Suche zurücksetzen

Inhalte

Akteure

  • Flach, Beat (glp/pvl, AG) NR/CN
  • Kutter, Philipp (cvp/pdc, ZH) NR/CN

Prozesse

89 Resultate
Als PDF speichern Weitere Informationen zur Suche finden Sie hier

Im Dezember 2022 präsentierte der Bundesrat die Botschaft für die Revision des Umweltschutzgesetzes. Die Revision bezweckt Veränderungen in den Bereichen Lärm, Altlasten, Lenkungsabgaben, Finanzierung von Aus- und Weiterbildungskursen zum Umgang mit Pflanzenschutzmitteln, beim E-Government sowie beim Strafrecht.
Beim Lärmschutz will der Bundesrat die raumplanerischen Ziele (verdichtetes Bauen / Siedlungsentwicklung nach innen) besser mit dem Schutz der Bevölkerung vor Lärmemissionen in Einklang bringen. Mit den vorgesehenen Änderungen im USG sollen die Rechts- und Planungssicherheit erhöht werden, indem die lärmrechtlichen Kriterien für Baubewilligungen präzisiert werden. Die Änderungen stünden in Einklang mit dem «Nationalen Massnahmenplan zur Verringerung der Lärmbelastung» und setze die Motion 16.3529 Flach (glp, AG) um, so der Bundesrat.
Im Bereich der Altlasten beabsichtigt der Bundesrat, die Sanierung von öffentlichen und privaten Böden voranzutreiben. Die Untersuchung und Sanierung öffentlicher Kinderspielplätze und Grünflächen sollen verbindlich geregelt werden, wobei die Kosten der Sanierung zu 60 Prozent durch den VASA-Fonds übernommen würden. Die weiterhin freiwillige Untersuchung und Sanierung privater Kinderspielplätze und Hausgärten würde durch eine 40-prozentige Beteiligung des VASA-Fonds unterstützt. Weiter sollen durch ehemalige Deponien oder industrielle Aktivitäten belastete Standorte generell rascher analysiert und saniert werden. Bei den 300-Meter-Schiessanlagen schlug der Bundesrat vor, in Zukunft nicht mehr eine Pauschale pro Scheibe zu sprechen, sondern dass der Bund die Sanierungskosten generell zu 40 Prozent übernimmt. Mit diesen Änderungen werde die Motion 18.3018 Salzmann (svp, BE) erfüllt und das Anliegen einer abgelehnten Motion 20.4546 Fivaz (gp, NE) aufgenommen, so die Botschaft.
Bei den Lenkungsabgaben sollen diejenigen Artikel im USG, die den Schwefelgehalt von einigen Treibstoffen betreffen, gestrichen werden, da sie aufgrund strengerer Vorschriften in der LRV keine Anwendung mehr finden.
Eine weitere Neuerung im USG soll es dem Bund erlauben, private Institutionen finanziell zu unterstützen, die an sie übertragene Aufgaben im Bereich der Aus- und Weiterbildung zum Umgang mit Pflanzenschutzmitteln wahrnehmen. Diese Änderung werde insbesondere die Umsetzung von Massnahmen des Aktionsplans zur Risikoreduktion und nachhaltigen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln vereinfachen.
Die vorliegende Revision schaffe auch die gesetzliche Grundlage, um das E-Government-Programm des UVEK im Umweltschutzbereich zu verankern, so der Bundesrat.
Schliesslich bezweckt der Bundesrat einige der Strafbestimmungen im USG anzupassen und das Strafmass für schwere Delikte anzuheben. Zudem solle die Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Strafverfolgungs- und Umweltschutzbehörden gestärkt werden.

Umweltschutzgesetz. Änderung (BRG 22.085)

Christian Dandrès (sp, GE) forderte im Juni 2020 mittels einer parlamentarischen Initiative, dass Ehegattinnen oder Ehegatten künftig zum Mietvertrag einer Mieterin oder eines Mieters beitreten dürfen sollen, ohne dass dies die Vermieterschaft ablehnen kann. Der Beitritt müsse dabei innerhalb von sechs Monaten nach Abschluss des Mietvertrages erfolgen. Paare, die zum Zeitpunkt des Abschlusses des Mietvertrags noch unverheiratet sind, könnten bis spätestens sechs Monate nach der Heirat beitreten. Die gleichen Rechte sollten zudem auch für Paare in eingetragener Partnerschaft gelten. Dandrès begründete sein Anliegen damit, dass dies den Wohnschutz für Familien in Mietverhältnissen fördern würde. Konkret betreffe dies Fälle, in denen die Ehepartnerin oder der Ehepartner das Erbe ausschlage, etwa weil sie denken, die Erbschaft sei überschuldet. Da Erben alle Rechte und Pflichten des oder der Verstorbenen übernehmen, würden sie damit auch den Mietvertrag ausschlagen, wenn sie nicht schon vor dem Tod Teil des Mietvertrags waren, so Dandrès. Dann fänden sie sich mit der aktuellen Rechtslage nach dem Tod ihres Ehegatten oder ihrer Ehegattin «rechtslos» in ihrer bisherigen Wohnung wieder und liefen Gefahr, dass die Vermieterschaft von ihnen verlangt, die Wohnung zu räumen.

Als Kommission des Erstrates startete die RK-NR die Beratung der Initiative und gab ihr im März 2022 mit 14 zu 10 Stimmen Folge. Die geforderten Gesetzesanpassungen würden in weiten Teilen der Westschweiz bereits angewendet und hätten sich dort bewährt. Einen Monat später kam jedoch die RK-SR zu einem gegenteiligen Schluss: Eine Mehrheit der Kommission – von 7 zu 5 Stimmen – erachtete die geltenden mietrechtlichen Bestimmungen zum Schutz von Ehegattinnen oder Ehegatten als ausreichend und sah deshalb keinen Handlungsbedarf. Im August gleichen Jahres lenkte die RK-NR schliesslich auf die Position ihrer Schwesterkommission ein und plädierte mit 15 zu 9 Stimmen dafür, der Initiative keine Folge zu geben. Bei der Diskussion in der ständerätlichen Kommission seien verschiedene juristische Probleme mit der Umsetzung der Initiative aufgekommen – namentlich im Zusammenhang mit dem Erbrecht –, welche die RK-NR in ihrer ersten Vorprüfung noch nicht genügend in Betracht gezogen hätte, erklärte diese.

In der Herbstsession 2022 debattierte der Nationalrat über die parlamentarische Initiative. Initiant Dandrès kritisierte dabei den Meinungsumschwung der RK-NR. Er habe den Verdacht, dass dieser vor allem dadurch motiviert sei, dass mit dem Status quo mehr Wohnungen frei würden und zu neuen Marktbedingungen und somit einem höheren Mietzins weitervermietet werden könnten. Häufig seien nämlich alte Mietverträge betroffen, «die nicht so hoch und missbräuchlich sind wie die, die heute aufgrund der Wohnungsnot üblich sind», so Dandrès. Kommissionssprecher Beat Flach (glp, AG) vertrat die Position, dass die aktuellen Regelungen ausreichend seien. So sei das Kündigungsrecht der Vermieterschaft laut OR kein erbrechtliches Recht, das durch eine Ablehnung des Erbes tangiert wäre, weil der Mietvertrag ohnehin weiterbestehe, wenn ihn die überlebenden Ehepartner oder eingetragenen Partner weiterführen wollen. Die grosse Kammer lehnte die Initiative in der Folge mit 118 zu 61 Stimmen (bei 1 Enthaltung) ab.

Beitritt der Ehegattin oder des Ehegatten zum Mietvertrag einer Mieterin oder eines Mieters (Pa.Iv 20.449)

In der Sommersession 2022 brachten die eidgenössischen Räte die Revision der Strafprozessordnung zum Abschluss. In der Differenzbereinigung verhärteten sich die Fronten in den zentralen Diskussionspunkten zunächst, sodass Bundesrätin Karin Keller-Sutter bereits mit einer Einigungskonferenz rechnete. Der Ständerat kam dem Nationalrat zuerst nur bei Fristen für die Beschwerdeinstanz und das Berufungsgericht entgegen, die der Nationalrat zwecks Beschleunigung der Verfahren neu in die StPO aufgenommen hatte. Gemäss Berichterstatter Daniel Jositsch (sp, ZH) hielt die RK-SR diese zwar für wenig zweckmässig, aber tolerierbar, weil die Fristen mangels rechtlicher Konsequenzen bei Nichteinhaltung «lediglich als Richtgrösse im Sinne einer Konkretisierung des Beschleunigungsgebots» zu verstehen seien. Der Nationalrat beugte sich seinerseits in einigen Punkten der Argumentation des Schwesterrats und verzichtete auf zwei von ihm eingefügte, aber vom Ständerat abgelehnte Bestimmungen: Erstens strich er die Regelung zur präventiven verdeckten Ermittlung bei Sexualdelikten wieder aus dem Gesetz, weil dies Sache des kantonalen Polizeirechts sei. Zweitens soll eine Genugtuung nun doch nicht mit Geldforderungen des Staates aus dem Verfahren verrechnet werden können; werde der Betrag nicht ausbezahlt, verpuffe der Ausgleichseffekt für die unrechtmässig erlittene Rechtsverletzung. Weiter räumte die grosse Kammer die beiden Differenzen zu den DNA-Profilen aus, sodass dafür nun die vom Bundesrat vorgesehenen Regeln umgesetzt werden: Von einer beschuldigten Person darf während des Strafverfahrens ein DNA-Profil erstellt werden, wenn konkrete Anhaltspunkte bestehen, dass sie weitere Delikte begangen haben könnte. Die SVP-Minderheit, die dafür nur eine «gewisse Wahrscheinlichkeit» voraussetzen wollte, blieb letztlich chancenlos. Zudem darf von einer verurteilten Person am Ende des Strafverfahrens ein DNA-Profil erstellt werden, wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte anzunehmen ist, dass sie weitere Delikte begehen könnte. Hier unterlag die links-grüne Minderheit mit ihrem Streichungsantrag ebenso deutlich.
Bei der Einschränkung der Teilnahmerechte verharrten indessen beide Räte auf ihrer Position. Während sich der Ständerat mit 32 zu 11 Stimmen dafür aussprach, dass eine beschuldigte Person von der ersten Einvernahme einer mitbeschuldigten Person ausgeschlossen werden kann, solange sie selber noch nicht einvernommen worden ist, lehnte der Nationalrat diese Einschränkung mit 137 zu 50 Stimmen (1 Enthaltung) ebenso klar ab. Als Berichterstatter der RK-NR fasste Beat Flach (glp, AG) zusammen: «Für die eine Seite ist es der Hauptinhalt und das wichtigste Element dieser Revision, und für die andere Seite [...] ist das, was vorgeschlagen wird, ein No-Go.» Die ablehnende Seite argumentierte, dieser Eingriff in die Rechte der Beschuldigten bringe das sorgfältig austarierte Kräfteverhältnis zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung aus dem Lot und sei darum inakzeptabel. Die Befürworterinnen und Befürworter der Änderung betonten hingegen, dass es sich um einen «moderaten Eingriff» (Karin Keller-Sutter) handle und dass dies der Hauptauslöser für die ganze Revision gewesen sei, weil hier von den Staatsanwaltschaften konkrete Probleme in der Praxis festgestellt worden seien.
Ebenso unversöhnlich standen sich die beiden Kammern beim Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft gegen Haftentscheide gegenüber. Der Ständerat entschied mit 25 zu 19 Stimmen, an der bundesrätlichen Version festzuhalten, die ein solches Beschwerderecht explizit vorsieht. Damit werde nichts Neues eingeführt, sondern die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichts kodifiziert; es sei allemal besser, wenn der Gesetzgeber die Grundsätze des Verfahrens in der StPO festschreibe, als dass das Bundesgericht sich wie bisher das Recht nehme, selber zu entscheiden, erklärte der erfolgreiche Antragsteller Daniel Fässler (mitte, AI). Der Nationalrat beschloss demgegenüber mit 109 zu 79 Stimmen, eine solche Beschwerdemöglichkeit für die Staatsanwaltschaft ausdrücklich auszuschliessen, weil die EMRK-Konformität einer solchen Regel mindestens zweifelhaft sei. Es sei problematisch, wenn eine nach Gerichtsentscheid freizulassende Person noch länger in Haft behalten werde, bis die Beschwerde erledigt sei, so die Bedenken. Selbst der Bundesrat war sich in dieser Sache nicht sicher, sagte Justizministerin Keller-Sutter doch, der Bundesrat habe versucht, «das Risiko einer EMRK-Widrigkeit zu reduzieren, indem er für das Verfahren möglichst kurze Fristen festgelegt» habe.
Resigniert stellte der ständerätliche Kommissionssprecher Jositsch am Ende der zweiten Runde der Differenzbereinigung fest, dass man in diesen beiden letzten Fragen keine Lösung gefunden habe. Bei der Beschwerdelegitimation der Staatsanwaltschaft gebe es mit der EMRK-Konformität «tatsächlich einen Punkt, der für die Fassung des Nationalrates spricht», weshalb die Kommission die Zustimmung zum Beschluss der Schwesterkammer beantragte. Dasselbe beantragte die RK-SR auch bei den Teilnahmerechten. Die Fassung des Ständerates sei im Nationalrat nicht mehrheitsfähig und eine zweckmässige Kompromisslösung nicht in Sicht, weshalb man im Zweifelsfall eben beim geltenden Recht bleiben wolle, so Jositsch. «Das heisst, dass wir mit dieser Revision das ursprüngliche Hauptproblem vielleicht nicht haben lösen können, aber wir haben doch einiges gemacht, um diese Strafprozessordnung besser zu machen», resümierte er. Obwohl die Kommission damit in beiden Punkten die bundesrätliche Lösung fallen liess, beantragte Karin Keller-Sutter keine Abstimmung. So räumte die Ständekammer die beiden letzten Differenzen stillschweigend aus. In den Schlussabstimmungen nahm der Ständerat die Vorlage mit 38 zu 6 Stimmen bei einer Enthaltung an. Der Nationalrat stimmte ihr mit 147 zu 48 Stimmen bei 2 Enthaltungen zu. Unzufrieden zeigten sich in beiden Räten grosse Teile der SVP-Fraktion, die die fehlende Einschränkung der Teilnahmerechte bedauerten. Dadurch werde «die Erforschung der materiellen Wahrheit eminent erschwert», was zu einer «massiven Bevorteilung der Täter» führe und damit indirekt die Stellung des Opfers erheblich schwäche, hatte Nationalrätin Andrea Geissbühler (svp, BE) während der Debatte im Namen ihrer Fraktion erklärt.

Änderung der Strafprozessordnung (BRG 19.048)
Dossier: Revision der Strafprozessordnung (Umsetzung der Mo. 14.3383)

National- und Ständerat befassten sich in der Sommersession 2022 mit je vier Motionen aus den Reihen der SVP-Fraktion, die auf die steigenden Benzin- und Heizkosten fokussierten. Die Motionen wurden in beiden Räten im Rahmen einer ausserordentlichen Session mit dem Titel «Entlastungsmassnahmen zugunsten der Bevölkerung und der Wirtschaft» beraten.

Im Ständerat stellten die drei Motionäre Marco Chiesa (svp, TI), Werner Salzmann (svp, BE) und Hansjörg Knecht (svp, AG) ihre Vorstösse vor und betonten dabei die Schwierigkeiten, die der Wirtschaft und der autofahrenden Bevölkerung durch die aufgrund des Ukrainekonflikts gestiegenen Energiepreise erwachsen würden. Sie wiesen auch generell auf die hohe Teuerungsrate hin, welche insbesondere den Mittelstand stark belaste. Folglich bewarben sie ihre Vorstösse etwa für eine Reduktion der Mineralölsteuer oder für eine Erhöhung des Berufskostenabzugs. Die Rednerinnen und Redner der anderen Parteien hielten indes wenig von diesen Vorschlägen. Ruedi Noser (fdp, ZH) wies darauf hin, dass auch andere Sektoren von der Teuerung betroffen seien; nicht nur Benzin, Diesel und Heizöl würden teurer. Der Staat könne jedoch nicht für alle Bereiche Hilfspakete schnüren. Zudem bedeute mehr Geld für einen Sektor auch weniger Geld für andere Bereiche, wenn man sich nicht noch mehr verschulden wolle. Adèle Thorens Goumaz (gp, VD) schloss sich dem Votum von Ruedi Noser an und ergänzte, dass keine Massnahmen zur Entlastung der hohen Energiepreise getroffen werden sollten, die auf Kosten des Klimas gehen würden. Vielmehr liege die Lösung darin, sich von den fossilen Energieträgern zu verabschieden. Carlo Sommaruga (sp, GE) und Andrea Gmür-Schönenberger (mitte, LU) betonten, dass mit den geforderten Massnahmen schlicht die falschen Bevölkerungsgruppen entlastet würden. Gemäss Sommaruga, seines Zeichens Präsident des Mieterinnen- und Mieterverbands Schweiz, seien nämlich vor allem die Mieterinnen und Mieter von den steigenden Energiepreisen betroffen; ihnen müsse mittels zielgerichteter Massnahmen geholfen werden. Gmür-Schönenberger fügte an, dass mit den von der SVP geforderten Punkten diejenigen Personen bestraft würden, die bereits jetzt versuchten, nachhaltig zu leben: «Genau die Menschen, welche die Entlastung am meisten brauchen, die sozial benachteiligt und wirtschaftlich nicht auf Rosen gebettet sind, die haben ökologisch den kleinsten Fussabdruck.» Auch Finanzminister Ueli Maurer sprach sich gegen die Vorstösse aus: Aus Sicht des Bundesrates sei es nicht angezeigt, bereits in dieser frühen Phase einer möglicherweise kritischen Konjunkturentwicklung in grossem Masse Geld zu verteilen. Es brauche zuerst eine Gesamtanalyse. Sollte der Bund aber einmal eingreifen müssen, dann würde er zuerst auf die tieferen Einkommen fokussieren. Im Anschluss daran wurde einzeln über die vier Motionen abgestimmt; sie wurden allesamt abgelehnt. Nebst der SVP stimmten jeweils auch einige Mitglieder der FDP.Liberalen- sowie der Mitte-Fraktion für Annahme der Motionen; insbesondere die Motion Knecht (22.3243) für ein Entlastungspaket zugunsten der Bevölkerung und Wirtschaft vermochte auch über die SVP-Fraktion hinaus zu überzeugen.

Im Nationalrat wurden die vier Motionen zusammen mit einer Motion der FDP.Liberalen-Fraktion (Mo. 22.3249), die ebenfalls ein Entlastungspaket für Bevölkerung und Wirtschaft forderte, sowie mit der Motion Schaffner (glp, ZH; Mo. 22.3260) zur Bekämpfung der Strommangellage beraten. In der grossen Kammer entspann sich eine lange und intensive Debatte, in welcher nicht nur über die Vorstösse, sondern auch über die derzeitige und zukünftige makroökonomische Lage in der Schweiz diskutiert wurde.
Je nach Partei wurden ganz verschiedene Rezepte zur Reaktion auf steigende (Treibstoff- und Energie-)Preise vorgeschlagen: Während Motionär Benjamin Giezendanner (svp, AG) die vorgeschlagene Reduktion der Mineralölsteuer und des Mineralölsteuerzuschlags als «zielgerichtetes, effizientes und [ ...] schnell umgesetztes Mittel» bezeichnete, kritisierte Leo Müller (mitte, LU) die Vorschläge der SVP als «Giesskannensystem», dem gezielte Massnahmen vorzuziehen seien. Für ihn standen vielmehr Massnahmen für den Mittelstand und für Haushalte mit kleinem Einkommen im Fokus; etwa in Form von Prämienverbilligungen oder Tankgutscheinen für auf das Auto angewiesene Personengruppen. Samira Marti (sp, BL) ergänzte diese Punkte um weitere mögliche Massnahmen wie etwa tiefere Mieten, höhere Löhne oder dem von ihrer Partei bereits vorgeschlagenen «chèque fédéral» (vgl. Mo. 22.3767). Durch diese Massnahmen würden grosse Teile der Bevölkerung direkt profitieren, so Marti. Parteikollege Samuel Bendahan (sp, VD) ergänzte, dass eine Senkung der Benzinpreise vor allem den Mineralölkonzernen wie Shell oder Esso zu Gute kommen würde.
Die Sprechenden der Grünen und der GLP fokussierten auf die Auswirkungen der von der SVP vorgeschlagenen Massnahmen auf das Klima: Delphine Klopfenstein Broggini (gp, GE) betonte, dass das beste Mittel darin bestehe, auf erneuerbare und einheimische Energien zu setzen, welche gut für das Klima seien, die Preise stabilisierten und die Abhängigkeit vom Ausland reduzierten. Zudem müsse auch sorgsam mit der Energie umgegangen werden, indem zum Beispiel im Winter weniger stark geheizt werde. Beat Flach (glp, AG) monierte, dass die SVP mit ihren Vorschlägen diejenigen Personen belohnen wolle, welche viel Benzin verbrauchten. Damit würden indirekt über die Steuern diejenigen Personen belastet, die sich nachhaltig verhielten und jeden Tag mit dem Fahrrad oder dem öffentlichen Verkehr zur Arbeit fahren würden.
FDP-Vertreter Damien Cottier (fdp, NE) schliesslich wies darauf hin, dass es in jeder freien Marktwirtschaft zu Preisfluktuationen komme. Dies bedeute nicht automatisch, dass der Staat eingreifen müsse. Es sei jedoch die Aufgabe des Parlaments, langfristige Strukturmassnahmen auf den Weg zu bringen – etwa in Form von Steuerreformen in den Bereichen Mehrwertsteuer oder Individualbesteuerung –, um die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz zu stärken.
Bundesrat Maurer versuchte die Gemüter zu beruhigen: Die Teuerung sei in der Schweiz nicht stark, die Wirtschaft werde diese selber bewältigen können. Es sei aber offensichtlich, dass die Lebenshaltungskosten in der nächsten Zeit hoch bleiben würden; auch könne es dazu kommen, dass sich die Teuerung von den Energiepreisen auf weitere Bereiche wie etwa die Lebensmittelpreise ausdehne. Sollte sich die Situation zuspitzen, so werde der Bund evaluieren müssen, welche Massnahmen es brauche.
Schliesslich wurden die vier Motionen der SVP abgelehnt, sie vermochten kaum über die SVP-Fraktion hinaus zu mobilisieren. Der Motion Schaffner stimmte der Nationalrat gegen den Widerstand der SVP-Fraktion sowie einiger Mitglieder der FDP.Liberalen- und der Mitte-Fraktionen zu, während die Motion der FDP.Liberalen-Fraktion zuvor zurückgezogen worden war.

Acht Vorstösse für Entlastungsmassnahmen für Bevölkerung und Wirtschaft (Mo. 22.3228, Mo. 22.3243, 22.3244, Mo. 22.3255, Mo. 22.3280, Mo. 22.3281, Mo. 22.3289, Mo. 22.3356)

Das von Balthasar Glättli (gp, ZH) mittels parlamentarischer Initiative geforderte Obligatorium für die freie Rede bei Ratsdebatten löste in der Sommersession 2022 im Nationalrat ein von einiger Heiterkeit begleitetes Frage-Antwort-Spiel aus. Der Initiant legte dar, dass es zu Beginn des Parlamentsbetriebs, also vor 172 Jahren, verboten gewesen sei, eine Rede abzulesen. Er glaube, dass frei gesprochene Reden nicht nur spannendere, sondern auch verständlichere Debatten nach sich ziehen würden, was «der Demokratie guttäte». Wer frei spreche, habe sich mit dem Thema besser auseinandergesetzt, als wer einfach ablese. Er fordere kein Verbot von Unterlagen, aber er wolle verhindern, dass eine Rede lediglich abgelesen werde. Auf die Frage von Roger Nordmann (sp, VD), ob sich Glättli bewusst sei, dass es sprachliche und rhetorisch nicht so begabte Minderheiten gebe, für die die freie Rede nicht so einfach sei – ein Punkt, den auch das Büro-NR in seinem Bericht gegen die parlamentarische Initiative vorgebracht hatte –, erwiderte der Initiant, dass es in der Tat nicht gut sei, dass man einander nicht verstehe, dies aber mit der freien Rede nichts zu tun habe. Beat Flach (glp, AG) wollte von Glättli wissen, ob er mit einem Verbot nicht überschiesse. Hier brachte der Initiant das Beispiel Grossbritanniens vor, wo man ebenfalls ein Ableseverbot kenne, das freilich mit Augenmass umgesetzt werde: «Aber es gibt dann im britischen Parlament auch den Moment, wo es aus den Reihen schallt ‹He is reading!›, weil man merkt, dass jemand nicht mehr bei der Sache ist, sondern nur noch am Papier klebt. Das will ich verhindern.». Ob denn die freie Rede nicht einfach «in zielloses, polemisches Geschwafel» ausarte, wollte Kurt Fluri (fdp, SO) wissen. Man müsse hierfür wohl zuerst Erfahrungen sammeln und dann allenfalls korrigieren, verteidigte sich Glättli. Es brauche keine Kontrolle, sondern individuelle Abwägung, wie viel man von einem Spickzettel ablesen wolle, antwortete Glättli eine Frage von Lorenz Hess (mitte, BE) und auch die Frage von Benjamin Roduit (mitte, VS), ob denn mit freier Rede nicht die Gefahr eines Überziehens der Zeit bestehe, konterte Glättli: Auch diese Regel müsste eigentlich überdacht werden und auch hier könnte man eine gewisse «souplesse» oder Flexibilität walten lassen.
Das Büro hatte zuvor mit 10 zu 1 Stimmen (bei 2 Enthaltungen) entschieden, dem Vorstoss keine Folge zu geben. Neben den in den Fragen angesprochenen Kritikpunkten (Überforderung von Minderheiten, schwierige Kontrolle, Bedeutung der «Legiferierung» statt Debattenkultur in der Schweiz) fügte das Büro im Bericht auch noch das Argument der nötigen Präzision von Reden an: Komplexe Geschäfte sowie die Berichterstattung von Kommissionsdiskussionen bedingten eine möglichst präzise und doch möglichst knappe Sprache. Dies sei in freier Rede kaum möglich. Mit Ausnahme der GLP- und der FDP-Fraktion fanden sich aus allen Fraktionen Unterstützerinnen und Unterstützer des Antrags. Die insgesamt 30 befürwortenden Stimmen reichten allerdings gegen die 129 Stimmen, die der Initiative keine Folge geben wollten, nicht aus. Ins Auge fielen die 32 Enthaltungen, die wiederum mit Ausnahme der FDP-Fraktion aus allen parlamentarischen Gruppen stammten. Damit ist die parlamentarische Initiative erledigt.

Freie Rede einführen (Pa.Iv. 21.500)

Der Nationalrat hatte in der Herbstsession 2019 ein Postulat von Beat Flach (glp, AG) an den Bundesrat überwiesen, das einen Bericht bezüglich des «Wildwuchses und Wirrwarrs bei den Regeln der Baukunde» gefordert hatte. Im März 2022 legte der Bundesrat den Bericht in Erfüllung des Postulats vor. Im Bericht bestätigte der Bundesrat zunächst die Einschätzung des Postulanten, wonach es in der Baubranche einen zunehmenden Wildwuchs an technischen Regeln gebe. Diese stammten nicht primär von Gesetzen oder technischen Normen. Stattdessen würden in der Praxis viele private und öffentliche Akteure aus Angst vor eventuellen haftungsrechtlichen oder finanziellen Konsequenzen Vollzugshilfen wie Richtlinien, Checklisten und Ausführungsbestimmungen erarbeiten, um Fehler bei der Ausführung zu vermeiden und sich innerhalb der gesetzlichen Regelungen zu bewegen. Zwar seien Vollzugshilfen ein wichtiges und geeignetes Mittel, um den gesetzlichen und verordnungstechnischen Neuerungen gerecht zu werden und insbesondere Detailfragen zu klären. Doch es sei zunehmend schwierig, den Überblick zu behalten und die Qualität und Richtigkeit dieser Vollzugshilfen abzuschätzen. Es gebe zudem keine allgemeinverbindlichen Mindeststandards und es sei oft nicht klar, welche Hilfen bei einem Bauvorhaben angewendet werden müssten.
Der Bundesrat kam in seinem Bericht zum Schluss, dass der beste Lösungsansatz für das Problem die Setzung von Rahmenbedingungen zur Koordination von Vollzugshilfen wäre. Gemäss diesem Lösungsvorschlag des Bundesrates soll ein neues Bundesgesetz geschaffen werden, das einen standardisierten Prozess für die Ausarbeitung von Vollzugshilfen festlegen würde. Die unter den neuen gesetzlichen Vorgaben erarbeiteten Vollzugshilfen könnten dann in einem öffentlich zugänglichen Register zur Verfügung gestellt werden. Andere Handlungsansätze wie beispielsweise die Beibehaltung des Status quo, eine Registrierung der Vollzugshilfen inklusive Faktencheck oder eine umfassende Regulierung durch eine staatliche Stelle erachtete der Bundesrat entweder als nicht zielführend, als zu aufwändig oder als nicht umsetzbar.
Der Nationalrat zeigte sich mit dem Bericht zufrieden und schrieb das Postulat in seiner Sommersession 2023 ab. Ausserdem nahm die grosse Kammer auch stillschweigend eine Kommissionsmotion der WAK-NR an, welche den Bundesrat mit der Ausarbeitung eines Erlassentwurfs zur Setzung von Rahmenbedingungen zur Koordination von Vollzugshilfen beauftragt.

Wildwuchs und Wirrwarr bei den Regeln der Baukunde (Po. 19.3894)

Während die Motion Beat Flach (glp, ZH) bezüglich gesetzlicher Anpassungen am Stockwerkeigentumsrecht in der Herbstsession 2019 noch vom Nationalrat angenommen worden war, lehnte sie der Ständerat in der Sommersession 2022 stillschweigend ab. Die kleine Kammer folgte damit dem Antrag ihrer RK-SR. Diese wiederum begründete ihren Antrag damit, dass das Parlament 2019 eine beinahe deckungsgleiche Motion von Andrea Caroni (fdp, AR; Mo. 19.3410) an den Bundesrat überwiesen hatte. Der Bundesrat erarbeite derzeit einen Vorentwurf und eine Vernehmlassung sei für die zweite Hälfte des Jahres 2023 geplant, so die Kommission. Folglich sahen die RK-SR und der Ständerat – trotz Anerkennen des Handlungsbedarfs beim Stockwerkeigentumsrecht – keinen inhaltlichen Mehrwert in der Motion und lehnten diese ab.

Gesetzliche Anpassungen am Stockwerkeigentumsrecht (Mo. 19.3347)
Dossier: Stockwerkeigentum

Im Rahmen der Revision der Zivilprozessordnung beschäftigte sich die RK-NR unter anderem mit verschiedenen Lösungsansätzen zur Problematik, wie die Fristen bei Eingaben an die Gerichte berechnet werden können. Diese Diskussion habe die Frage aufgeworfen, ob es nicht möglich und sinnvoll wäre, die Fristenberechnung über die verschiedenen Gesetze und Rechtsbereiche hinweg zu vereinheitlichen – davon betroffen wären neben der Zivilprozessordnung etwa die Strafprozessordnung, das Bundesgerichtsgesetz, das Verwaltungsverfahrensgesetz, das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts und das Obligationenrecht. So schilderte Kommissionssprecher Beat Flach (glp, AG) den Ursprung der Kommissionsmotion für eine Harmonisierung der Fristenberechnung, die der Nationalrat in der Sommersession 2022 behandelte. Obwohl der Bundesrat das Vorgehen aus verschiedenen Gründen als wenig sinnvoll erachtete – unter anderem zweifelte er daran, dass eine allgemeingültige Lösung für alle Rechtsgebiete sachgerecht wäre – und die Ablehnung der Motion beantragte, nahm die grosse Kammer den Vorstoss einstimmig bei einer Enthaltung an. Bundesrätin Karin Keller-Sutter hatte für diesen Fall angekündigt, im Zweitrat die Umwandlung in ein Postulat zu beantragen.

Harmonisierung der Fristenberechnung (Mo. 22.3381)

Im März 2021 reichten die Nationalrätinnen und Nationalräte Marionna Schlatter (Pa. Iv. 21.436; gp, ZH), Beat Flach (Pa. Iv. 21.437; glp, AG), Anna Giacometti (Pa. Iv. 21.438; fdp, GR), Nik Gugger (Pa. Iv. 21.439; evp, ZH) und Jon Pult (Pa. Iv. 21.440; sp, GR) fünf gleichlautende parlamentarische Initiativen mit dem Titel «Recht auf gesunde Umwelt und Rechte der Natur» ein. Sie forderten damit nicht weniger als die Revision der Bundesverfassung (BV), mit dem Ziel, das Recht des Menschen auf eine gesunde Umwelt als Grundrecht festzuhalten sowie der Natur zumindest partiell den Status eines Rechtsobjekts zu verleihen.
Die RK-NR befasste sich im Mai 2022 mit den fünf Initiativen. Eine Mehrheit der Kommission (14 zu 11 Stimmen) kam dabei zum Schluss, dass den Initiativen keine Folge zu geben sei. Die Mehrheit vertrat die Ansicht, dass die Begriffe «gesunde Umwelt» sowie «Natur» zu unpräzise seien, um sie als grundrechtlichen Anspruch respektive als Rechtssubjekt in der BV zu verankern. Eine Minderheit vertrat hingegen die Ansicht, dass die Initiativen die Chance bieten, um über Grundsatzfragen rund um den Schutz der Natur zu debattieren, und wollte ihnen daher Folge geben.

Fünf gleichlautende parlamentarische Initiativen mit dem Titel "Recht auf gesunde Umwelt und Rechte der Natur"

Im Frühjahr 2022 gaben die Rechtskommissionen beider Räte einer parlamentarischen Initiative Flach (glp, AG) für ein ausdrückliches Folterverbot im Schweizer Strafrecht Folge. Folter sei in der Schweiz aktuell nur im Kontext von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit explizit verboten, was zur Umsetzung des völkerrechtlichen Folterverbots ungenügend sei, stellte der Initiant fest. Die bestehenden Bestimmungen ahndeten Folter nicht konsequent und effektiv genug und deckten sich nicht mit der Definition von Folter in der UNO-Antifolterkonvention. Da Folter dadurch nicht angemessen bestraft werde, laufe die Schweiz Gefahr, «in naher Zukunft» vom EGMR gerügt zu werden, so Flach in der Begründung seiner Initiative. Nicht zuletzt schwäche die lückenhafte Gesetzgebung das internationale Engagement der Schweiz gegen Folter und schade der Glaubwürdigkeit des Landes. Die RK-NR teilte diese Argumentation mehrheitlich und stimmte der Initiative mit 13 zu 9 Stimmen zu. Die Minderheit war der Ansicht, dass die geltenden Strafbestimmungen zur Ahndung von Folterhandlungen ausreichten. Die RK-SR hiess die Initiative einstimmig gut und erachtete es nun als Aufgabe ihrer Schwesterkommission, «den neuen Straftatbestand klar abzugrenzen».

Folter als eigener Straftatbestand im Schweizer Strafrecht (Pa.Iv. 20.504)

Mit einer parlamentarischen Initiative forderte Nationalrat Lukas Reimann (svp, SG) eine Anpassung der Staatshaftungsrechte. Konkret sollte der Artikel 146 BV, laut welchem der Bund für Schäden haftet, die er widerrechtlich verursacht hat, dahingehend ergänzt werden, dass der Bund auch für rechtmässig verursachte Schäden haften und bei einer unbegründeten, schweren Einschränkung der persönlichen Freiheit oder bei Enteignungen Schadenersatz leisten muss. Der Initiant verwies in seiner Begründung auf die Covid-19-Pandemie und argumentierte, dass im Notrecht die meisten staatlichen Handlungen rechtens seien und somit keine Staatshaftung bestehe. Die vorberatende RK-NR sprach sich mit 18 zu 7 Stimmen gegen die Initiative aus. Wie Kommissionssprecher Beat Flach (glp, AG) im Ratsplenum erklärte, war die Kommissionsmehrheit der Meinung, dass die bestehende Ausgestaltung der Staatshaftung ausreichend und angemessen sei. Bezogen auf die Covid-19-Pandemie führte Flach aus, dass Massnahmen wie Geschäftsschliessungen, die nach Reimanns Vorschlag unter die Staatshaftung fallen könnten, vom Parlament besprochen worden und somit rechtmässig und tragbar gewesen seien. Im Allgemeinen befürchtete die Kommissionsmehrheit, dass eine Ausweitung der Staatshaftung zu einer Flut von Klagen führen würde, was das Rechtssystem überfordern könnte. Im Fall von Enteignungen und Eigentumseinschränkungen bestehe bereits eine angemessene Entschädigung. Eine Minderheit Schwander (svp, SZ) unterstützte die Initiative mit der Begründung, dass mit der bestehenden Gesetzgebung die Staatshaftung zu wenig breit angelegt sei und dass die Hürden für die Einforderung der Staatshaftung zu hoch seien. Der Nationalrat lehnte die parlamentarische Initiative in der Frühjahrssession 2022 mit 135 zu 50 Stimmen ohne Enthaltung ab. Über die SVP-Fraktion hinaus fand sie keine Unterstützung.

Anpassung der Staatshaftungsrechte (Pa. Iv. 20.477)

In der Frühjahrssession 2022 begann der Nationalrat mit der Differenzbereinigung bei der Revision der Strafprozessordnung. Auf die Linie des Ständerats schwenkte er bei den Voraussetzungen für die Untersuchungs- und Sicherheitshaft ein, wo mehrere Minderheiten Addor (svp, VS) für weniger strenge Voraussetzungen als vom Ständerat beschlossen mangels Unterstützung von ausserhalb der SVP-Fraktion chancenlos blieben. Zudem folgte der Nationalrat mit 104 zu 86 Stimmen einer Minderheit Marti (sp, ZH) und hiess den Vorschlag von Ständerat und Bundesrat gut, dass bei einem Strafbefehl, der eine zu verbüssende Freiheitsstrafe nach sich zieht, zwingend eine Einvernahme erfolgen muss. In dieser Frage setzte sich die links-grüne Ratsseite mit grossmehrheitlicher Unterstützung aus der Mitte-Fraktion durch. Ebenfalls seiner Schwesterkammer folgend verzichtete der Nationalrat nunmehr auf das Konzept der restaurativen Gerechtigkeit, das er als Erstrat in den Entwurf eingefügt hatte und das vom Ständerat abgelehnt worden war. Kommissionssprecher Beat Flach (glp, AG) erklärte, nach der Lancierung der Motion 21.4336 habe die Kommission davon abgesehen, «die Justice restaurative bereits in dieser Phase in die Strafprozessordnung aufzunehmen». Eine Minderheit Walder (gp, GE) wollte dagegen an den Bestimmungen festhalten. Die grosse Kammer folgte ihrer Kommissionsmehrheit mit 110 zu 79 Stimmen, wobei sich das links-grüne Lager ebenso geschlossen für Festhalten wie das bürgerliche Lager für Streichen aussprach.
In den anderen grossen Diskussionspunkten hielt die Volkskammer indessen an ihren vorherigen Beschlüssen fest. Die vom Bundesrat beabsichtigte Einschränkung der Teilnahmerechte von beschuldigten Personen fiel im Nationalrat abermals durch. Bundesrätin Karin Keller-Sutter hatte vergeblich darauf hingewiesen, dass «gerade diese Frage auch Auslöser für die Teilrevision der Strafprozessordnung» gewesen sei, weil sich in der juristischen Praxis gewisse «Nebenwirkungen» der geltenden Regelung – etwa dass mehrere Beschuldigte ihre Aussagen einander anpassen können – gezeigt hätten. «Nichtstun» sei hier «keine Option», so ihr Appell. Kommissionssprecher Flach ergänzte, der Ständerat habe mit seiner Neuformulierung «einen Schritt auf die nationalrätliche Version» zu gemacht. Dennoch habe die Kommission «mit einer sehr deutlichen Mehrheit» befunden, dass eine Einschränkung der Teilnahmerechte das derzeit «ausgewogen[e] System» aus dem Lot bringe, das sicherstelle, dass «zwischen Staatsanwaltschaft, Beschuldigten, ihren Verteidigern und letztlich dem Gericht, das urteilen soll, mit gleich langen Spiessen gekämpft wird». Die Minderheit Geissbühler (svp, BE), die dem Ständerat folgen wollte, konnte nur einen Grossteil der SVP- und FDP-Fraktionen sowie einzelne Mitte-Stimmen überzeugen und unterlag mit 70 zu 116 Stimmen bei 2 Enthaltungen dem Antrag der Kommissionsmehrheit, die Teilnahmerechte unverändert zu lassen.
Auch bei der im Ständerat gutgeheissenen Beschwerdemöglichkeit für die Staatsanwaltschaft gegen Entscheide des Zwangsmassnahmengerichts hielt der Nationalrat an seinem Entscheid fest, diese zu streichen. Mit 100 zu 86 Stimmen bei einer Enthaltung setzte sich das links-grüne Lager mit mehrheitlicher Unterstützung aus der Mitte-Fraktion durch und gab dem Antrag der Kommissionsmehrheit statt. Eine Minderheit Lüscher (fdp, GE) hatte sich dem Ständerat anschliessen und die Beschwerdemöglichkeit wie vom Bundesrat vorgesehen in die StPO aufnehmen wollen. Kommissionsberichterstatter Flach begründete die Position der Kommissionsmehrheit auch hier mit «massiv ungleich lange[n] Spiesse[n]», die eine solche Beschwerdemöglichkeit zugunsten der Staatsanwaltschaft bedeuten würde. Justizministerin Keller-Sutter hatte dem Rat empfohlen, der Minderheit zu folgen, sich aber schwergetan mit dieser Empfehlung, da mit der Beschwerdemöglichkeit einerseits die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichts niedergeschrieben würde, andererseits aber «gewisse Zweifel» bestünden, ob so ein Beschwerdeverfahren EMRK-konform wäre.
Bezüglich der DNA-Profile wiederholte die grosse Kammer mit knappen Mehrheiten ihre beiden Entscheide, die sie schon als Erstrat gefällt hatte: Von beschuldigten Personen soll ein DNA-Profil erstellt werden dürfen, wenn «eine gewisse Wahrscheinlichkeit» besteht, dass die beschuldigte Person weitere Verbrechen oder Vergehen begangen haben könnte. Bundesrat, Ständerat und eine Minderheit Marti wollten dafür «konkrete Anhaltspunkte» verlangen. Der Antrag der Kommissionsmehrheit für die weniger hohe Hürde wurde vom rechtsbürgerlichen Block aus SVP-, FDP- und dem Grossteil der Mitte-Fraktion unterstützt und mit 99 zu 83 Stimmen bei einer Enthaltung angenommen. Bei bereits verurteilten Personen hatte der Bundesrat im Entwurf die Möglichkeit zur Erstellung eines DNA-Profils vorgesehen, «wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte anzunehmen ist, die verurteilte Person könnte weitere Verbrechen oder Vergehen begehen». Eine Minderheit Geissbühler beantragte, dem Ständerat zu folgen und diesen Artikel so in die StPO aufzunehmen, während die Kommissionsmehrheit für Streichen plädierte. Äusserst knapp mit 89 zu 88 Stimmen bei 11 Enthaltungen setzte sich der Streichungsantrag durch. Das Zünglein an der Waage spielte die FDP-Fraktion, die sich zu rund je einem Drittel enthalten, dafür und dagegen ausgesprochen hatte.
Die Volkskammer zeigte sich auch bei weiteren, kleineren Differenzen nicht in Kompromisslaune und erhielt viele davon aufrecht. So blieb sie dabei, dass Opfern, die nicht am Strafverfahren teilnehmen, der Entscheid automatisch zugestellt werden soll, ausser sie verzichten ausdrücklich darauf. Ebenfalls behielt der Nationalrat die von ihm eingeführten und vom Ständerat gestrichenen, verschiedenen Behandlungsfristen im Gesetz. Er hielt auch daran fest, dass die Strafbehörde ihre Forderungen aus Verfahrenskosten nicht nur mit Entschädigungen, sondern auch mit Genugtuungen, die an die zahlungspflichtige Partei zu entrichten sind, direkt verrechnen darf.

Änderung der Strafprozessordnung (BRG 19.048)
Dossier: Revision der Strafprozessordnung (Umsetzung der Mo. 14.3383)

Rétrospective annuelle 2021: Problèmes politiques fondamentaux

Encore agitée par la pandémie de Covid-19, l'année 2021 s'est caractérisée par un climat politique mouvementé. Mis à part les tensions liées à la crise sanitaire, le clivage entre villes et campagne s'est également retrouvé sur le devant de la scène. Divers événements, tels que le championnat d'Europe de football, la fête nationale ou les jeux olympiques, ont mis du baume au cœur de la population et ont contribué à renforcer la cohésion nationale. Au niveau parlementaire, peu d'objets concernant les problèmes politiques fondamentaux se sont retrouvés à l'agenda de l'Assemblée fédérale.

Au début de l'année 2021, le conseiller fédéral Alain Berset revenait sur la résilience dont a fait preuve la population suisse en 2020 face à la pandémie. Il constatait néanmoins que la vague de solidarité du début s'était essoufflée lors de la deuxième vague, à l'automne 2020. Cette tendance s'est confirmée au cours de l'année 2021. Alors que les restrictions perduraient durant l'hiver, l'arrivée du vaccin donnait des signes d'espoir d'un retour à la normale, qui se faisait cependant attendre. Au printemps 2021, la population manifestait son ras-le-bol à plusieurs reprises. C'est en particulier la jeunesse qui souffrait de la situation, comme le démontrait une étude effectuée durant le confinement. Dans ce contexte d'incertitudes, certain.e.s politicien.ne.s s'exprimaient avec véhémence à l'encontre de la politique du Conseil fédéral. Pour être précis, l'UDC se positionnait en défenseur d'une partie de la population réfractaire aux mesures sanitaires. La mise en place du certificat sanitaire augmentait les tensions d'un cran, créant selon ses opposant.e.s des disparités entre les personnes vaccinées et celles qui ne l'étaient pas.

Evoquée à maintes reprises par la presse, la dégradation du climat politique s'est traduite par une augmentation des menaces à l'encontre du personnel politique. Comme le montrent les chiffres de Fedpol pour l'année 2020, une augmentation des messages «litigieux» adressés aux parlementaires fédéraux a été constatée. D'autres thèmes que la pandémie ont attisé des tensions: les deux initiatives anti-pesticide, soumises à votation en juin, ont suscité des débats houleux. Plutôt bien accueillies dans les villes, celles-ci ont été largement refusées dans les campagnes. La forte mobilisation du monde rural à cette occasion a également entraîné le refus de la loi sur le CO2. Voyant là un potentiel d'électeurs et électrices en vue des prochaines élections fédérales, l'UDC a profité de la fête nationale pour déployer sa stratégie d'opposition entre les villes et les campagnes. Traitant les villes rose-vertes de «parasites», le président du parti agrarien Marco Chiesa a jeté de l'huile sur le feu, insistant ainsi sur un clivage apparu à l'occasion de plusieurs votations ces dernières années.

Dans un registre plus fédérateur, le 1er août a été placé sous le sceau des 50 ans du droit de vote des femmes, introduit en 1971. Pour commémorer cet anniversaire, plus de 500 femmes en provenance de toute la Suisse se sont réunies sur la prairie du Grütli le premier août. En présence des conseillères fédérales Simonetta Sommaruga et Viola Amherd, l'occupation de ce bastion historiquement masculin par une audience presque exclusivement féminine a représenté un symbole fort. La Suisse s'apprête à fêter un autre anniversaire en 2023, année qui marquera les 175 ans de l'adoption de la première Constitution fédérale, en 1848. Dans cette optique, les députés Beat Flach (pvl, AG) et Hans Stöckli (ps, BE) ont demandé dans une motion aux Services du Parlement d'organiser des festivités. En outre, des motions demandant la création d'un lieu de commémoration officiel des victimes du national-socialisme en Suisse ont été acceptées par les chambres fédérales. Ces motions de Daniel Jositsch (ps, ZH) et Alfred Heer (udc, ZH) s'inscrivaient dans les traces de nombreux objets parlementaires exprimant la même volonté mais n'ayant jamais aboutis.

Si des divisions sont apparues au sein de la population, plusieurs événements, notamment sportifs, ont permis de retrouver un sentiment d'unité nationale. Largement relayée par les médias, la performance historique de l'équipe nationale suisse de football lors du championnat d'Europe a déclenché la ferveur des supporters et supportrices. L'autre événement sportif phare de l'été, à savoir les jeux olympiques de Tokyo, a notamment été le théâtre d'un triplé des suissesses lors de l'épreuve de VTT. Alors que ce sport a connu un succès grandissant avec la pandémie, la presse n'a pas manqué de rappeler les raisons qui font de la Suisse la nation du VTT.

Vue de l'étranger, la Suisse est perçue de manière positive, indique Présence Suisse dans son rapport pour l'année 2020. En prenant la huitième place du Nation Brands Index, la Suisse est le premier pays de taille moyenne de ce classement. Comme les années précédentes, le pays occupe les premières positions de plusieurs rankings. En effet, le Global Wealth Report 2021 désigne la Suisse en tant que pays avec la richesse moyenne par adulte la plus élevée, alors qu'elle serait le troisième pays le plus heureux du monde selon le World Happiness Report 2021.

En 2021, la thématique des problèmes politiques fondamentaux s'est frayée une place significative dans l'espace médiatique. En effet, plus de 2 pour cent des articles de presse étaient consacrés à ce thème, alors que ce taux naviguait autour de 1.5 pour cent les années précédentes. Avec les nombreuses coupures de presse relatant la performance de la Suisse à l'Euro ainsi que l'approche de la fête nationale, le mois de juillet a connu la plus forte part des articles consacrés à ce chapitre (presque 4%; cf. figure 1 sur l’évolution des médias 2021 en annexe).

Rétrospective annuelle 2021: Problèmes politiques fondamentaux
Dossier: Jahresrückblick 2021

Der Nationalrat beschäftigte sich in der Wintersession 2021 als Erstrat mit der Übernahme der EU-Verordnung 2020/493 über das System FADO (False and Authentic Documents Online), die eine Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands darstellt. Während der Nutzen des Systems FADO für die Schweiz unbestritten war, taten Vertreterinnen und Vertreter der SP- und der Grünen Fraktion in ihren Voten vor allem ihren Unmut über den Entscheid der EU-Kommission kund, die Verantwortung für das System FADO an Frontex zu übertragen. Die Grenzschutz-Agentur Frontex sei eine «total dysfunktionale Institution» (Christian Dandrès, sp, GE), gegen die «verschiedene Verfahren und Vorwürfe» wegen Grundrechtsverletzungen im Raum stünden, führte Florence Brenzikofer (gp, BL) aus. Eine Minderheit Brenzikofer beantragte denn auch die Sistierung der Vorlage bis zur allfälligen Referendumsabstimmung über den Bundesbeschluss zur finanziellen Beteiligung der Schweiz an Frontex. Über eine intensivere Zusammenarbeit mit Frontex wie die Weiterbeteiligung der Schweiz am System FADO solle erst entschieden werden, nachdem sich die Stimmbevölkerung zu Frontex habe äussern können, argumentierte die Antragstellerin. Ausserhalb des links-grünen Lagers fand der Sistierungsantrag jedoch keine Zustimmung und wurde mit 106 zu 57 Stimmen bei 6 Enthaltungen deutlich abgelehnt. Der Ratsmehrheit erschien es in den Worten von Beat Flach (glp, AG) «völlig verfehlt», die Umsetzung der Schengen-Weiterentwicklung zu verzögern und «die Schengen-Assoziierung nur wegen dieser kleinen Anpassung zu riskieren». Nachdem er auf das Geschäft eingetreten war, nahm der Nationalrat eine einzige Änderung am Entwurf vor. Auf Antrag seiner vorberatenden Rechtskommission strich er einen Absatz, wonach der Bundesrat ermächtigt würde, selbstständig neue Staatsverträge mit Änderungen der Zugriffsrechte auf FADO abzuschliessen. Der Nationalrat sprach sich stillschweigend dafür aus, dass das Parlament in solchen Fällen vorgängig konsultiert werden muss. In der Gesamtabstimmung nahm die grosse Kammer die Vorlage mit 123 zu 62 Stimmen bei 5 Enthaltungen an, wobei die Grüne Fraktion geschlossen, die SP-Fraktion grossmehrheitlich und einzelne Mitglieder der SVP-Fraktion dagegen votierten.

Übernahme und Umsetzung der Verordnung über das System FADO (BRG 21.036)

In der Wintersession 2021 verlängerte der Ständerat die parlamentarische Initiative Hêche (sp, JU) auf Antrag der RK-SR um zwei Jahre bis zur Wintersession 2023. Da die Forderung des Vorstosses nach einem optimierten und besser koordinierten Entschuldungsverfahren für Privatpersonen den beiden Motionen Hêche (Mo. 18.3510) und Flach (glp, AG; Mo. 18.3683) thematisch nahe liege, erachtete es die Kommission als sinnvoll, den Bericht des Bundesrats zur Umsetzung der beiden Motionen abzuwarten. So könnte das Anliegen der parlamentarischen Initiative möglicherweise in diesen Gesetzgebungsprozess eingebunden werden.

Das Entschuldungsverfahren für Privatpersonen optimieren und besser koordinieren (Pa.Iv. 18.430)

Nachdem die beiden Kammern in der Sommersession 2021 einen Gegenvorschlag verworfen und die Volksinitiative «Bestimmung der Bundesrichterinnen und Bundesrichter im Losverfahren (Justiz-Initiative)» fast einstimmig zur Ablehnung empfohlen hatten, setzte der Bundesrat den Termin für die Abstimmung über das Volksbegehren auf den 28. November 2021 fest.

Das Ziel der Initiative war eine Reform des Wahlsystems der Bundesrichterinnen und Bundesrichter. Am aktuellen Vorgehen wurde kritisiert, was in der Zeitung «Republik» als «Unheilige Dreifaltigkeit» bezeichnet wurde: Parteizugehörigkeit, Mandatssteuer und Wiederwahl. In der Tat bedingt die Idee des Parteienproporz, also die Verteilung der Sitze an den höchsten eidgenössischen Gerichten entsprechend der Stärke der Parteien im Parlament, dass Kandidierende für höchste Richterämter einer Partei angehören sollten, um gewählt werden zu können. Alle Parteien fordern zudem von ihren Mandatsträgerinnen und -trägern eine Abgabe, die Mandatssteuer. In den Medien wurden zu diesem Obolus von Gerichtspersonen verschiedene Zahlen herumgereicht: Eine Befragung der CH-Medien bei den Parteien wies ein Total aller Abgaben von allen Richterinnen und Richtern aus allen Bundesgerichten zwischen CHF 30'000 bei der GLP und CHF 265'000 bei der SP aus (FDP: CHF 35'000; Grüne: CHF 100'000; Mitte: CHF 65'000; SVP: CHF 172'000). Das aktuelle Wahlsystem sieht schliesslich vor, dass Bundesrichterinnen und -richter nicht nur vom Parlament gewählt, sondern alle sechs Jahre bestätigt werden müssen. Das Initiativkomitee kritisierte, dass diese drei Elemente letztlich die Unabhängigkeit der Judikative gefährdeten, und forderte deshalb mit seinem Begehren, dass ein vom Bundesrat ernanntes Fachgremium Kandidierende nach fachlicher Eignung auswählt und dass die Bundesrichterinnen und Bundesrichter aus einem mit diesen Kandidierenden gefüllten Pool per Losverfahren gezogen werden. Die Gewählten sollen zudem keiner Amtszeitbeschränkung mehr unterliegen, sondern bis maximal fünf Jahre nach Pensionsalter in ihrem Amt verbleiben dürfen, falls sie nicht mittels eines neu einzuführenden Abberufungsverfahrens aufgrund von Fehlverhalten abgesetzt würden. Beim Losverfahren würde einzig eine sprachliche Repräsentation berücksichtigt.

Das Initiativkomitee – neben dem «Vater» der Initiative, dem Multimillionär und Unternehmer Adrian Gasser, sassen der Politikwissenschafter Nenad Stojanovic und die Mitte-Politikerin Karin Stadelmann (LU, mitte) federführend im Komitee – lancierte den Abstimmungskampf am 30. September 2021. An einer Pressekonferenz und in späteren Interviews betonten die Initiantinnen und Initianten, dass mit Annahme ihres Begehrens der Pool an geeigneten Richterinnen und Richtern vergrössert würde: Auch Parteilose könnten am Bundesgericht Einsitz nehmen und es müssten zukünftig nicht mehr zahlreiche geeignete Kandidierende hintanstehen, wenn eine Partei – wie aktuell etwa die Grünen nach ihren Wahlerfolgen 2019 – stark untervertreten sei und deshalb bei Vakanzen lediglich Kandidierende dieser Partei berücksichtigt würden. Adrian Gasser strich in mehreren Interviews das in seinen Augen grosse Problem der Parteiabhängigkeit und der Mandatssteuer hervor: «Die politischen Parteien haben sich die Macht angeeignet, diese Ämter unter sich aufzuteilen, dafür Geld zu verlangen und eine opportun erscheinende Gesinnung einzufordern [...] Vorauseilender Gehorsam ist garantiert», klagte er etwa in einem NZZ-Meinungsbeitrag. In Le Temps behauptete er, dass die fehlende Unabhängigkeit der Gerichte dazu führe, dass in 95 Prozent der Fälle Individuen vor Gericht verlieren würden, wenn sie gegen den Staat antreten müssten.

Obwohl keine einzige etablierte Partei und kein Verband das Begehren unterstützte, wollte keine Organisation die Federführung für eine Nein-Kampagne übernehmen. Ende September gründete deshalb Andrea Caroni (fdp, AR) ein «überparteiliches Nein-Komitee». Weil er wie bereits 2014 bei der sogenannten «Pädophileninitiative» den liberalen, demokratischen Rechtsstaat bedroht sehe, wolle er sich wehren, betonte der FDP-Ständerat im Sonntags-Blick. Im Komitee sassen Mitglieder aller grossen Parteien: Heidi Z’graggen (mitte, UR); Laurence Fehlmann Rielle (sp, GE), Nicolas Walder (gp, GE), Beat Flach (glp, AG) und Yves Nidegger (svp, GE). In den Medien tat sich freilich vor allem Andrea Caroni mit Stellungnahmen hervor. Mit dem Slogan «Wählen statt würfeln, Demokratie statt Lotterie» griff er vor allem das Losverfahren an, das auf Glück beruhe und deshalb nicht geeignet sei, fähige Kandidierende auszuwählen. Darüber hinaus habe sich das bestehende System, das eine repräsentative Vertretung unterschiedlicher politischer Grundhaltungen in der Judikative garantiere, bewährt. Im Verlauf der Kampagne warf Andrea Caroni den Initiantinnen und Initianten zudem auch vor, «falsch und verleumderisch» zu argumentieren.

Am 11. Oktober erörterte Karin Keller-Sutter an einer Pressekonferenz die Position des Bundesrats, der die Initiative zur Ablehnung empfahl. Das Volksbegehren sei «zu exotisch» und stelle das politische System und die demokratische Tradition der Schweiz «auf fundamentale Weise» in Frage, so die Justizministerin. Die Wahl durch das Parlament würde durch Losglück ersetzt, womit die demokratische Legitimation Schaden nehme. Das Losverfahren sei zudem ein «Fremdkörper im institutionellen Gefüge», so die Bundesrätin. Mit dem heute angewandten Parteienproporz werde hingegen gewährleistet, dass politische Grundhaltungen, aber auch das Geschlecht und die regionale Herkunft am Bundesgericht «transparent und ausgewogen» vertreten seien, war in der Medienmitteilung zu lesen. Die Praxis zeige zudem, dass die Unabhängigkeit gewährleistet sei und kein Druck von Parteien auf die Bundesrichterinnen und Bundesrichter ausgeübt werde. Noch nie in der jüngeren Geschichte sei ein Richter oder eine Richterin aus politischen Gründen abgewählt worden, so Karin Keller-Sutter, was zeige, dass der von den Initiantinnen und Initianten kritisierte Konformitätsdruck aufgrund der Angst vor einer Wiederwahl gar nicht bestehe. Es sei zudem falsch anzunehmen, dass parteilose Richterinnen und Richter nicht ebenfalls Werte vertreten würden, die allerdings nicht so transparent seien, wie bei Parteimitgliedern. Die Justizministerin nahm schliesslich auf die aktuelle Pandemie-Diskussion Bezug: Viele Stimmen kritisierten momentan demokratisch nicht legitimierte Gremien aus Expertinnen und Experten. Mit Annahme der Initiative würde mit der vorgesehenen Fachkommission aber ein weiteres solches Gremium geschaffen.

In den Medien wurde laut APS-Analyse und FöG-Abstimmungsmonitor nur selten über die Justizinitiative berichtet. Dies war einerseits dem Umstand geschuldet, dass vor allem das Referendum gegen die zweite Revision des Covid-19-Gesetzes sehr viel Platz in der medialen Berichterstattung einnahm, andererseits ist dies aber wohl auch der Komplexität des Themas zuzuschreiben. In der Tat kamen in den Printmedien neben Adrian Gasser und Andrea Caroni vor allem Expertinnen und Experten, aber auch ehemalige Richterinnen und Richter zu Wort.
Auffällig war, dass die meisten dieser Expertinnen und Experten der Initiative relativ wohlwollend gegenüberstanden. So wurden etwa Studien zitiert, die zeigten, dass eine längere Amtszeit zu mehr richterlicher Unabhängigkeit führe. Kurze Amtszeiten und vor allem die Wiederwahl könnten hingegen als Disziplinierungsmöglichkeit von Parteien erachtet werden, mit der Linientreue von Richterinnen und Richtern erzwungen werde, so etwa der Politikwissenschafter Adrian Vatter in der NZZ. Die Wiederwahl sichere Bodenhaftung der Richter und trage dazu bei, dass «sich die Justiz nicht verselbständigt» und dass Richterinnen und Richter nicht zu einer «Elite ohne Legitimation» würden, meinte hingegen Katharina Fontana, ehemalige Mitarbeiterin im BJ und NZZ-Journalistin für das Themengebiet Recht und Gesellschaft. Bemängelt wurde zudem der Umstand, dass parteilose Kandidierende aktuell keine Chance hätten, gewählt zu werden. Wenn wirklich Repräsentation das Ziel sei, dann dürften in den Gerichten nicht nur Parteimitglieder sitzen, da die grosse Mehrheit der Bevölkerung keine Parteibindung aufweise, so die Argumentation. Adrian Vatter schlug entsprechend ein Modell mit 50 Prozent Parteilosen und 50 Prozent Parteimitgliedern vor. Debattiert wurde auch über die Frage, ob Richterinnen und Richter überhaupt ideologisch neutral sein könnten oder ob Gerichte eben nicht auch genuin politische Institutionen seien. In diesem Falle wäre aber der Parteienproporz folgerichtig, so die NZZ. Auch das Losverfahren erhielt einige Aufmerksamkeit – einige Expertinnen und Experten erachteten es als geeignetes Mittel zur Auswahl von Richterinnen und Richtern. Es sei schliesslich schon von Aristoteles als «Grundlage wahrer Demokratie» betrachtet worden, warb der Ökonom Bruno S. Frey. Das Los sei über längere Frist ebenso repräsentativ wie das momentane Auswahlverfahren, funktioniere aber wesentlich unabhängiger, argumentierte die Ökonomin Margit Osterloh, die zudem betonte, dass das Losverfahren nicht einfach eine Lotterie sei, sondern dass durch das qualitative Losverfahren mit Vorselektion letztlich geeignetere Kandidatinnen und Kandidaten ausgewählt würden als von menschlichen Expertinnen und Experten, die in ihrer Wahl eben nicht frei seien von Beeinflussung. Die anfänglich wohl geringere Akzeptanz des Losverfahrens würde rasch zunehmen und das Vertrauen in die Judikative dadurch gar noch verstärkt, so die Ökonomin. In den medialen Kommentaren stand hingegen die Fachkommission, die gemäss der Justizinitiative vom Bundesrat zusammengestellt werden müsste, eher in der Kritik. Die Diskussion um eine optimale Besetzung würde sich von der Richterinnen- und Richterwahl auf die Bestellung dieser Fachkommission verschieben. Es sei nicht klar, wie diese zusammengesetzt werden solle und ob diese eben nicht auch wiederum politisch agieren würde, so der Tenor der Kritikerinnen und Kritiker. Die Weltwoche sprach gar von einer «brandgefährlichen Illusion», zu meinen, es könne ein Gremium eingesetzt werden, das «objektive Qualifikationsmerkmale» bestimmen könne. Andrea Caroni warnte vor «einer obskuren, bundesratsnahen Kommission [...], die weder Qualität noch Vielfalt noch demokratische Legitimation gewährleisten kann». Allerdings stand auch die Frage im Raum, ob die parlamentarische Gerichtskommission (GK), die momentan mit der Auswahl der Kandidierenden betraut ist, fachlich wirklich dafür geeignet sei. Ein eher pragmatisches Argument gegen die Initiative wurde schliesslich von Rechtsprofessor Lorenz Langer vorgebracht: Da sich die Initiative auf das Bundesgericht beschränke, stelle sich die Frage, woher bei Annahme der Initiative die Kandidierenden kommen sollen, da Bewerbende für einen Bundesgerichtsposten in der Regel an anderen Bundesgerichten (Bundesstrafgericht, Bundesverwaltungsgericht, Bundespatentgericht) oder an kantonalen Gerichten tätig seien, wo aber meist noch nach Parteienproporz gewählt würde. Es gäbe somit nicht mehr viele der verlangten «objektiven», also eben parteiunabhängigen Kandidierenden.

In der medialen Diskussion wurde von Seiten der Befürworterinnen und Befürworter auch immer wieder darauf hingewiesen, dass das aktuelle System – auch im internationalen Vergleich – sehr gut funktioniere. Die Geschichte zeige, dass Richterinnen und Richter unabhängig seien und sich nicht vor einer Wiederwahl fürchteten. In der Tat wurden bisher lediglich drei Bundesrichter abgewählt – zwei aus Altersgründen zu Beginn der modernen Schweiz sowie Bundesrichter Martin Schubarth 1990, der freilich sofort wiedergewählt worden war.
Diskutiert wurde zudem der «Fall Donzallaz»: Die SVP hatte «ihren Bundesrichter» nicht mehr zur Wiederwahl empfohlen, weil er in einigen Urteilen nicht mehr die Parteilinie verfolgt habe. Yves Donzallaz wurde aber in der Folge von allen anderen Fraktionen bei seiner Wiederwahl unterstützt und schliesslich gar zum Bundesgerichtspräsidenten gewählt. Dies zeige, dass sich Richterinnen und Richter nicht von den eigenen Parteien unter Druck setzen liessen. Die Aargauer Zeitung kritisierte freilich, dass sich bei Yves Donzallaz das Problem der Parteifarbe besonders gut zeige: Um Bundesrichter zu werden, habe er einen Parteiwechsel von der CVP zur SVP vorgenommen. Dies komme häufig vor, so die Zeitung: Kandidierende wechselten ihre «Parteifarbe wie Chamäleons», um ihre Wahlchancen zu steigern.
Der einzige Nationalrat, der die Initiative unterstützt hatte, kam ebenfalls in den Medien zu Wort. Lukas Reimann gab zu Protokoll, dass er die Arbeit der GK als deren Mitglied als wenig seriös erlebt habe, da die Kandidierendenauslese eher eine politische als eine fachliche Frage gewesen sei. Einmal habe die Kommission einem sehr geeigneten, aber parteilosen Kandidaten gar offen empfohlen, der GLP oder der BDP beizutreten, damit er zur Wahl eingeladen werden könne.

Für Gesprächsstoff sorgten zudem einige pensionierte Richterinnen und Richter, die den Medien Red und Antwort standen. Praktisch unisono gaben alt-Bundesstrafrichter Bernard Bertossa sowie die alt-Bundesrichter Jean Fonjallaz, Karl Hartmann, Ulrich Meyer und Hans Wiprächtiger, aber auch die Luzerner alt-Oberrichterin Marianne Heer (fdp) zu Protokoll, von ihrer Partei nie auch nur irgendeinen Druck verspürt zu haben – auch ihre Kolleginnen und Kollegen nicht. Angesprochen auf die Angst vor einer Nicht-Wiederwahl erzählte Hans Wiprächtiger, dass sich das Bundesgericht viel mehr vor schlechter Presse als vor dem Parlament fürchte. Zur Sprache kam auch die von der Greco kritisierte Mandatssteuer. Man müsse die Parteien unterstützen, damit die Demokratie in der Schweiz funktioniere, äusserte sich Jean Fonjallaz hierzu. Er habe vielmehr das Gefühl, dass die Partei mehr von ihm als Beitragszahlendem abhängig sei als er von ihr, so der alt-Bundesrichter. Von Ämterkauf könne nur die Rede sein, wenn Höchstbietende einen Posten kriegten; die Abgaben seien aber innerhalb einer Partei für alle gleich.
Eine gegenteilige Meinung vertrat einzig der Zürcher alt-Oberrichter Peter Diggelmann. Es gebe zwar keine offenen Drohungen, den Druck der Parteien spüre man aber etwa an Fraktionsausflügen oder Parteianlässen. Er selber sei zudem zu einer Mandatssteuer gezwungen worden und wäre wohl nicht mehr nominiert worden, wenn er der entsprechenden Mahnung nicht nachgekommen wäre. Im Gegensatz zu Kolleginnen und Kollegen, die momentan im Amt seien und deshalb aus Angst keine öffentliche Kritik anbrächten, sei es ihm als pensioniertem Richter und aufgrund seines Parteiaustritts möglich, Kritik zu äussern. Das Interview von Peter Diggelmann im Tages-Anzeiger blieb nicht unbeantwortet. Andrea Caroni sprach tags darauf in der gleichen Zeitung von «verleumderischen Unterstellungen». Er kenne keinen Richter und keine Richterin, die sich unter Druck gesetzt fühlten.

Beliebtes Mediensujet war auch der Kopf der Initiative, Adrian Gasser. Der Multimillionär und Chef der Lorze Gruppe, einem Firmenkonglomerat mit Sitz in Zug, habe sich seit seiner Jugendzeit für richterliche Unabhängigkeit interessiert. Als Wirtschaftsprüfer habe er einige Fälle erlebt, bei denen diese Unabhängigkeit nicht gegeben gewesen sei, sagte er in einem Interview. 1987 habe Adrian Gasser im Kanton Thurgau erfolglos für den National- und 1999 für den Ständerat kandidiert – als Parteiloser. Erst 40 Jahre nach diesen Erlebnissen könne er sich nun aber die Finanzierung einer Volksinitiative leisten. In der Tat soll Adrian Gasser laut Medien rund CHF 1 Mio für die Sammlung der Unterschriften aufgeworfen haben. «Andere haben ein Motorboot in Monaco, ich habe mir eine Initiative im Interesse der Schweiz geleistet», so Gasser bei der Einreichung seiner Initiative im St. Galler Tagblatt.

Auch für die Abstimmungskampagne schien das Initiativkomitee einiges an Geld aufgeworfen zu haben. Im Sonntags-Blick wurde vermutet, dass Adrian Gasser für die Kampagne kaum weniger aufgewendet haben dürfte als für die Unterschriftensammlung, was Andrea Caroni in derselben Zeitung zum Vorwurf verleitete, dass sich «eine Einzelperson [...] praktisch eine Initiative gekauft und die Schweiz zuplakatiert» habe. Der Gegnerschaft fehle es hingegen an spendablen Geldgebenden. Bei der APS-Inserateanalyse zeigt sich zwar in der Tat ein Ungleichgewicht zugunsten der Befürwortenden, allerdings finden sich von beiden Lagern kaum Inserate in den grössten Schweizer Printmedien.

Bei den Abstimmungsumfragen im Vorfeld des Urnengangs vom 28. November zeigte sich ein für Initiativen typisches Bild. Hätten Mitte Oktober noch 48 Prozent der Befragten Ja oder eher Ja zur Initiative gesagt, lag dieser Anteil rund zwei Wochen vor der Abstimmung noch bei 37 Prozent. Für eine inhaltlich komplexe Vorlage ebenfalls gängig war der hohe Anteil Befragter, die sich zu Beginn der Kampagne noch keine Meinung gebildet hatten (Anteil «weiss nicht» am 15.10.2021: 19%; 17.11.2021: 7%).

Wie aufgrund der Umfragewerte zu vermuten, wurde die Initiative am Abstimmungssonntag deutlich verworfen. Bei einer wohl vor allem dem gleichzeitig stattfindenden Referendum gegen das Covid-19-Gesetz, aber auch der «Pflegeinitiative» geschuldeten aussergewöhnlich hohen Stimmbeteiligung von fast 65 Prozent lehnten mehr als zwei Drittel der Stimmberechtigten eine Reform des geltenden Systems der Wahlen von Bundesrichterinnen und Bundesrichtern ab.


Abstimmung vom 28. November 2021

Volksinitiative «Bestimmung der Bundesrichterinnen und Bundesrichter im Losverfahren (Justiz-Initiative)»
Beteiligung: 64.7%
Ja: 1'382'824 Stimmen (31.9%) / 0 Stände
Nein: 2'161'272 Stimmen (68.1%) / 20 6/2 Stände

Parolen:
-Ja: Piratenpartei
-Nein: EDU, EVP, FDP, GLP (2), GPS (2), Mitte, PdA, SD, SP, SVP; SGV
-Stimmfreigabe: BastA
* in Klammern Anzahl abweichende Kantonalsektionen


Die Medien sprachen am Tag nach der Abstimmung von einer deutlichen Niederlage. Das Resultat zeige, dass die Stimmberechtigten mit dem System zufrieden seien, liessen sich die Gegnerinnen und Gegner vernehmen. «Das Volk hält den Wert der Institutionen hoch», interpretierte Justizministerin Karin Keller-Sutter das Resultat. Die Initiative habe zwar einige wunde Punkte aufgezeigt, sei aber zu extrem gewesen, um diese Probleme zu lösen, meinte Matthias Aebischer (sp, BE) in La Liberté. Die Initiantinnen und Initianten erklärten sich die Niederlage mit der zu wenig gut gelungenen Information der Bürgerinnen und Bürger über die Probleme des jetzigen Systems. Adrian Gasser machte zudem die einseitige Information durch die Bundesbehörden und die öffentlich-rechtlichen Medien, welche die Meinungsbildung beeinträchtigt habe, für das Scheitern der Initiative verantwortlich. Er kündigte zudem noch am Abend des Abstimmungssonntags einen weiteren Anlauf an. Innert zwei bis drei Jahren könne die Bevölkerung für die Fehlfunktionen im Justizsystem besser sensibilisiert werden. Er wolle deshalb bald mit der Sammlung von Unterschriften für eine identische Initiative beginnen.
Diskutiert wurden in den Medien freilich auch noch einmal die Schwachstellen des Systems, die nun angegangen werden sollten. Die Justizinitiative habe eine «Debatte rund um das Schweizer Justizsystem ausgelöst und uns zu Verbesserungen angespornt», lobte etwa Andrea Caroni im St. Galler-Tagblatt. So dürften die Diskussionen um mehr Transparenz bei den Parteienfinanzen zu einer Offenlegung der Mandatssteuern führen. Im Parlament hängig war zudem die in einer parlamentarischen Initiative von Beat Walti (fdp, ZH; Pa.Iv. 20.468) aufgeworfene Frage, ob diese Mandatssteuern nicht gänzlich abgeschafft werden sollen. Mit der Ablehnung eines Gegenvorschlags zur Justizinitiative schien hingegen die Frage einer Amtszeitverlängerung der Bundsrichterinnen und Bundesrichter vom Tisch, wie sie von der Schweizerischen Vereinigung der Richterinnen und Richtern am Tag nach der Abstimmung erneut gefordert wurde. Eine mögliche Professionalisierung der Kandidierendenauswahl bzw. die Ergänzung der GK durch eine Fachkommission, die Bewerbungen für Richterinnen- und Richterämter mitsichten soll, war ebenfalls Gegenstand einer noch hängigen parlamentarischen Initiative (Pa.Iv. 21.452).

Die VOX-Analyse fand nur schwache Muster, mit denen das Abstimmungsverhalten bei der Justizinitiative erklärt werden könnte. Personen mit einer Berufsbildung sagten etwas stärker Nein als andere Bildungskategorien. Sympathisantinnen und Sympathisanten der Grünen sagten mehrheitlich Ja – im Gegensatz zu den Anhängerinnen und Anhänger aller anderer Parteien. Hohes Vertrauen in die Judikative ging zudem eher mit einem Nein einher. Bei den Motiven für ein Ja zeigte sich der Wunsch nach Unabhängigkeit von Richterinnen und Richtern von den Parteien sowie nach einem System, das auch für Parteilose Chancen einräumt, als zentral. Ein Nein wurde hingegen laut VOX-Analyse eher mit der Skepsis gegenüber dem Losverfahren und der Meinung, dass das bisherige System gut funktioniere, begründet.

Justizinitiative (BRG 20.061)
Dossier: Unabhängigkeit der Judikative
Dossier: Justizinitiative

In Anbetracht der steigenden Vernetzung und Zahl von Datenbanken auf Bundes- und Kantonsebene forderte Beat Flach (glp, AG) mittels eines Postulats einen Bericht, welcher die Risiken der Datenbanken und den Handlungsbedarf bezüglich des Datenschutzes aufzeigen soll. Ferner solle der Bericht auch als Gesamtübersicht über die bestehenden Datenbanken, deren Art, Umfang und Zweck, deren Vernetzung und Zugriffe dienen. Um hohe Kosten im Schadensfall zu verhindern, sei es unerlässlich, die Risiken des Datentransfers zu kennen und Sicherheitslücken vorsorglich zu schliessen, argumentierte der Postulant. Der Bundesrat beantragte mit dem Argument des Legalitätsprinzips die Ablehnung des Postulats: Staatliche Datenbanken müssten demnach zwingend auf einer gesetzlichen Grundlage basieren, die deren Zweck, die Zugriffe und das Auskunftsrecht regle. Ausserdem sei die Transparenz solcher Datenbanken auf Bundesebene durch die Meldepflicht nach dem Datenschutzgesetz gewährleistet. Bezüglich kantonaler Datenbanken lägen die Kompetenzen hingegen vollständig bei den Kantonen. Justizministerin Karin Keller-Sutter merkte im Nationalratsplenum an, dass gewisse Herausforderungen bezüglich der Datensicherheit in Datenbanken bereits 2018 und 2019 in den Berichten «Zukunft der Datenbearbeitung und Datensicherheit» respektive «Herausforderungen der künstlichen Intelligenz» dokumentiert worden seien. Entgegen dem Antrag des Bundesrats nahm der Nationalrat das Postulat in der Herbstsession 2021 mit 167 zu 24 Stimmen bei 3 Enthaltungen an.

Datenschutz bei den Datenbanken des Bundes und der Kantone - Es braucht eine Gesamtschau (Po. 19.4567)

Déposées en vue des festivités pour les 175 ans de la Constitution fédérale en 2023, les motions de Hans Stöckli (ps, BE) (Mo. 21.3227) et de Beat Flach (pvl, AG) (Mo. 21.3373) ont reçu l'approbation des deux conseils. Plus précisément, ce sont les points 1 et 3 des objets – dont le contenu est identique – qui ont été avalisés, chargeant les services du parlement de l'organisation de diverses activités à l'occasion de ce jubilé. Déjà approuvée par le Conseil des États durant la session d'été, la motion Stöckli a connu le même succès auprès du National en automne, tandis que la motion Flach a effectué le parcours inverse.

175 ans de Constitution fédérale (Mo. 21.3227, Mo. 21.3373)
Dossier: 175 Jahre Bundesverfassung

In der Herbstsession 2021 befasste sich der Nationalrat mit den parteiübergreifend gleichlautenden Motionen Flach (glp, AG; Mo. 19.4319), Mazzone (gp, GE; Mo. 19.4034; von Katharina Prelicz-Huber (gp, ZH) übernommen), Barazzone (cvp, GE; Mo. 19.4033; von Vincent Maitre (mitte, GE) übernommen), Fluri (fdp, SO; Mo. 19.4037), Sommaruga (sp, GE; Mo. 19.4035; von Mattea Meyer (sp, ZH) übernommen) und Quadranti (bdp, ZH; Mo. 19.4036; von Irène Kälin (gp, AG) übernommen). Diese forderten eine Beteiligung der Schweiz am Verteilungsmechanismus der «Koalition der Willigen». Nationalrat Maitre lobte den flexiblen und pragmatischen Charakter des Verteilmechanismus, bei dem Länder eigene Aufnahmekriterien festlegen und diese dem EASO melden können. Da die Teilnahme nicht verbindlich sei, müsse man auch keine Anpassung im Asylrecht vornehmen. Katharina Prelicz-Huber insistierte, dass man nicht auf eine Lösung im Rahmen des Dublin-Abkommens warten könne, «während weiterhin Tausende von Menschen ertrinken», auch wenn der Bundesrat ad-hoc-Lösungen nicht gerne sehe. Kurt Fluri, der nach eigener Aussage spontane Lösungen ebenfalls ablehne, kritisierte, dass noch immer keine gesamthafte Lösung im Rahmen des Dublin-Systems absehbar sei. Da sich die Schweiz aber bereits an den Verteilungsabläufen beteilige, wäre die Annahme der Motion nur symbolisch, weshalb er seine Motion zurückziehe. Bundesrätin Keller-Sutter wies darauf hin, dass sich die meisten EU-Staaten nie an der «Koalition der Willigen» beteiligt hätten und sich unterdessen selbst anfängliche Befürworter aufgrund der enttäuschenden Resultate daraus zurückgezogen hätten. Man wolle das Dublin-System nicht unterlaufen, indem Menschen ohne Chance auf Asyl auf verschiedene Länder verteilt würden.
Der Nationalrat lehnte die fünf verbleibenden Motionen mit 97 zu 92 Stimmen ab. SP, Grüne und Grünliberale stimmten dafür, während sich die SVP und die FDP einstimmig dagegen aussprachen. Die Mitte-Fraktion zeigte sich gespalten, wobei eine Mehrheit die Vorstösse ablehnte.

Die Schweiz soll sich am Verteilungsmechanismus der "Koalition der Willigen" beteiligen

Beat Flach (glp, AG) reihte sich mit seinem im Juni 2019 eingereichten Postulat zum Thema Plastikreduktion und -recycling ein in eine Reihe von Vorstössen, die sich mit dem Thema der Grünen Wirtschaft auseinandersetzten; insbesondere die Postulate von Adèle Thorens Goumaz (gp, VD; Po. 18.3196) und von Martina Munz (sp, SH; Po. 18.3496) zielten bereits in eine ähnliche Richtung. Beat Flach forderte in seinem Postulat, dass die Regierung aufzeigt, wie insbesondere in der Land- und der Bauwirtschaft der Gebrauch von Kunststoffen reduziert oder durch Alternativen ersetzt und der Anteil des Plastiks, das recycelt wird, erhöht werden kann. Der Bundesrat zeigte sich bereit, den Vorstoss anzunehmen und zusammen mit den beiden erwähnten Postulaten gemeinsam anzugehen.
Der Vorstoss wurde in der Sommersession 2021 behandelt, nachdem er zuvor von Felix Müri (svp, LU) bekämpft worden war. Im Rat erläuterte Mike Egger (svp, SG), dass der vorliegende Vorstoss obsolet sei, da sich die UREK-NR und insbesondere deren Subkommission im Rahmen der Umsetzung der parlamentarischen Initiative zur Stärkung der Kreislaufwirtschaft (Pa.Iv. 20.433) bereits eingängig mit diesem Thema beschäftigt habe. Simonetta Sommaruga war der Ansicht, dass es keine grosse Rolle spiele, ob die grosse Kammer diesen Vorstoss nun annehme oder ablehne, die Problematik werde ohnehin im Rahmen der Arbeiten zur erwähnten parlamentarischen Initiative aufgenommen. Anschliessend nahm der Nationalrat das Postulat mit 137 zu 45 Stimmen bei 6 Enthaltungen an.

Millionen Tonnen von Plastik einsparen, ersetzen oder recyclen statt verbrennen oder exportieren (Po. 19.3818)
Dossier: Vorstösse zur Kreislaufwirtschaft seit Ablehnung der Volksinitiative «Grüne Wirtschaft»

L'année 2023 marquera les 175 ans de la Constitution fédérale, adoptée en 1848. Afin de célébrer dignement l'anniversaire du texte fondateur de la Suisse moderne, le sénateur Hans Stöckli (ps, BE) a déposé une motion demandant au bureau du Conseil des États (Bureau-CE) de prendre les mesures nécessaires à l'organisation de festivités. Celles-ci doivent s'adresser à l'ensemble de la population, et notamment permettre à la jeunesse de prendre conscience de l'importance de la participation politique. Le Bureau-CE proposait d'accepter ces demandes, qui constituaient les points 1 et 3 de la motion. Il demandait en revanche à la chambre haute de rejeter les points 2 et 4 de l'intervention. Ceux-ci chargeaient les Services du Parlement de présenter un concept mettant Berne au cœur de l'événement, mais associant aussi des institutions fédérales telles que les écoles polytechniques, le musée national, la bibliothèque nationale ainsi que les cantons, villes et communes à la fête, permettant ainsi des événements décentralisés dans tout le pays. Il revenait aux Services du Parlement d'assurer la coordination entre les événements ainsi que la planification financière. Le Bureau-CE a indiqué que les Services du Parlement ont déjà rédigé une stratégie globale pour cet anniversaire. Le Palais fédéral devrait être ouvert au public durant un week-end du mois de juin 2023, et d'autres événements seront mis sur pied en parallèle, par exemple des concerts sur la place fédérale. Le Bureau souligne que la mise en place de ces événements nécessitera l'accord du Conseil fédéral ainsi qu'une étroite collaboration avec les services concernés et la ville de Berne. Concernant les festivités en d'autres lieux, les institutions souhaitant organiser un événement pourront s'inspirer de ce qui se fera à Berne. Le bureau estime cependant qu'il ne revient pas aux Services du Parlement d'organiser ni de coordonner l'ensemble des événements, d'autant plus que ceux-ci auront déjà fort à faire avec le changement de législature, auquel l'année 2023 sera consacrée.
Hans Stöckli a accepté de retirer les points 2 et 4 de sa motion. Le sénateur biennois a néanmoins réitéré l'importance d'inclure les cantons, les communes et d'autres institutions dans les démarches. Les points 1 et 3 de la motion ont été adoptés par le Conseil des États.
Le vert-libéral Beat Flach (pvl, AG) a déposé une motion identique au Conseil national. Le bureau (Bureau-CN) proposait également l'adoption des points 1 et 3 et le rejet des points 2 et 4. Cet avis a été suivie par la majorité de la chambre du peuple, qui a accepté le texte par 128 voix contre 54 (1 abstention). Une minorité du bureau composée des députés agrariens Thomas Aeschi et Roland Büchel souhaitait le rejet de la motion.

175 ans de Constitution fédérale (Mo. 21.3227, Mo. 21.3373)
Dossier: 175 Jahre Bundesverfassung

Nationalrat Flach (glp, AG) reichte im Mai 2019 ein Postulat ein, durch welches der Bundesrat aufgefordert wurde, Massnahmen zum Klimaschutz in der Schifffahrt vorzuschlagen. Der Postulant wies darauf hin, dass die IMO beschlossen habe, ihre Emissionen bis 2050 um 50 Prozent gegenüber dem Jahr 2008 zu senken. Die Schweiz müsse nun ihren Beitrag dazu leisten. Einige gute Möglichkeiten dafür – beispielsweise elektrisch betriebene Fähren – seien bereits entwickelt worden. Der Bundesrat erklärte sich bereit, in einem Bericht darzulegen, wie die Schifffahrt nachhaltiger gestaltet werden könne. Er beantragte daher die Annahme des Postulats.
Nachdem das Postulat zweimal von Exponenten der SVP bekämpft worden war, kam es im Sommer 2021 in den Nationalrat. Dort erläuterte Thomas de Courten (svp, BL), weshalb er das Postulat bekämpft und ablehnt: Die Schweiz mache mit ihren derzeit circa 20 Hochsee-Schiffen nur gerade mal 0.3 Promille an der ganzen Welthandelsflotte aus. Das Klimaschutzpotential der Schweiz sei in diesem Bereich also sehr bescheiden. Zudem habe die IMO bereits einen Dekarbonisierungsplan vorgelegt. In diesem Gremium trage die Schweiz bereits dazu bei, Klimaschutzmassnahmen voranzutreiben. Es brauche daher «keinen weiteren in trockenen Berner Amtsstuben von Süsswasserpiraten ausgearbeiteten Verwaltungsbericht». Diese Argumente von de Courten vermochten die Mehrheit der grossen Kammer jedoch nicht zu überzeugen: Der Nationalrat stimmte dem Postulat mit 125 zu 65 Stimmen bei einer Enthaltung zu.

Klimaschutzpotenzial in der Schifffahrt (Po. 19.3485)

Im April 2021 und damit zwei Jahre nach der Abschreibung der parlamentarischen Initiative Flach (glp, AG) beantragte die RK-NR ihrem Rat mit 14 zu 7 Stimmen (bei 4 Enthaltungen) die Aufhebung des Majestätsbeleidigungs-Artikels 296 StGB, welcher die Beleidigung eines fremden Staates unter Strafe stellt.

Lèse-majesté. Abroger l'article 296 CP (Iv. pa. 16.430)

In der Frühjahrssession 2021 begrüsste Kommissionssprecher Beat Flach (glp, AG) seine Ratskolleginnen und -kollegen zur «kleinen Monsterdebatte» über die Revision der Strafprozessordnung. Der Nationalrat nahm sich der punktuellen Anpassung der StPO zur Verbesserung ihrer Praxistauglichkeit (in Umsetzung der Mo. 14.3383) als Erstrat an. Er trat ohne Gegenantrag auf die Vorlage ein. Zwei Minderheitsanträge Nidegger (svp, GE) und Addor (svp, VS) auf Rückweisung an den Bundesrat mit dem Auftrag, noch verschiedene zusätzliche Punkte in die Revision zu integrieren, fanden ausserhalb der SVP-Fraktion keine Zustimmung und blieben damit chancenlos.
Erster Kernpunkt der Diskussion war die Einschränkung der Teilnahmerechte der beschuldigten Person. Die aktuell geltende Regelung wurde in der Debatte immer wieder als einer der Auslöser für die vorliegende StPO-Revision genannt. Der Bundesrat hatte im Entwurf vorgesehen, dass die beschuldigte Person von einer Einvernahme ausgeschlossen werden kann, solange sie sich zum Gegenstand der Einvernahme noch nicht selber einlässlich geäussert hat. Er wollte damit der Strafverfolgung die Wahrheitsfindung erleichtern, wie Justizministerin Karin Keller-Sutter erklärte. Indem Beschuldigte unter bestimmten Voraussetzungen von der Einvernahme anderer Personen ausgeschlossen werden können, soll verhindert werden, dass sie ihre Aussagen einander anpassen. Befürworterinnen und Befürworter im Nationalrat argumentierten überdies, dass Zeuginnen und Zeugen durch die Anwesenheit der beschuldigten Person – oder letztere durch die Anwesenheit des «Bandenboss[es]» (Barbara Steinemann, svp, ZH) – eingeschüchtert und unter Druck gesetzt werden könnten, was die Qualität der Aussagen beeinträchtige. Vertreterinnen und Vertreter der Gegenseite warnten dagegen vor der Einführung einer «faktische[n] Mitwirkungspflicht» (Ursula Schneider Schüttel, sp, FR): Die neue Regelung bewirke, dass die beschuldigte Person sich zur betreffenden Sache im Detail äussern – d.h. auf ihr Aussageverweigerungsrecht verzichten – müsse, um bei den Beweiserhebungen dabei sein zu dürfen. Für jemand Unschuldiges sei das besonders schwierig, führte Philipp Matthias Bregy (mitte, VS) aus, «[d]enn der kann nämlich nichts anderes sagen, als dass er unschuldig ist». Den Beweiserhebungen nicht beizuwohnen und daher nicht genau zu wissen, was einem vorgeworfen werde, erschwere indessen die eigene Verteidigung, so Ursula Schneider Schüttel weiter. Zwar gab auch Bundesrätin Karin Keller-Sutter den Gegenstimmen recht, dass das Teilnahmerecht der Beschuldigten «als Ausgleich für die strukturell starke Stellung der Staatsanwaltschaft notwendig» sei, hielt die vorgeschlagene Einschränkung jedoch für «massvoll und zurückhaltend». Für ihre Fraktion sei der Artikel allerdings die «Pièce de Résistance» der Vorlage, bekundete SP-Vertreterin Ursula Schneider Schüttel ebenso wie Christian Lüscher (fdp, GE), der für die Mehrheit der FDP-Fraktion sprach. Sinngleich erklärte auch Sibel Arslan (basta, BS), im Falle der Annahme der neuen Einschränkung werde die Grüne Fraktion «die ganze Vorlage infrage stellen müssen». Mit 103 zu 85 Stimmen bei zwei Enthaltungen folgte die grosse Kammer schliesslich ihrer Kommissionsmehrheit, die beim Status quo bleiben wollte. SP und Grüne setzten sich mit Unterstützung von Teilen der FDP- und der Mitte-Fraktionen durch.
Erfolgreicher war der Bundesrat mit seinem Ansinnen, die Voraussetzungen für die Untersuchungs- und Sicherheitshaft bei Wiederholungsgefahr zu lockern, wobei der Nationalrat seiner Kommissionsmehrheit folgend eine vom Bundesrat abweichende Formulierung wählte. Justizministerin Karin Keller-Sutter stellte im Rat jedoch fest, dass nach Ansicht des Bundesrates kein materieller Unterschied zwischen den beiden Formulierungen bestehe. Eine weitere Niederlage musste der Bundesrat bei der vorgesehenen Beschwerdemöglichkeit für die Staatsanwaltschaft gegen Entscheide des Zwangsmassnahmengerichts hinnehmen. Er hatte diese in der StPO festschreiben wollen, um die ohnehin bereits vom Bundesgericht angewandte Praxis gesetzlich zu verankern. «Es ist unbefriedigend, wenn sich weder die Legitimation noch das Verfahren aus dem Gesetz ergeben», begründete die Justizministerin diese Neuerung. Der Nationalrat folgte auch in dieser Frage mit 98 zu 89 Stimmen seiner Kommissionsmehrheit und strich den betreffenden Absatz aus der Vorlage. Die geschlossen für die Version des Bundesrates stimmenden Fraktionen der SVP und der FDP sowie einzelne Stimmen aus der Mitte- und der GLP-Fraktion befürchteten, ohne Beschwerdemöglichkeit für die Staatsanwaltschaft könnte «eine zu Unrecht erfolgte Nichtanordnung von Haft» in gewissen Fällen «eine Fortsetzung der Strafuntersuchung illusorisch» machen, wie es Christa Markwalder (fdp, BE) formulierte. Die Ratsmehrheit folgte indessen der Argumentation von Mitte-Vertreter Philipp Matthias Bregy: Wenn die Staatsanwaltschaft Beschwerde gegen die Nichtanordnung, Nichtverlängerung oder Aufhebung der Untersuchungshaft einlegen könne, könne die Untersuchungshaft «durch systematische Beschwerden der Staatsanwaltschaften unnötig verlängert» werden. Selbst Bundesrätin Karin Keller-Sutter gab zu bedenken, es sei «alles andere als klar», ob sich die Beschwerdeberechtigung für die Staatsanwaltschaft mit den Vorgaben der EMRK vereinbaren lasse. Weil die Überführung der bundesgerichtlichen Praxis in das Gesetz von einer angenommenen parlamentarischen Initiative Jositsch (sp, ZH; Pa.Iv. 12.497) gefordert und in der Vernehmlassung mehrheitlich begrüsst worden sei, habe sich die Regierung «trotz aller Bedenken und Unsicherheiten» entschieden, die nun im Nationalrat durchgefallene Regelung in den Entwurf aufzunehmen, so die Justizministerin.
Weiter sollten DNA-Profile gemäss dem Entwurf des Bundesrates neu auch dann erstellt werden dürfen, wenn «erhebliche und konkrete Anhaltspunkte» für eine Verwicklung der beschuldigten Person in bereits begangene oder künftige Delikte bestimmter Schwere bestünden, und nicht mehr nur zur Aufklärung von Verbrechen, die Gegenstand des aktuellen Verfahrens sind. Die Kommissionsmehrheit wollte hier einerseits einen Schritt weiter gehen und schlug vor, dass bei vergangenen Straftaten eine «gewisse Wahrscheinlichkeit» bereits genügen sollte; für die Aufklärung zukünftiger Straftaten lehnte sie andererseits die Erstellung eines DNA-Profils gänzlich ab. Die Volkskammer folgte diesen beiden Anträgen, wobei die Verschärfung bezüglich der vergangenen Straftaten gegen den Widerstand des links-grünen Lagers und die Streichung bezüglich der zukünftigen Straftaten gegen die SVP- und Teile der Mitte-Fraktion durchgesetzt wurde.
Überdies nahm der Nationalrat mit grosser Mehrheit auch einen Einzelantrag Regazzi (mitte, TI) an, der darauf zielte, die Möglichkeiten zur verdeckten Ermittlung im Bereich der Kinderpornografie zu erweitern. Bundesrätin Karin Keller-Sutter hatte vergeblich darauf hingewiesen, dass der Antrag in die sorgfältig austarierte Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Kantonen eingreife und deshalb abzulehnen sei. Ebenfalls gegen den Willen des Bundesrates fügte die grosse Kammer einen neuen Artikel über die restaurative Gerechtigkeit («justice restaurative», Wiedergutmachungsjustiz) in die StPO ein. Die Kommission habe sich mit 15 zu 6 Stimmen bei 3 Enthaltungen zu diesem «mutigen Schritt» entschieden, berichtete Kommissionssprecher Beat Flach. Wenn beide Seiten damit einverstanden sind, soll neu eine Art Mediation zwischen Opfern und Tätern durchgeführt werden können. Es gehe nicht darum, wie von ablehnenden Stimmen aus SVP und Mitte kritisiert, die Verfahren zu verlängern oder «dem Straftäter gegenüber irgendwie Milde walten zu lassen», sondern dem Opfer eine Möglichkeit zu geben, sich mit dem Geschehenen zu beschäftigen und es aufzuarbeiten. Erfahrungen aus der Westschweiz und aus Belgien zeigten, dass solche Prozesse das «rein[e] Aburteilen und Strafen» gut ergänzen und vor allem für die Opfer «eine Hilfe auf dem weiteren Lebensweg» sein könnten. Bundesrätin Karin Keller-Sutter betonte, dass der Bundesrat die «justice restaurative» nicht generell ablehne, mahnte den Nationalrat aber zur Vorsicht, nicht übereilt zu handeln. Sie kritisierte die unpräzise Formulierung, die sowohl den Anwendungsbereich als auch die Folgen einer allenfalls erfolgreichen Wiedergutmachung zu stark offen lasse; das sei «unter dem Aspekt der rechtsgleichen Behandlung heikel». Auch müsste die Frage zuerst mit den Kantonen diskutiert werden, die die StPO schliesslich anwendeten. Den Einwand, das Konzept sei zu wenig ausgereift, liess Kommissionssprecher Flach nicht gelten: Der Ständerat könne als Zweitrat noch «nachjustieren». Mit 122 zu 71 Stimmen sah das auch der Nationalrat so und hiess den Vorschlag seiner Kommissionsmehrheit gut, wobei sich die SVP-Fraktion geschlossen und die Mitte-Fraktion mehrheitlich gegen die Einführung der Wiedergutmachungsjustiz aussprach.
Eine weitere Neuerung, die der Bundesrat nicht durchsetzen konnte, war das Ansinnen, die Staatsanwaltschaft zu verpflichten, die beschuldigte Person im Strafbefehlsverfahren zwingend einzuvernehmen, wenn ihr eine unbedingte Freiheitsstrafe droht. Eine Einvernahme erhöhte die Akzeptanz eines Strafbefehls, begründete die Justizministerin diesen Schritt. Während eine links-grüne Minderheit die Einvernahme auch bei hohen Geldstrafen verpflichtend machen wollte, erachtete die bürgerliche Ratsmehrheit die heutige Regelung als ausreichend und strich den Artikel gänzlich aus dem Entwurf.
Damit hatte der Nationalrat der Revisionsvorlage einige Zähne gezogen, die insbesondere den Strafverfolgungsbehörden zugute gekommen wären. Von der Ratslinken hatte sich der Bundesrat zunächst vorwerfen lassen müssen, einer «durchaus beeindruckende[n] PR-Offensive» (Min Li Marti, sp, ZH) der Staatsanwaltschaft erlegen zu sein. Gegen die Vorlage, wie sie nun vom Nationalrat angepasst worden war, regte sich in der Gesamtabstimmung von linker Seite aber kein Widerstand mehr. «Den Ton gaben Anwältinnen und Anwälte an», resümierte denn auch die NZZ die Debatte. Mit dem Ergebnis explizit unzufrieden zeigte sich die SVP-Fraktion. Die versprochene Verbesserung der Praxistauglichkeit der StPO für die Strafverfolgungsbehörden sei «heute in diesem Saal nicht passiert», so SVP-Vertreter Pirmin Schwander (svp, SZ), weil die Ratsmehrheit die zentralen Neuerungen verworfen habe. Die grosse Kammer verabschiedete den Entwurf schliesslich mit 139 zu 54 Stimmen an den Zweitrat. Stillschweigend schrieb er die Motionen 09.3443, 11.3223, 11.3911, 12.4077 und 14.3383 sowie die Postulate 15.3447 und 15.3502 ab. Die vom Bundesrat ebenfalls beantragte Abschreibung des Postulats 18.4063 zur Wiedergutmachungsjustiz lehnte er jedoch ab.

Änderung der Strafprozessordnung (BRG 19.048)
Dossier: Revision der Strafprozessordnung (Umsetzung der Mo. 14.3383)

In der Frühjahrssession nahm sich der Nationalrat der Justiz-Initiative an. Zur Debatte standen dabei drei Minderheitsanträge, welche die Ausarbeitung eines Gegenvorschlags bezweckten, was der Bundesrat in seiner Vorlage abgelehnt hatte. Ein Minderheitsantrag Min Li Marti (sp, ZH) verlangte die Rückweisung des Geschäfts an die RK-NR, damit diese ihren in Form einer parlamentarischen Initiative (Pa.Iv. 20.480) bereits eingereichten indirekten Gegenvorschlag weiter ausarbeite. Zwei weitere links-grüne Minderheiten präsentierte einen eigenen direkten Gegenentwurf, der gleichzeitig mit der Initiative zur Abstimmung kommen soll.
Die RK-NR selber sehe aber keinen Handlungsbedarf mehr, berichtete Barbara Steinemann (svp, ZH) für die Kommission. Nach einigen Anhörungen sei man zum Schluss gekommen, dass sich das aktuelle System bewährt habe. Die Wahl von Richterinnen und Richtern, wie sie heute praktiziert werde, sei nicht über alle Zweifel erhaben und es gebe durchaus «diskussionswürdige Punkte», so die Kommissionssprecherin. Alle anderen Systeme seien aber «noch weniger perfekt», weshalb die Kommission mit 22 zu 0 Stimmen (3 Enthaltungen) empfehle, die Volksinitiative ohne indirekten Gegenvorschlag und ohne direkten Gegenentwurf abzulehnen.
In der Begründung ihres Rückweisungsantrags machte Min Li Marti (sp, ZH) auf die wunden Punkte aufmerksam, auf welche die Initiative die Finger legt: Die Frage der Wiederwahl – Richterinnen und Richter müssen periodisch in ihrem Amt bestätigt werden, was in jüngerer Zeit nicht immer reibungslos vonstatten gegangen war –; die Mandatsabgaben, die von Richterinnen und Richtern an ihre Parteien bezahlt werden müssen und die auch von der Greco kritisiert werden, weil sie das bestehende Abhängigkeitsverhältnis noch verstärken; oder die Auswahl der Richterinnen und Richter durch die Gerichtskommission, die kein eigentliches Fachgremium darstellt und weniger auf Fachkompetenz als auf politische Einstellungen und Parteizugehörigkeit achtet. Diese Punkte müssten von der Rechtskommission noch einmal überdacht und in eine Gesetzesrevision gegossen werden, forderte die Zürcher Sozialdemokratin. Sibel Arslan (basta, BS) skizzierte in der Folge die beiden direkten Gegenentwürfe. Vorgesehen war eine Erhöhung der Amtsdauer von Richterinnen und Richter auf zwölf oder sechzehn Jahre in Verbindung mit einem noch zu regelnden Amtsenthebungsverfahren. Das bisherige Wiederwahlverfahren gefährde die Unabhängigkeit der Judikative, weil Richterinnen und Richter mit ihrer Wiederwahl unter Druck gesetzt werden könnten, so die Begründung der Baslerin.

In der nachfolgenden Debatte wiesen auch zahlreiche Votantinnen und Votanten auf die Mängel des bestehenden Systems hin. Freilich war umstritten, ob diese Mängel mit einem Gegenvorschlag oder einem Gegenentwurf behoben werden müssten oder ob sie sich «im Rahmen der heutigen Strukturen lösen» lassen, wie sich etwa Pirmin Schwander (svp, SZ) überzeugt zeigte. Wichtig sei freilich, dass man bereits bei der Selektion der Kandidierenden die «richtigen Persönlichkeiten» auswähle. Das System funktioniere, befand auch Christoph Eymann (ldp, BS). Änderungen seien weder auf Gesetzes- noch auf Verfassungsstufe nötig. Der von der Initiative kritisierte Parteienproporz bei Richterwahlen sei gar nicht so schlecht, führte dann Philipp Matthias Bregy (mitte, VS) aus. Er garantiere vielmehr eine Vertretung aller «ideologischen Richtungen». Auch die regelmässigen Wiederwahlen wurden verteidigt: In Realität seien die Richterinnen und Richter unabhängig von ihren Parteien und zu einer Abwahl komme es praktisch nie, argumentierte Sidney Kamerzin (mitte, VS) gegen eine Reform des Systems. Gegen ein zu hastiges Vorgehen mit Hilfe von Gegenvorschlägen und Gegenentwürfen stellte sich auch Kurt Fluri (fdp, SO). Man müsse die bestehenden Probleme in Ruhe angehen. So sei ja etwa eine Motion von Beat Walti (fdp, ZH) für ein Verbot von Mandatssteuern bereits eingereicht worden.
Die Ratslinke – unterstützt von der GLP, für die Beat Flach (glp, AG) Handlungsbedarf aufgrund der undurchsichtigen Mandatsabgaben feststellte – hätte hingegen die Initiative gerne als Treiberin für nötige Reformen genutzt. Es sei ein Glücksfall, dass es dank der Initiative zu einer öffentlichen Debatte über die Judikative komme, lobte Matthias Aebischer (sp, BE). Wenn ein indirekter Gegenentwurf jetzt ausgearbeitet werden müsse, könnten die «kritischen und berechtigten Aspekte der Initiative» aufgenommen werden, warb auch Ursula Schneider Schüttel (sp, FR) für die Rückweisung an die Kommission.

Eine solche wurde dann allerdings von der Ratsmehrheit mit 99 zu 81 Stimmen (1 Enthaltung) abgelehnt. Dabei zeigte sich der aufgrund der vorgängigen Diskussion zu erwartende Graben zwischen SVP-, FDP- und der Mehrheit der Mitte-Fraktion, die den Rückweisungsantrag ablehnten, und den Fraktionen von SP, GP und GLP sowie der EVP. Auf die beiden Vorlagen für mögliche direkte Gegenentwürfe mochte der Rat sodann gar nicht erst eintreten. Mit 102 zu 79 Stimmen (3 Enthaltungen) wurde eine mögliche Debatte abgelehnt. Dabei zeigten sich die praktisch gleichen Fronten wie bei der abgelehnten Rückweisung.

Die Initiative selber fand bei den Rednerinnen und Rednern kaum Unterstützung. Das Losverfahren sei «schlicht unseriös», urteilte Philipp Matthias Bregy (mitte, VS). Der Zufall mache seine Sache nur selten gut, befand auch Nicolas Walder (gp, GE) und mit dem Los bestünde das grosse Risiko, dass nicht alle politischen Sensibilitäten in der Judikative repräsentiert seien. Auch die Idee eines Fachgremiums, mit dem die auszulosenden Kandidierenden bestimmt würden, stiess auf Kritik. Auch die Mitglieder eines solchen Gremiums könnten nicht politisch neutral sein, warnte Matthias Aebischer (sp, GE). Eine durch Los oder ein Fachgremium bestimmte Judikative sei demokratisch weniger legitimiert als durch das Parlament oder die Stimmbevölkerung gewählte Richterinnen und Richter, pflichtete Andreas Glarner (svp, AG) bei. Ein «Sympathie-Ja» erhielt das Begehren einzig von Lukas Reimann (svp, SG): Richterwahlen seien sehr wohl politisch und die Parteizugehörigkeit verhindere die Auswahl der besten Kandidierenden, begründete der St. Galler seine Unterstützung.
Der Nationalrat folgte stillschweigend dem Antrag der Kommission, die Initiative zur Ablehnung zu empfehlen. Die NZZ sprach nach der nationalrätlichen Debatte von einer verpassten Chance. Es sei fraglich, ob das Parlament ohne den Druck einer Volksinitiative gewillt sei, die Mängel im bestehenden System zu beheben.

Justizinitiative (BRG 20.061)
Dossier: Unabhängigkeit der Judikative
Dossier: Justizinitiative