre Werte wie Freiheit, Demokratie und Völkerrecht unter einer neutralen Position vereinen könne. Dieser Aushandlungsprozess ergebe von Fall zu Fall andere Ergebnisse. Für Cassis war klar: «Neutralität heisst nicht Gleichgültigkeit, sondern dass wir gegenüber anderen Ländern militärisch nicht Partei ergreifen.» Ganz anders fiel indes die Einschätzung von Alt-Bundesrat Christoph Blocher zur Übernahme der EU-Sanktionen in der NZZ aus. Er bezichtigte die Schweiz, mit der Sanktionsübernahme zur Kriegspartei geworden zu sein, da sie als neutraler Staat nicht Partei ergreifen dürfe. Noch einmal anders äusserte sich ein weiterer SVP-Alt-Bundesrat – Adolf Ogi. Er argumentierte, dass sich die Schweiz nicht mehr hinter der Neutralität verstecken könne und klarmachen müsse, «dass wir auf der Seite der Menschenrechte stehen».

Ende März schickte sich Cassis an, die Missverständnisse in Bezug auf die Schweizer Neutralität ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen und gab innerhalb des EDA einen Bericht zur Neutralität in Auftrag. Der letzte offizielle Bericht dieser Art stammte aus dem Jahr 1993, die neue Version sollte noch vor Sommer 2022 veröffentlicht werden.
Mit dem WEF stand Ende Mai ein aussenpolitisch höchst brisanter Anlass auf dem Programm. Nicht nur stand der erste Tag des Treffens ganz im Zeichen des Ukrainekriegs, auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nahm mittels einer Videoansprache daran teil. Bundespräsident Cassis nutzte seine Eröffnungsrede dazu, der Weltöffentlichkeit die aktuelle Auslegung der Schweizer Neutralitätspolitik zu erklären. Er bezeichnete die Haltung der Schweiz als «kooperative Neutralität», eine Wortschöpfung, die gemäss Cassis vermitteln soll, dass sich die Schweiz für gemeinsame Grundwerte und Friedensbemühungen einsetzt. Für diesen Alleingang – Cassis erklärte gegenüber den Medien, dass der Begriff «relativ spontan entstanden» sei – erntete der Aussenminister in den folgenden Tagen Lob und Kritik. Der Tages-Anzeiger schrieb, dass die Schweiz keine neuen Adjektive brauche, insbesondere weil Cassis selber eingestanden habe, dass die kooperative Neutralität für die Schweiz nichts Neues sei. In der NZZ wurde Cassis hingegen dafür gelobt, eine «echte Diskussion über die Neutralität» lanciert zu haben. SP-Fraktionspräsident Roger Nordmann (sp, VD) verlangte im Sonntagsblick eine «saubere Auslegeordnung» und eine klare Unterscheidung zwischen Neutralitätsrecht – die völkerrechtlich festgelegten Verpflichtungen – und Neutralitätspolitik – die politische Handhabung von Fragen, die nicht die militärische Neutralität betreffen. Er forderte eine engere Kooperation mit der EU im Rahmen ihrer Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik. Sein Parteikollege Fabian Molina (sp, ZH) schlug hingegen vor, den Begriff der «kooperativen Neutralität» durch eine Kooperation mit den restlichen neutralen Staaten Europas zu institutionalisieren.

Der angekündigte Neutralitätsbericht des EDA erschien entgegen den Ankündigungen von Departementsvorsteher Cassis nicht vor dem Sommer. Im September und Oktober wurden daher die Parteien aktiv, namentlich die SVP und die SP. Die SP bezog in einem Anfang September publizierten Positionspapier Stellung zur Auslegung der Schweizer Neutralität. Darin sprach sie sich für die Weiterführung der Neutralität aus, forderte aber zugleich ein «Update». Die Partei verlangte unter anderem eine engere Zusammenarbeit mit der EU zur Erhaltung der europäischen Souveränität; eine Reduktion der Auslandsabhängigkeit in der Energieversorgung und bei essenziellen Gütern; einen proaktiven Kampf gegen globale Oligarchen; ein erhöhtes Engagement für Friedensförderung, ohne internationalen Bündnissen wie der NATO beizutreten; sowie restriktive Exportgesetze für militärische Güter.
Unterstützt durch Christoph Blocher und weitere prominente Parteimitglieder wie Thomas Aeschi (svp, ZG) und Walter Wobmann (svp, SO) lancierte die neu gegründete Vereinigung «Pro Schweiz» Mitte Oktober eine Volksinitiative. Diese sollte eine bewaffnete immerwährende Neutralität in der Verfassung verankern. Wirtschaftssanktionen und andere Zwangsmassnahmen wie Ausreiseverbote gegen kriegsführende Staaten wären gemäss Initiativtext verboten.

Am 6. September zitierte LeTemps aus dem durchgesickerten Entwurf des Neutralitätsberichts, der dann doch schon im Sommer an die Medien gelangt war. In diesem würden fünf Varianten einer zeitgemässen Neutralitätskonzeption geprüft. Cassis habe den Gesamtbundesrat aber bis anhin nicht von seiner Idee der «kooperativen Neutralität» zu überzeugen vermocht. Einer der Hauptstreitpunkte im Bundesrat sei gemäss LeTemps die Wiederausfuhr von Kriegsmaterial, das bereits an andere Länder geliefert wurde. Cassis plädierte dafür, eine Wiederausfuhr unter bestimmten Auflagen zu bewilligen, was bei den SP- und SVP-Bundesratsmitgliedern auf Widerstand gestossen sein soll.
Tags darauf gab der Bundesrat in einer Medienmitteilung bekannt, dass die im Neutralitätsbericht von 1993 definierte Neutralitätspolitik weiterhin ihre Gültigkeit behalte. Diese lasse der Schweiz einen «hinreichend grossen Handlungsspielraum», um auf den Ukraine-Krieg und dessen Folgen zu reagieren. Das habe der Bundesrat bei der Beratung des Neutralitätsberichts, welcher in Erfüllung des Postulats der APK-SR (Po. 22.3385) erstellt worden sei, beschlossen. Der Bericht sollte gestützt auf die Aussprache angepasst und im Herbst vom Bundesrat verabschiedet werden. Damit gab die Regierung auch zu verstehen, dass der Entwurf des Neutralitätsberichts von Bundespräsident Cassis keine Mehrheit gefunden hatte. Stattdessen wolle sie im Folgejahr im Rahmen der nächsten aussenpolitischen Strategie eine Auslegeordnung vornehmen, die auch die Neutralitätspolitik abdecken soll.
Die Ablehnung der «kooperativen Neutralität» wurde in der Öffentlichkeit als «herbe Niederlage» (Republik) des Aussenministers wahrgenommen und teilweise mit Häme bedacht. Die Republik mutmasste, dass der Bundesrat dem Ausland damit signalisieren wolle, dass sich die Schweizer Neutralität trotz Ukraine-Krieg nicht grundlegend verändert habe. Zudem versuche man wohl, der Neutralitätsinitiative von Pro Schweiz keinen Nährboden zu bieten. Nationalrätin Christa Markwalder (fdp, BE) hingegen kam ihrem Parteikollegen zu Hilfe und kritisierte die fehlende Kollegialität im Gremium. Sie warf den Bundesratsmitgliedern zudem vor, sich zu verhalten, als ob sich die Welt nicht verändert habe.

Cassis' Neutralitätsbericht scheitert im Bundesrat
Dossier: Die Schweizer Neutralität

Auf Antrag von Christa Markwalder (fdp, BE) lancierte die RK-NR im Frühjahr 2022 eine Kommissionsmotion zur Reformation der Stiefkindadoption, welche bestehende Hürden bei ebendieser abbauen soll. Insbesondere in Angesicht der Annahme der «Ehe für alle» im September 2021 seien bestehende Regelungen zur Stiefkindadoption weiterhin zu kompliziert, da unter anderem in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft der nicht-leibliche Elternteil das Kind erst nach einem mindestens einjährigen Pflegeverhältnis adoptieren könne. Mit einer Revision der Stiefkindadoption zielte die Kommissionsmehrheit darauf ab, dass auf ein Pflegeverhältnis verzichtet werden kann, wenn sich der leibliche und der adoptionswillige Elternteil beim Zeitpunkt der Geburt des Kindes in einer Lebensgemeinschaft im gleichen Haushalt befinden. Der Nationalrat folgte in der Sommersession 2022 dem Antrag des Bundesrats und nahm die Motion mit 133 zu 40 Stimmen (bei 4 Enthaltungen) an. Während sich die geschlossen stimmenden Fraktionen der SP, Grünen, Grünliberalen und FDP.Liberalen für die Vorlage aussprachen, lehnten die Mehrheit der SVP-Fraktion sowie ein Mitglied der Mitte-Fraktion die Motion ab.

Keine unnötigen Hürden bei der Stiefkindadoption (Mo. 22.3382)

Im Mai 2022 gab die RK-NR einer parlamentarischen Initiative Gredig (glp, ZH) zur Bekämpfung von Zwangsarbeit durch die Ausweitung der Sorgfaltspflicht Folge. Der Entscheid fiel nur knapp mit dem Stichentscheid der Präsidentin Christa Markwalder (fdp, BE). Die grünliberale Nationalrätin Corina Gredig forderte, dass der Geltungsbereich des indirekten Gegenvorschlags zur Konzernverantwortungsinitiative dahingehend ergänzt wird, dass bei den besonderen Sorgfaltspflichten und bei der Transparenz auch das Verbot von Zwangsarbeit aufgeführt wird. Sie begründete ihr Anliegen damit, dass Uigurinnen und Uiguren zu Zwangsarbeit in chinesischen Fabriken gezwungen würden, die im Verdacht stünden, auch mit Schweizer Unternehmen Geschäfte zu treiben. Handel mit Unternehmen, die Zwangsarbeit anwenden, widerspreche UNO-Leitprinzipien wie auch OECD-Leitsätzen und führe zu Wettbewerbsverzerrungen gegenüber Unternehmen, die eine wirksame Sorgfaltsprüfung vornehmen.

Bekämpfung von Zwangsarbeit durch die Ausweitung der Sorgfaltspflicht (Pa. Iv. 21.427)

In der Sondersession vom Mai 2022 behandelte der Nationalrat die Änderung der Zivilprozessordnung zur Verbesserung der Praxistauglichkeit und der Rechtsdurchsetzung als Zweitrat. Wie Kommissionssprecher Philipp Matthias Bregy (mitte, VS) berichtete, hatte sich die RK-NR in der Vorberatung mit 139 Anträgen zu beschäftigen. Wie schon in der Ständekammer verlief die Ratsdebatte angesichts des Umfangs der Vorlage wenig kontrovers, da es sich um viele technische Detailfragen handelte. Nach dem unbestrittenen Eintreten folgte auch die grosse Kammer in den allermeisten Punkten ohne grosse Diskussion ihrer Kommissionsmehrheit. Diese habe bei den vorgeschlagenen Anpassungen vor allem darauf geachtet, ein «laienfreundliches Gesetz» zu gestalten, so Berichterstatter Bregy.
Ausführlich diskutiert wurde – wie schon im Erstrat – die Sprachenfrage: Nachdem sich der Ständerat dagegen ausgesprochen hatte, dass die Kantone in Zivilverfahren neben ihren Amtssprachen auch andere Landessprachen und Englisch als Verfahrenssprache zulassen dürfen, wenn beide Parteien damit einverstanden sind, präsentierte die nationalrätliche Kommissionsmehrheit einen Kompromissvorschlag. Gegenüber dem bundesrätlichen Vorschlag sah sie zwei Einschränkungen vor: Erstens soll ein Verzicht auf die Amtssprache nicht vor Verfahrensbeginn erfolgen können – dies um zu verhindern, dass Unternehmen etwa in ihren AGB der Gegenpartei schweizweit ihre bevorzugte Sprache aufzwingen können – und zweitens soll ein Verfahren in Englisch nur bei handelsrechtlichen Streitigkeiten möglich sein. Zwei links-grüne Minderheiten wollten hingegen dem Ständerat folgen und auf die Möglichkeit zu anderen Sprachen – bzw. wenigstens auf die anderen Landessprachen – verzichten. Sie sorgten sich um den Stand der Minderheitensprachen, wenn auch in der Romandie und im Tessin auf Deutsch prozessiert werden könnte, und um die Qualität der Rechtsprechung, wenn der ganze Justizapparat plötzlich in mehreren Sprachen funktionieren müsste. Ein Verzicht auf die Möglichkeit zu Verfahren in englischer Sprache wäre aus Sicht von Bundesrätin Karin Keller-Sutter «sehr bedauerlich», weil dies eine zentrale Voraussetzung für die Schaffung internationaler Handelsgerichte sei und damit die Bestrebungen danach als gescheitert anzusehen wären. Gegen den Widerstand von Links-Grün folgte der Nationalrat in dieser Frage deutlich seiner Kommissionsmehrheit.
Ebenfalls erfolglos blieben sowohl das links-grüne Lager als auch die SVP-Fraktion mit verschiedenen Minderheitsanträgen für eine weitere Senkung der Prozesskosten. Sie wollten damit den Zugang zum Gericht erleichtern, da mit den aktuellen Kostenhürden «Prozessieren für den Mittelstand praktisch unerschwinglich» sei, wie es Sibel Arslan (basta, BS) formulierte. Da sie eine andere Vorstellung davon hatten, wie dies zu bewerkstelligen sei, unterstützten sich die beiden Lager jedoch nicht gegenseitig. Die obsiegende Mehrheit argumentierte, dass es – über die vom Bundesrat vorgeschlagenen Anpassungen hinaus – die Aufgabe der Kantone sei, die Tarife zu senken.
Für eine grössere Debatte sorgte auch das Mitwirkungsverweigerungsrecht für Unternehmensjuristinnen und -juristen. Damit sollen Schweizer Unternehmen im Ausland davor geschützt werden, mehr offenlegen zu müssen als die Konkurrenz aus Staaten, die einen solchen Berufsgeheimnisschutz für Unternehmensjuristinnen und -juristen kennen. Der Ständerat hatte hier gegenüber dem bundesrätlichen Vorschlag Einschränkungen vorgenommen, «die der Bundesrat nicht zwingend unterstützen möchte», wie Karin Keller-Sutter erklärte. Am liebsten hätte der Bundesrat an seiner eigenen Version festgehalten, die «das Ergebnis einer langen Diskussion und eines Reifeprozesses» sei und der parlamentarischen Initiative Markwalder (fdp, BE; Pa.Iv. 15.409) entspreche, so die Bundesrätin. Eine entsprechende Minderheit Markwalder blieb aber chancenlos. Die Mehrheit der RK-NR präsentierte indes eine Weiterentwicklung der ständerätlichen Lösung, die derjenigen des Bundesrates laut der Justizministerin inhaltlich «sehr nahe» stehe, weshalb die Regierung nach dem Motto «Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach» diesen Antrag unterstützte. Dieser wurde von der grossen Kammer sodann auch angenommen. Dagegen sprachen sich die SP- und die Grüne Fraktion aus, die nur ein weniger weitgehendes Mitwirkungsverweigerungsrecht akzeptiert hätten.
Dem Beschluss des Ständerates, wonach im Zivilverfahren elektronische Instrumente, wie zum Beispiel Videokonferenzen, eingesetzt werden können, stimmte im Grundsatz auch die Volkskammer zu. Sie präzisierte allerdings, dass dazu in jedem Fall die Zustimmung aller Parteien erforderlich ist.
Eine letzte lebhafte Debatte entzündete sich an den Voraussetzungen für provisorische Massnahmen gegen Medien, konkret an der Frage, wann die Veröffentlichung eines Medienberichts mittels superprovisorischer Verfügung vorläufig verhindert werden kann. Der Ständerat hatte beschlossen, dass dies möglich sein soll, wenn der Bericht – zusätzlich zu weiteren Kriterien – für die gesuchstellende Partei einen schweren Nachteil verursacht oder verursachen kann – im Unterschied zum «besonders schweren Nachteil», der nach geltendem Recht verlangt wird. Die Ratslinke sah darin einen Angriff auf die Pressefreiheit, der überdies klammheimlich in einer grossen Gesetzesrevision versteckt werde. Auch wenn über die praktischen Auswirkungen dieser Änderung Unklarheit herrschte, sei sie doch ein «schwieriges Signal», so Min Li Marti (sp, ZH). Ein Einzelantrag Dandrès (sp, GE) zur Auskopplung dieser Frage aus der ZPO-Revision durch Auslagerung in einen separaten Entwurf wurde von der bürgerlichen Ratsmehrheit ebenso abgelehnt wie der Minderheitsantrag, der bei der Fassung des Bundesrates bleiben und die Voraussetzungen inhaltlich unverändert lassen wollte. Mit 99 zu 81 Stimmen bei 7 Enthaltungen stimmte der Nationalrat dem Beschluss seiner Schwesterkammer zu und besiegelte damit die Streichung des Wortes «besonders». Dies sei kein Entscheid gegen die Medienfreiheit, sondern für den Schutz einzelner Menschen, erklärte Judith Bellaïche (glp, ZH). «Das Recht auf Medienfreiheit beinhaltet nicht pauschal das Recht, Existenzen zu zerstören», so die GLP-Vertreterin.
In der Gesamtabstimmung hiess die grosse Kammer den Entwurf mit 183 zu 1 Stimme (Lukas Reimann; svp, SG) bei 2 Enthaltungen (Christian Dandrès, Yvette Estermann; svp, LU) gut. Zudem stimmte sie der Abschreibung der Postulate Po. 13.3688 und Po. 14.3804 sowie der Motionen Mo. 14.4008 und Mo. 17.3868 stillschweigend zu.

Änderung der Zivilprozessordnung – Praxistauglichkeit und Rechtsdurchsetzung (BRG 20.026)
Dossier: Debatte über die Pressefreiheit in der Schweiz
Dossier: Revision der Zivilprozessordnung (2018–)

In der Frage, ob unterdessen abgewiesene Asylbewerbende ihre Lehre in der Schweiz beenden dürfen, vertraten National- und Ständerat in der Frühjahrssession 2022 einmal mehr unterschiedliche Positionen: Während der Nationalrat seinen bereits im Rahmen der Motion Grossen (glp, BE; Mo. 19.4282) geäusserten Willen zur Schaffung einer solchen Regelung durch deutliche Annahme einer Motion Markwalder (fdp, BE; Mo. 20.3322) bekräftigte, lehnte der Ständerat ebendiese Motion Grossen ab. Bereits ein Jahr zuvor war eine Motion der SPK-NR mit demselben Anliegen im Ständerat gescheitert (Mo. 20.3925).
Der Ständerat fällte seinen aktuellsten Entscheid knapp mit 22 ablehnenden zu 20 befürwortenden Stimmen, wobei er seiner Kommissionsmehrheit folgte. Diese hatte im Kommissionsbericht argumentiert, dass seit der 2019 in Kraft getretenen Beschleunigung der Asylverfahren – angestossen durch die Neustrukturierung des Asylbereichs – nur noch wenige Personen von diesem Problem betroffen seien. Es gebe zudem aufgrund neuer Weisungen des SEM vom August 2021 Möglichkeiten, die Ausreisefrist in begründeten Einzelfällen um bis zu 12 Monate zu erstrecken. Insgesamt bestünden somit «[geeignete Instrumente] für die wenigen betroffenen Personen [...], um eine Lösung zu finden». Eine links-grüne Kommissionsminderheit sah dies anders und erachtete die vom SEM eingebrachte Lösung für die Entscheidfindung zudem nicht als ausreichend objektiv.

Keine erzwungenen Lehrabbrüche bei gut integrierten Personen mit negativem Asylentscheid (Mo. 19.4282)
Dossier: Lehrabschlüsse für abgewiesene Asylsuchende und Sans Papiers

Durch Annahme einer Motion Markwalder (fdp, BE) bekräftigte der Nationalrat in der Frühjahrssession 2022 seinen bereits bei der Beratung einer ähnlich lautenden Motion Grossen (glp, BE; Mo. 19.4282) gefällten Entscheid, dass Asylsuchende mit unterdessen erhaltenem negativen Entscheid ihre Lehre in der Schweiz beenden dürfen sollten. Der Bundesrat hatte sich ablehnend zur Motion Markwalder gestellt, da eine solche Regelung den Zielsetzungen zur Beschleunigung der Asylverfahren zuwiderlaufen würde. Zudem würde damit eine Gruppe von ausreisepflichtigen Personen im Vergleich zu anderen Ausreisepflichtigen ungerechtfertigterweise bessergestellt. Mitglieder aller Fraktionen ausser der SVP sahen dies jedoch anders und stimmten der Motion mit 133 zu 56 Stimmen (2 Enthaltungen) zu.

Keine Lehrabbrüche von Asylsuchenden (Mo. 20.3322)
Dossier: Lehrabschlüsse für abgewiesene Asylsuchende und Sans Papiers

Die APK-NR reichte im August 2021 eine Motion ein, welche verlangte, dass der Bundesrat bis zur Wintersession 2021 eine Finanzierungsbotschaft für die Schweizer Teilnahme am EU-Austauschprogramm Erasmus plus vorlegen soll. Die Kommission war der Ansicht, dass sich der Bundesrat bislang zu wenig für eine Schweizer Assoziierung an dieses Programm eingesetzt habe, obwohl er sich bereits für eine Teilnahme ausgesprochen hatte – beispielsweise im Rahmen der im Jahr 2017 überwiesenen Motion der WBK-SR mit dem Titel «Vollassoziierung an Erasmus plus ab 2021». Eine Kommissionsminderheit Köppel (svp, ZH) beantragte die Ablehnung der Motion.
Der Bundesrat schloss sich dem Antrag der Minderheit an. Er strebe zwar weiterhin die Teilnahme der Schweiz an dem Austauschprogramm an, jedoch seien davor noch einige Punkte zu klären. Zum einen betrachte die EU eine Assoziierung im Rahmen der Gesamtbeziehungen Schweiz-EU und sei bisher noch nicht bereit gewesen, mit der Schweiz exploratorische Gespräche über die wichtigsten Eckpunkte einer Assoziierung zu beginnen. Zum anderen sei die Deblockierung des Schweizer Beitrags an ausgewählte EU-Staaten eine Grundbedingung der EU für eine Assoziierung an Erasmus plus. Vor diesem Hintergrund sei es nicht realistisch, innert weniger Monate eine Finanzierungsbotschaft zu erarbeiten, zumal auch die Höhe der finanziellen Beteiligung noch nicht geklärt sei.
Der Nationalrat beschäftigte sich in der Herbstsession 2021 mit dem Vorstoss, wobei Nicolas Walder (gp, GE) und Christa Markwalder (fdp, BE) die Motion präsentierten. Walder wies darauf hin, dass sich auch das Parlament schon mehrmals für eine Assoziierung ausgesprochen habe und es deshalb wirklich an der Zeit sei, dass der Bundesrat eine Botschaft vorlege. Das bundesrätliche Argument, dass die finanziellen Bedingungen noch nicht geklärt seien, liess Walder nicht gelten. Die Höhe der Schweizer Beteiligung könne anhand der Berechnungen, welche für die EWR-Staaten bereits vorgenommen worden seien, eruiert werden. Christa Markwalder ergänzte, dass die europäischen Mobilitätsprogramme «für die Erweiterung des Erfahrungshorizonts der jungen Generationen zentral» seien. Die bilateral getroffenen Hochschulvereinbarungen vermöchten diese Austauschprogramme nicht zu ersetzen, schloss Markwalder. Franz Grüter (svp, LU), welcher die Minderheit Köppel vertrat, sah dies anders. Für ihn stand ausser Frage, dass die bestehenden Alternativprogramme der Schweizer Hochschulen von grosser Qualität seien. Zudem seien diese Alternativen auf weltweiten Austausch ausgerichtet; dies sei sehr wichtig, da sich viele renommierte Hochschulen ausserhalb Europas befänden. Erasmus plus hingegen sei teuer, unflexibel und bürokratisch. Hinzu komme der Fakt, dass die EU – wie vom Bundesrat erläutert – selber noch gar keinen Willen gezeigt habe, der Schweiz eine Assoziierung anzubieten. Diese Worte vermochten jedoch nicht über die SVP-Fraktion hinaus zu mobilisieren. Der Nationalrat nahm die Motion mit 131 zu 48 Stimmen deutlich an.

Finanzierungsbotschaft für die Schweizer Teilnahme an Erasmus plus (Mo. 21.3975)
Dossier: Erasmus und Horizon

Etwa anderthalb Stunden diskutierte der Nationalrat in der Herbstsession 2021 über die Freigabe des zweiten Kohäsionsbeitrags an die EU. Die APK-NR empfehle, den Vorschlag des Bundesrats anzunehmen und mit dem Entscheid einem «konstruktiven Ansatz in der Europapolitik Raum zu geben», teilte Kommissionssprecher Nussbaumer (sp, BL) zu Beginn der Debatte mit. Die Kommission wolle den Bundesbeschluss zur Freigabe der Kohäsionsmilliarde jedoch dahingehend ergänzen, dass Verpflichtungen auf Grundlage des Kohäsionskredits erst eingegangen würden, nachdem der Bundesrat die Finanzierungsbotschaft zur Schweizer Teilnahme an Erasmus plus vorgelegt hat. Um diesen Prozess zu beschleunigen, hatte die APK-NR Anfang September 2021 eine entsprechende Kommissionsmotion eingereicht.
Obwohl sich alle Fraktionen mit Ausnahme der SVP für die Annahme des Bundesbeschlusses aussprachen, benötigten die Mitglieder des Nationalrats in der Folge viel Sitzfleisch, bis sie eine Entscheidung treffen konnten. So wehrte sich die SVP-Fraktion vehement gegen das Anliegen der Kommissionsmehrheit, wobei ihre Mitglieder zahlreiche Fragen an die Rednerinnern und Redner stellten und dem Rat mehrere Minderheitsanträge vorlegten. Thomas Aeschi (svp, ZG) etwa wollte von Kommissionssprecher Nussbaumer wissen, weshalb die APK-NR trotz weiterer Diskriminierungen die Freigabe unterstütze. Er beklagte die fehlende Assoziierung an Horizon Europe und an Erasmus plus sowie die Probleme im gesamten Strombereich und beim Mutual Recognition Agreement (MRA). Nussbaumer erklärte die Entscheidung der Kommission damit, dass man mit dem Entscheid ein neues Kapitel in den bilateralen Beziehungen aufschlagen könne. Zwei Minderheitsanträge von Roger Köppel (svp, ZH) verlangten, nicht auf das Geschäft einzutreten respektive keine Verpflichtungen auf Grundlage des Rahmenkredits einzugehen, bis die Schweiz an Horizon Europe assoziiert sei oder die Börsenäquivalenz wiederhergestellt worden sei. Eine Minderheit Nidegger (svp, GE) wollte die Vorlage an den Bundesrat rücküberweisen und ihn beauftragen, die Kohäsionsmilliarde für die Sanierung der AHV zu verwenden. Franz Grüter (svp, LU) schlug mit seinem Einzelantrag vor, den Beschluss dem fakultativen Referendum zu unterstellen.
Überdies legten die Sprecherinnen und Sprecher aller Fraktionen deren Position ausführlich dar. So warf etwa Sibel Arslan (basta, NR) für die Grüne Fraktion sowohl der Schweiz wie auch der EU vor, Fehler gemacht zu haben, sah den finalen Fehltritt aber auf Schweizer Seite, und zwar im Abbruch der Verhandlungen über das Rahmenabkommen. Die Freigabe der Kohäsionsmilliarde erachtete sie als einen Schritt zur Normalisierung und als Erfüllung eines längst gemachten Versprechens. Da die Motion der APK-NR zur Finanzierungsbotschaft von Erasmus plus bereits angenommen worden war, forderte sie in einem Minderheitsantrag die Streichung der entsprechenden Bedingung. Ähnlich tönte es auch von SP-Sprecher Molina (sp, ZH), der das Ende der Verhandlungen ebenfalls als «verantwortungslos» kritisierte. Auch aus Sicht der GLP sei der Verhandlungsabbruch ein «grosser Fehler» gewesen, meinte Roland Fischer (glp, LU). Die Schweiz profitiere enorm vom europäischen Binnenmarkt und zahle im Verhältnis zu Norwegen sehr wenig für den Zugang. Die FDP setze sich für die Freigabe des Kohäsionsbeitrags ein, um die Negativspirale im Verhältnis zur EU zu durchbrechen, erklärte Christa Markwalder (fdp, BE). Auch sie sprach das überaus günstige Kosten-Nutzen-Verhältnis an, dass die Schweiz im Hinblick auf die Verflechtung mit dem Binnenmarkt aufweise. Eine Verringerung der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten wirke sich über die europaweiten Bildungs-, Forschungs- und Kulturkooperationen auch positiv auf die Schweiz aus. Mitte-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter (mitte, BL) hob die Bedeutung der Kohäsionszahlung für das Vorankommen im Horizon-Dossier hervor. Die Nichtassoziierung der Schweiz sei zwar diskriminierend und die Verknüpfung mit der Kohäsionsmilliarde «unschön», doch rechtlich gesehen stehe die EU nicht in der Pflicht, Abkommen mit der Schweiz zu aktualisieren. Auch die Mitte-Fraktion unterstütze die Freigabe des Beitrags sowie den Minderheitsantrag Arslan, gab sie bekannt. Nationalrat Grüter vertrat schliesslich die Ansicht, dass die Schweiz der EU nichts schulde, da die EU massiv von der Schweiz als Handels- und Wirtschaftspartnerin profitiere. Er bemängelte zudem, dass der Bundesbeschluss der Schweizer Bevölkerung nicht zur Abstimmung vorgelegt worden war.
Der im Rat anwesende Aussenminister Cassis drängte die grosse Kammer zur Freigabe der Zahlung, weil man nur so eine positive Verhandlungsdynamik schaffen und Fortschritt in anderen Dossiers erzielen könne. Für die plötzliche Kehrtwende trotz andauernder Diskriminierung der EU im Rahmen der aberkannten Börsenäquivalenz habe der Bundesrat zwei Gründe, erklärte Cassis: Einerseits hätten die Schutzmassnahmen für die Schweizer Börseninfrastruktur die Situation entspannt, andererseits sei die Rechtsgrundlage für den zweiten Kohäsionsbeitrag auf Ende 2024 befristet. Den Einzelantrag von Franz Grüter empfahl er zur Ablehnung, da Finanzgeschäfte gemäss Parlamentsgesetz in Form von einfachen Bundesbeschlüssen erlassen würden – so etwa auch 2019, als das Parlament die Rahmenkredite der zweiten Kohäsionszahlung genehmigt hatte.
Die grosse Kammer lehnte in der Folge sämtliche Minderheitsanträge der SVP ab, strich aber gemäss der Forderung von Sibel Arslan die Verknüpfung mit der Finanzierungsbotschaft für Erasmus plus. Spätabends wurde der Entwurf in der Gesamtabstimmung mit 131 zu 55 Stimmen (bei 1 Enthaltung) gegen den Willen der SVP-Fraktion und einiger Fraktionsmitglieder der Mitte angenommen.

Der zweite Schweizer Beitrag an ausgewählte EU-Mitgliedstaaten (Zweite Kohäsionsmilliarde)
Dossier: Schweizer Beitrag an die erweiterte EU

Im März 2021 reichte Marianne Binder-Keller (mitte, AG) zwei Postulate ein (Po. 21.3189 und Po. 21.3190), mit denen sie einen Vergleich der Gemeinschaftsbesteuerung mit Vollsplitting und der Individualbesteuerung hinsichtlich steuerlicher, bürokratischer und vollzugstechnischer Aspekte forderte. So sollte der Bundesrat etwa zu den Nachteilen der Individualbesteuerung hinsichtlich Abzügen, zur Anzahl zu verfassender Steuererklärungen, zu den Problemen für die Kantone bei Umstellung auf Bundes-, jedoch nicht auf Kantonsebene oder zur Missbrauchsgefahr durch die Streichung der Solidarhaftung der Ehegatten Bericht erstatten. Das zweite Postulat forderte Auskunft zur Stärke des Eingriffs «in die freie Wahl der Lebensformen» der zwei Besteuerungsarten, zu ihren Folgen auf die Anerkennung der Familienarbeit sowie auf die Möglichkeiten für Erwerbspausen. Der Bundesrat betonte, die Fragen der beiden Motionen im Rahmen seiner Auslegeordnung zu verschiedenen Modellen der Ehe- und Familienbesteuerung beantworten zu wollen, und empfahl das Postulat zur Annahme. Beide Vorstösse wurden von Christa Markwalder (fdp, BE) in der Sommersession 2021 bekämpft, da sie sich an der «tendenziösen Fragestellung der Postulantin» zugunsten des Vollsplittings störte. Zudem brauche es keine neuen Berichte – es gebe bereits verschiedene neuere Studien dazu –, stattdessen müsse die Individualbesteuerung endlich umgesetzt werden, wie Markwalder während der Beratung der Vorstösse in der Herbstsession 2021 darlegte. Mit 97 zu 76 Stimmen (bei 1 Enthaltung) respektive mit 103 zu 77 Stimmen (bei 1 Enthaltung) lehnte der Nationalrat beide Postulate ab. Ein ähnliches Postulat von Benedikt Würth (mitte, SG; Po. 21.3285) hatte der Ständerat in der Sommersession 2021 angenommen.

Bericht zu Gemeinschaftsbesteuerung mit Vollsplitting versus Individualbesteuerung (Po. 21.3189 und Po. 21.3190)
Dossier: Reform der Ehe- und Familienbesteuerung seit 2000 – Gemeinschaftsbesteuerung oder Individualbesteuerung?
Dossier: Bestrebungen zur Einführung der Individualbesteuerung

In der Herbstsession 2021 bereinigte das Parlament die parlamentarische Initiative von Christa Markwalder (fdp, BE) für eine Erhöhung der steuerlichen Entlastung für familienexterne Kinderbetreuung von CHF 10'100 auf CHF 25'000. Dem Ständerat lag als Zweitrat ein Antrag der Kommissionsmehrheit auf Erhöhung des Elterntarifs von CHF 251 pro Kind auf CHF 300 pro Kind vor. Der Elterntarif definiert den Betrag, den Eltern pro Kind auf den geschuldeten Betrag der direkten Bundessteuer in Abzug bringen können. Kommissionssprecher Engler (mitte, GR) begründete diesen Entscheid der Mehrheit damit, dass nun im Unterschied zur Bundesratsvorlage nicht mehr der Kinderabzug erhöht würde, sondern der Steuerbetrag – also der Abzug von den tatsächlich zu bezahlenden Steuern. Davon würden in absoluten Zahlen «alle Steuerpflichtigen in gleichem Masse profitieren», «in Relation zu ihrer steuerlichen Leistungsfähigkeit [würden sogar] gerade die einkommensschwächeren Familien» am stärksten profitieren. Dies sei zudem «eine Geste gegenüber jenen Familien [...], die sich bewusst entschieden haben, für eine gewisse Zeit selbst für die Betreuung ihrer Kinder aufzukommen». Bezüglich des Abstimmungsergebnisses vom September 2020 betonte er, dass man nicht genau wisse, wogegen sich die Mehrheit der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger genau gewehrt habe. Minderheitensprecher Levrat (sp, FR) kritisierte insbesondere den fehlenden Zusammenhang zwischen der Erhöhung des Abzugs der Drittbetreuungskosten, bei dem es um konkrete, nachzuweisende Kosten gehe, und der allgemeinen Erhöhung des Elterntarifs. Zudem widersprach er der Darstellung, dass alle Bürgerinnen und Bürger von der Erhöhung des Elterntarifs profitieren würden, zumal die Hälfte aller Personen, nämlich diejenige mit den geringsten Einkommen, nicht profitieren könnten, da sie keine Bundessteuern bezahlten. Er warf der Kommissionsmehrheit vor, die parlamentarische Initiative zu missbrauchen, um ihre familienpolitischen Ziele durchzusetzen, und warnte davor, mit der Vermischung zweier Themen den bei der Bundesratsvorlage begangenen Fehler zu wiederholen. Mit 25 zu 14 Stimmen (bei 2 Enthaltungen) folgte der Ständerat seiner Kommissionsmehrheit und nahm die Erhöhung des Elterntarifs in die Vorlage auf. Mit ähnlicher Stimmenzahl (26 zu 13 Stimmen bei 1 Enthaltung) passierte die Vorlage daraufhin die Gesamtabstimmung. Die ablehnenden Stimmen stammten von Mitgliedern der SP- und der Grünen-Fraktion.

Einige Tage später startete der Nationalrat ins Differenzbereinigungsverfahren. Offen war nur noch die Frage des Elterntarifs, wobei die Kommissionsmehrheit Festhalten – also den Verzicht auf die Erhöhung des Elterntarifs – empfohlen hatte, während eine Minderheit Ritter (mitte, SG) dem Ständerat folgen wollte. Nach einer langen Diskussion zu den Fragen, wer von der Vorlage profitieren soll und was die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger mit ihrem Stimmentscheid im September 2020 hatten ausdrücken wollen, folgte die grosse Kammer ihrer Kommissionsmehrheit und entschied sich mit 112 zu 79 Stimmen gegen die Erhöhung des Elterntarifs. Hatten sich im Ständerat nur SP und Grüne gegen diese Erhöhung gewehrt, waren es nun im Nationalrat zusätzlich auch Mitglieder der FDP.Liberalen und der GLP.

Tags darauf empfahl die Mehrheit der WAK-SR dem Ständerat, diesbezüglich einzulenken und dem Nationalrat zu folgen, um «den unbestrittenen Teil der Vorlage [...] nicht länger hinauszuzögern oder gar zu gefährden». Stillschweigend folgte der Rat seiner Kommission und bereinigte damit die Vorlage im Sinne des Bundesrates. Zum Schluss wies diese nun dieselbe Form auf, welche der Bundesrat im Mai 2018 vorgeschlagen hatte: So können neu CHF 25'000 statt wie bisher CHF 10'100 für die Drittbetreuung jedes Kindes von den Steuern abgezogen werden, «soweit diese Kosten in direktem kausalem Zusammenhang mit der Erwerbstätigkeit [...] stehen». Damit sollen Erwerbsanreize für Zweitverdienende mit hohen Einkommen geschaffen und etwa 2'500 gut bezahlte Vollzeitstellen besetzt werden können, wie Finanzminister Maurer erklärt hatte. Mit 141 zu 46 Stimmen (bei 9 Enthaltungen) und 39 zu 4 Stimmen (bei 1 Enthaltung) nahmen beide Kammern die Änderung in den Schlussabstimmungen an. Die ablehnenden Stimmen stammten im Nationalrat grösstenteils von einer Mehrheit der SVP-Fraktion und einer Minderheit der SP-Fraktion und im Ständerat von Mitgliedern der SVP-Fraktion.

Steuerliche Entlastung für familienexterne Kinderbetreuung von bis zu 25 000 Franken pro Kind und Jahr (Pa. Iv. 20.455)

Die Ratifizierung der ILO-Übereinkommen Nr. 170 und 174 zur Sicherheit bei der Verwendung chemischer Stoffe und zur Verhütung von industriellen Störfällen wurde in der Sommersession 2021 vom Nationalrat diskutiert. Nachdem die APK-NR der Ratifikation im Vorfeld der Session einstimmig zugestimmt hatte, schien eigentlich wenig Diskussionsbedarf zu bestehen. Die SVP-Fraktion stellte jedoch einen Antrag auf Nichteintreten. Yves Nidegger (svp, GE) erklärte, dass eine Ratifikation nicht notwendig sei, weil die Schweiz und auch ihre Nachbarländer bereits über die erforderlichen Rechtsnormen verfügten. Die Befürwortenden führten hingegen mehrfach den Chemieunfall im Hafen von Beirut, aber auch jenen von Schweizerhalle als Argument für die Ratifikation an. Für Claudia Friedl (sp, SG) und Christa Markwalder (fdp, BE) zeigten diese Vorfälle auf, wie wichtig Massnahmen zur Verhütung industrieller Störfälle seien. Die Kommission erachte es als wichtig, dass die Schweiz sich dem internationalen Arbeitsschutz verpflichte und ein multilaterales Vorgehen unterstütze, hielt deren Sprecher Fabian Molina (sp, ZH) fest. Bundesrat Parmelin erklärte, dass die Schweiz mit der Ratifikation anerkennen würde, dass die Verwendung von Chemikalien die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Bevölkerung und die Umwelt Risiken aussetzen könne und daher spezifische Schutzmassnahmen erfordere. Er verwies auch auf das Ziel des SECO und der kantonalen Arbeitsinspektorate, das Schutzniveau in Unternehmen in Bezug auf die Verwendung von Chemikalien in den Jahren 2022 und 2023 zu steigern.
Der Nationalrat beschloss mit grosser Mehrheit, auf das Geschäft einzutreten, und zeigte sich auch in der Gesamtabstimmung – mit Ausnahme der SVP-Fraktion – geeint: Mit 137 zu 52 und 136 zu 52 Stimmen stimmte die grosse Kammer dem Entwurf des Bundesrates zu den beiden Übereinkommen zu.

Übereinkommen Nr. 170 und 174 mit der ILO

Einen «Systemwechsel von der Ehepaar- und Familienbesteuerung zur zivilstandsunabhängigen Individualbesteuerung» verlangte Christa Markwalder (fdp, BE) im Juni 2019 in einer Motion, welche der Nationalrat knapp zwei Jahre später – und somit kurz vor der drohenden Abschreibung – behandelte. In ihrer Begründung verwies Markwalder auf eine angenommene Motion der FDP-Fraktion mit derselben Forderung (Mo. 04.3276) und auf die fehlenden Fortschritte in diesem Bereich seither. Die Systemumstellung hätte gemäss einem Postulat der FK-NR (Po. 14.3005) unzählige Vorteile gegenüber der bundesrätlichen Vorlage und würde dabei unter anderem die «Heiratsstrafe» abschaffen, Zweitverdienste steuerlich tiefer belasten und somit die Arbeitsmarktentscheidungen von Frauen weniger stark beeinflussen, warb Markwalder. Schliesslich könnte sie «allen Formen des Zusammenlebens gerecht werden». Seit der Einreichung der Motion hatte sich die Motionärin auch an der Lancierung einer Volksinitiative zur Schaffung einer zivilstandsunabhängigen Besteuerung von natürlichen Personen beteiligt.
Der Bundesrat entgegnete in seiner Antwort, dass nicht nur Vorstösse zur Individualbesteuerung angenommen worden seien, sondern auch für andere Steuermodelle (Mo. 05.3299, Mo. 10.4127, Po. 11.3545, Mo. 16.3044). Sie alle hätten jedoch Vor- und Nachteile, wobei die Nachteile der Individualbesteuerung bei der Mehrbelastung der Einverdienenden-Ehepaare bei Verwendung des Grundtarifs, bei Steuermindereinnahmen bei Verwendung des Verheiratetentarifs, beim höheren administrativen Aufwand für die Steuerpflichtigen und die Verwaltung und bei der langen Umstellungsphase lägen. Letztere sei der Notwendigkeit geschuldet, dass Bund, Kantone und Gemeinden den Systemwechsel gleichzeitig vollziehen müssen. Nach kurzer Diskussion sprach sich der Nationalrat in der Sommersession 2021 mit 110 zu 76 Stimmen für die Motion aus. Abgelehnt wurde sie von Mehrheiten der SVP- und der Mitte-Fraktion.

Systemwechsel von der Ehepaar- und Familienbesteuerung zur zivilstandsunabhängigen Individualbesteuerung (Mo. 19.3630)
Dossier: Reform der Ehe- und Familienbesteuerung seit 2000 – Gemeinschaftsbesteuerung oder Individualbesteuerung?
Dossier: Bestrebungen zur Einführung der Individualbesteuerung

Ab Anfang April 2021 begann es rund um die Verhandlung des institutionellen Rahmenabkommens mit der EU immer stärker zu brodeln. Der NZZ lagen Briefe zweier Mitte-Kantonalsektionen (Genf und Basel) vor, in welchen Parteipräsident Gerhard Pfister (mitte, ZG) harsch für seine kritischen Äusserungen zum Rahmenabkommen kritisiert wurde. Gleichentags äusserte sich Christa Markwalder (fdp, BE) in einem Gastkommentar in der NZZ zum Rahmenabkommen und drohte dem Bundesrat gar, dass das Parlament bei den anstehenden Gesamterneuerungswahlen 2023 im Fall eines Scheiterns die Vertrauensfrage stellen müsse. Sie verlangte die Unterzeichnung des Abkommens, damit dieses zuerst dem Parlament und später möglicherweise im Rahmen eines fakultativen Staatsvertragsreferendums der Stimmbevölkerung vorgelegt werden könne. Kurz darauf kam Bewegung in die seit längerem festgefahrenen Verhandlungen zwischen Bundesbern und Brüssel, als bekannt wurde, dass für den 23. April ein Treffen zwischen Bundespräsident Guy Parmelin und EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen angesetzt worden war. In den Verhandlungen über die strittigen Punkte Lohnschutz, Unionsbürgerrichtlinie und staatliche Beihilfen waren sich die beiden Parteien seit November 2020 nicht näher gekommen, berichtete die NZZ, weshalb man in Brüssel wenig Erwartungen an den Besuch knüpfe. Wie La Liberté und auch die NZZ berichteten, hatte sich der Bundesrat in letzter Zeit auch mit Alternativen zum Rahmenabkommen befasst. Möglich wäre die Auszahlung der blockierten Kohäsionsmilliarde oder eine Aktualisierung des Freihandelsabkommens von 1972 anstelle der bilateralen Abkommen, wie das die damalige Ständerätin Karin Keller-Sutter (fdp, SG) bereits 2013 mittels Postulat hatte prüfen lassen. Am 16. April berichteten SRG-Medien über ein Sitzungsprotokoll der EU-Kommission, aus dem eine gewisse Verärgerung herauszulesen sei. Die Kommission störte sich daran, dass der Bundesrat «unwillig oder nicht in der Lage» sei, das Rahmenabkommen zu unterzeichnen, und im Verlaufe der Verhandlung keine eigenen Textentwürfe zu den geforderten Klarstellungen präsentiert habe. Nach Darstellung der Kommission sei die EU der Schweiz in Bezug auf die Staatsbeihilfen und die flankierenden Massnahmen sehr entgegengekommen, während sich bei der Unionsbürgerrichtlinie keine Einigung abzeichnete. Die überraschende Entscheidung des Bundesrats am 17. April, dass Guy Parmelin alleine nach Brüssel reisen werde, sorgte in der Medienlandschaft für Ernüchterung. Ignazio Cassis versuchte seine Nicht-Teilnahme am Gespräch mit protokollarischen Gründen zu erklären, wonach Ursula von der Leyen die Angelegenheit als Präsidialsache erachte. In den Medien schien damit der letzte Funke Hoffnung ausgelöscht worden zu sein. «Ohne Cassis und ohne Plan B nach Brüssel», titelte die Aargauer Zeitung und die NZZ schrieb die Verhandlungen mit der Aussage «Alles deutet auf ein Scheitern hin» bereits im Voraus ab.
Hauptgrund für die pessimistischen Aussichten war die Unionsbürgerrichtlinie, bei der die EU der Schweiz gegenüber keine Zugeständnisse machen wollte. Zudem wurde bekannt, dass ein angedachter Schweizer Plan B, also die Auszahlung der Kohäsionsmilliarde und die Aktualisierung des Freihandelsabkommens von 1972, im Bundesrat krachend gescheitert waren. Besonders Ignazio Cassis musste sich in der Folge öffentliche Kritik und Häme gefallen lassen. Der Tages-Anzeiger konstatierte, dass der vielgereiste Aussenminister es in dreieinhalb Jahren nie nach Brüssel geschafft habe, und der Blick bezeichnete die Nichtmitnahme von «Draussenminister Cassis» als «Demütigung sondergleichen». Rückendeckung erhielt Cassis nur von seiner Parteipräsidentin Petra Gössi (fdp, SZ), welche sich in der NZZ und der AZ vom Gesamtbundesrat enttäuscht zeigte und dabei vor allem die SP- und SVP-Bundesräte in die Pflicht nahm. Laut AZ war es dem Bundesrat auch in seiner zweiten Krisensitzung nicht gelungen, das Mandat Parmelins für das Gespräch mit von der Leyen zu konkretisieren. Grundsätzlich gehe es dem Bundesrat beim Besuch darum auszuloten, ob es überhaupt noch Spielraum für eine politische Lösung gebe, so die AZ weiter. Unterdessen formulierten vermehrt Wirtschaftsakteure und die Kantone ihre konkreten Erwartungshaltungen an den Bundesrat. So stärkten die Industrie- und Handelskammern von 25 Kantonen dem Bundesrat zwar den Rücken, forderten aber auch, die Klärungen mit der EU rasch abzuschliessen und das institutionelle Abkommen dem Parlament vorzulegen. Der nationale Netzbetreiber Swissgrid hoffte ebenfalls auf eine baldige Einigung, da ansonsten auch das Stromabkommen mit der EU zum Scheitern verurteilt sei, wie Swissgrid in der NZZ verlauten liess.

Abbruch der Verhandlungen über das Rahmenabkommen mit der EU
Dossier: Institutionelles Rahmenabkommen

Nachdem die Idee einer steuerlichen Entlastung für familienexterne Kinderbetreuung von bis zu CHF 25'000 pro Kind und Jahr im Rahmen des entsprechenden Bundesratsgeschäfts beide Ratskammern bereits erfolgreich passiert hatte, gab ihr die WAK-NR im November 2020 mit 13 zu 8 Stimmen (bei 2 Enthaltungen) neuerlichen Sukkurs und gab der parlamentarischen Initiative Markwalder (fdp, BE) Folge. Die Kommission beauftragte die Bundesverwaltung überdies mit zusätzlichen Berechnungen zu diesem Thema. Eine Kommissionsminderheit wollte zuerst das Ergebnis der eidgenössischen Abstimmung vom 27. September 2020 analysieren, um herauszufinden, ob die Ablehnung der Erhöhung der Drittbetreuungskosten oder der Erhöhung der allgemeinen Kinderabzüge gegolten hatte.
Mit 10 zu 2 Stimmen befürwortete auch die WAK-SR im Januar 2021 die Ausarbeitung eines Entwurfs für eine Erhöhung der Drittbetreuungskosten durch ihre Schwesterkommission. Im April 2021 legte die WAK-NR einen Erlassentwurf vor, der mit demjenigen des Bundesrates aus dem Jahr 2018 übereinstimmte. Erneut sollten damit die Abzüge für familienexterne Kinderbetreuung bei der direkten Bundessteuer von CHF 10'100 auf CHF 25'000 erhöht werden, was den Bund jährlich CHF 10 Mio. kosten, aber die Erwerbstätigkeit gut ausgebildeter Frauen erhöhen soll. Erneut wurde dabei in der Kommission auch ein Antrag auf Erhöhung der Kinderabzüge gestellt und zwar von CHF 6'500 auf CHF 8'250 – beim Bundesratsgeschäft war der entsprechende Abzug auf CHF 10'000 erhöht worden. Mit 13 zu 10 Stimmen bei 1 Enthaltung lehnte die Kommission diesen Antrag, der CHF 180 Mio. kosten würde, jedoch ab.

Steuerliche Entlastung für familienexterne Kinderbetreuung von bis zu 25 000 Franken pro Kind und Jahr (Pa. Iv. 20.455)

In der Frühjahrssession 2021 begrüsste Kommissionssprecher Beat Flach (glp, AG) seine Ratskolleginnen und -kollegen zur «kleinen Monsterdebatte» über die Revision der Strafprozessordnung. Der Nationalrat nahm sich der punktuellen Anpassung der StPO zur Verbesserung ihrer Praxistauglichkeit (in Umsetzung der Mo. 14.3383) als Erstrat an. Er trat ohne Gegenantrag auf die Vorlage ein. Zwei Minderheitsanträge Nidegger (svp, GE) und Addor (svp, VS) auf Rückweisung an den Bundesrat mit dem Auftrag, noch verschiedene zusätzliche Punkte in die Revision zu integrieren, fanden ausserhalb der SVP-Fraktion keine Zustimmung und blieben damit chancenlos.
Erster Kernpunkt der Diskussion war die Einschränkung der Teilnahmerechte der beschuldigten Person. Die aktuell geltende Regelung wurde in der Debatte immer wieder als einer der Auslöser für die vorliegende StPO-Revision genannt. Der Bundesrat hatte im Entwurf vorgesehen, dass die beschuldigte Person von einer Einvernahme ausgeschlossen werden kann, solange sie sich zum Gegenstand der Einvernahme noch nicht selber einlässlich geäussert hat. Er wollte damit der Strafverfolgung die Wahrheitsfindung erleichtern, wie Justizministerin Karin Keller-Sutter erklärte. Indem Beschuldigte unter bestimmten Voraussetzungen von der Einvernahme anderer Personen ausgeschlossen werden können, soll verhindert werden, dass sie ihre Aussagen einander anpassen. Befürworterinnen und Befürworter im Nationalrat argumentierten überdies, dass Zeuginnen und Zeugen durch die Anwesenheit der beschuldigten Person – oder letztere durch die Anwesenheit des «Bandenboss[es]» (Barbara Steinemann, svp, ZH) – eingeschüchtert und unter Druck gesetzt werden könnten, was die Qualität der Aussagen beeinträchtige. Vertreterinnen und Vertreter der Gegenseite warnten dagegen vor der Einführung einer «faktische[n] Mitwirkungspflicht» (Ursula Schneider Schüttel, sp, FR): Die neue Regelung bewirke, dass die beschuldigte Person sich zur betreffenden Sache im Detail äussern – d.h. auf ihr Aussageverweigerungsrecht verzichten – müsse, um bei den Beweiserhebungen dabei sein zu dürfen. Für jemand Unschuldiges sei das besonders schwierig, führte Philipp Matthias Bregy (mitte, VS) aus, «[d]enn der kann nämlich nichts anderes sagen, als dass er unschuldig ist». Den Beweiserhebungen nicht beizuwohnen und daher nicht genau zu wissen, was einem vorgeworfen werde, erschwere indessen die eigene Verteidigung, so Ursula Schneider Schüttel weiter. Zwar gab auch Bundesrätin Karin Keller-Sutter den Gegenstimmen recht, dass das Teilnahmerecht der Beschuldigten «als Ausgleich für die strukturell starke Stellung der Staatsanwaltschaft notwendig» sei, hielt die vorgeschlagene Einschränkung jedoch für «massvoll und zurückhaltend». Für ihre Fraktion sei der Artikel allerdings die «Pièce de Résistance» der Vorlage, bekundete SP-Vertreterin Ursula Schneider Schüttel ebenso wie Christian Lüscher (fdp, GE), der für die Mehrheit der FDP-Fraktion sprach. Sinngleich erklärte auch Sibel Arslan (basta, BS), im Falle der Annahme der neuen Einschränkung werde die Grüne Fraktion «die ganze Vorlage infrage stellen müssen». Mit 103 zu 85 Stimmen bei zwei Enthaltungen folgte die grosse Kammer schliesslich ihrer Kommissionsmehrheit, die beim Status quo bleiben wollte. SP und Grüne setzten sich mit Unterstützung von Teilen der FDP- und der Mitte-Fraktionen durch.
Erfolgreicher war der Bundesrat mit seinem Ansinnen, die Voraussetzungen für die Untersuchungs- und Sicherheitshaft bei Wiederholungsgefahr zu lockern, wobei der Nationalrat seiner Kommissionsmehrheit folgend eine vom Bundesrat abweichende Formulierung wählte. Justizministerin Karin Keller-Sutter stellte im Rat jedoch fest, dass nach Ansicht des Bundesrates kein materieller Unterschied zwischen den beiden Formulierungen bestehe. Eine weitere Niederlage musste der Bundesrat bei der vorgesehenen Beschwerdemöglichkeit für die Staatsanwaltschaft gegen Entscheide des Zwangsmassnahmengerichts hinnehmen. Er hatte diese in der StPO festschreiben wollen, um die ohnehin bereits vom Bundesgericht angewandte Praxis gesetzlich zu verankern. «Es ist unbefriedigend, wenn sich weder die Legitimation noch das Verfahren aus dem Gesetz ergeben», begründete die Justizministerin diese Neuerung. Der Nationalrat folgte auch in dieser Frage mit 98 zu 89 Stimmen seiner Kommissionsmehrheit und strich den betreffenden Absatz aus der Vorlage. Die geschlossen für die Version des Bundesrates stimmenden Fraktionen der SVP und der FDP sowie einzelne Stimmen aus der Mitte- und der GLP-Fraktion befürchteten, ohne Beschwerdemöglichkeit für die Staatsanwaltschaft könnte «eine zu Unrecht erfolgte Nichtanordnung von Haft» in gewissen Fällen «eine Fortsetzung der Strafuntersuchung illusorisch» machen, wie es Christa Markwalder (fdp, BE) formulierte. Die Ratsmehrheit folgte indessen der Argumentation von Mitte-Vertreter Philipp Matthias Bregy: Wenn die Staatsanwaltschaft Beschwerde gegen die Nichtanordnung, Nichtverlängerung oder Aufhebung der Untersuchungshaft einlegen könne, könne die Untersuchungshaft «durch systematische Beschwerden der Staatsanwaltschaften unnötig verlängert» werden. Selbst Bundesrätin Karin Keller-Sutter gab zu bedenken, es sei «alles andere als klar», ob sich die Beschwerdeberechtigung für die Staatsanwaltschaft mit den Vorgaben der EMRK vereinbaren lasse. Weil die Überführung der bundesgerichtlichen Praxis in das Gesetz von einer angenommenen parlamentarischen Initiative Jositsch (sp, ZH; Pa.Iv. 12.497) gefordert und in der Vernehmlassung mehrheitlich begrüsst worden sei, habe sich die Regierung «trotz aller Bedenken und Unsicherheiten» entschieden, die nun im Nationalrat durchgefallene Regelung in den Entwurf aufzunehmen, so die Justizministerin.
Weiter sollten DNA-Profile gemäss dem Entwurf des Bundesrates neu auch dann erstellt werden dürfen, wenn «erhebliche und konkrete Anhaltspunkte» für eine Verwicklung der beschuldigten Person in bereits begangene oder künftige Delikte bestimmter Schwere bestünden, und nicht mehr nur zur Aufklärung von Verbrechen, die Gegenstand des aktuellen Verfahrens sind. Die Kommissionsmehrheit wollte hier einerseits einen Schritt weiter gehen und schlug vor, dass bei vergangenen Straftaten eine «gewisse Wahrscheinlichkeit» bereits genügen sollte; für die Aufklärung zukünftiger Straftaten lehnte sie andererseits die Erstellung eines DNA-Profils gänzlich ab. Die Volkskammer folgte diesen beiden Anträgen, wobei die Verschärfung bezüglich der vergangenen Straftaten gegen den Widerstand des links-grünen Lagers und die Streichung bezüglich der zukünftigen Straftaten gegen die SVP- und Teile der Mitte-Fraktion durchgesetzt wurde.
Überdies nahm der Nationalrat mit grosser Mehrheit auch einen Einzelantrag Regazzi (mitte, TI) an, der darauf zielte, die Möglichkeiten zur verdeckten Ermittlung im Bereich der Kinderpornografie zu erweitern. Bundesrätin Karin Keller-Sutter hatte vergeblich darauf hingewiesen, dass der Antrag in die sorgfältig austarierte Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Kantonen eingreife und deshalb abzulehnen sei. Ebenfalls gegen den Willen des Bundesrates fügte die grosse Kammer einen neuen Artikel über die restaurative Gerechtigkeit («justice restaurative», Wiedergutmachungsjustiz) in die StPO ein. Die Kommission habe sich mit 15 zu 6 Stimmen bei 3 Enthaltungen zu diesem «mutigen Schritt» entschieden, berichtete Kommissionssprecher Beat Flach. Wenn beide Seiten damit einverstanden sind, soll neu eine Art Mediation zwischen Opfern und Tätern durchgeführt werden können. Es gehe nicht darum, wie von ablehnenden Stimmen aus SVP und Mitte kritisiert, die Verfahren zu verlängern oder «dem Straftäter gegenüber irgendwie Milde walten zu lassen», sondern dem Opfer eine Möglichkeit zu geben, sich mit dem Geschehenen zu beschäftigen und es aufzuarbeiten. Erfahrungen aus der Westschweiz und aus Belgien zeigten, dass solche Prozesse das «rein[e] Aburteilen und Strafen» gut ergänzen und vor allem für die Opfer «eine Hilfe auf dem weiteren Lebensweg» sein könnten. Bundesrätin Karin Keller-Sutter betonte, dass der Bundesrat die «justice restaurative» nicht generell ablehne, mahnte den Nationalrat aber zur Vorsicht, nicht übereilt zu handeln. Sie kritisierte die unpräzise Formulierung, die sowohl den Anwendungsbereich als auch die Folgen einer allenfalls erfolgreichen Wiedergutmachung zu stark offen lasse; das sei «unter dem Aspekt der rechtsgleichen Behandlung heikel». Auch müsste die Frage zuerst mit den Kantonen diskutiert werden, die die StPO schliesslich anwendeten. Den Einwand, das Konzept sei zu wenig ausgereift, liess Kommissionssprecher Flach nicht gelten: Der Ständerat könne als Zweitrat noch «nachjustieren». Mit 122 zu 71 Stimmen sah das auch der Nationalrat so und hiess den Vorschlag seiner Kommissionsmehrheit gut, wobei sich die SVP-Fraktion geschlossen und die Mitte-Fraktion mehrheitlich gegen die Einführung der Wiedergutmachungsjustiz aussprach.
Eine weitere Neuerung, die der Bundesrat nicht durchsetzen konnte, war das Ansinnen, die Staatsanwaltschaft zu verpflichten, die beschuldigte Person im Strafbefehlsverfahren zwingend einzuvernehmen, wenn ihr eine unbedingte Freiheitsstrafe droht. Eine Einvernahme erhöhte die Akzeptanz eines Strafbefehls, begründete die Justizministerin diesen Schritt. Während eine links-grüne Minderheit die Einvernahme auch bei hohen Geldstrafen verpflichtend machen wollte, erachtete die bürgerliche Ratsmehrheit die heutige Regelung als ausreichend und strich den Artikel gänzlich aus dem Entwurf.
Damit hatte der Nationalrat der Revisionsvorlage einige Zähne gezogen, die insbesondere den Strafverfolgungsbehörden zugute gekommen wären. Von der Ratslinken hatte sich der Bundesrat zunächst vorwerfen lassen müssen, einer «durchaus beeindruckende[n] PR-Offensive» (Min Li Marti, sp, ZH) der Staatsanwaltschaft erlegen zu sein. Gegen die Vorlage, wie sie nun vom Nationalrat angepasst worden war, regte sich in der Gesamtabstimmung von linker Seite aber kein Widerstand mehr. «Den Ton gaben Anwältinnen und Anwälte an», resümierte denn auch die NZZ die Debatte. Mit dem Ergebnis explizit unzufrieden zeigte sich die SVP-Fraktion. Die versprochene Verbesserung der Praxistauglichkeit der StPO für die Strafverfolgungsbehörden sei «heute in diesem Saal nicht passiert», so SVP-Vertreter Pirmin Schwander (svp, SZ), weil die Ratsmehrheit die zentralen Neuerungen verworfen habe. Die grosse Kammer verabschiedete den Entwurf schliesslich mit 139 zu 54 Stimmen an den Zweitrat. Stillschweigend schrieb er die Motionen 09.3443, 11.3223, 11.3911, 12.4077 und 14.3383 sowie die Postulate 15.3447 und 15.3502 ab. Die vom Bundesrat ebenfalls beantragte Abschreibung des Postulats 18.4063 zur Wiedergutmachungsjustiz lehnte er jedoch ab.

Änderung der Strafprozessordnung (BRG 19.048)
Dossier: Revision der Strafprozessordnung (Umsetzung der Mo. 14.3383)

Zusammen mit einer Motion Markwalder (fdp, BE; Mo. 18.3148) wurde in der Frühjahrssession 2021 eine Motion der SGK-NR zur ärztlichen Abgabe von Cannabis als Medikament an Chronischkranke abgeschrieben. Dies geschah im Zuge der Behandlung der Betäubungsmittelgesetzesrevision (BRG 20.060), in welche die Anliegen der beiden Geschäfte Einfluss fanden.

Ärztliche Abgabe von Cannabis als Medikament an Chronischkranke. Tiefere Gesundheitskosten und weniger Bürokratie

Neben einer Motion der SGK-NR (Mo. 18.3389) schrieben National- und Ständerat in der Frühjahrssession 2021 auch eine Motion Markwalder (fdp, BE) zum Anbau und Export von medizinischem Cannabis ab, da die Anliegen der beiden Geschäfte in die Gesetzesrevision des BetMG (BRG 20.060) Eingang gefunden hatten.

Anbau und Export von medizinischem Cannabis (Mo. 18.3148)

Der Nationalrat behandelte die zweite Revision des Covid-19-Gesetzes in einer Open-End-Sitzung, an deren Ende er gar noch den Nachtrag I zum Voranschlag 2021 anhängte. Mit einer Dauer von 10 Stunden und 10 Minuten (von 14:30 Uhr bis 00:40 Uhr) sei dies die längste Debatte der jüngeren Parlamentsgeschichte gewesen, wie die Parlamentsdienste auf Medienanfrage bestätigten. In dieser «Monsterdebatte» (SRF Online) hatte die grosse Kammer neben der Grundsatzdebatte und unzähligen Mehrheitsanträgen auch 54 Minderheitsanträge und 25 Einzelanträge zu behandeln. Die Relevanz dieser Debatte zeigte sich auch daran, dass drei Mitglieder des Bundesrates zugegen waren: Neben Finanzminister Maurer, der auch die erste Revision sowie die Debatte im Ständerat begleitet hatte, begründete Gesundheitsminister Berset die bundesrätlichen Positionen zum umstrittensten ersten Block der Vorlage und Wirtschaftsminister Parmelin diejenigen im vierten Block zum Thema der Arbeitslosenversicherung. Dabei schuf der Nationalrat zahlreiche Differenzen zum Ständerat, insbesondere im Bereich der Härtefallhilfen, verzichtete aber auf die umstrittensten Anträge der Kommissionsmehrheit.

Eintreten war unbestritten. Insbesondere der erste Block hatte es in der Folge aber in sich, wurde hier doch die zuvor medial stark diskutierte Frage des Endes der Corona-bedingten Schliessungen in verschiedenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen behandelt. Bereits in der Grundsatzdebatte wiesen Esther Friedli (svp, SG) und Fabio Regazzi (mitte, TI) für die Kommission auf die Unzufriedenheit der Mehrheit der WAK-NR mit den jüngsten Handlungen des Bundesrat hin: Die Kommission habe den Bundesrat brieflich darauf hingewiesen, dass sie «eine Schliessung der Läden als nicht zielführend erachte […]; dies, weil neben den gesundheitlichen auch die wirtschaftlichen Folgen im Auge behalten werden müssen», und eine umfassende Öffnung gefordert. Trotz dieser Forderung der WAK-NR sowie weiterer Kommissionen hatte sich der Bundesrat bisher gegen kurzfristige Öffnungen entschieden, hatte aber auf den 1. März 2021 einen ersten kleineren Öffnungsschritt vorgenommen. Folglich versuchte die Kommissionsmehrheit ihre Anliegen mithilfe des Covid-19-Gesetzes durchzusetzen.
Das zentrale Anliegen der Kommissionsmehrheit stellte die Öffnung der Restaurationsbetriebe sowie der öffentlich zugänglichen Einrichtungen und Betriebe in den Bereichen Kultur, Unterhaltung, Freizeit und Sport auf den 22. März 2021 – den Tag nach den Schlussabstimmungen zur zweiten Revision des Covid-19-Gesetzes – dar. Diese Öffnungen sollten entsprechend ins Covid-19-Gesetz aufgenommen werden. Die WAK-NR hatte sich zuvor knapp mit 12 zu 11 Stimmen bei 1 Enthaltung zu diesem medial vieldiskutierten und -kritisierten Entscheid durchgerungen. Der Öffnungsplan des Bundesrates sei der Kommissionsmehrheit zu zaghaft, betonte Friedli. Die epidemiologische Lage erlaube die Öffnung der Betriebe. Die Schutzkonzepte, Massentests und Impfungen zeigten Wirkung und die Spitäler seien weniger ausgelastet; folglich seien die Schliessungen «nicht mehr verhältnismässig». Eine Minderheit I Burgherr beantragte sogar, den Öffnungstermin auf den 1. März 2021 zu legen, womit der Antragssteller zwar keine rückwirkende, jedoch eine sofortige Öffnung erreichen wollte. Alle Indikatoren zeigten – «unabhängig von den harten Massnahmen» von Dezember 2020 und Januar 2021 – eine Verbesserung der Situation an, gleichzeitig stiegen die staatlichen Ausgaben stündlich um CHF 6 Mio., ergänzte Burgherr die Argumente der Kommission. Damit zerstöre man den Schweizer Wohlstand, die Wirtschaft, die Existenzen von Menschen sowie deren Gesundheit. Es sei zwar «irgendwie verrückt, dass wir die Termine in dieses Gesetz schreiben müssen, aber leider ist das inzwischen nötig geworden». Dies sahen eine Minderheit II Grossen (glp, BE; Art. 8a) und eine Minderheit II Rytz (gp, BE; Art. 8b) anders: Sie beantragten, auf die Aufnahme dieser zwei Bestimmungen ins Covid-19-Gesetz zu verzichten. Jürg Grossen bezeichnete ein fixes Öffnungsdatum als «unverantwortlich». Er hatte in den Tagen zuvor die Schaffung einer Erklärung des Nationalrats, in welcher dieser eine Öffnung auf den 22. März 2021 forderte, initiiert, eine Verpflichtung zur Öffnung ging ihm aber zu weit. Auch er wünsche sich den Normalzustand zurück, dieser müsse aber «auch langfristig Bestand haben. Wir haben es hier aber eben mit einem Virus zu tun, das nicht das macht, was wir uns wünschen oder was wir ins Gesetz schreiben». Auch Gesundheitsminister Berset sprach sich gegen die entsprechende Regelung aus: Der Bundesrat gehe in dieselbe Richtung, in die die Kommission gehen wolle, nehme aber eine risikobasierte Öffnung vor. Der Unterschied liege entsprechend in der Geschwindigkeit. Er wolle nicht das Risiko eingehen, «dass es wieder explodiert, mit allen Konsequenzen auch für die Spitäler, für die Intensivpflegestationen». Folglich forderte er weiterhin die Möglichkeit für den Bundesrat, «in Abhängigkeit von der Situation» über eine Weiterführung der verschiedenen Massnahmen entscheiden zu können. Der Nationalrat bevorzugte in der Folge in beiden Fragen den Öffnungstermin des 22. März 2021 gegenüber einer Öffnung auf den 1. März 2021, sprach sich jedoch anschliessend für die beiden Minderheitsanträge Grossen und Rytz aus und verzichtete auf die Festschreibung fixer Öffnungstermine (121 zu 69 Stimmen bei 4 Enthaltungen respektive 122 zu 70 Stimmen bei 3 Enthaltungen). Die Position der Kommissionsmehrheit fand in der SVP fast vollständig Anklang und wurde überdies von Minderheiten der FDP.Liberalen- sowie der Mitte-Fraktion unterstützt.
Neben diesen zwei Hauptartikeln hatte die Kommissionsmehrheit in diesem Block noch zwei weitere Änderungen vorgeschlagen, nämlich einerseits eine Wiedereröffnung von Schiessständen mit Schutzkonzepten auf den 22. März 2021, die eine Minderheit Birrer-Heimo (sp, LU) ablehnte. Die Minderheitensprecherin zeigte sich genervt darüber, dass «Schiessstände […] noch einen separaten Passus [im Covid-19-Gesetz] erhalten» sollten. Auch dieser Mehrheitsantrag fand im Plenum nur bei der SVP-Fraktion und einzelnen FDP.Liberalen- und Mitte-Mitgliedern Zustimmung. Als allgemeinere Regelung wollte die Kommission andererseits festhalten, dass der Bundesrat einen Lockdown und eine Homeoffice-Pflicht nur noch «in begründeten Ausnahmefällen» und maximal für 90 Tage erlassen können sollte. Da diese Regelung rückwirkend auf den 1. Dezember 2020 in Kraft treten sollte, wäre die maximale Dauer für Lockdown und Homeoffice-Pflicht bereits am 28. Februar 2020 abgelaufen – die aktuellen Einschränkungen hätten folglich auch hier sofort aufgehoben werden müssen. Fabio Regazzi begründete diesen Entscheid der Kommissionsmehrheit damit, dass ein Lockdown und eine Homeoffice-Pflicht so weitreichende Massnahmen seien, dass man einerseits eine rechtliche Grundlage dafür schaffen, diese aber andererseits auch zeitlich begrenzen wolle. Auch diesen Vorschlag der Kommissionsmehrheit lehnte der Nationalrat jedoch ab; Zustimmung fand er bei der Mehrheit der SVP- sowie bei Minderheiten der FDP.Liberalen- und der Mitte-Fraktion.
Schliesslich beantragte die WAK-NR auch eine vom Ständerat eingefügte Bestimmung, wonach Kantonen mit guter epidemiologischer Lage und geeigneten Massnahmen Erleichterungen bezüglich des Lockdowns gewährt werden sollten, zur Annahme. Mit dieser «Lex Grischun», wie sie der Finanzminister im Rahmen der ständerätlichen Debatte bezeichnet hatte, sollte die Massentest-Strategie des Kantons Graubünden gewürdigt werden. Prisca Birrer-Heimo lehnte diesen Antrag ab und erinnerte an den «Beizen- und Einkaufstourismus in den Kantonen […], gefolgt vom Virustourismus» im Herbst 2020, als kantonal unterschiedliche Lösungen vorgelegen hatten. Damals sei bald eine national einheitliche Regelung gefordert worden, weshalb die Kantone gemäss Schreiben der GDK in dieser Frage mehrheitlich einheitliche Regeln befürworteten. Hier setzte sich jedoch die Kommissionsmehrheit, unterstützt von der SVP, den FDP.Liberalen und einer Mehrheit der Mitte-Fraktion, durch.
Darüber hinaus lagen zahlreiche weitere Öffnungsanträge von Kommissionsminderheiten oder Einzelpersonen vor. Eine Minderheit Friedli forderte ein Ende der Homeoffice-Pflicht auf den 22. März 2021 und ein Einzelantrag Aeschi (svp, ZG) die Wiedereröffnung der Aussenbereiche von Restaurants. In fünf Einzelanträgen forderte Jean-Luc Addor (svp, VS) ein Ende der Einschränkungen bei politischen Versammlungen, Versammlungen im Familien- und Freundeskreis oder im öffentlichen Raum, bei Präsenzveranstaltungen in Bildungseinrichtungen oder bei Gottesdiensten. Sämtliche Anträge blieben erfolglos und fanden nur bei der SVP-Fraktion sowie teilweise bei Minderheiten der FDP.Liberalen- und/oder der Mitte-Fraktion Zustimmung. Hingegen sprach sich der Nationalrat für eine Regelung aus einem Einzelantrag Rüegger (svp, OW) aus, die es Berufsleuten aus der Landwirtschaft, dem Bausektor sowie Handwerkerinnen und Handwerkern auf Montage erlaubt, sich in Gastrobetrieben zu verpflegen. Dies hatte zuvor auch die Petition «Beizen für Büezer» gefordert.

Ein weiteres medial stark diskutiertes Thema betraf die Rolle der Covid-19-Task Force. Die Kommissionsmehrheit wollte die Mitglieder der Task Force im Covid-19-Gesetz zur Wahrung ihres Rahmenmandats verpflichten. Demnach sollte die nach aussen gerichtete Kommunikation der Task Force nur noch durch deren Präsidentinnen oder Präsidenten erfolgen, während die übrigen Mitglieder bei öffentlicher Kommunikation deklarieren müssten, dass dies ausserhalb ihres Mandats geschehe. Dies sei gemäss Kommissionssprecher Regazzi nötig, zumal die Task Force ihr Mandat überschreite oder gar missbrauche, wenn sie den Bundesrat öffentlich belehre oder das Parlament kritisiere. Eine Minderheit Rytz, welche die Streichung dieser Regelung beantragte, fürchtete den Glaubwürdigkeitsverlust einer «aufgeklärte[n], liberale[n] Demokratie […], wenn sie der Wissenschaft einen Maulkorb umhängen will und naturwissenschaftliche Tatsachen ignoriert». Balthasar Glättli (gp, ZH) stellte zudem den Nutzen davon, die bisherige kritisierte Regelung telquel ins Covid-19-Gesetz aufzunehmen, in Frage. Mit 116 zu 78 Stimmen (bei 1 Enthaltung) setzten sich SP, GPS, GLP und eine Mehrheit der Mitte-Fraktion durch und lehnten die entsprechende Bestimmung der Kommissionsmehrheit ab. Erfolglos blieb auch eine ergänzende Forderung von David Zuberbühler (svp, AR), den Zugang zu den bundesrätlichen Medienkonferenzen in der Corona-Thematik allen Schweizer Medien, also auch den im Bundeshaus nicht akkreditierten kantonalen, regionalen oder lokalen Medien, zu eröffnen. Den Kantonen komme eine wichtige Rolle zu, weshalb auch die entsprechenden Medien die Möglichkeiten für direkte Rückfragen haben müssten.

Nicht nur an der Kommunikation durch die Task Force, auch an der Berechnung der Covid-19-Zahlen störte sich die Kommissionsmehrheit. Entsprechend forderte sie, dass in die Berechnung der Positivitätsrate neu auch die Resultate von Massentests in Unternehmen einfliessen sollten. Bisher waren diese nicht integriert worden, weil man gemäss Bundesrat Berset die administrativen Hürden für die Unternehmen nicht habe vergrössern wollen. Zudem solle über rückwirkende Korrekturen der Covid-19-Kennzahlen «offen und transparent» informiert werden. Damit solle die Sicherheit und die Sichtbarkeit der vorhandenen Informationen gewährleistet werden, argumentierte Regazzi. Zudem wollte ein Einzelantrag Humbel (cvp, AG) zur Berechnung der Positivitätsrate ausschliesslich auf PCR-Tests setzen. Eine Minderheit Gysi (sp, SG) tat diese Anträge der Kommissionsmehrheit und von Ruth Humbel jedoch als Mikromanagement ab und setzte sich mit dieser Ansicht auch durch.
Darüber hinaus störten sich die Kommission sowie Thomas Aeschi, Thomas Burgherr und Nicolo Paganini (mitte, SG) auch allgemein an den Masszahlen, auf denen der Bundesrat seine Entscheidungen basierte. Die WAK-NR schlug deshalb vor, die zu berücksichtigenden Masszahlen im Gesetz festzuhalten und dem Bundesrat die Verwendung eines Ampelsystems mit Grenzwerten, welche eine Verschärfung oder Lockerung der Massnahmen anzeigen sollten, festzuschreiben. Diese Liste von Masszahlen der Kommission wollten die Minderheiten- und Einzelanträge weiter einschränken. Gesundheitsminister Berset wehrte sich insbesondere gegen das Ampelsystem, zumal der Bundesrat anfänglich Automatismen ausprobiert habe, aber schnell festgestellt habe, dass er Flexibilität brauche. Stattdessen setze man auf Richtwerte als Entscheidungshilfen, aber nicht als automatische Entscheidungsgrundlagen. Zudem seien eben – wie zum Beispiel Thomas Aeschi seine Forderung, auf die Berücksichtigung der Positivitätsrate zu verzichten, begründet hatte – die Zahlen nicht immer korrekt; entsprechend brauche es einen «Strauss von unterschiedlichen Kriterien, und dann braucht es einfach gesunden Menschenverstand [...], um zu versuchen, einen Entscheid zu fällen». Sowohl der Mehrheitsantrag als auch sämtliche Minderheits- und Einzelanträge zu diesem Thema wurden abgelehnt, womit es bei der bundesrätlichen Fassung blieb.
In eine ähnliche Richtung ging die Idee der Kommissionsmehrheit, dem Bundesrat Massnahmen wie Contact Tracing, ein tägliches Monitoring als Entscheidungsgrundlage, Orientierung an nationalen und internationalen Erfahrungen, die Erstellung eines Impfplans oder Möglichkeiten für Quarantänelockerungen vorzuschreiben. Trotz Ablehnungsantrag des Bundesrates stimmte die grosse Kammer dieser Regelung zu. Eine Minderheit Martullo-Blocher (svp, GR) und ein Einzelantrag Addor wollten darüber hinaus den Bundesrat bei der Ergreifung weiterer Massnahmen mit bedeutenden volkswirtschaftlichen Auswirkungen dazu zwingen, vorgängig die Zustimmung der zuständigen parlamentarischen Kommissionen einzuholen. Als Alternative schlug Philipp-Mathias Bregy (cvpo, VS) in Übereinstimmung mit den parlamentarischen Initiativen 20.418 und 20.414 vor, eine neue gemeinsame Kommission beider Räte zu schaffen, die Empfehlungen an den Bundesrat ausspricht, die Sachkommissionen informiert und die bundesrätlichen Massnahmen evaluiert. Die «politische Eskalation» verdeutliche die Notwendigkeit einer «zusätzliche[n] legislative[n] Institution». Der Nationalrat lehnte den Minderheitsantrag Martullo-Blocher sowie den Einzelantrag Addor ab, während Philipp-Mathias Bregy seinen Antrag zurückzog. Stattdessen folgte der Nationalrat einem Vorschlag des Ständerates, wonach neu nicht mehr «die Kantone», also faktisch die KdK/GDK, sondern die einzelnen Kantonsregierungen in die Entscheidungen einbezogen werden müssen. Dagegen hatte sich der Bundesrat gewehrt, zumal es ihm wichtig sei, eine konsolidierte Meinung der Kantone anzutreffen.

Daneben beschäftige den Rat insbesondere auch die Frage der Impfungen, respektive der Folgen für die Geimpften und Ungeimpften. Der Ständerat wollte bei mit zugelassenen Covid-19-Impfstoffen Geimpften auf Quarantänemassnahmen verzichten, was die Kommissionsmehrheit jedoch streichen wollte, zumal nicht alle Impfstoffe gleich wirksam seien und die Regelung Ungleichheiten schaffe. Eine Minderheit Aeschi, die dem Ständerat beipflichten wollte, setzte sich äusserst knapp mit 96 zu 96 Stimmen (bei 3 Enthaltungen) und Stichentscheid von Präsident Aebi (svp, BE) durch. Mit Minderheits- und Einzelanträgen wollten Thomas Aeschi und Jean-Luc Addor zudem sicherstellen, dass niemand zu einer Impfung gezwungen oder aufgrund einer fehlenden Impfung diskriminiert werden darf und die entsprechenden Impfdaten ausschliesslich für medizinische Zwecke genutzt werden dürfen. Für die Kommission sprach sich Esther Friedli gegen eine solche Einschränkung aus, zumal diesbezüglich zuerst noch viele offene Fragen geklärt werden müssten. Die grosse Kammer lehnte beide Anträge ab und sprach sich stattdessen für zwei Anträge von Regine Sauter (fdp, ZH) und Lorenz Hess (bdp, BE) aus, wonach der Bundesrat ein international kompatibles Covid-19-Zertifikat – einen Impf- und Testnachweis (Sauter) – respektive die rechtlichen Grundlagen für ein solches Zertifikat (Hess) erstellen sollte.

Auch eine Ausweitung des vereinfachten Verfahrens zur Unterschriftenbeglaubigung auf Volksinitiativen hiess der Nationalrat gut. Schliesslich war auch ein Minderheitsantrag Glättli auf Verpflichtung der Kantone zu Contact Tracing und auf Gewährung von Bundesgeldern zur Sicherstellung der Funktionsfähigkeit des Contact Tracing-Systems erfolgreich.
Im medial viel diskutierten ersten Block waren somit nur sehr wenige Anträge erfolgreich: In den meisten Fällen folgte der Nationalrat hier dem Ständerat. Erfolglos blieben sämtliche Kommissionsanträge, welche die Handlungsfreiheit des Bundesrates einschränken wollten.

Im zweiten Block, dem gemäss Finanzminister Maurer «teuersten Teil der Vorlage», beschäftigte sich der Nationalrat mit den Härtefall-Massnahmen für Unternehmen und den Verpflichtungskrediten. Dabei bereiteten die Anträge der Kommissionsmehrheit dem Finanzminister ziemlich sicher Kopfzerbrechen, beantragte sie doch Mehrausgaben von insgesamt CHF 9 Mrd. Wie bereits in früheren Debatten zum Covid-19-Gesetz verwies Finanzminister Maurer nochmals darauf, dass der Bund nicht sämtliche entgangenen Einnahmen, sondern lediglich Härtefälle abgelten könne – die hier gestellten Anträge würden aber weit über eine Härtefallabgeltung hinausgehen. Überdies prophezeite er mögliche Rechtsstreitigkeiten in anderen Bereichen, die weniger grosszügig behandelt würden, zum Beispiel bei den KAE, Studierenden oder Lernenden. Dabei kritisierte er auch das Vorgehen der Kommission, die teilweise «wirklich faktenfrei» gehandelt habe, indem sie Entscheidungen getroffen habe, ohne deren Kosten zu kennen. Nun seien die Kosten aber bekannt, weshalb die Entscheidungen korrigiert werden müssten. Schliesslich verwies er auf die Beteiligung der Kantone an diesen Entscheidungen und auf deren starke Belastung durch die Mehrausgaben. Neben dem Finanzminister störte sich auch die SVP an diesen Zusatzausgaben und forderte in mehreren Minderheitsanträgen einen Verzicht auf eine Aufstockung der Härtefallmassnahmen. Er begreife nicht, «dass man auf der einen Seite, bei den gesundheitspolitischen Massnahmen, dem Bundesrat vollumfänglich vertraut und daran nichts ändern will, während man auf der anderen Seite den finanzpolitisch austarierten Stützungsmassnahmen dann derart misstraut», fasste Albert Rösti (svp, BE) den Unmut der SVP zusammen. Im Gegenzug verwies Esther Friedli für die Kommissionsmehrheit auf die Probleme bei den Härtefallprogrammen. Diese habe man nun erkannt und müsse sie folglich beheben.
Die folgende Beratung des zweiten Blocks wurde dann in der Tat zum Albtraum des Finanzministers. In einem ersten Schritt beschloss der Nationalrat, Härtefallhilfen unabhängig vom Gründungsdatum der Unternehmen zu sprechen. Der Bundesrat hatte, unterstützt vom Ständerat, vorgeschlagen, Unternehmen, die nach dem 1. Oktober 2020 gegründet worden waren, nicht zu unterstützen, weil diese mit einem Anstieg der Covid-19-Erkrankungen hätten rechnen müssen. Der Finanzminister beschilderte diese Zusatzausgabe der Kommissionsmehrheit mit CHF 300 Mio.
Darüber hinaus entschied sich der Nationalrat, Härtefallhilfen neu auch Unternehmen, deren Umsatz während der Covid-19-Pandemie 75 statt 60 Prozent des durchschnittlichen Umsatzes beträgt, zukommen zu lassen. Gleichzeitig sollten nicht mehr die gesamte Vermögens- und Kapitalsituation der Unternehmen, sondern nur noch ihre ungedeckten Fixkosten berücksichtigt werden. In der Praxis sei festgestellt worden, dass auch Unternehmen mit einem Umsatz leicht unter 75 Prozent des früheren Umsatzes grosse Probleme hätten und ebenfalls Härtefallunterstützung benötigten, um überleben zu können. Die Konzentration auf die nicht gedeckten Fixkosten begründete die Kommissionsmehrheit damit, dass aufgrund der Berücksichtigung der Vermögens- und Kapitallage «vor der Krise gesunde Unternehmen faktisch erst unterstützt werden, wenn sie schon fast in Konkurs sind». Dieser Entscheid des Nationalrats koste CHF 3.5 Mrd., rechnete der Finanzminister vor, damit würden 17'000 zusätzliche Betriebe berücksichtigt.
Etwa CHF 500 Mio. würde der Antrag der Kommissionsmehrheit kosten, die vom Ständerat geschaffene Pflicht zu streichen, wonach sich Eignerinnen und Eigner von Unternehmen an den Härtefallleistungen beteiligen müssen, wenn diese CHF 5 Mio. übersteigen. «Wer ein Härtefall ist, hat ja wohl kaum noch Möglichkeiten, Eigenmittel einzubringen», argumentierte Esther Friedli für die Kommission und verwies auf die Ungleichbehandlung gegenüber Unternehmen mit tieferem Jahresumsatz. Auch diesen Vorschlag der Kommissionsmehrheit nahm der Nationalrat an.
Eine Gewinnbeteiligung des Bundes bei denjenigen Unternehmen mit Jahresumsatz von über CHF 5 Mio., die A-Fonds-perdu-Beiträge erhalten hatten, hatte der Ständerat tags zuvor eingeführt. Im Geschäftsjahr der entsprechenden Härtefallhilfe sollen die Unternehmen in der Folge ihren gesamten Gewinn (maximal jedoch den Betrag, den sie vom Bund erhalten hatten minus CHF 1 Mio.) dem Bund abgeben müssen. Dagegen wehrte sich eine Minderheit Badran (sp, ZH), die auf die Definition von «A Fonds perdu» hinwies, die entsprechenden Leistungen als «Abgeltung für unverschuldeten Schaden» verstand und sich dagegen wehrte, Unternehmen, die fleissig arbeiteten, dafür zu bestrafen. Damit würge man Investitionen in die Zukunft ab. Finanzminister Maurer zeigte gewisses Verständnis für die Argumentation von Badran, sorgte sich jedoch insbesondere um die Akzeptanz dieser Massnahmen in der Bevölkerung. Auch hier zeigte sich der Nationalrat grosszügig und folgte dem Antrag Badran, der die entsprechenden Rückzahlungen auf Unternehmen ab einem Jahresumsatz von CHF 250 Mio. beschränken wollte.
Überdies folgte die Mehrheit des Nationalrats dem Ständerat auch bezüglich der Erhöhung der Höchstbeiträge bei den Härtefallhilfen für Unternehmen mit einem Umsatzrückgang von über 70 Prozent – eine Minderheit Aeschi hatte 80 Prozent gefordert. Finanzminister Maurer hatte die Zusatzkosten der beiden Anträge auf CHF 540 Mio. (Mehrheit) und CHF 470 Mio. (Aeschi) beziffert und deren Ablehnung beantragt.
Damit hatte der Nationalrat in wenigen Geschäften Zusatzausgaben in Milliardenhöhe geschaffen. Der Finanzminister sprach einige Tage später davon, dass sich der Nationalrat «in einen Ausgabenrausch gesteigert» habe – zum Ende der Beratung des Covid-19-Gesetzes durch den Nationalrat beliefen sich die Zusatzausgaben auf fast CHF 10 Mrd.

Doch nicht nur aus monetären Gründen lehnte der Bundesrat verschiedene von der Kommissionsmehrheit in diesem Block vorgeschlagene Anträge ab. So störte sich beispielsweise der Finanzminister bezüglich der von der Kommissionsmehrheit vorgeschlagenen Präzisierung des Dividendenverbots weniger an deren Kosten als daran, dass damit im Vollzug Rechtsunsicherheit geschaffen würde – Maurer sprach gar von einem «Gummiparagrafen». So sollten zwar die Ausschüttung von Dividenden und die Rückerstattung von Kapitaleinlagen verboten bleiben, aber Ausschüttungen mit Finanzierungscharakter, für Nachfolgelösungen oder an nicht-mitarbeitende Familienangehörige, Darlehen oder Lohnvorschüsse erlaubt bleiben. Die aktuelle Regelung war vor weniger als drei Monaten beschlossen worden, dennoch sprach sich die Mehrheit des Nationalrats gegen den Widerstand von SVP und FDP für die Änderung aus.
Eine weitere Änderung an Massnahmen, die erst gerade in der letzten Session beschlossen worden waren, schlug die Kommissionsmehrheit beim Handlungsspielraum der Kantone vor. So hatte das Parlament im Dezember entschieden, dass die Kantone bei den Härtefallmassnahmen nur Mindestanforderungen des Bundes einhalten müssen. Nun sollte jedoch eine Pflicht für den Bund zu einer koordinierten Umsetzung der Massnahmen und für Mindeststandards der Leistungen geschaffen werden. Darüber zeigte sich der Finanzminister ziemlich verärgert: «Meiner Meinung nach ist dieser Absatz so ziemlich das Dümmste, was Sie jetzt noch machen können». Der Bund sei seit dem 1. Dezember 2020 gemeinsam mit den Kantonen dabei, die entsprechenden Massnahmen auszuarbeiten – das Vorgehen erfolge somit bereits koordiniert. Es habe lange gedauert, nun sei man aber soweit; folglich mache es keinen Sinn, die Kantone zu zwingen, jetzt noch einmal von vorne zu beginnen. Die Kommissionsmehrheit störte sich jedoch an den unterschiedlichen kantonalen Regelungen und setzte sich mit ihrer Forderung im Nationalrat gegen die SVP, fast die ganze Mitte-Fraktion und einzelne Mitglieder der FDP-Fraktion durch.
Abgelehnt wurden hingegen zahlreiche Minderheitsanträge in diesem Block, etwa eine Minderheit Grossen für eine Erleichterung der Anspruchsvoraussetzungen für Unternehmen mit sehr hohen Umsatzausfällen, einer Minderheit Regazzi für eine neue Unterstützungsmassnahme in Form von A-Fonds-perdu-Beiträgen für Betriebe, die aufgrund von behördlichen Anordnungen geschlossen worden waren, oder eine weitere Minderheit Grossen für eine Wiederaufnahme des Solidarbürgschaftsprogramms.
Einsparungen konnte der Finanzminister schliesslich aufgrund eines Einzelantrags Markwalder (fdp, BE) verzeichnen: Darin wurde gefordert, dass die A-Fonds-perdu-Beiträge maximal den belegten ungedeckten Fixkosten entsprechen dürfen, bei Unternehmen mit über CHF 250 Mio. Jahresumsatz maximal 30 Prozent der ungedeckten Fixkosten. Damit sollten die Härtefallhilfen auf KMU fokussiert werden, da diese auch besonders stark von den Restriktionen betroffen seien. Zudem sollte eine staatliche «Überentschädigungen» verhindert werden. Gegen den Willen von SP, GLP und GP nahm der Rat diesen Antrag an.
Nicht umstritten war in diesem Block hingegen die Frage zu den Härtefallmassnahmen: Diesbezüglich schlug der Bundesrat vor, die finanzielle Beteiligung des Bundes an den Härtefallmassnahmen nicht mehr im Rahmen des Covid-19-Gesetzes, sondern neu in einem separaten Bundesbeschluss über die Finanzierung der Härtefallmassnahmen zu regeln. Mit diesem sollte ein Verpflichtungskredit von CHF 8.2 Mrd. genehmigt werden, wobei CHF 4.2 Mrd. für Unternehmen mit einem Jahresumsatz bis CHF 5 Mio., CHF 3 Mrd. für grössere Unternehmen und CHF 1 Mrd. als Bundesratsreserve eingesetzt werden sollten. Mit 192 zu 4 Stimmen nahm der Nationalrat den neuen Bundesbeschluss deutlich an. Die ablehnenden Stimmen stammten von Mitgliedern der SVP-Fraktion.

In einem dritten Block zum Thema «Arbeitslosenversicherung» vertrat Wirtschaftsminister Parmelin die Position des Bundesrates. Bei den Bestimmungen im Bereich der ALV lagen verschiedene Änderungsanträge vor. Der Bundesrat hatte vorgeschlagen, die Höchstdauer für Kurzarbeitsentschädigung zu erhöhen, zumal Unternehmen, die seit März 2020 ohne Unterbrechung auf KAE angewiesen waren, die bisherige Höchstdauer Ende August 2021 erreichen würden. Nach dem Ständerat sprach sich auch der Nationalrat für die Erhöhung aus. Überdies schlug der Bundesrat eine Streichung der Voranmeldefrist für KAE und rückwirkende Anmeldungsmöglichkeiten ab dem 18. Dezember 2020 vor, die WAK-NR wollte diese Rückwirkung bereits ab dem 1. September 2020 ermöglichen und gleichzeitig bis Ende April 2021 beschränken. Die Unternehmen seien im Dezember 2020 von den schnellen Schliessungen «überrumpelt» worden, betonte Bundesrat Parmelin, nun sollten sie die verpassten Anmeldungen nachholen können. Um die kantonalen Ämter zu schonen, begrenzte der Bundesrat die Rückwirkung aber stärker als die Kommissionsmehrheit, die sich in dieser Frage jedoch durchsetzte.
Bezüglich der ordentlichen Leistungen der ALV wollte die Kommissionsmehrheit in Übereinstimmung mit dem Bundesrat und dem Ständerat 66 zusätzliche ALV-Taggelder für die Monate März bis Mai 2021 schaffen, um der schwierigen Arbeitsmarktsituation Rechnung zu tragen. Eine Minderheit Ryser (gp, SG) wollte jedoch auch die Monate Januar und Februar in diese Bestimmung aufnehmen und die zusätzliche Anzahl Taggelder auf 107 erhöhen. Damit würden auch Personen unterstützt, die im Januar ausgesteuert wurden, zumal diese in der Folge kaum Stellen im Detailhandel oder im Gastgewerbe hätten finden können. «Wären [diese Personen] erst im März ausgesteuert worden, würden sie von einer Verlängerung profitieren», begründete Ryser den Antrag. Bundesrat Parmelin und mit ihm auch die Mehrheit des Nationalrats lehnten diese rückwirkende Massnahme aus Rücksicht auf die ohnehin schon überlasteten Durchführungsstellen und auf die zusätzlichen Kosten von CHF 1.3 Mrd. ab. Die Kommissionsmehrheit setzte sich diesbezüglich durch.
Neben diesen Änderungsvorschlägen des Bundesrates lagen erneut zahlreiche Anträge links-grüner Minderheiten auf einen Ausbau der KAE vor. Im Zentrum stand diesbezüglich die Aufstockung der KAE auf 100 Prozent für Einkommen bis CHF 3'470, wie sie im Dezember 2020 temporär bis Ende März 2021 geschaffen worden war. Eine Minderheit Ryser verlangte in Übereinstimmung mit mehreren Motionen, die Grenze für einen 100-prozentigen Anspruch auf CHF 4'000 zu erhöhen. Es habe sich gezeigt, dass die bisherige Grenze gerade für Familien zu tief liege, «das zieht eine Familie unter die Armutsgrenze». Ein Einzelantrag von Flavia Wasserfallen (sp, BE) verlangte gar 100-prozentige KAE für Einkommen bis CHF 4'412, dem Medianlohn im Gastgewerbe. Der Bundesrat verwies hingegen auf die wachsende Ungleichheit bei der Entschädigung von Arbeitslosen und Personen mit KAE und lehnte nicht nur die Erhöhung des entsprechenden Grenzbetrags, sondern auch die Verlängerung dieser Erhöhung bis Ende Dezember 2021 ab. Thomas Aeschi verwies in der Begründung seines Minderheitsantrags, mit dem er die entsprechende Regelung im März 2021 auslaufen lassen wollte, erneut auf die Öffnung der Gastronomie, welche eine solche Lösung überflüssig mache. Für die Kommission betonte Esther Friedli, dass noch immer viele Arbeitnehmende von Kurzarbeit betroffen seien und diese Massnahme folglich bis Ende Juni 2021, nicht aber bis Ende 2021 weiterlaufen soll. Diesem Votum pflichtete der Nationalrat bei und verlängerte die Dauer der bisherigen Lösung auf Ende Juni 2021. Sämtliche Minderheitsanträge lehnte er folglich ab.
Stattdessen sah eine Minderheit Bendahan (sp, VD) ein Dividendenverbot für den Zeitraum des Bezugs von KAE vor: Solange ein Unternehmen von öffentlichen Geldern profitiere, sollten die Aktionärinnen und Aktionäre keine Dividende erhalten, argumentierte er. Bisher bestand ein Dividendenverbot bereits beim Bezug von Härtefallhilfe. Bundesrat Parmelin verwies denn auch darauf, dass KAE keine Subvention, sondern eine Versicherungsleistung seien. Da damit insbesondere die Arbeitsplätze erhalten werden sollen, wäre eine Regelung, gemäss der ein Unternehmen zwischen Kurzarbeit und Dividendenzahlungen wählen muss, kontraproduktiv. Zudem müssten die Unternehmen gerade jetzt Investoren anlocken können. Wie bereits der Ständerat bei der Schaffung des Covid-19-Gesetzes sprach sich nun auch der Nationalrat gegen eine solche Regelung aus, die von der SP, der GP und zwei Mitgliedern der GLP unterstützt wurde.
Auf grossen Widerstand stiess schliesslich der Vorschlag der Kommissionsmehrheit, zur Stärkung des Detailhandels an 12 zusätzlichen Terminen Sonntagsverkäufe durchführen zu können. Deutliche Worte fand die Sprecherin des Minderheitsantrags, Prisca Birrer-Heimo, die den Antrag als «zynisch» und als «Missbrauch der Covid-19-Gesetzgebung» bezeichnete. Das Verkaufspersonal, das unter normalen Bedingungen sehr viel leiste, habe während der Pandemie «noch einen zusätzlichen Effort für die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln geleistet». Dafür seien sie in der ersten Welle beklatscht worden, während man nun von ihnen verlange, noch verstärkt am Sonntag zu arbeiten. Und dies ohne dass die Sozialpartner konsultiert worden seien. Auch Wirtschaftsminister Parmelin verwies auf den starken Widerstand gegen Sonntagsarbeit in Teilen der Bevölkerung und empfahl den Verzicht auf eine solche Regelung. Knapp setzten sich die Minderheit und der Bundesrat mit 96 zu 93 Stimmen (bei 4 Enthaltungen) durch, womit der Nationalrat zusätzliche Sonntagsverkäufe ablehnte.
In der Folge sprach sich der Nationalrat mit 139 zu 54 Stimmen (bei 1 Enthaltung) dafür aus, dem ALV-Ausgleichsfonds CHF 6 Mrd. zur Deckung der Kosten für KAE für die Jahre 2020 und 2021 zukommen zu lassen und die entsprechende Ausgabenbremse zu lösen. Damit sollte verhindert werden, dass sich der ALV-Fonds überschuldet und die automatische Schuldenbremse in Kraft tritt. Einzig die Mitglieder der SVP lehnten die entsprechende Regelung ab respektive enthielten sich der Stimme.

In einem vierten Block behandelte der Nationalrat sämtliche übrigen im Covid-19-Gesetz geregelten Aspekte der Pandemie.
Bei den Geschäftsmieten etwa beantragte eine Minderheit Badran, die Kündigungsfristen bei Mietzinsrückständen auf 90 Tage und bei Pachtzinsrückständen auf 120 Tage zu verlängern. Im Dezember 2020 sei das Parlament davon ausgegangen, dass Vermietende und Mietende eine Lösung finden würden, was eine gesetzliche Regelung unnötig gemacht hätte – dies sei jedoch nicht der Fall gewesen. Insbesondere grosse Vermietende hätten sich in der Folge «darauf berufen, dass das Parlament hier offensichtlich keine Einigung wünsche», und den Mietenden bei Verzug mit Kündigung gedroht. Man müsse nun die Mietenden «bis zum Eintreffen der Härtefallgelder» vor Kündigungen schützen. Finanzminister Maurer erachtete diese Regelung als mit dem Covid-19-Gesetz nicht kompatibel, zumal entsprechende Härtefälle in der Härtefallverordnung geregelt seien – das Anliegen solle folglich dort aufgenommen werden. Die Minderheit setzte sich jedoch mit 98 zu 90 Stimmen (bei 6 Enthaltungen) durch.

Daneben beantragte die Kommissionsmehrheit, die Übernahme von Betriebsstätten durch ausländische Käuferinnen und Käufer erneut einer Bewilligung zu unterstellen. Damit solle verhindert werden, dass ausländische Personen die Notverkäufe von Betrieben während der Pandemie nutzten und dadurch viele Objekte in der Schweiz in fremde Hände gerieten. Bundesrat Maurer lehnte eine solche Regelung im Covid-19-Gesetz ab, nicht zuletzt, weil diese Regelung nur bis zum 31. Dezember 2021 in Kraft sein würde – anschliessend tritt das Gesetz ausser Kraft. Zudem könne eine solch gravierende materielle Änderung nicht ohne Vernehmlassung und breite Abstützung ins Gesetz aufgenommen werden. Schliesslich verwies er auf die parlamentarische Initiative 21.400, der die RK-NR bereits Folge gegeben hatte. Einen Minderheitsantrag Leo Müller (mitte, LU) auf Streichung der Massnahme war anfangs erfolgreich, nach einem Ordnungsantrag und einer Wiederholung der Abstimmung sprach sich der Nationalrat mit 113 zu 80 Stimmen (bei 1 Enthaltung) jedoch für die von der Kommissionsmehrheit vorgeschlagene Regelung aus.

Im Kulturbereich wollte die Kommissionsmehrheit dem Ständerat beipflichten, der die bisher geltende Beschränkung der Höhe der Kulturleistungen aufheben wollte. Man brauche hier analog zu den Härtefallhilfen Flexibilität, argumentierte Esther Friedli. Finanzminister Maurer fürchtete sich jedoch davor, mit dieser Ausweitung «Tür und Tor für Forderungen» zu öffnen. Die Mehrheit setzte sich aber gegen einen Minderheitsantrag Aeschi, der bei der bisherigen Regelung bleiben wollte, durch und strich die Beschränkung für Härtefallhilfen im Kulturbereich. Zudem beantragte die Kommissionsmehrheit, bei der Hilfe für Kulturschaffende die Freischaffenden ausdrücklich zu erwähnen, was eine weitere Minderheit Aeschi ablehnte. Der Finanzminister verwies auf die schwierige Definition von «freischaffende[n] Angestellte[n]» und betonte, dass die selbständigerwerbenden Freischaffenden bereits Anspruch auf den Corona-Erwerbsersatz, Ausfallentschädigung und Notfallhilfe hätten. Auch hier setzte sich die Kommissionsmehrheit jedoch durch.
Darüber hinaus schuf der Nationalrat einen von der Kommissionsmehrheit vorgeschlagenen Paragraphen, der eine Ausfallentschädigung für abgesagte oder verschobene Veranstaltungen, Messen, Gewerbeausstellungen und Jahrmärkte zwischen dem 1. Juni 2021 und dem 30. April 2022 vorsah. Damit wollte die Kommissionsmehrheit einen «Schutzschirm für die Veranstaltungsbranche», wie es Esther Friedli nannte, schaffen. Dies sollte Kulturunternehmen zur Planung neuer Veranstaltungen motivieren. Der Finanzminister bekundete zwar seine Sympathie für die Idee, verwies aber erfolglos auf die daraus resultierenden Vollzugsprobleme.
Angenommen wurde überdies ein Verbot finanzieller Beiträge an kantonale Grundeinkommen, womit die Kommission insbesondere die Bundesfinanzierung des Zürcher Modells der Ausfallentschädigung für Kulturschaffende verhindern wollte. Jedoch entsprächen weder das Zürcher noch das Basler Modell einem Grundeinkommen, betonte Prisca Birrer-Heimo, die diesen Artikel wieder streichen wollte. Durch die Annahme eines befristeten Pauschalbetrags solle lediglich eine administrative Erleichterung geschaffen werden. Zudem widerspreche der in diesem Artikel ebenfalls vorgeschriebene detaillierte Nachweis der finanziellen Einbussen der bisherigen Praxis, wonach finanzielle Einbussen nur plausibilisiert werden müssen. Knapp setzte sich die Kommissionsmehrheit mit 100 zu 92 Stimmen (bei 1 Enthaltung) durch.
Einig waren sich Kommissionsmehrheit und Bundesrat schliesslich bei der Frage der Rückwirkung im Kulturbereich: Hier gäbe es eine Lücke in der bisherigen Gesetzgebung, die durch eine Rückwirkungsklausel geschlossen werden müsse, erklärte der Bundesrat und der Nationalrat stimmte ihm zu.

Bei den Härtefallmassnahmen für Sportklubs hatte sich der Ständerat zuvor entschieden, auf die für den Erhalt von A-Fonds-perdu-Beiträgen nötigen Einkommensreduktionen bei den Sportklubs zu verzichten. Dieses Vorgehen unterstützte eine Minderheit Regazzi gegen den Willen der Kommissionsmehrheit, welche die Einkommensreduktionen beibehalten wollte. Regazzi verwies auf die Probleme von Klubs mit geringerem Budget. Diese müssten Verträge mit ihren Topspielern auflösen, welche den Klub in der Folge ablösefrei verlassen könnten, wodurch diesem Transfereinnahmen entgingen und er an Wettbewerbsfähigkeit verliere. Deshalb hätten auch kaum Super League-Klubs entsprechende Anträge gestellt. Mit 130 zu 48 Stimmen blieb der Nationalrat zwar deutlich bei der im Dezember 2020 getroffenen Regelung, der Minderheitsantrag fand jedoch in allen Fraktionen Zustimmung.

Im Medienbereich hatte der Ständerat zuvor eine Möglichkeit zur Unterstützung für private Radio- und Fernsehunternehmen geschaffen, welche auch in der Kommission nicht umstritten war. Jedoch verlangte eine Minderheit I Rytz statt einer Kann-Formulierung eine Verpflichtung, während eine Minderheit II Birrer-Heimo die entsprechenden Zahlungen nicht aus der RTVG-Abgabe tätigen wollte. Regula Rytz verwies insbesondere auf die Corona-bedingt fehlenden Werbeeinnahmen der Medienunternehmen, deren Einnahmen trotz zunehmender Mediennachfrage sänken. Prisca Birrer-Heimo wehrte sich dagegen, dass die privaten Haushalte die Medienunterstützung durch eine Erhöhung der RTVG-Abgabe finanzieren müssten. Der Nationalrat lehnte die Änderungsvorschläge von Rytz und Birrer-Heimo indes ab und folgte damit dem Ständerat.

Neu hinzugekommen war im Covid-19-Gesetz eine Regelung für Kitas. So schlug der Bundesrat in Übereinstimmung mit der angenommenen Motion 20.3917 Finanzhilfen für Kantone vor, welche die entgangenen Betreuungsbeiträge von öffentlich geführten Institutionen der familienergänzenden Kinderbetreuung übernommen hatten. Eine Minderheit Aeschi lehnte die neue Finanzhilfe ab, scheiterte damit jedoch.

In diesem vierten Block behandelte der Nationalrat auch das Thema des Erwerbsersatzes. Im Dezember hatte das Parlament die Zugangsgrenze zu EO von Umsatzeinbussen von 55 Prozent auf 40 Prozent reduziert, nun wollte die WAK-NR einen Schritt weitergehen und Selbständigerwerbstätigen ab Umsatzeinbussen von 20 Prozent Erwerbsersatz bezahlen. Eine Minderheit Mettler (glp, BE) forderte überdies, die Geltungsdauer des Erwerbsersatzes von Ende Juni 2021 bis Ende Dezember 2021 zu verlängern. Einmal mehr verwies Minderheitensprecher Aeschi auf die Kosten von «mehrere[n] hundert Millionen Franken» – CHF 200 Mio. bis Ende Juni 2021, gar zwischen CHF 600 Mio. und CHF 1 Mrd. bis Ende 2021, wie der Finanzminister daraufhin auswies. Die Kommissionsmehrheit setzte sich jedoch mit dem Argument durch, dass auch Personen mit Erwerbsausfall bis 20 Prozent «in ihrer Erwerbstätigkeit als massgeblich eingeschränkt gelten». Erfolglos blieb hingegen der Antrag auf eine zeitliche Verlängerung der Massnahme.
Für Diskussionen sorgte auch der Antrag, den im Dezember 2020 geschaffenen Anspruch auf Überbrückungsleistungen für Personen, die ab dem 1. Januar 2021 ausgesteuert würden (statt erst ab dem 1. Juli 2021), wieder zu streichen. Stattdessen wollte die Kommissionsmehrheit erreichen, dass diese Personen nicht ausgesteuert werden, bis sie Anfang Juli 2021 ÜL beziehen können. Eine Minderheit Aeschi beantragte hingegen, sowohl die im Dezember geschaffene Lösung zu streichen als auch auf die neue Lösung der Kommission zu verzichten. So seien die für einen rückwirkenden Anspruch auf ÜL nötigen Strukturen gemäss der Verwaltung noch nicht vorhanden, unterstützte Daniela Schneeberger (fdp, BL) die Minderheit. Dennoch hiess der Nationalrat den Antrag der Kommissionsmehrheit gut.
Eine Regelung für verschiedene Bereiche – KAE, EO, Härtefall, sektorielle Unterstützung – schlug schliesslich die Kommissionsmehrheit in Übereinstimmung mit einem Antrag der SGK-NR vor: Neu sollte ein Anspruch auf unverzügliche Vorschüsse geschaffen werden, wenn Gesuche nicht innert 30 Tagen bearbeitet werden. Bundesrat Parmelin verwies auf das bereits bestehende beschleunigte, summarische Verfahren bei den KAE und betonte, eine verzögerte Auszahlung von KAE liege häufig daran, dass die von den Unternehmen zur Verfügung gestellten Unterlagen nicht vollständig seien. Er unterstrich zudem die Schwierigkeit, später allfällige zu Unrecht bezahlte Leistungen wieder zurückzufordern. Der Nationalrat folgte hier dem Antrag der Kommissionsmehrheit und lehnte einen Antrag Aeschi auf Streichung ab.

Nach über 10-stündiger Debatte schritt der Nationalrat schliesslich zur Gesamtabstimmung zur zweiten Revision des Covid-19-Gesetzes, das in der grossen Kammer auf deutliche Zustimmung stiess: Mit 143 zu 35 Stimmen (bei 17 Enthaltungen) nahm der Nationalrat den Entwurf an. Sämtliche Enthaltungen und ablehnenden Stimmen stammten aus der SVP-Fraktion, von der nur zwei Personen für den Entwurf stimmten. Als weniger kritisch erachtete die SVP-Fraktion in den Gesamtabstimmungen den Bundesbeschluss über die Finanzierung der Härtefallmassnahmen nach dem Covid-19-Gesetz sowie das Bundesgesetz über die obligatorische ALV und die Insolvenzentschädigung, mit dem der ausserordentliche Beitrag 2021 an den Ausgleichsfonds geregelt wurde: Diesen Vorlagen stimmten erneut die Mitglieder aller anderen Fraktionen sowie 11 respektive 25 Mitglieder der SVP-Fraktion zu (150 zu 26 Stimmen (bei 16 Enthaltungen) respektive 165 zu 23 Stimmen (bei 6 Enthaltungen)).

Zweite Revision des Covid-19-Gesetzes (Änderung und Zusatzkredit; BRG 21.016)
Dossier: Covid-19-Gesetz und Revisionen

Delegationen und Vertretungen des Parlaments haben unter anderem die Aufgabe, die Schweiz zu vertreten. Da diese Delegationen hinsichtlich der Geschlechter häufig nur sehr einseitig und vor allem männlich zusammengesetzt seien, wiederspiegelten sie ein «veraltetes Gesellschaftsbild» und suggerierten, dass Frauen in der Schweizer Politik nicht vertreten seien. Mit dieser Begründung forderte Claudia Friedl (sp, SG) mittels parlamentarischer Initiative eine Mindestquote von 30 Prozent jeden Geschlechts in diesen Gremien.
Ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis in parlamentarischen Vertretungen sei zwar ein berechtigtes Anliegen, befand eine 12 zu 10-stimmige Mehrheit (1 Enthaltung) der SPK-NR, es sei aber nicht mittels gesetzlicher Regelung umzusetzen. Bei der Zusammensetzung parlamentarischer Vertretungen müssten bereits mehrere Kriterien – Fraktionsstärke, Amtssprache, Landesregion – berücksichtigt werden. Eine Geschlechterregelung würde die Besetzung nicht nur verkomplizieren, sondern unter Umständen auch verunmöglichen – etwa wenn eine Fraktion nicht genügend Frauen stellen könnte. Mit den letzten eidgenössischen Wahlen sei die 30-Prozent-Quote zudem praktisch bereits erreicht worden.
In der Debatte zeigte sich die Kommissionsminderheit, vertreten durch Ada Marra (sp, VD) erstaunt, dass über dieses Thema überhaupt gesprochen werden müsse, sässen im Parlament doch mittlerweile 38.7 Prozent Frauen. Die Zahlen zeigten allerdings auch, dass in sechs der elf Delegationen ein Frauenanteil von 30 Prozent eben nicht erreicht würde. Ein zusätzliches Argument brachte Pierre-Alain Fridez (sp, JU) in die Debatte ein: Im Europarat werde eine 30-Prozent-Quote eingeführt und für diese Delegation aus der Schweiz müsse also sowieso eine entsprechende Regel gefunden werden. Kommissionssprecher Damien Cottier (fdp, NE) wies in der Folge darauf hin, dass sich die Kommission lediglich gegen eine gesetzliche Regelung wende; einer Absprache zwischen den einzelnen Fraktionen stehe aber freilich nichts im Weg. Mit einer formellen und starren Quote – so auch Barbara Steinemann (svp, ZH) ebenfalls für die Kommission – würden mehr Probleme entstehen als gelöst. Dies sahen 105 Parlamentsmitglieder anscheinend ebenso, womit der parlamentarischen Initiative keine Folge gegeben wurde. Immerhin 83 Stimmen aus den geschlossenen Fraktionen der SP, der GP und der GLP, unterstützt von drei FDP-Nationalrätinnen (Jacqueline de Quattro (fdp, VD), Anna Giacometti (fdp, GR), und Susanne Vincenz-Stauffacher (fdp, SG)), hatten die Idee einer Quote gutgeheissen. Drei weitere FDP-Nationalrätinnen (Doris Fiala (fdp, ZH), Christa Markwalder (fdp, BE) und Isabelle Moret (fdp, VD)) und SVP-Vertreterin Céline Amaudruz (GE) enthielten sich der Stimme.

Ausgewogenes Geschlechterverhältnis in parlamentarischen Vertretungen (Pa.Iv. 19.472)

Mitte Februar 2021 bestätigte die Bundeskanzlei die Lancierung der Eidgenössischen Volksinitiative «Für eine zivilstandsunabhängige Individualbesteuerung (Steuergerechtigkeits-Initiative)», welche die Umstellung der Besteuerung natürlicher Personen von einer Ehepaar- zu einer Individualbesteuerung forderte. Dem Initiativkomitee gehörten zahlreiche Parlamentarierinnen und Parlamentarier der FDP an, aber auch Parlamentsmitglieder und allgemein Mitglieder anderer Parteien oder von verschiedenen Organisationen, etwa alt-Bundesrätin Ruth Metzler sowie der Präsident des Arbeitgeberverbandes, Valentin Vogt, und der Präsi­dent des Gewerkschaftsdachverbands Travailsuisse, Adrian Wüthrich. Am 8. März 2021, dem internationalen Frauentag, präsentierte das Initiativkomitee die Initiative, bevor tags darauf die Unterschriftensammlung starten sollte. Dabei betonte etwa Mitinitiantin Christa Markwalder (fdp, BE), dass sich die «freisinnigen Frauen mit Verbündeten aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft» mit der Initiative für eine Abschaffung der Heiratsstrafe sowie für mehr Gleichstellung einsetzten. Alt-Bundesrätin Metzler betonte, dass die Individualbesteuerung die fairste Besteuerung von Einkommen und Vermögen darstelle, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit besteuere und überdies eine vom Zivilstand unabhängige Besteuerung erlaube.
In den Medien wurde insbesondere der Effekt der Ehepaarbesteuerung auf die Erwerbstätigkeit der Zweitverdienenden, üblicherweise noch immer die Frauen, aufgezeigt: Dadurch dass die Einkommen von Ehepaaren addiert würden, gelangten Ehepaare mit der Ehepaarbesteuerung in höhere Progressionsstufen, je höher das Einkommen der Zweitverdienenden ist. Folglich gingen von der Ehepaarbesteuerung negative Erwerbsanreize auf die Zweitverdienenden aus, erwähnte die Presse mehrfach. Diese sollten nun durch Einführung der Individualbesteuerung korrigiert werden. Diskutiert wurde aber auch, dass es bei jeder Revision auch Verliererinnen und Verlierer gebe, hier insbesondere die Einverdienendenhaushalte. Damit bringe die Initiative insbesondere die ehemalige CVP in Bedrängnis, die ein Nachfolgeprojekt für ihre Initiative zur Abschaffung der Heiratsstrafe angekündigt hatte, bei dem sie jedoch wie bei der ursprünglichen Initiative weiterhin auf die Ehepaarbesteuerung setzen will.

Eidgenössische Volksinitiative 'Für eine zivilstandsunabhängige Individualbesteuerung (Steuergerechtigkeits-Initiative)'
Dossier: Reform der Ehe- und Familienbesteuerung seit 2000 – Gemeinschaftsbesteuerung oder Individualbesteuerung?
Dossier: Bestrebungen zur Einführung der Individualbesteuerung

Die Differenzbereinigung beim ersten Teil der Erbrechtsrevision zur Erweiterung der Verfügungsfreiheit drehte sich um die Grundsatzfrage, wie bei einem vorliegenden Ehevertrag, der dem überlebenden Ehepartner mehr als die Hälfte des während der Ehe errungenen Vermögens zuspricht, die Pflichtteile für das Erbe der gemeinsamen Kinder berechnet werden. Konkret ging es darum, ob diese sogenannte überhälftige Vorschlagszuweisung zur Berechnung der Pflichtteile der gemeinsamen Kinder mitberücksichtigt wird oder nicht. Durch den Einbezug der überhälftigen Vorschlagszuweisung in die Berechnung fallen die Pflichtteile der Kinder höher aus, als wenn nur der Teil des Vermögens, der nicht durch den Ehevertrag dem überlebenden Ehepartner zugewiesen wird – im Falle der Maximalbegünstigung des Ehepartners also nur noch das Eigengut der verstorbenen Person – als Berechnungsgrundlage für die Pflichtteile dient.
Der bestehende Gesetzestext regelte diese Frage nicht eindeutig. Infolgedessen zeigte sich die juristische Lehre zwischen den zwei Auslegungen gespalten und es gab bislang auch keine wegweisenden Urteile, die den Streitpunkt geklärt hätten. Der Bundesrat hatte im Entwurf deshalb eine neue Regelung vorgeschlagen, um die Frage eindeutig zu klären und die Rechtsunsicherheit zu beenden. Der Nationalrat war als Zweitrat mit der Lösung des Bundesrates jedoch nicht einverstanden gewesen und hatte die einschlägigen Bestimmungen aus der Vorlage gestrichen.
Alles beim Alten zu belassen war für die RK-SR aber keine sinnvolle Lösung. Sie betrachtete es als Aufgabe des Gesetzgebers, eine Entscheidung für eine der beiden denkbaren Auslegungen zu fällen und nicht einfach zu warten, «bis eines Tages das Bundesgericht entscheidet», so Kommissionssprecher Andrea Caroni (fdp, AR) im Ratsplenum. Der Ständerat, der in der Wintersession 2020 die Differenzbereinigung begann, folgte stillschweigend seiner Kommission und beschloss, inhaltlich beim Bundesrat zu bleiben und die Streitfrage zugunsten der gemeinsamen Kinder zu entscheiden. Dies sei «inhaltlich naheliegender», erklärte Caroni, weil der überlebende Ehepartner im Falle einer zusätzlichen Begünstigung durch einen Ehevertrag ohnehin den «Löwenanteil» am Erbe erhalte, womit der Zusatzgewinn für ihn relativ gesehen kleiner wäre als für die Kinder.
So einig wie die ständerätliche, so zerstritten zeigte sich die nationalrätliche Rechtskommission in dieser Frage. Während die Kommissionsmehrheit beantragte, das Konzept des Bundesrates und des Ständerates zu übernehmen, wollte eine starke bürgerliche Minderheit an der Streichung der Bestimmungen festhalten und somit beim geltenden Recht bleiben. Ihrer Ansicht nach widerspreche die vorgeschlagene Lösung dem weit verbreiteten Rechtsempfinden und der überwiegenden Rechtspraxis in der Deutschschweiz; nur in der lateinischen Schweiz werde eher der Auslegung von Bundesrat und Ständerat gefolgt, die den Kindern höhere Anteile zurechnet, erklärte Minderheitsvertreterin Christa Markwalder (fdp, BE) im Nationalrat. Primäres Ziel müsse es gemäss der Minderheit sein, den Lebensstandard des überlebenden Ehepartners zu sichern, und nicht, die Pflichtteile der gemeinsamen Kinder zu schützen. Zudem wäre die Korrektur zum jetzigen Zeitpunkt übereilt, weil die Frage noch nicht in aller Tiefe diskutiert worden und auch nicht Teil des Vernehmlassungsentwurfs gewesen sei, führte Markwalder weiter aus. Im Unterschied zu ihrer Schwesterkommission war die RK-NR überdies mehrheitlich zum Schluss gekommen, dass es für die neue Regelung einer Übergangsbestimmung bedürfe, damit bestehende Erbverträge und Testamente, die in einem falschen Verständnis aufgesetzt worden waren, nicht nachträglich geändert werden müssten, um ihre Wirkung wie beabsichtigt zu entfalten. Sie schlug also vor, dass die neue Auslegung erst für Verträge gelten soll, die nach Inkrafttreten der Revision abgeschlossen werden. Gegen diese Lösung sprach sich jedoch neben einer Minderheit Flach (glp, AG) auch Justizministerin Karin Keller-Sutter aus, weil mit den klärenden Bestimmungen kein neues Recht geschaffen, sondern nur eine Rechtsunsicherheit beseitigt werde. Mit 106 zu 80 bzw. 109 zu 77 Stimmen folgte der Nationalrat in beiden Punkten seiner Kommissionsmehrheit, womit er sowohl die Klärung der Auslegungsdifferenz gemäss Bundesrat und Ständerat als auch die neu hervorgebrachten Übergangsbestimmungen ins Gesetz schrieb.
Die RK-SR war von der Übergangslösung so wenig begeistert, dass sie daraufhin inhaltlich in der Auslegungsfrage eine komplette Kehrtwende vollzog: Sie schlug ihrem Rat neu vor, die überhälftige Vorschlagszuweisung bei der Berechnung der Pflichtteile für die gemeinsamen Kinder nicht zu berücksichtigen. Das Wichtigste sei es, die Frage im Gesetz zu klären, und zwar mit einer einzigen Regel, die für alle Testamente gelte, erläuterte Kommissionssprecher Andrea Caroni. Unterschiedliche Regelungen für bestehende und zukünftige Verträge führten zu noch mehr Unklarheit als jetzt schon bestehe, weil ein Testament unter Umständen erst siebzig Jahre nach dem Aufsetzen – und damit vielleicht nach einigen weiteren Erbrechtsrevisionen – seine Wirkung entfalte. Um diese «siebzigjährigen Übergangsproblematiken» zu vermeiden, habe sich die Kommission inhaltlich also der vom Nationalrat favorisierten Auslegung angeschlossen, so Caroni. Obwohl der Bundesrat ursprünglich die andere Lösung vorgeschlagen hatte, sicherte auch Bundesrätin Keller-Sutter dem Kommissionsantrag ihre Unterstützung zu. Wichtig sei, dass Rechtssicherheit geschaffen werde; in welche inhaltliche Richtung der Meinungsstreit aufgehoben werde, erachtete sie als sekundär. Die Kantonskammer stimmte dem Antrag folglich stillschweigend zu.
Daraufhin zeigte sich RK-Sprecher Hans-Ueli Vogt (svp, ZH) im Nationalrat erfreut, stolz und etwas belustigt über die «Volte» des Ständerats: Der Beschluss des Nationalrats zur Einführung der Übergangsbestimmung habe sich insofern gelohnt, als es nur unter diesem Druck gelungen sei, «den Ständerat dazu zu bringen, dass er das 180-grädige Gegenteil von dem beschliesst, woran er zuvor während Monaten festgehalten hatte». Auf Antrag seiner einstimmigen Kommission schloss sich der Nationalrat stillschweigend dem nun vorliegenden Konzept an und bereinigte die Differenz.
In den Schlussabstimmungen lehnte schliesslich nur ein Grossteil der SVP-Fraktion, die anfänglich gar nicht auf die Vorlage hatte eintreten wollen, den Entwurf ab. So wurde er im Nationalrat mit 146 zu 46 Stimmen bei 3 Enthaltungen und im Ständerat mit 36 zu 5 Stimmen bei einer Enthaltung angenommen.

Revision des Erbrechts (BRG 18.069)
Dossier: Revision des Erbrechts (2016– )

Stillschweigend verlängerte der Nationalrat in der Wintersession 2020 die Behandlungsfrist für die parlamentarische Initiative Markwalder (fdp, BE) betreffend den Berufsgeheimnisschutz für Unternehmensjuristinnen und -juristen um weitere zwei Jahre. Er folgte damit dem Antrag seiner Rechtskommission, die zunächst die parlamentarische Beratung der ZPO-Revision abwarten wollte, weil der Bundesrat das Anliegen der parlamentarischen Initiative in den entsprechenden Entwurf aufgenommen hatte.

Berufsgeheimnisschutz für Unternehmensjuristinnen und -juristen (Pa.Iv. 15.409)
Dossier: Revision der Zivilprozessordnung (2018–)

Nur 67 Tage, nachdem das Parlament das Covid-19-Gesetz verabschiedet hatte und noch bevor die Referendumsfrist dazu abgelaufen war – ein Referendum zum Gesetz war überdies bereits angekündigt worden –, behandelte der Nationalrat in der Wintersession 2020 bereits die erste Revision des Covid-19-Gesetzes. Dazu blieb ihm nur ein Tag Zeit, da das Geschäft noch in der Wintersession fertig beraten werden sollte und daher am nächsten Tag bereits die Behandlung im Zweitrat anstand. Esther Friedli (svp, SG) und Fabio Regazzi (cvp, TI) stellten die Vorlage aus Sicht der WAK-NR vor, die in ihren Positionen auch Mitberichte der SGK-NR und der WBK-NR berücksichtigt hatte. Esther Friedli betonte, dass man bei der Verabschiedung des Gesetzes im September 2020 noch nicht gewusst, habe, «dass wir bereits wenige Wochen später von einer zweiten Welle heimgesucht» würden. Aufgrund dieser zweiten Welle gebe es nun aber «punktuelle[n] Handlungsbedarf». Fabio Regazzi strich noch einmal die Relevanz des Gesetzes hervor und betonte, dass es «das umfangreiche Hilfspaket des Bundes ermöglicht […], Löhne zu garantieren, zum Erhalt von Arbeitsplätzen beizutragen und von der Covid-19-Krise besonders betroffene Branchen zu unterstützen». Grosse Hoffnung setzte die Kommission auch in die Härtefallverordnung, die gleichentags in Kraft getreten war. Die Fraktionssprecherinnen und -sprecher betonten in der Folge einhellig die Relevanz der geplanten Änderungen und kündigten weitgehende Unterstützung der bundesrätlichen Botschaft an. Entsprechend lag auch kein Antrag auf Nichteintreten vor. In der Folge behandelte der Nationalrat die zahlreichen verschiedenen Aspekte der Revision in drei Blöcken.

Im ersten Block wurden sämtliche Massnahmen, welche nicht die Härtefallhilfe oder die Arbeitslosenversicherung betrafen, diskutiert:
Grosse Änderungen schlug der Bundesrat im Sportbereich vor. So sollten CHF 115 Mio. der bereits als Darlehen für Sportvereine zur Verfügung gestellten CHF 175 Mio. in A-Fonds-perdu-Beiträge umgewandelt werden. Diese sollten für Fussball- und Eishockeymannschaften der beiden höchsten Ligen sowie für Frauenfussball- oder Fraueneishockeymannschaften und Klubs in den höchsten Ligen anderer Sportarten bereitstehen. Die Beträge sollten dem Ausgleich der Mindereinnahmen durch Spiele ohne oder mit weniger Zuschauerinnen und Zuschauern dienen und höchstens zwei Dritteln der durchschnittlichen Ticketeinnahmen der Saison 2018/2019 abzüglich tatsächlicher Ticketeinnahmen entsprechen. Dabei sah der Bundesrat jedoch eine Reihe von Bedingungen vor: ein fünfjähriges Verbot, Dividenden oder Kapitaleinlagen auszuzahlen, eine Reduktion der Einkommen aller Angestellten über einer gewissen Grenze, fünfjährige Einschränkungen von Lohnerhöhungen, einen fünfjährigen Verzicht auf Reduktion der Nachwuchs- und Frauenförderung sowie die Möglichkeit für Rückforderungen der Beträge bei Nichteinhalten dieser Bedingungen. Darüber hinaus sollten auch weiterhin zinslose, innert zehn Jahren rückzahlbare Darlehen für die Sportvereine möglich sein, etwa bei Liquiditätsengpässen. Dafür stellte der Bundesrat CHF 235 Mio. zur Verfügung.
Bei diesen Massnahmen gehe es nicht nur um die nach aussen sichtbaren Spitzensportler, sondern auch um die Junioren- und Frauenabteilungen, für welche die Klubs verantwortlich seien, argumentierte Finanzminister Maurer. Damit hätten diese Gelder eine «gute Hebelwirkung für die Gesellschaft, für die Gesundheit und für den Sport». Während die Darlehen im Rat nicht umstritten waren, beantragte Marcel Dettling (svp, SZ), die A-Fonds-perdu-Beiträge an eine 20-prozentige Kostenübernahme durch den Standortkanton zu knüpfen – Roland Büchel (svp, SG) forderte gar eine 50-prozentige kantonale Beteiligung, zumal Sportklubs vor allem lokal verankert seien, wie beide argumentierten. Zudem sollten die Klubs gemäss Büchel mindestens 5 Prozent der Beiträge bis fünf Jahre nach Erhalt für die «Prävention und die Bekämpfung von Spielmanipulationen und Wettbetrug» einsetzen müssen. Die WAK-NR wollte überdies die Einkommensbeschränkungen oder -reduktionen auf die am Spielbetrieb beteiligten Angestellten beschränken, während Mathias Reynard (sp, VS) in einem Einzelantrag Rücksicht auf Aufsteiger nehmen und diesen Lohnerhöhungen erlauben wollte. Zudem war umstritten, welcher Zeitpunkt für die Festlegung der bisherigen Höhe der Nachwuchs- und Frauenförderung, die während fünf Jahren nicht unterboten werden darf, massgeblich sein soll. Der Nationalrat hiess in der Folge die Einführung der A-Fonds-perdu-Beiträge gut und lehnte eine Beteiligung der Kantone ab. Hingegen folgte er dem Mehrheitsantrag der Kommission entgegen dem Antrag Reynard und schuf einzig Einkommensbeschränkungen für am Spielbetrieb Beteiligte.

Auch für den Kulturbereich lag mit dem Einzelantrag Aebischer (sp, BE) ein Änderungsvorschlag für das Covid-19-Gesetz vor. Aebischer verlangte, auch die Kulturschaffenden an der bereits im September 2020 geschaffenen Hilfe für Kulturunternehmen in der Höhe von CHF 100 Mio. teilhaben zu lassen. Die Gelder sollten Kulturschaffenden wie Kulturunternehmen als Ausfallentschädigung oder für Transformationsprojekte zugesprochen werden und Kulturschaffende mit Auftritten oder Aufträgen in der Privatwirtschaft zugutekommen. Letztere könnten weder Ausfallentschädigungen noch fehlende Gagen geltend machen. Für Selbständigerwerbende im Kulturbereich sei es überdies schwierig, Umsatzeinbussen von mindestens 55 Prozent zu belegen. Neben der SP- stimmten auch die Grünen- und die GLP-Fraktion dem Antrag zu, die bürgerlichen Parteien lehnten ihn jedoch (fast) geschlossen ab, womit er keine Mehrheit fand.

Neu wollte der Bundesrat mit der Revision des Covid-19-Gesetzes die Möglichkeiten für Ordnungsbussen für Maskenverweigerinnen und -verweigerer schaffen – bisher konnte das Verweigern des Tragens einer Schutzmaske nur in einem Strafverfahren geahndet werden. Die Neuregelung wollte Thomas Aeschi (svp, ZG) mit einem Minderheitsantrag verhindern, während die Kommission als Mittelweg die Möglichkeit für Ordnungsbussen auf klar abgrenzbare Bereiche wie den öffentlichen Verkehr beschränken, Orte wie Dorfkerne oder belebte Plätze jedoch davon ausnehmen wollte. Bundesrat Maurer verteidigte den bundesrätlichen Vorschlag damit, dass man der Bevölkerung «sehr viel Eigenverantwortung» gebe, es aber auch Sanktionen bedürfe, wenn diese Eigenverantwortung nicht wahrgenommen werde. Dies hätten nicht zuletzt auch die Kantone gefordert. Thomas Aeschi verwies darauf, dass unter anderem Gesundheitsminister Berset vor kurzer Zeit noch gesagt habe, dass Masken nichts bringen würden, und sprach sich gegen einen «Polizeistaat» oder «noch mehr Denunziantentum» aus. Der Antrag Aeschi fand in allen Fraktionen gewissen Anklang: Die SVP-Fraktion stimmte dem Minderheitsantrag mehrheitlich zu, auch bei den Grünen (8), bei der SP (3), den FDP.Liberalen (je 3) und bei der Mitte-Fraktion (2) gab es vereinzelt Zustimmung. Insgesamt sprach sich der Nationalrat jedoch mit 121 zu 65 Stimmen (bei 4 Enthaltungen) gegen Aeschis Vorschlag und im Sinne der Kommissionsmehrheit für die Ausweitung der Ordnungsbussen auf die Nichteinhaltung der Maskenpflicht aus.

Im Bereich der Gesundheitsversorgung verlangte die WAK-NR eine Änderung am bisherigen Gesetz. So solle der Bundesrat die Abgeltung derjenigen Kosten regeln, welche den Leistungserbringenden zukünftig durch verbotene und eingeschränkte Untersuchungen oder Behandlungen, wie sie im Frühjahr 2020 veranlasst worden waren, um die Kapazität des Gesundheitswesens zu gewährleisten, entstünden. Diese seien in der Tarifstruktur nicht aufgeführt und könnten entsprechend nicht abgerechnet werden, erklärte Esther Friedli für die Kommission. Diese Abgeltung der Kosten diene überdies dazu, «dass der Bund künftig Wirksamkeit und Verhältnismässigkeit vorsichtig prüft, bevor er Massnahmen anordnet» (Friedli). Eine Minderheit Aeschi erachtete diesen Vorschlag jedoch als Eingriff in den Föderalismus, zumal die Kantone selbst entscheiden könnten, ob sie die entsprechenden Untersuchungen einschränkten oder nicht, und folglich auch die Kosten dieser Entscheidung tragen sollten. Die von der WAK-NR vorgeschlagene Regelung fand jedoch bei allen Fraktionen im Nationalrat mit Ausnahme der SVP-Fraktion Anklang.

Eine Minderheit Wermuth (sp, AG) wollte neu auch eine Regelung zu den Überbrückungsleistungen für ältere Arbeitslose ins Covid-19-Gesetz aufnehmen. Die Überbrückungsleistungen sollten auf den 1. Juli 2021 in Kraft treten, Wermuth schlug jedoch vor, rückwirkend auch älteren Personen, die zwischen dem 1. Januar 2021 und dem Inkrafttreten des Gesetzes ausgesteuert wurden, Zugang zu ÜL zu gewähren. Entgegen anderslautender Aussagen der Kommission sei das Problem der Aussteuerung älterer Arbeitnehmender aufgrund der Pandemie nämlich akut, betonte er. Folglich sei es nicht fair, dass Personen, die vor dem 31. Juni 2021 ausgesteuert würden, nicht von den ÜL profitieren können. Der Antrag fand jedoch nur in der SP- und der Grünen-Fraktion sowie bei den EVP-Mitgliedern Unterstützung und wurde folglich abgelehnt.

Verschiedene links-grüne Minderheiten sahen auch bei der Erwerbsersatzordnung Änderungsbedarf – entgegen der Meinung von Bundesrat und Kommission. Eine Minderheit Michaud Gigon (gp, VD) wollte die für eine Entschädigung des Erwerbsausfalls als Bedingung festgelegten Umsatzeinbussen in der Höhe von mindestens 55 Prozent streichen. Bei tieferen Einkommen könne man mit 45 Prozent des Gehalts nicht überleben, argumentierte sie. Eine weitere Minderheit Bendahan (sp, VD) schlug vor, nicht nur gefährdeten Personen Anspruch auf EO zu gewähren, sondern auch kranken, jedoch nicht an Corona erkrankten Personen. In einem weiteren Einzelantrag forderte Fabian Fivaz (gp, NE), auch Betriebszulagen gemäss EOG für Selbständigerwerbende zu ermöglichen, wie sie Militärdienstleistende bereits geltend machen können. So müssten Personen mit hohen Fixausgaben diese auch weiterhin bezahlen, weshalb sie einen Zuschlag auf ihren Erwerbsersatz erhalten sollten. Sämtliche Anträge zur EO stiessen jedoch nur bei Mitgliedern der SP- und der Grünen-Fraktion auf Zustimmung.

Im zweiten Block beschäftigte sich der Nationalrat ausführlich mit der Härtefallhilfe, die ein Paket über CHF 1 Mrd. umfasste. Zu den bisherigen CHF 400 Mio., an denen die Kantone mit 50 Prozent beteiligt waren, sollten CHF 600 Mio. hinzukommen, an denen sich die Kantone zu 20 Prozent beteiligen müssten – dabei könnten die Kantone aber erst auf die zweite Tranche zurückgreifen, wenn die Gelder der für sie teureren ersten Tranche verteilt sind. Bundesrat Maurer begründete die Änderung des Verteilschlüssels damit, dass dieses zweite Paket «möglicherweise die Kräfte der Kantone finanziell übersteigt». Da die Kantone zudem für den Vollzug verantwortlich blieben, würden ihnen dadurch noch zusätzliche Kosten anfallen, erklärte der Finanzminister. Mehrfach verwies Maurer darauf, dass dieser Übergang «vom Massengeschäft des Frühjahrs» zu den aktuellen Einzelfallbeurteilungen längere Entscheidungsprozesse mit sich bringe und entsprechend Zeit brauche.
Auch bezüglich der Härtefallhilfen standen verschiedene Mehr- und Minderheitsanträge zur Debatte, etwa zu den Bedingungen für den Erhalt von Härtefallhilfe, für die der Bundesrat keine materielle Änderung vorgesehen hatte. Nach wie vor sollte gemäss bundesrätlicher Vorlage Anspruch auf Hilfe haben, wessen Jahresumsatz 60 Prozent unter dem mehrjährigen Durchschnitt liegt. Die WAK-NR wollte hingegen neben der Vermögens- und Kapitalsituation der Betroffenen auch ihre nicht gedeckten Fixkosten berücksichtigen, da Letztere zwischen den Unternehmen stark variieren könnten. Dies lehnte der Finanzminister ab, zumal eine Berücksichtigung der Fixkosten den administrativen Aufwand stark vergrössern und das Verfahren damit deutlich verlängern würde. Bundesrat Maurer wies bezüglich diesem und sämtlichen folgenden Ausbauanträgen überdies darauf hin, dass der Bund nicht festlege, welche Unternehmen die Kantone unterstützen könnten, sondern lediglich, an welchen Hilfen sich der Bund beteilige. Die Kantone dürften also auch zusätzlichen Unternehmen Härtefallhilfen zukommen lassen. Die Kommission verlangte zudem, Härtefallhilfen auch Unternehmen ab einem Jahresumsatz von CHF 50'000 zuzusprechen – der Bundesrat hatte seine Beteiligung diesbezüglich auf Unternehmen mit einem Mindestumsatz von CHF 100'000 beschränkt. Christa Markwalder (fdp, BE) stellte sich gegen diesen Antrag der WAK-NR: Bei den Bundeshilfen gehe es darum, Existenzen zu schützen. Unternehmen mit einem monatlichen Umsatz von CHF 4'167 (beziehungsweise eben einem Jahresumsatz von CHF 50'000) dienten aber mehrheitlich dem Nebenerwerb und sollten entsprechend nicht berücksichtigt werden. Schliesslich wollte die Kommission Unternehmen mit abgrenzbaren Teilbereichen sowohl Anrecht auf Sport- und Kultur-Hilfen als auch auf Härtefallhilfe gewähren – bislang war nur der Zugang zu jeweils einem der beiden Töpfe möglich gewesen. Trotz Minderheiten Schneeberger (fdp, BL) und Markwalder gegen die Anträge der WAK-NR, setzte sich die Kommission in allen drei Punkten durch.
Nationalrätinnen und Nationalräte der SP und der Grünen forderten in verschiedenen Minderheits- oder Einzelanträgen einen Ausbau der Härtefallhilfen. Unter anderem beantragten sie einen Verzicht auf einen maximalen Gesamtbetrag für die Härtefallhilfen (Minderheit Andrey, gp, FR), eine Möglichkeit für den Bund, Unternehmen direkt zu unterstützen (Minderheit Wermuth) oder den Zugang zu Härtefallhilfen ab einer Umsatzeinbusse von 70 Prozent (Minderheit Rytz, gp, BE). Ein Einzelantrag Weichelt-Picard (al, ZG) verlangte ein Dividendenauszahlungsverbot im Gesetz – bisher war ein solches lediglich in der Verordnung enthalten. Der Nationalrat lehnte sämtliche Minderheiten zu den Härtefallhilfen ab, im Falle des Einzelantrags Weichelt-Picard jedoch äusserst knapp mit 96 zu 96 Stimmen und Stichentscheid von Ratspräsident Aebi (svp, BE).

Im dritten Block beriet der Nationalrat die Änderungen an den Massnahmen zur Arbeitslosenversicherung. Der Bundesrat hatte hier vorgesehen, die Möglichkeiten auszudehnen, mit denen von den Regelungen zur Kurzarbeit im AVIG abgewichen werden darf – insbesondere sollte der Zugang zu KAE wieder erweitert werden können, wie der Finanzminister erklärte. So sollten auch Personen in befristeten oder temporären Arbeitsverhältnissen sowie in Lehrverhältnissen zur Kurzarbeit zugelassen und die Karenzzeit und die maximale Bezugsdauer für KAE angepasst werden können. Von diesen bundesrätlichen Anliegen war einzig die Ausdehnung der Kurzarbeit auf Personen in befristeten und temporären Arbeitsverhältnissen umstritten; eine Minderheit Burgherr (svp, AG) wollte auf diese verzichten. Temporäre Arbeitskräfte seien derzeit in der Wirtschaft sehr willkommen, argumentierte Burgherr. Eine Minderheit Michaud Gignon wollte hingegen die bundesrätliche Änderung gar rückwirkend auf Anfang September 2020 – und somit ohne Unterbrechung nach deren Aufhebung nach der ersten Welle – in Kraft setzen. Der Nationalrat entschied sich nicht nur für eine Möglichkeit zur Ausdehnung der KAE auf Temporärmitarbeitende, sondern äusserst knapp mit 96 zu 95 Stimmen auch für die rückwirkende Inkraftsetzung. Die SVP- und FDP.Liberalen-Fraktionen sowie knapp die Hälfte der Mitte-Fraktion stimmten geschlossen gegen die Ausdehnung, wurden jedoch überstimmt.
Die Kommissionsmehrheit machte bezüglich der Regelungen zur Arbeitslosenversicherung keine Änderungsvorschläge, hingegen reichten auch hier Mitglieder der SP und der Grünen zahlreiche Anträge ein. Viel Aufmerksamkeit erhielten die Rahmenfristen für den Leistungsbezug und die Beitragszeit für Versicherte, die allgemein (Minderheit Jans: sp, BS), für Angestellte in befristeten Verhältnissen (zweite Minderheit Jans) oder in Berufen, in denen Arbeitgeberwechsel und befristete Verträge üblich sind (Minderheit Bendahan), verlängert werden sollten. Gerade Personen in befristeten Verhältnissen hätten aktuell Mühe, ihre Beitragszeit zu erreichen, begründete Wermuth die Anliegen.
Auf eine Verbesserung der Situation von Personen mit niedrigen Einkommen zielten zwei weitere Anträge ab. Eine neuerliche Minderheit Jans beantragte eine teilweise Kompensation der Einkommenseinbussen von Personen unter dem Medianlohn durch den Bezug von Kurzarbeitsleistungen, während eine Minderheit Andrey die zukünftigen KAE für Personen mit Nettolöhnen unter CHF 4'000 auf 100 Prozent erhöhen wollte. Für eine kurze Dauer sei eine Lohnreduktion auf 80 Prozent bei tieferen Löhnen möglich, aber über längere Dauer führe dies für die Betroffenen zu grossen Problemen, argumentierte Wermuth. Auch diese Anträge blieben jedoch alle erfolglos.

Bereits im ersten Block hatte die grosse Kammer die Frage der Geltungsdauer des Gesetzes behandelt, die im Unterschied zur Schaffung des Covid-19-Gesetzes im September 2020 nicht umstritten war. Weiterhin sollte die Mehrheit der Massnahmen des Covid-19-Gesetzes bis Ende 2021 befristet sein. Ein Teil der Regelungen zur Kurzarbeit wurde jedoch bis Ende 2023 verlängert – ursprünglich sollten diese nur bis Ende 2022 in Kraft sein. Mit 179 zu 12 Stimmen (bei 2 Enthaltungen) sprach sich der Rat in der Folge für Annahme des Entwurfs aus. Sowohl die ablehnenden Stimmen als auch die Enthaltungen stammten von Mitgliedern der SVP-Fraktion. Trotz der zahlreichen Minderheitsanträge war der Nationalrat in dieser ersten Behandlung der Revision des Covid-19-Gesetzes weitgehend dem Bundesrat gefolgt.

Erste Revision des Covid-19-Gesetzes (BRG 20.084)
Dossier: Covid-19-Gesetz und Revisionen