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  • Friedli, Esther (svp/udc, SG) NR/CN
  • Glättli, Balthasar (gp/verts, ZH) NR/CN

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Bei den Grünen Schweiz trat zu Jahresbeginn 2023 Rahel Estermann ihr Amt als Generalsekretärin an. Die 35-jährige Luzerner Kantonsrätin war seit 2020 bereits stellvertretende Generalsekretärin der Grünen gewesen. Während sieben Jahren hatte sie davor das Sekretariat der Luzerner Kantonalpartei geführt.
Nebst Estermanns Einsatz für klassische grüne Werte – eine klimafreundliche, ökologische und solidarische Gesellschaft – hoben die Grünen in ihrer Medienmitteilung auch Estermanns Expertise im Bereich der digitalen Grundrechte hervor; Parteipräsident Balthasar Glättli hoffte, sie werde damit die Grünen als «netzpolitische Avantgarde» positionieren können. Estermann ihrerseits attestierte ihrer Partei unter Verweis auf die geplante europapolitische Volksinitiative der Grünen mit der Operation Libero und auf die bereits lancierte Klimafonds-Initiative von Grünen und SP eine bereits grössere inhaltliche Vielfalt als noch vor einigen Jahren.
Estermann folgte als Generalsekretärin auf Florian Irminger, der seinen Posten nach einer Amtszeit von rund zwei Jahren aus familiären Gründen aufgab. Als Irmingers Vermächtnis hob Glättli unter anderem den «Ausbau der grünen Strukturen nach dem grossen Wahlsieg 2019» sowie seine Mitarbeit in der Entwicklung der grünen Positionierung in Zeiten der Covid-19-Pandemie und der grünen Aussenpolitik nach Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hervor.

Generalsekretariat der Grünen Schweiz

Im Dezember 2020 reichte Balthasar Glättli (gp, ZH) eine Motion für ein nachhaltiges Impulsprogramm zur Bewältigung der Corona-Krise ein. Dieses Impulsprogramm sollte verschiedene Massnahmen und Ziele verfolgen, wie erhöhte Investitionen in den Klimaschutz, Schaffung neuer Arbeitsplätze in nachhaltigen Bereichen, neue Erwerbsperspektiven für Menschen in Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit durch Weiterbildungen und Umschulungen, eine Ausbildungsoffensive gegen den Fachkräftemangel oder Verbesserungen der Arbeitsbedingungen im Gesundheitsbereich. Der Bundesrat beantragte in seiner Stellungnahme vom Februar 2021, die Motion abzulehnen, und verwies dabei auf bereits geplante Investitionen und Bemühungen seinerseits sowie des Parlaments. Im Dezember 2022 wurde die Motion abgeschrieben, da sie nicht innerhalb der zweijährigen Frist behandelt worden war.

Grüner aus der Corona-Krise: Für ein nachhaltiges Impulsprogramm, das Klimaschutz-Jobs, Zukunfts-Jobs und Care-Jobs schafft (Mo. 20.4726)
Dossier: Covid-19 – Massnahmen zur Abfederung der wirtschaftlichen Folgen

La motion Salzmann (udc, BE) a été rejetée par le Conseil national. La majorité de la Commission de l'économie et des redevances de la chambre basse (CER-CN) avait recommandé aux parlementaires de ne pas l'accepter, estimant qu'elle allait trop loin et remettait potentiellement en question le train de mesures pris par le Conseil fédéral le 13 avril 2022. Esther Friedli (udc, SG), défendant la proposition de minorité d'accepter le texte en arguant de la nécessité de repenser de fond en comble la vision de l'agriculture du Conseil fédéral, et déplorant la forte dépendance vis-à-vis de l'étranger, n'a pas réussi à convaincre suffisamment d'élu.e.s. L'alliance entre les deux fractions de gauche, les Vert'libéraux, une majorité des membres du PLR et quelques parlementaires centristes aura suffi pour faire échouer ce texte (104 voix contre 85 et 1 abstention). Une motion à la teneur similaire a toutefois été acceptée à une courte majorité par les député.e.s lors du même débat.

Motion Salzmann sur la perte d'éléments fertilisants (Mo. 22.3606)
Dossier: Die Frage der Selbstversorgung mit Lebensmitteln taucht vor dem Hintergrund der Krise wieder auf (2022)

Die Diskussionen um das Thema «Frauen im Bundesrat» begannen bereits fünf Tage nach dem Rücktritt von Ueli Maurer und begleiteten die ganzen Bundesratswahlen 2022. Die NZZ titelte zu Beginn, dass die SVP «auffällig viele Bundesratskandidatinnen» habe und «plötzlich Frauenpartei» sei. Auch wenn Magdalena Martullo-Blocher (svp, GR) und Diana Gutjahr (svp, TG) bereits abgesagt hätten, hätten die Medien mit Esther Friedli (svp, SG), Natalie Rickli (svp, ZH), Monika Rüegger (svp, OW) und Cornelia Stamm Hurter (SH, svp) «für eine Partei ohne Frauenförderungsprogramm [...] erstaunlich viele valable Kandidatinnen» ausgemacht. Nachdem bis auf die Nidwalder Regierungsrätin Michèle Blöchliger (NW, svp) alle Kandidatinnen abgesagt hatten, drehte jedoch der Wind in der Berichterstattung: Der SVP mangle es an Frauen, titelte etwa 24Heures. Sie bleibe «le parti des hommes», schrieb Le Temps, wofür sie die lediglich knapp 20 Prozent gewählten SVP-Frauen im nationalen Parlament, aber auch das Verhalten der Männer in der Partei als Belege ins Feld führte. Ueli Maurer habe 2014 Frauen beispielsweise als «Gebrauchtgegenstände im Haushalt» bezeichnet. Entsprechend habe Michèle Blöchliger gegen die männlichen SVP-Schwergewichte auch keine Chance. Der Tages-Anzeiger erinnerte daran, dass die SVP in Geschlechterfragen bereits einmal weiter gewesen sei: Im Jahr 2000 habe sie Rita Fuhrer als Bundesratskandidatin vorgeschlagen, das Parlament habe damals jedoch Samuel Schmid gewählt. Die Sonntagszeitung sprach ob der vielen Absagen hingegen von einer «Partei der Feiglinginnen».
Zwar forderten nicht wenige Exponentinnen und Exponenten der SVP – etwa Toni Brunner (svp, SG), der der Findungskommission angehörte, Nationalrätin Céline Amaudruz (svp, GE) oder gar Christoph Blocher –, dass die Partei dem Parlament eine Kandidatin und einen Kandidaten zur Auswahl präsentiere. Letztlich war die einzige Frau unter den offiziell Kandidierenden allerdings chancenlos: In der Fraktion sprachen sich nur 4 (von 51) Mitgliedern für die Nidwaldner Kandidatin Blöchlinger aus.

Nicht nur die Gleichstellung von Frauen und Männern, auch die Genderdebatte erhielt im Zusammenhang mit den Wahlen einige mediale Aufmerksamkeit. So sorgte eine im Rahmen seiner Rücktrittsankündigung gemachte Aussage von Ueli Maurer für Kritik, wonach es keine Rolle spiele, ob eine Frau oder ein Mann seine Nachfolge übernehmen werde – «solange es kein ‹Es› ist, geht es ja noch». Das Transgender-Netzwerk forderte vom scheidenden Bundesrat eine Entschuldigung und Kim de l’Horizon, die genderfluide, nichtbinäre Person, die mit ihrem Debütroman 2022 mit dem Schweizer und dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet worden war, fragte in einem NZZ-Feuilletonbeitrag, was so schlimm am Körper von Kim de l'Horizon sei, dass ihn Ueli Maurer von politischer Führung ausschliessen wolle. Kim de l'Horizon lade den noch amtierenden Bundesrat auf ein Bier ein, damit dieser ein «Es» kennenlernen könne.

Diese Debatten waren jedoch in der Folge auch deshalb nur noch Randthema, weil die Gleichstellungsdiskussion kurz nach dem Rücktritt von Simonetta Sommaruga auf die SP übersprangen, nachdem die Parteileitung bekannt gegeben hatte, dass die SP auf ein reines Frauenticket setzen werde. Es sei «logisch», dass die SP nur Frauen aufstelle, weil sie mit Alain Berset bereits einen Mann in der Regierung habe, war zwar zuerst der allgemeine mediale Tenor gewesen. Auch nachdem Daniel Jositsch (sp, ZH), der selber Ambitionen auf den Sitz in der Bundesregierung hegte, diese Entscheidung kritisiert und eine eigene Kandidatur in den Raum gestellt hatte, war im linken Lager unbestritten, dass nur eine Frau als Nachfolgerin von Simonetta Sommaruga in Frage kommen würde – auch wenn dieser Entscheid auch von einigen SP-Frauen kritisiert wurde. Einige Kritik wurde jedoch auch aus dem bürgerlichen Lager laut.

Für mehr mediale Aufmerksamkeit sorgte hingegen die von Tamara Funiciello (sp, ZH) lancierte Überlegung, dass es im Bundesrat mehr junge Mütter mit schulpflichtigen Kindern brauche, damit die Gleichstellung und die Diskussion um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie Fortschritte machten. Im Sonntagsblick wurde vermutet, dass junge Mütter wohl bei einer Wahl stärker in der Kritik stehen und wahlweise als schlechte Mutter oder schlechte Bundesrätin gelten würden. Mit Elisabeth Kopp, Micheline Calmy-Rey und Eveline Widmer-Schlumpf seien zwar bereits Mütter in der Landesregierung gewesen, nur die Tochter von Elisabeth Kopp sei damals allerdings im schulpflichtigen Alter gewesen, berichtete der Tages-Anzeiger. Karin Keller-Sutter habe vor einigen Jahren gar gesagt, dass ihre politische Karriere mit Kindern nicht möglich gewesen wäre. In anderen Ländern sei es hingegen Realität, dass junge Frauen mit Kindern Regierungsverantwortung übernähmen. Natürlich sei es in der Schweiz unüblich, dass jemand zwischen 30 und 40 Bundesrätin werde, dennoch sei es nie jemandem in den Sinn gekommen, bei Alain Berset in der entsprechenden Situation nach Vereinbarkeit von Amt und Familie zu fragen, so der Tages-Anzeiger. Freilich habe es auch schon Männer gegeben, die aus familiären Gründen auf einen Bundesratsposten verzichtet hätten, aktuell etwa Marcel Dettling (svp, SZ) bei der Nachfolge von Ueli Maurer. Die NZZ meinte hingegen, dass die Frage nicht sei, ob die Schweiz dafür bereit sei, sondern ob junge Schweizer Mütter sich überhaupt zur Verfügung stellen würden.
Vor allem bei der Kandidatur von Evi Allemann (BE, sp) war das Thema «junge Mütter im Bundesrat» Gegenstand jedes Interviews mit der Bernerin. Es sei «vielleicht eine neue Selbstverständlichkeit», dass junge Frauen, die vor 20 Jahren gewählt worden seien, dank ihrer Erfahrung mehr Verantwortung übernehmen wollten, mutmasste Evi Allemann in einem dieser Interviews. Ihre Arbeit im Regierungsrat des Kantons Bern zeige, dass es sehr wohl möglich sei, Kinder zu haben und ein Regierungsamt zu bekleiden, gab sie dabei zu Protokoll.

Dass Politikerinnen auch medial anders beurteilt werden als Politiker, zeigte dann auch die Kandidatur von Eva Herzog (sp, BS). Nicht ihre Mutterschaft, sondern ihr Alter war häufig Gegenstand der Berichterstattung: «Es ist halt immer das Gleiche. Zuerst sind die Frauen zu jung und unerfahren, dann haben sie Kinder und es geht nicht, und am Schluss sind sie zu alt», kritisierte die Basler Ständerätin die entsprechenden Diskussionen. Beim SVP-Kandidaten Heinz Tännler (ZG, svp), der 62 Jahre alt sei, rede niemand über das Alter. Letztlich gehe es im Bundesrat aber weder um Geschlecht, Familie oder Alter, sondern um Dossierkenntnisse, so Eva Herzog.
Interessanterweise wurde das Thema Vereinbarkeit von Amt und Familie in der Deutschschweizer Presse wesentlich virulenter diskutiert als in der Westschweizer Presse. Als möglichen Grund erachtete Min Li Marti (sp, ZH) in einem Interview mit der NZZ, dass die Vorstellung, dass Familie Privatsache sei und eine Frau, die sich nicht den Kindern widme, eine Rabenmutter sei, in der Deutschschweiz viel stärker verbreitet sei als in der Romandie.

Als positiv wurde es hingegen vielfach erachtet, dass die Diskussion um Frauenvertretung im Bundesrat heute wesentlich wichtiger sei als noch vor ein paar Jahren. Dass die Vertretung von Frauen in der Politik heute viel stärker als Selbstverständlichkeit betrachtet werde, sei ein grosser Fortschritt, urteilte etwa der Tages-Anzeiger. Vielleicht würden künftig andere Kriterien wichtiger. In der Tat gab es im Vorfeld der Ersatzwahlen etwa auch Forderungen für eine bessere Repräsentation hinsichtlich Ausbildung und von «Nicht-Studierten» im Bundesrat. Im Zusammenhang mit möglichen Wahlkriterien wurde zudem oft darauf hingewiesen, dass die früher bedeutende Konfessionszugehörigkeit heute überhaupt keine Rolle mehr spiele.

Mehrfach Grund für Kritik lieferte schliesslich die mediale Berichterstattung zu den Wahlen selbst. So spielten bei der Analyse der Gründe für die Wahl Albert Röstis und Elisabeth Baume-Schneiders in den meisten Deutschschweizer Medien Geschlechterdiskussionen eine relevante Rolle. Hervorgehoben wurde vor allem die im Vergleich zu Eva Herzog sympathischere Art der Jurassierin. Die NZZ beispielsweise kritisierte, dass die «sich zugänglicher und mütterlicher» präsentierende Elisabeth Baume-Schneider die «pragmatisch, kompetent und maximal unabhängig» und «überdurchschnittlich starke Kandidatin» Eva Herzog habe übertrumpfen können. Dies habe einen «schale[n] Nachgeschmack». Bei den beiden SVP-Kandidaten waren solche Attribute kaum zu finden. Zwar wurde anders als noch bei früheren Bundesrätinnenwahlen kaum über Frisur oder Kleidung geschrieben, trotzdem war auffällig, dass nur bei den Frauen ein «sympathisches und mütterliches» Auftreten als möglicher Wahlgrund aufgeführt wurde, nicht aber bei den beiden Männern. Albert Rösti wurde weder als «väterlich» noch als «zugänglich» beschrieben. Er sei zwar «ein fröhlicher Mensch», so die NZZ, er habe aber eine «andere Eigenschaft, die ihn für den harten Job eines Bundesrats empfiehlt: Er ist zäh».

Umgekehrt wurde insbesondere von verschiedenen Frauen mehrfach kritisiert, dass einmal mehr, wie bereits bei der Wahl von Ruth Metzler 1999, nicht die kompetentere, sondern die «Frohnatur», wie es die NZZ ausdrückte, gewonnen habe. «Starke Frauen» hätten es demnach schwer, von den Männern gewählt zu werden, lautete die Kritik. Hingegen verwies die NZZ darauf, dass auch bei den Männern nicht selten der «Gmögigere» gewinne.

Gleichstellungsdiskussionen im Rahmen der Bundesratswahlen 2022

In der Wintersession 2022 behandelte das Parlament den Nachtrag II zum Voranschlag 2022 zusammen mit dem Voranschlag 2023. Anna Giacometti (fdp, GR) erläuterte dem Nationalrat die aktuelle Vorlage als Kommissionssprecherin: Nachdem National- und Ständerat in der Herbstsession 2022 bereits den Voranschlagskredit für subsidiäre Finanzhilfen über CHF 4 Mrd. an ein systemrelevantes Unternehmen der Elektrizitätswirtschaft bewilligt hatten, standen nun weitere Ausgaben von CHF 1.6 Mrd. in 23 Nachtragskrediten zur Diskussion. Den grössten Kreditposten stellte die Aufnahme von bis zu 110'000 Geflüchteten mit Schutzstatus S dar (CHF 1.2 Mrd.), gefolgt von Transport und Einrichtung von Reservekraftwerken im Kampf gegen eine mögliche Strommangellage ab dem Winter 2022/2023 (CHF 160 Mio. Nachtragskredit, CHF 470 Mio. Verpflichtungskredit) und einem Kredit zur Begleichung der Passivzinsen des Bundes aufgrund der Zinserhöhungen durch die SNB (CHF 135 Mio.). Zuvor hatte die FinDel bereits dringliche Kredite über CHF 4.3 Mrd. bewilligt (neben den CHF 4 Mrd. für die Elektrizitätswirtschaft auch CHF 303 Mio. für das Reservekraftwerk in Birr, für die höheren Migrationsausgaben, für die höheren Passivzinsen sowie für die Impfungen gegen die Affenpocken), diese müssen vom Parlament aber dennoch beraten werden. In der Zwischenzeit hatte der Bundesrat zudem zwei Nachmeldungen zum Nachtrag II vorgenommen, in denen er unter anderem CHF 100 Mio. für ein Winterhilfe-Paket zugunsten des Wiederaufbaus der zivilen Infrastruktur in der Ukraine beantragte.

Während sich die Kommissionsmehrheit mit allen Nachtragskrediten und Nachmeldungen einverstanden zeigte, lagen zahlreiche Minderheitsanträge vor. So verlangte eine Minderheit Friedl (sp, SG), die Beträge zugunsten der Ukraine aufzustocken, was der Nationalrat jedoch mehrheitlich ablehnte. Kürzungsanträge stellten hingegen Mike Egger (svp, SG) bezüglich des Globalbudgets des BAG für den Kauf des Impfstoffes gegen die Affenpocken sowie Benjamin Fischer (svp, ZH) zu den Integrationsmassnahmen für Ausländerinnen und Ausländer, sie blieben jedoch ebenfalls erfolglos. Abgelehnt wurden auch die Kürzungs- oder Streichungsanträge von Mitgliedern der SVP-Fraktion bezüglich verschiedener Kredite beim BFE: So sollte der Kredit für die Reservekraftwerke weniger stark erhöht, das Globalbudget des BFE gar nicht erhöht und der Nachtragskredit für die Notstromgruppen gestrichen werden, obwohl die FinDel bereits verschiedene dieser Beträge gutgeheissen hatte. Erfolglos blieb schliesslich auch ein Einzelantrag Glättli (gp, ZH) auf Erhöhung des Globalbudgets des BFE zur Finanzierung einer Informationskampagne zum Einsparpotenzial im Warmwasserbereich.
Mit 139 zu 51 Stimmen (bei 1 Enthaltung) hiess der Nationalrat in der Folge den zweiten Entwurf des Nachtrags II zum Voranschlag 2023 gut, die ablehnenden Stimmen stammten von den Mitgliedern der SVP-Fraktion.

Keine Änderungsanträge lagen im Ständerat vor, der sämtliche Kredite stillschweigend guthiess, sämtliche Ausgaben einstimmig genehmigte und den Entwurf schliesslich mit 38 zu 0 Stimmen ebenfalls einstimmig annahm.

Nachtrag II zum Voranschlag 2022 (BRG 22.042)
Dossier: Bundeshaushalt 2022: Voranschlag und Staatsrechnung

Bereits in der Wintersession 2022 beriet das Parlament den Bundesbeschluss über eine besondere Besteuerung grosser Unternehmensgruppen fertig. Dies war nötig, damit die entsprechende Verordnung ab dem 1. Januar 2024 in Kraft treten und die Regelungen der OECD somit termingerecht umgesetzt werden können – vorausgesetzt, die Stimmbevölkerung heisst die Verfassungsänderung im Juni 2023 an der Urne gut.

Nach dem Ständerat, der sich bereits in der Herbstsession zur Vorlage geäussert hatte, setzte sich zu Beginn der Wintersession der Nationalrat mit dem Bundesbeschluss zur Änderung der Verfassung auseinander. Vertreterinnen und Vertreter der bürgerlichen Parteien unterstrichen in der Eintretensdebatte die Notwendigkeit der Vorlage, auch wenn sie teilweise als notwendiges Übel dargestellt wurde. Sie betonten, dass sich der Standortwettbewerb in den kommenden Jahren aufgrund der OECD-Mindestbesteuerung verstärken werde und die betroffenen Kantone ihre sinkende Steuerattraktivität kompensieren müssten. Dem pflichtete der Finanzminister später bei, als er betonte, dass es aufgrund dieser Vorlage zu grossen Veränderungen kommen werde – der Standortwettbewerb verlagere sich auf Bereiche, in denen «die Schweiz nicht mithalten kann». Vertreterinnen und Vertreter der links-grünen Parteien hingegen erachteten die OECD-Reform als Versuch, den in ihren Augen schädlichen internationalen Steuerwettbewerb einzuschränken. Entsprechend sollten die daraus resultierenden Einnahmen nicht erneut dafür eingesetzt werden, einzelne Kantone für Unternehmen attraktiver zu machen, womit auch die interkantonale Ungleichheit noch verstärkt würde. Eintreten war in der Folge unbestritten.

Die grosse Debatte betraf in der Folge die Frage, wie die aufgrund der Ergänzungssteuer erzielten Mehreinnahmen zwischen Bund und Kantonen verteilt werden sollen. Der Bundesrat hatte in Absprache mit den Kantonen eine Verteilung von 25 Prozent für den Bund und 75 Prozent für die Kantone vorgeschlagen, der Ständerat war seinem Antrag gefolgt. Eine Minderheit III Walti (fdp, ZH) vertrat diese Position im Nationalrat. Die WAK-NR befürwortete hingegen eine Verteilung von 50-zu-50 Prozent für Bund und Kantone, wobei eine Obergrenze von CHF 400 pro Einwohnerin und Einwohner geschaffen werden sollte. Einerseits sei die finanzielle Situation der Kantone deutlich besser als diejenige des Bundes, zudem sei ein Engagement des Bundes im Standortwettbewerb vonnöten, begründete Landolt (mitte, GL) im Namen der Kommission den höheren Bundesanteil. Schliesslich führe dieser Vorschlag in 16 Kantonen zu Mehreinnahmen gegenüber dem bundesrätlichen Vorschlag. Daneben lagen jedoch zahlreiche Minderheitsvorschläge vor. Zwei Minderheiten I Grossen (glp, BE) und II Feller (fdp, VD) befürworteten die Verteilung von 50 zu 50, lehnten aber die Pro-Kopf-Obergrenze ab. Die Minderheit I Grossen wollte die Gelder zu zwei Dritteln entsprechend der kantonalen Wirtschaftsleistung und zu einem Drittel entsprechend der Wohnbevölkerung auf die Kantone verteilen, während die Minderheit II Feller keine Ergänzungen vorsah. Extrempositionen nahmen die Minderheiten IV Martullo (svp, GR) sowie VI Glättli (gp, ZH) ein, die 100 Prozent der Gelder den Kantonen (Martullo) respektive dem Bund (Glättli) zukommen lassen wollten.
Finanzminister Maurer warnte den Rat eindringlich vor den Folgen einer Abweichung vom Kompromiss zwischen den Kantonen: Damit lasse man die «Solidarität auseinanderbrechen», betonte er und empfahl folglich die Minderheit IV Walti zur Annahme.
Dennoch setzte sich die Minderheit II Feller und somit die hälftige Verteilung zwischen Bund und Kantonen ohne Einschränkungen gegen die Alternativvorschläge durch. Angenommen wurde auch eine Minderheit V Leo Müller (mitte, LU), mit der die Verteilung der kantonalen Mehreinnahmen auf Gemeinden und Städte gemäss der Verteilung der Gewinnsteuern festgeschrieben werden sollte. Der Nationalrat schuf damit gleich zwei Differenzen zum Erstrat.
Erfolgreich war mit 161 zu 25 Stimmen (bei 3 Enthaltungen) überdies ein Einzelantrag Leo Müller für eine Änderung des Vorlagentitels als dritte Differenz. Dieser sollte neu die «Umsetzung des OECD/G20-Projekts zur Besteuerung grosser Unternehmensgruppen» in den Mittelpunkt stellen, nicht wie bisher die «Besteuerung der digitalen Wirtschaft». Müller hatte zuvor auf die Notwendigkeit verwiesen, dass die Vorlage bei einer Volksabstimmung einen passenden Titel aufweist.
Schliesslich folgte der Nationalrat auch einem Antrag seiner Kommissionsmehrheit und beauftragte den Bundesrat, bis sechs Jahre nach Inkrafttreten der Verordnung zur Mindestbesteuerung das entsprechende Bundesgesetz vorzulegen. Damit schuf er eine vierte Differenz zum Ständerat. Eine Minderheit Aeschi (svp, ZG) wollte ergänzend vom Bundesrat verlangen, zusammen mit der Ausführungsgesetzgebung auch eine Anpassung der NFA zu präsentieren, da das «neue[...], NFA-ähnliche[...] Umverteilungsgefäss» zusammen mit den bestehenden NFA-Gefässen angeschaut werden müsse. Der Nationalrat entschied sich jedoch mit 143 zu 46 Stimmen für den Mehrheitsantrag.

Daneben versuchten verschiedene Minderheiten, die Vorlage um weitere Elemente zu ergänzen – blieben damit aber erfolglos. Auf bürgerlicher Seite verlangte eine Minderheit Aeschi, gleichzeitig mit der Unternehmensbesteuerung auch die natürlichen Personen zu entlasten, was die Mehrheit der Sprechenden mit Verweis darauf ablehnte, dass dieser Antrag themenfremd sei und Kosten in Milliardenhöhe verursachen würde. Auch der Nationalrat sah von dieser Ergänzung ab (141 zu 48 Stimmen).
Eine weitere Minderheit Aeschi wollte erfolglos (134 zu 55 Stimmen bei 1 Enthaltung) die Reichweite der Vorlage auf juristische Personen beschränken und damit Personengesellschaften von der Regelung ausnehmen. Dies lehnte etwa Finanzminister Maurer mit der Begründung ab, dass die OECD-Regelung auch solche Unternehmen einbeziehe.
Erfolglos blieben auch zwei Minderheiten Feller für eine Einschränkung der Bestimmungen auf «grosse multinationale Unternehmensgruppen» – der Bundesrat hatte nur von «grossen Unternehmensgruppen» gesprochen. Sollte die erste Säule der OECD-Bemühungen, die sich mit der «steuerlichen Zuteilung von Gewinnen grosser Unternehmensgruppen» (EFD) beschäftigt, ebenfalls umgesetzt werden, bräuchte es bei einer solchen Ergänzung eine neue Verfassungsänderung, begründete der Finanzminister seine ablehnende Haltung. Der zweite Minderheitsantrag Feller verlangte, dass die Veranlagung zwingend durch die Kantone gemacht werden muss – bisher enthielt die Vorlage diesbezüglich Ausnahmemöglichkeiten. Kommissionssprecher Landolt betonte, dass man diese Frage absichtlich offen lassen wolle, um sie im Rahmen des späteren Gesetzgebungsverfahrens regeln zu können. Mit 130 zu 58 Stimmen (bei 1 Enthaltung) respektive 131 zu 57 Stimmen (bei 1 Enthaltung) fanden auch diese zwei Anträge keine Mehrheit. Alle vier Minderheitsanträge wurden von der SVP-Fraktion sowie von einer Minderheit der FDP-Fraktion und einzelnen Mitgliedern der Mitte-Fraktion befürwortet.

Nicht nur von bürgerlicher, auch von links-grüner Ratsseite lagen zahlreiche erfolglose Minderheitsanträge vor.
Eine Minderheit Birrer-Heimo (sp, LU) erachtete einen Vollzug der neuen Steuer durch die ESTV als sinnvoller als einen kantonalen Vollzug mit Unterstützung durch die ESTV – zumal immer mehrere Kantone betroffen seien. Finanzminister Maurer wies auf den bereits bestehenden Kontakt zwischen Kantonen und Unternehmen hin und erachtete den Vollzug durch die Kantone daher als sinnvoller. Der Minderheitsantrag scheiterte mit 110 zu 79 Stimmen.
Genauere Vorschriften für die Verwendung der Bundesgelder verlangten zwei Minderheiten I Badran (sp, ZH) und II Ryser (gp, SG). Um den «Basar» zur Verteilung der Gelder durch die ungenaue Formulierung einer «Förderung der Standortattraktivität» zu stoppen, schlug Jacqueline Badran eine Zweckbindung zur Finanzierung von familienexterner Kinderbetreuung und Franziska Ryser eine Zweckbindung zur Finanzierung der Individualbesteuerung vor. Mit beiden Vorschlägen könne das inländische Fachkräftepotenzial besser ausgeschöpft werden, betonten sie. Martin Landolt lehnte es im Namen der Kommission jedoch ab, konkrete Massnahmen zu treffen, solange die konkreten Herausforderungen noch nicht bekannt seien. Mit 97 zu 90 Stimmen bevorzugte der Nationalrat den Vorschlag der Kommissionsmehrheit gegenüber dem Minderheitsantrag I Badran, der sich zuvor ähnlich knapp gegen den Minderheitsantrag Ryser durchgesetzt hatte.

In der Gesamtabstimmung nahm der Nationalrat den Entwurf mit 127 zu 43 Stimmen (bei 18 Enthaltungen) an. Abgelehnt wurde der Entwurf von den Mitgliedern der SVP-Fraktion, Enthaltungen fanden sich in allen Fraktionen ausser derjenigen der GLP.

Besondere Besteuerung grosser Unternehmensgruppen (OECD-Mindestbesteuerung; BRG 22.036)

2. November 2022: Der Rücktritt von Simonetta Sommaruga

Am 25. Oktober, also kurz nachdem die fünf Kandidierenden der SVP offizialisiert waren, gab Simonetta Sommaruga via den Departementssprechenden bekannt, dass sie ihre Regierungstätigkeit temporär unterbrechen müsse, da ihr Ehemann Lukas Hartmann hospitalisiert worden sei. Dies war dann auch die Ursache für die wenige Tage später sehr überraschend erfolgende Rücktrittsankündigung der amtierenden Energie- und Verkehrsministerin: Am 2. November gab Simonetta Sommaruga ihren auch für sie persönlich abrupten Rücktritt auf Ende Jahr bekannt, weil der Hirnschlag ihres Mannes für sie ein schwerer Schock gewesen sei und gezeigt habe, dass sie die Schwerpunkte in ihrem Leben anders setzen wolle. Den Tränen nahe beteuerte die Bernerin, dass sie gerne Bundesrätin gewesen sei und eigentlich geplant habe, dies auch noch eine Weile zu bleiben. So ein Schicksalsschlag stimme aber nachdenklich und verschiebe die Prioritäten. Die 2010 in den Bundesrat gewählte Simonetta Sommaruga war zuerst Justizministerin bevor sie 2019 das UVEK übernommen hatte.

In den Medien wurde die SP-Magistratin als populäre Bundesrätin gewürdigt, die allerdings häufig Abstimmungsniederlagen in Kauf habe nehmen müssen (Le Temps) – die Schlimmste darunter sei wohl das Ja zur Masseneinwanderungsinitiative der SVP gewesen. Im Zentrum ihrer Arbeit hätten stets die Menschen gestanden, urteilte der Blick. Die NZZ bezeichnete sie als «clever» und «beharrlich» mit einem «Hang zur Perfektion», der ihre Auftritte auch «angestrengt und belehrend» habe wirken lassen. Sie habe aber für eine SP-Bundesrätin auch dank «stoischer Beharrlichkeit» letztlich überraschend viele Vorlagen durch das Parlament gebracht. Die Aargauer Zeitung würdigte Simonetta Sommaruga als «Mensch gewordenes Verantwortungsgefühl», als «Bundesrätin, die niemals die Kontrolle verlieren will». Alle ausser der SVP hätten sie geliebt, titelte La Liberté. Die WoZ erinnerte angesichts der Betroffenheit, die Simonetta Sommaruga bei ihrer Rücktrittsmedienkonferenz ausgelöst hatte, daran, dass die Magistratin seit ihrer Wahl in den Bundesrat immer wieder von Teilen der Medien und der SVP angegriffen worden sei: «An der Bernerin offenbarte sich die Verunsicherung rechter Männer vor linken, machtbewussten Frauen», so die WoZ. In der Tat warf etwa Roger Köppel (svp, ZH) der Magistratin nach ihrem auch für den Bundesrat und ihre Partei überraschenden Rücktritt in der Weltwoche Parteikalkül und «Flucht» vor, weil sie schon lange «ermattet und ermüdet» sei. Dies stiess in vielen Medien freilich auf Kritik, da der Entscheid private Gründe habe und Respekt verdiene, so etwa der Tages-Anzeiger. Allerdings kommentierte die NZZ, dass der Rücktritt zwar verständlich sei, in Anbetracht der schwierigen Lage hinsichtlich Energieversorgung aber zur Unzeit komme. Ihre Nachfolgerin oder ihr Nachfolger müsse nun innert kürzester Zeit «eine der schwersten Krisen für die Schweiz seit Jahrzehnten» meistern.

Auch bei der SP begann das von den Medien in Schwung gehaltene Kandidierendenkarussell noch am Tag der Demission von Simonetta Sommaruga zu drehen. Daran beteiligte sich freilich auch aktiv die Parteispitze, die unmittelbar ankündigte, dass die SP ein reines Frauenticket präsentieren werde, wobei egal sei, aus welcher Sprachregion die Kandidatinnen stammten. Da die SP mit Alain Berset bereits einen Mann in der Bundesregierung habe und den Grundsatz der Geschlechterparität pflegen wolle, sei ein reines Frauenticket angezeigt, so die Begründung des SP-Co-Präsidiums aus Mattea Meyer (sp, ZH) und Cédric Wermuth (sp, AG). In den Medien wurden entsprechend schnell Favoritinnen ernannt: Sehr häufig fielen dabei die Namen der Ständerätin Eva Herzog (sp, BL), der Nationalrätinnen Flavia Wasserfallen (sp, BE) und Nadine Masshardt (sp, BE) sowie der Regierungsrätinnen Jacqueline Fehr (ZH, sp) oder Evi Allemann (BE, sp). Obwohl sich vor allem die Westschweizer Medien nur geringe Chancen für eine Kandidatur aus der Westschweiz ausrechneten (beispielsweise Le Temps), da in diesem Fall vier nicht deutschsprachige Personen im Bundesrat sitzen würden – zwei davon für die SP –, fielen auch die Namen der Regierungsrätinnen Rebecca Ruiz (VD, sp) und Nuria Gorrite (VD, sp) sowie der Ständerätinnen Marina Carobbio (sp, TI) und Elisabeth Baume-Schneider (sp, JU). Co-Präsidentin Mattea Meyer (sp, ZH) gab hingegen sofort bekannt, nicht zur Verfügung zu stehen.

Die in den Medien als vorschnell kritisierte Ankündigung der Parteispitze, ein reines Frauenticket präsentieren zu wollen, gab Raum für weitere Spekulationen. Ständerat Daniel Jositsch (sp, ZH) etwa wurden laut Medien schon lange Bundesratsambitionen nachgesagt. Diese würden freilich stark geschmälert, wenn eine Deutschschweizer SP-Frau Simonetta Sommaruga beerben würde, weil für eine allfällige spätere Nachfolge von Alain Berset dann wohl Westschweizer Männer im Vordergrund stehen würden. Auch Regierungsrat Beat Jans (BS, sp) und die Nationalräte Matthias Aebischer (sp, BE) oder Jon Pult (sp, GR) dürften ob der Ankündigung «frustriert» sein, mutmasste La Liberté. Für den Westschweizer Nationalrat Pierre-Yves Maillard (sp, VD) sei der Fokus auf eine (Deutschschweizer) Frau hingegen eine gute Nachricht, mutmasste der Tages-Anzeiger wiederum im Hinblick auf eine Nachfolge von Alain Berset. Zu den eigentlichen Verliererinnen der SP-Strategie gehörten neben den Deutschschweizer Männern aber auch die Westschweizer Frauen, die sich eine Kandidatur eher zweimal überlegen dürften, analysierte 24Heures. Einerseits seien die Chancen gering, dass das Parlament eine vierte romanischsprachige Person in den Bundesrat wähle, und andererseits werde wohl bei einem Rücktritt von Alain Berset dann lediglich ein Männerticket aufgestellt.

Der SP blieben für die Kandidierendensuche nur wenige Tage. Sie setzte sich als Meldeschluss den 21. November, damit die Fraktion am 26. November ein Zweierticket nominieren konnte. Der Rücktritt Simonetta Sommarugas habe die Partei auf dem falschen Fuss erwischt, beurteilte der Blick die kurze Zeitspanne. Bevor sich die ersten Kandidierenden meldeten, kam es wie zuvor schon bei der SVP auch bei der SP zu einer Reihe von medial mehr oder weniger stark begleiteten Absagen. Ausser Mattea Meyer verzichteten neben den genannten Favoritinnen Jacqueline Fehr, Nadine Masshart, Rebecca Ruiz, Nuria Gorrite und Marina Carobbio auch die Nationalrätinnen Priska Seiler Graf (sp, ZH), Barbara Gysi (sp, SG), Edith Graf-Litscher (sp, TG), Yvonne Feri (sp, AG) und die Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch (ZH, sp) mit offiziellen Presseauftritten auf eine Kandidatur. Nach kurzer Bedenkzeit und grosser medialer Aufmerksamkeit verzichtete auch die ehemalige Aargauer Ständerätin Pascale Bruderer (AG, sp) auf eine Kandidatur. Sie war gar mittels Petition von mehreren Personen zu einer Kandidatur aufgefordert worden. Das habe sie sehr berührt, eine Rückkehr in die Politik sei aber für sie kein Thema. Auch die Absage von Flavia Wasserfallen war den Medien mehr als eine Kurzmeldung wert. Wie Esther Friedli (svp, SG) bei der SVP wollte sich die Bernerin auf die Ständeratswahlen 2023 konzentrieren und den Sitz des auf Ende Legislatur zurücktretenden Hans Stöckli (sp, BE) verteidigen.

Im Gegensatz zu Jon Pult, der den Entscheid der SP-Spitze für ein reines Frauenticket befürwortete und sich entsprechend nicht zur Verfügung stellte, wollte sich Daniel Jositsch nicht aus dem Rennen nehmen. Er erhielt dabei Zuspruch von bürgerlichen Parlamentarierinnen und Parlamentariern, die das Vorgehen der SP-Parteileitung in den Medien als «diktatorisch» (Alfred Heer, svp, ZH) bezeichneten oder kritisierten, dass es «mit Gleichberechtigung nicht mehr viel zu tun habe» (Josef Dittli, fdp, UR). Jositsch liess verlauten, dass er sich eine Kandidatur überlege, wenn die Fraktion auch Männer zulasse. Dafür werde er sich parteiintern einsetzen, weil er ein reines Frauenticket als «diskriminierend» erachte. Es handle sich um eine Einschränkung der Wahlfreiheit, die dem Passus in den Statuten der SVP nahekomme, der jedes Mitglied automatisch ausschliesse, wenn es eine Wahl annehme, ohne von der Partei nominiert worden zu sein. Seine damit offiziell angekündigte Kandidatur brachte dem Zürcher Ständerat zahlreiche negative Kommentare ein. Der am rechten Rand der SP politisierende Daniel Jositsch fordere seine eigene Partei heraus und schaffe sich damit zahlreiche Feinde, befand LeTemps. Die «Granate Jositsch explodierte im Gesicht der SP», titelte 24Heures: «Il est vieux, blanc, mâle et riche», also alles, was die neue Garde der SP im Moment «verabscheue», so die Westschweizer Zeitung. Der Tages-Anzeiger warf Jositsch vor, mit dem «unsäglichen Theater» Frauen zu brüskieren, solange diese in den verschiedenen politischen Gremien nach wie vor nicht angemessen vertreten seien. Er sei auf einem «Egotrip», überschätze sich völlig und zeige damit nachgerade auf, dass er eben nicht geeignet sei für ein Bundesratsamt, zitierte der Blick verschiedene SP-Stimmen. Er habe Goodwill verspielt und müsse für den «Hochseilakt ohne Netz» wohl noch büssen. Die WoZ kritisierte, dass nach «173 Jahren Patriarchat [...] ein Mann auch heute noch nicht glauben [will], dass der eigene Karriereverzicht ein Akt der Gleichstellung sein kann». Auch die Weltwoche schrieb von «Selbstdemontage». Allerdings erhielt Jositsch auch Unterstützung aus der eigenen Fraktion. Sich auf ein reines Frauenticket zu konzentrieren sei «demokratisch und strategisch ungeschickt», meldete sich etwa Nationalrätin Franziska Roth (sp, SO) im Blick zu Wort. Es brauche Wettbewerb zwischen Frauen und Männern und keine Reduktion der Kandidierenden auf ihr Geschlecht. Roberto Zanetti (sp, SO) kritisierte vor allem die Parteileitung: «Ich mag es nicht, wenn man mir vorschreibt, wie ich mir meine Gedanken machen soll», so der Ständerat, der in der Folge ein Dreierticket vorschlug. Die Frage werde fraktionsintern wohl noch zu reden geben, vermutete der Blick. Die Fraktion selber versuchte etwas den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem sie verkündete, den Vorschlag der Parteispitze für ein reines Frauenticket bzw. den Antrag von Jositsch auf ein gemischtes Ticket an ihrer Fraktionssitzung am 18. November zu diskutieren. Es sei der Verdienst von Jositsch, dass das Thema offen diskutiert werde, urteilte die NZZ. Er verdiene auch deshalb einen «fairen Prozess».

Nach der Kandidatur von Jositsch verging einige Zeit, bis die ersten Kandidatinnen ihre Bewerbung einreichten. Die erste Frau, die sich schliesslich am 10. November mit einer Kandidatur meldete, war Evi Allemann. Damit habe es die SP «geschafft, eine junge Mutter ins Rennen zu schicken [... und] mit einer Art Sanna Marin [...] für frischen Wind [zu] sorgen» (die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin war jüngste Ministerpräsidentin weltweit und bei ihrem Amtsantritt Mutter einer einjährigen Tochter). Die ehemalige Nationalrätin und seit 2018 Berner Regierungsrätin – und Mutter zweier Kinder im Alter von elf und sieben Jahren, wie sogleich in allen Medien berichtet wurde – habe allerdings national kaum Schlagzeilen gemacht, zudem könnte es ein Nachteil sein, dass sie seit fünf Jahren nicht mehr im nationalen Parlament sitze, mutmasste der Blick. Allemann sei nicht die Wunschkandidatin der SP gewesen, wusste 24Heures. Sie habe nicht das Charisma von Flavia Wasserfallen, die in Bundesbern wesentlich häufiger als Favoritin genannt worden sei. Die Kandidatur von Evi Allemann, die eine Bilderbuchkarriere ohne Kanten aufweise und bereits mit 20 Jahren in den Berner Grossen Rat gewählt worden war – 1998 war sie die jüngste Kantonsparlamentarierin der Schweiz – und 2003 den Sprung in den Nationalrat geschafft hatte, habe aber ein grosses «ouf de soulagement» bei der Parteileitung ausgelöst, so 24Heures weiter. Evi Allemann sei auch in bürgerlichen Kreisen beliebt und zeichne sich durch Pragmatismus aus. Sie habe zudem auf Anhieb jedes politische Mandat erhalten, das sie angestrebt habe, so der Tages-Anzeiger. Dass sie nicht mehr in Bundesbern sei, sei für die ehemalige VCS-Präsidentin allerdings ein Handicap, urteilte auch die NZZ.

Als klare Favoritin wurde in den Medien freilich Eva Herzog gehandelt, die tags darauf ihre Kandidatur bekannt gab. «Eva Herzog est la Albert Rösti du Parti socialiste» – sie sei die mit Abstand am häufigsten genannte Favoritin –, berichtete etwa Le Temps über die Kandidatur der Basler Ständerätin. Sie könne einige Trümpfe aufweisen, wie etwa ihre 19-jährige Erfahrung als Finanzvorsteherin des Kantons Basel-Stadt und ihre Ständeratskarriere seit 2019. Ihre gescheiterte Bundesratskandidatur im Jahr 2010, als sie von der Fraktion für die Nachfolge von Moritz Leuenberger nicht aufs Ticket gesetzt worden war, sei zudem ebenfalls kein Nachteil. Schliesslich sei der Kanton Basel-Stadt seit 1973 nicht mehr im Bundesrat vertreten gewesen. Dies sei auch ein Vorteil gegenüber der Bernerin Evi Allemann, waren sich die meisten Medien einig. Auch der Blick machte Eva Herzog zusammen mit Albert Rösti sogleich zum «Favoriten-Duo» und betonte «die Lust aufs Amt und den Gestaltungswillen», den die Baslerin versprühe. Als Nachteil bezeichnete 24Heures das fehlende Charisma von Eva Herzog. Sie sei «un peu cassante», wirke häufig ein wenig spröde.

Einen weiteren Tag später warf die vierte Kandidatin der SP ihren Hut in den Ring. «Elisabeth Wer?», titelte die WoZ in Anspielung auf die zumindest in der Deutschschweiz geringe Bekanntheit von Elisabeth Baume-Schneider, die ähnlich wie Eva Herzog seit 2019 im Ständerat sitzt und vorher während 13 Jahren im Kanton Jura als Regierungsrätin das Bildungsdepartement geleitet hatte. Ebendiese Unbekanntheit sei das grosse Manko der Kandidatin aus der Romandie, waren sich zahlreiche (Deutschschweizer) Medien einig. Auch wenn von der SP-Parteileitung explizit auch Frauen aus der lateinischen Schweiz zu einer Kandidatur aufgefordert worden seien, werde die Vereinigte Bundesversammlung kaum eine Mehrheit von nicht-deutschsprachigen Personen im Bundesrat goutieren, prognostizierte Le Temps – auch wenn Elisabeth Baume-Schneider bilingue ist, ihr Vater ist Deutschschweizer. Dass die Jurassierin «rien à perdre» habe, könne ihr aber auch zum Vorteil gereichen. Die Chancen seien «mince, mais pas nulles», hoffte Le Quotidien Jurassien. Es könnte sich gar für die Zukunft lohnen, den bisher noch nie im Bundesrat repräsentierten peripheren Kanton Jura bekannter zu machen, befand Le Temps mit Blick auf eine mögliche Wahl bei einem Rücktritt von Alain Berset. Für den Kanton sei dies «une belle publicité», so Le Temps. Zudem habe die ehemalige Regierungsrätin im Jura viel Rückhalt, so die Westschweizer Zeitung weiter. In der Tat gab der jurassische Regierungsrat ihre Kandidatur gar in einem Communiqué bekannt und stellte sich mit der Ankündigung, sie könne den Röstigraben verkleinern, öffentlich hinter seine ehemalige Kollegin. In den Medien wurde zudem Elisabeth Baume-Schneiders Nähe zur Landwirtschaft betont. Thema war freilich auch ihr Alter, das als «Handicap» gewertet wurde, weil sich die SP eine jüngere Frau wünsche, so der Blick. Die 58-jährige Ständerätin aus dem Kanton Jura gab zudem in Interviews zu Protokoll, dass sie sich mit 65 Jahren pensionieren lassen wolle. Sie betrachte sich deshalb als «conseillère fédérale de transition», so ihre Aussage in 24Heures. Eva Herzog bleibe aber auch deshalb Favoritin, weil die Jurassierin eher am linken Rand der SP politisiere und das Parlament deshalb weniger gut von sich überzeugen könne als die eher am rechten Rand der SP einzuschätzende Eva Herzog, so der Blick weiter. 24Heures befand zudem, dass Elisabeth Baume-Schneider das grünste Profil der SP-Kandidierenden habe, was ihr allenfalls Stimmen von den Grünen einbringen könnte. Kaum zur Sprache kam hingegen, dass die Jurassierin in ihren Jugendjahren bei der Revolutionären Marxistischen Liga politisiert hatte, galt sie doch auch in bürgerlichen Kreisen als «sehr konziliant». In Interviews gaben Ständerätinnen und Ständeräte aus allen Lagern etwa der Aargauer Zeitung zu Protokoll, sie sei «lösungsorientiert, ohne den grossen Auftritt zu suchen», «verlässlich und kollegial», «seriös, aber nicht verbissen» und sie strahle eine «positive Leichtigkeit» aus. Hingegen wurde das Thema Mutterschaft auch bei der Kandidatin aus dem Kanton Jura diskutiert: Der Blick wusste zu berichten, dass Elisabeth Baume-Schneider zwar nicht mehr das Profil der jungen Mutter habe, wie dies von der SP gewünscht werde, sie habe aber bereits im Jahr 2000 landesweit für Schlagzeilen gesorgt, weil sie damals als Parlamentspräsidentin ihr Baby an eine Sitzung im Jurassischen Parlament mitgenommen habe. Die Frage, ob ein Exekutivamt mit Kindern möglich sei, sei für Elisabeth Baume-Schneider deshalb ein «Déjà-vu». Die Sanna Marin, die die SP heute im Bundesrat haben wolle, sei die zweifache Mutter Elisabeth Baume-Schneider schon vor 20 Jahren gewesen, bemühte die Aargauer Zeitung den Vergleich mit der finnischen Präsidentin ein weiteres Mal.

Bevor die SP über die Nominierung entschied, stand die mit einiger Spannung erwartete Lösung der «Frage Jositsch» an. In den Medien hatte der Wind in der Zwischenzeit etwas gedreht und die SP wurde für ihr mangelndes strategisches Geschick kritisiert. Dass sofort kommuniziert worden sei, nur auf Frauen zu setzen, habe die Partei unnötigen Spannungen ausgesetzt, war in zahlreichen Medien zu lesen. In der Zwischenzeit hatte sich zudem die «Reformplattform», ein loser Zusammenschluss moderat-zentristischer Kräfte der SP, hinter Jositsch gestellt. Im Hinblick auf die eidgenössichen Wahlen 2023 habe die SP aber wohl keine andere Wahl, als mit einer Frau und einem Mann im Bundesrat vertreten zu sein, was nur ein reines Frauenticket garantiere, ergänzte der Tages-Anzeiger. Als Gleichstellungspartei sei sie sonst nicht glaubwürdig. Alles andere wäre denn auch «politisches Harakiri», urteilte auch die Republik. Denn würde Jositsch auf dem Ticket stehen, würde er «mit hoher Wahrscheinlichkeit» gewählt, was dem mächtigen «Momentum von feministischer Politik» völlig zuwiderlaufen und Proteste auslösen würde. Auch der 80-köpfige Parteirat, eine Art Parlament innerhalb der Partei, stärkte der Parteileitung den Rücken und sprach sich einstimmig für ein reines Frauenticket aus. Die diese Frage letztlich entscheidende Fraktion selber tagte dann am 18. November und sprach sich laut ihrem Chef Roger Nordmann (sp, VD) klar mit 37 zu 6 Stimmen (2 Enthaltungen) dafür aus, nur Frauen zu nominieren. Daniel Jositsch habe sich eloquent verteidigt, respektiere aber das Urteil, so Nordmann weiter. Der Vorschlag für ein Dreierticket sei mit 26 zu 19 Stimmen abgelehnt worden. In einem kurzen Statement gab Daniel Jositsch im Anschluss an die Fraktionssitzung den Medien zu Protokoll, er verstehe den Entscheid, es gebe keine innerparteilichen Konflikte und er ziehe seine Kandidatur angesichts der exzellenten Kandidatinnen zurück. Die Diskussionen seien freilich nicht so glatt verlaufen, wie dies für die Presse dargestellt worden sei, wusste der Tages-Anzeiger zu berichten. Vor allem die Parteispitze habe sich von einigen Fraktionsmitgliedern harsche Kritik anhören müssen: Dass Mattea Meyer und Cédric Wermuth unmittelbar nach dem Rücktritt von Simonetta Sommaruga eigenmächtig ein Frauenticket angekündigt hätten, zeuge von schlechtem Kommunikationsstil und mangelndem Vertrauen in die Fraktion, so die interne Kritik laut Tages-Anzeiger.

Spannend blieb in der Folge also die Frage, welche beiden Kandidatinnen von der Fraktion aufs Ticket gehievt werden. Im Vorfeld der entsprechenden Fraktionsentscheidung vom 26. November hatte die SP vier von ihr so benannte «öffentliche Hearings» in Luzern, Lausanne, Zürich und Liestal geplant, in denen die drei Kandidatinnen Red und Antwort stehen – und «mit dem personellen Spektakel etwas Werbung» für die Partei machen sollten, wie die NZZ vermutete. Alle vier Hearings verliefen ohne Überraschungen. Es gebe kaum Unterschiede in den Positionen der drei Kandidatinnen war die ziemlich einhellige Meinung der Medien, was das Rennen um die Plätze auf dem Ticket freilich nur spannender mache.

Die Entscheidung der SP-Fraktion, Eva Herzog und Elisabeth Baume-Schneider auf das Ticket zu setzen, sorgte dann doch bei vielen Beobachterinnen und Beobachtern für überraschte Gesichter und einige Kritik. Der Entscheid habe etwas Zufälliges, urteilten einige Medien gestützt auf den Wahlprozess in der Fraktion, über den medial berichtet wurde. In den ersten beiden Wahlgängen waren die Unterschiede jeweils knapp, einmal verfügte Elisabeth Baume-Schneider und einmal Evi Allemann über die meisten Stimmen. Erst im dritten Wahlgang, in dem keine Zweitstimmen mehr zugelassen waren, war das Ergebnis schliesslich klar genug: 24 Stimmen für Eva Herzog, 23 für Elisabeth Baume-Schneider und lediglich noch 14 für Evi Allemann, die also für viele Fraktionsmitglieder anscheinend jeweils zweite Wahl gewesen war. Ausgerechnet die in den letzten Wochen so breit diskutierte «junge Mutter» hatte es damit nicht auf das Ticket geschafft. Dies stiess bei zahlreichen Beobachterinnen und Beobachtern auf Kritik. Die Sonntagszeitung wusste zu berichten, dass es in der Fraktion zwei Lager gegeben habe: Das eine habe auf die moderatere Eva Herzog gesetzt, während das andere vorwiegend aus Romand.e.s bestanden habe, unterstützt von Fraktionsmitgliedern, die bei der nächsten Vakanz die Wahlchancen Deutschschweizer Männer erhöhen wollten. Dieses Lager habe die eher links politisierende Westschweizer Kandidatin Elisabeth Baume-Schneider präferiert. Dies wiederum weckte Unbill bei der FDP, die sich im Vorfeld dezidiert gegen eine lateinische Mehrheit im Bundesrat ausgesprochen und bei der SP entsprechende Forderungen angemeldet hatte. Auch die SVP kritisierte die Auswahl, weil die Gefahr bestehe, dass am Schluss nur noch Kantone im Bundesrat vertreten seien, die im Finanzausgleich zu den Nehmerkantonen gehörten. Der Sonntagsblick hatte im Vorfeld der Fraktionssitzung eine Bevölkerungsbefragung durchführen lassen, bei der sich zeigte, dass die Mehrheit der Befragten ebenfalls die beiden Ständerätinnen auf das Ticket gesetzt hätte. Laut der Montagspresse änderte diese Vorauswahl allerdings wenig an der Ausgangslage: Wie bei der SVP Albert Rösti bleibe auch bei der SP Eva Herzog klare Favoritin. Die Aargauer Zeitung bezeichnete die Nomination von Elisabeth Baume-Schneider als «taktisch». Sie sei für Herzog die ungefährlichere Partnerin auf dem Ticket. Elisabeth Baume-Schneider selber war sich ihrer Outsider-Rolle bewusst, aber man könne ja nie wissen, gab sie dem Quotidien Jurassien zu Protokoll.

Bundesratsersatzwahlen 2022 – Nachfolge von Ueli Maurer und Simonetta Sommaruga
Dossier: Bundesratswahlen seit 2008

Am Montag der dritten Herbstsessionswoche 2020 besetzten Klimaaktivistinnen und -aktivisten den Bundesplatz, obwohl dort Veranstaltungen während der Session verboten sind. Dies führte bei den Parlamentarierinnen und Parlamentariern zu einigem Ärger. So beschwerten sich gemäss verschiedener Medien insbesondere bürgerliche Parlamentsmitglieder, von den Klimaaktivistinnen und -aktivisten «angepöbelt» worden zu sein. Dabei stellten die Medien vor allem verschiedene verbale Entgleisungen ins Zentrum der Berichterstattung. So soll Roland Büchel (svp, SG) derart genervt gewesen sein, dass er die Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten vor laufender Kamera als «Arschlöcher» bezeichnete. Andreas Glarner (svp, AG) nannte die Demonstrierenden während eines Interviews «Kommunisten und Chaoten» und Sibel Arslan (basta, BS), die das Anliegen der Streikenden vertreten wollte, «Frau Arschlan» – was er später als Versprecher entschuldigte. Umgekehrt regten sich linke Parlamentsmitglieder über die falschen Prioritäten der Medien auf, so etwa Jacqueline Badran (sp, ZH), die in einem Radiointerview die Medien angriff, welche «den huere fucking Glarner, who cares, [...] statt die Forderungen der Jugendlichen» gefilmt hätten.

Die Debatten drehten sich in der Folge allerdings nicht nur um «Anstand» und verbale Entgleisungen, sondern auch darum, ob der Bundesplatz überhaupt besetzt werden darf – insbesondere während der Session. Während sich bürgerliche Parlamentarierinnen und Parlamentarier beschwerten, zeigten links-grüne Mitglieder der Bundesversammlung Verständnis für die Aktion. Die aktuelle Regelung im Kundgebungsreglement der Stadt Bern besagt, dass die Versammlungsfreiheit auf dem Bundesplatz während der Sessionen vor allem für grosse Manifestationen aufgehoben wird. Verantwortlich für die Einhaltung dieser Massnahme ist die Stadt Bern, weshalb sich die Kritik der Bürgerlichen in der Folge vor allem gegen den Berner Stadtpräsidenten Alec von Graffenried (gfl) richtete. Einige Medien – darunter etwa die NZZ – warfen der Stadt gar vor, «mit zweierlei Mass» zu messen und das Demonstrationsverbot «selektiv» umzusetzen.

Die Aktion auf dem Bundesplatz führte schliesslich auch zu einiger parlamentarischer Betriebsamkeit. Ein noch am gleichen Montag eingereichter Ordnungsantrag (20.9004/21364) von Thomas Aeschi (svp, ZG), der die Räumung des Platzes beantragte, wurde mit 109 zu 83 Stimmen (1 Enthaltung) im Nationalrat angenommen. Dagegen stimmten die geschlossenen Fraktionen von SP, GP und GLP sowie zwei Angehörige der Mitte-Fraktion. Der am nächsten Tag von Esther Friedli (svp, SG) eingereichte Ordnungsantrag (20.9004/21402), mit dem zusätzlich eine Anzeige gegen die Stadt Bern und die «Klimaextremisten und Linksradikalen» gefordert wurde, lehnte eine 90 zu 79-Stimmen-Mehrheit (bei 16 Enthaltungen) dann freilich ab. Hingegen richtete sich die VD mit einem von Nationalratspräsidentin Isabelle Moret (fdp, VD) und Ständeratspräsident Hans Stöckli (sp, BE) unterzeichneten Schreiben an die Regierungen von Stadt und Kanton Bern und forderte diese auf, für die Einhaltung der Rechtsbestimmungen zu sorgen. Und schliesslich reichte Christian Imark (svp, SO) eine Motion ein, mit der er forderte, die Stadt Bern des Bundesplatzes zu enteignen. Dadurch könne der Bundesrat «künftig selber für Recht und Ordnung auf dem Bundesplatz» sorgen, weil «die linke Berner Stadtregierung [...] die Chaoten immer öfter gewähren» lasse.
Wohl auch weil die Polizei am Mittwoch nach zwei Ultimaten der Stadtregierung den Platz räumte, legte sich die Aufregung kurz darauf wieder. Der Bundesrat beantragte ein paar Wochen später die Ablehnung der Motion, weil eine Enteignung nicht verhältnismässig sei und die Zusammenarbeit mit der Stadt Bern bezüglich Nutzung des Bundesplatzes so funktioniere, dass die Interessen des Parlaments berücksichtigt würden. Die Motion Imark selber wurde dann zwei Jahre nach ihrer Einreichung wegen Nichtbehandlung abgeschrieben.

Wem gehört der Bundesplatz? (Mo. 20.4028)

30. September 2022: Der Rücktritt von Ueli Maurer

Obwohl immer wieder über seinen Rücktritt spekuliert worden war, kam die Ankündigung von Ueli Maurer, nach 14 Jahren Regierungstätigkeit Ende 2022 sein Bundesratsmandat niederzulegen, einigermassen überraschend. Maurer selber hatte nach den letzten Spekulationen vor gut einem Jahr verlauten lassen, er werde mindestens bis Ende Legislatur (also bis Oktober 2023) in der Regierung bleiben und dann vielleicht gar nochmals vier Jahre anhängen. Am 30. September 2022 liess er dann aber an einer Pressekonferenz verlauten, er wolle wieder «der normale Ueli» sein und habe noch einige private Projekte in Planung. Mit 71 Jahren war Maurer der älteste amtierende Bundesrat seit Einführung der Zauberformel. Maurer war 2008 für Samuel Schmid in den Bundesrat gewählt worden und hatte damit die kurze Oppositionsphase der SVP beendet. Er hatte zuerst das Verteidigungsdepartement übernommen, bevor er 2015 ins Finanzdepartement gewechselt war. In den Medien wurde Maurer als «erfolgreichster Politiker der Schweiz» (St. Galler-Tagblatt) beschrieben, allerdings auch dafür kritisiert, dass er häufig mit den Grenzen der Kollegialität gespielt habe und aufgrund seines schlechten Französisch nur einen «reduzierten Kontakt mit der Romandie» gepflegt habe (Le Temps). Im Parlament habe er als Finanzminister grossen Respekt genossen, gaben mehrere Parlamentsmitglieder zu Protokoll. Gelobt wurden zudem seine umgängliche Art, seine Dossierkenntnis und sein Pragmatismus. Er sei sich treu, bodenständig und bescheiden geblieben, urteilte der Blick. Der «widerborstige Bauernsohn» habe sich «nicht vom System vereinnahmen lassen», fasste die Aargauer Zeitung zusammen. Der «erstaunlich wandlungsfähige» Maurer gehöre «zu den Politikern, die zu Anfang ihrer Karriere belächelt, später gefürchtet oder gehasst und am Schluss respektiert werden», befand die NZZ. Auch der «launische Umgang» mit den Medien war Gegenstand der medialen Würdigungen: Der Tages-Anzeiger bezeichnete den SVP-Magistraten als den letzten «Oppositions-Bundesrat» – «mäandriered zwischen den Rollen als Staatsmann und Oppositioneller» habe er es allerdings geschafft, die Konkordanz nach den unruhigen Jahren nach Christoph Blocher und Eveline Widmer-Schlumpf wieder zu stabilisieren. Die Weltwoche vermutete, dass «dem Berner Politikbetrieb» die Spontanität Maurers bald fehlen werde. Kritischer urteilte die WoZ: Maurer habe «wesentlich dazu beigetragen [...], rechtspopulistische Hetze zu normalisieren».

Bereits am Tag nach der Rücktrittsankündigung überboten sich die Medien mit Spekulationen über mögliche Nachfolgerinnen und Nachfolger von Ueli Maurer. Am häufigsten genannt wurden die Nationalrätinnen Esther Friedli (svp, SG) und Céline Amaudruz (svp, GE), die Zürcher Regierungsrätin Natalie Rickli (ZH, svp), die Nationalräte Albert Rösti (svp, BE), Gregor Rutz (svp, ZH) und Thomas Aeschi (svp, ZG), der frühere Parteipräsident und Nationalrat Toni Brunner (SG, svp) sowie der Aargauer Regierungrat Jean-Pierre Gallati (AG, svp). Albert Rösti galt in den meisten Medien als Kronfavorit. Seine einzige Schwäche sei, dass Christoph Blocher, der «noch immer ein entscheidendes Wort mitzureden» habe, wie der Blick wusste, gegen ihn ein Veto einlegen könnte. Dies gelte nicht für Esther Friedli, die als mögliche erste SVP-Bundesrätin gehandelt wurde. Dass neben Karin Keller-Sutter eine zweite St. Gallerin bereits in der Regierung sitze, sei kein Problem, urteilten vor allem die Ostschweizer Medien. Eine früher oft gehandelte Anwärterin auf einen Bundesratssitz, Magdalena Martullo-Blocher gab hingegen noch am Tag von Maurers Rücktritt bekannt, kein Interesse am Regierungsamt zu haben. Ebenfalls unverzüglich aus dem Rennen nahmen sich Roger Köppel (svp, ZH) und Franz Grüter (svp, LU). Auch Diana Gutjahr (svp, TG) erteilte entsprechenden medialen Anfragen eine Absage, da für sie «als junge Mutter [...] der richtige Zeitpunkt für eine Bundesratskandidatur nicht gegeben» sei, wie das St. Galler-Tagblatt bedauerte. Auch Toni Brunner schloss einen Rücktritt auf die nationale Bühne bald aus und nach einiger Bedenkzeit verzichtete auch seine Lebenspartnerin Esther Friedli. Sie wolle ihre regionale Verankerung für den Ständeratswahlkampf nutzen, der aufgrund des Rücktritts von Paul Rechsteiner (sp, SG) im kommenden Frühling 2023 anstand. Bundesrätin werden sei hingegen kein Lebensziel von ihr.

Nachdem sowohl Natalie Rickli als auch der ebenfalls angefragte Regierungsrat Ernst Stocker (ZH, svp) und auch Gregor Rutz bekannt gegeben hatten, nicht für die Nachfolge Maurers kandidieren zu wollen, schien sich abzuzeichnen, dass der Kanton Zürich in Kürze zum zweiten Mal in der Geschichte nicht im Bundesrat vertreten sein könnte. Nur während knapp sieben Jahren zwischen dem Rücktritt von Elisabeth Kopp (1989) und der Wahl von Moritz Leuenberger (1995) war der bevölkerungsreichste Kanton der Schweiz nicht in der eidgenössischen Regierung präsent gewesen und stellte folglich bisher mit 20 Magistratinnen und Magistraten die meisten Bundesratsmitglieder aller Kantone. Von einer «Blamage» für die kantonalzürcherische SVP, die es versäumt habe, rechtzeitig für mögliche Nachfolgerinnen und Nachfolger zu sorgen, sprach in der Folge der Tages-Anzeiger. Dass der Zürcher Flügel nicht vertreten sei, sei aber auch darauf zurückzuführen, dass die Kantonalpartei aufgrund der reihenweisen Absagen eine «Partei der Nein-Sager» sei, so der Blick weiter. Die «oppositionelle DNA der Zürcher SVP» entpuppe sich jetzt als Nachteil, analysierte die Aargauer Zeitung.

Im Gegensatz zum «Personalproblem» der Zürcher habe die Berner SVP einen Kandidaten zu viel, kommentierte der Tages-Anzeiger die Kandidatur von Werner Salzmann (svp, BE), der am 6. Oktober als erster offiziell ankündigte, Bundesrat werden zu wollen. Der Berner Ständerat betonte, er sei als Oberst der Schweizer Armee und Sicherheitspolitiker ein idealer Kandidat für das VBS. Salzmann stamme aus der Familie des BGB-Parteigründers Rudolf Minger, dem ersten Bundesrat der BGB (und späteren SVP) und habe entsprechend ein «Bundesrat-Gen», so der Tages-Anzeiger. Salzmann könne dem Favoriten Rösti zwar gefährlich werden, innerhalb der Berner SVP werde aber befürchtet, dass der Ständeratssitz verloren gehen könnte, wenn Salzmann in den Bundesrat gewählt würde, spekulierte der Tages-Anzeiger weiter. Wenige Tage später, am 10. Oktober 2023, gab auch Albert Rösti seine Kandidatur bekannt. Der Zweikampf zwischen den beiden Bernern bringe ein wenig Salz in den Wahlkampf, urteilte La Liberté. Allerdings vermuteten die Medien, dass der ehemalige Parteipräsident Rösti im Parlament mehr Rückhalt habe als Salzmann. Die BZ urteilte entsprechend, dass Röstis Kandidatur höchstens «wegen internen Widerstands» scheitern könnte. Die NZZ befand gar, dass die Kandidatur Röstis für Langeweile sorge, weil der «anstandslos anständige [...] Panorama-Politiker» kaum anecke – was eine wichtige Voraussetzung sei, um genügend Stimmen aus dem Parlament zu erhalten. Skeptischer zeigte sich die WoZ, die sich fragte, weshalb dem «Ölkönig», der «eine riesige Schadensbilanz» aufweise, so viele Sympathien zuflögen. Starke Kritik erwuchs Rösti auch in der Weltwoche, die befürchtete, dass Rösti seinen SVP-Kurs wohl aufgeben werde, wenn er im Bundesrat sitzen werde. Roger Köppel, Chefredaktor der Weltwoche, warnte vor einem «Kuckucksei» und einem «Trojanischen Pferd» für die SVP im Bundesrat. Rösti sei «der Prototyp eines Pöstchenjägers, ein Hansdampf an allen Kassen» und er sei mit seinem «Naturell des Jasagers» und als «Briefträger bezahlter Interessen» «der Falsche». Im Sonntagsblick wurde vermutet, dass «Atom-Rösti» auch deshalb im Parlament die grössten Chancen habe, weil er nicht die Kernthemen der SVP vertrete, sondern Energiepolitik betreibe. Würde er dem UVEK vorstehen, wäre dies «ein Coup», so der Sonntagsblick. Die zahlreichen Lobby-Mandate Röstis waren in der Folge ein ziemlich häufiges mediales Thema. Der Blick erinnerte schliesslich daran, dass die SVP mit den letzten Berner Vertretern in der Landesregierung nicht sehr glücklich gewesen sei. Sowohl Adolf Ogi, der innerparteilich als zu europafreundlich gegolten habe, als auch Samuel Schmid, der als «halber Bundesrat» bezeichnet worden war, hätten in der SVP selber nur wenig Rückhalt gehabt.

Am 15. Oktober gab der Zuger Finanzdirektor Heinz Tännler (ZG, svp), seit 2006 in der Zuger Kantonsregierung, bekannt, dass er die Innerschweiz und einen «boomenden Kanton» vertreten wolle. Als «zupackender Wirtschaftspolitiker» wolle er den beiden Berner Bewerbungen etwas entgegensetzen und der Partei eine Auswahl bieten. Es sei nicht gut, dass die Zentralschweiz seit dem Rücktritt von Kaspar Villiger im Jahr 2003 nicht mehr im Bundesrat vertreten sei. In zahlreichen Gesprächen sei er darauf aufmerksam gemacht worden, dass «diese Region wieder eine Stimme in der Landesregierung haben» müsse. Er wolle aber auch alle anderen finanzstarken Kantone vertreten, so Tännler in der Ankündigung seiner Kandidatur. In den Medien wurden Tännler trotz Exekutiverfahrung eher geringe Chancen eingeräumt, da er im Gegensatz zu Salzmann und Rösti nicht dem Bundesparlament angehöre, was häufig ein Nachteil sei. Zudem stehe er als Finanzdirektor des reichen Kantons Zug vor allem bei Linken in Verdacht, «Politik für die Reichen und Mächtigen zu machen», so die Bewertung der NZZ.

Am 18. Oktober meldete auch Michèle Blöchliger (svp, NW), seit 2018 Gesundheitsministerin des Kantons Nidwalden, ihre Ambitionen an. Sie sei überzeugt, dass sie «den nötigen Rucksack» mitbringe, den es für das Amt als Bundesrätin brauche: Sie sei sich gewohnt, das Kollegialitätsprinzip zu achten, habe politische Exekutiverfahrung und bringe mit einer englischsprachigen Mutter wichtige Sprachkompetenzen mit. Die SVP könne aufatmen, weil sie doch noch eine Frau gefunden habe, befand 24Heurers. Für die Nidwaldner Regierungsrätin und Rechtsanwältin «mit juristischem Gewissen», wie die Nidwaldner Zeitung wusste, spreche nicht nur ihr Geschlecht, sondern auch der Umstand, dass aus dem Innerschweizer Kanton noch nie jemand in der Landesregierung gesessen habe. Zudem sei sie parteiintern gut vernetzt und der Umstand, dass auch innerhalb der SVP viele eine Frau auf einem Zweierticket forderten, erhöhe ihre Chancen ebenfalls, waren sich viele Medien einig. Allerdings sei sie in Bundesbern etwa auch im Vergleich zu Tännler praktisch unbekannt und liefe Gefahr, sich «in einer undankbaren Rolle als Alibikandidatin» wiederzufinden, prognostizierte die NZZ. Für Schlagzeilen sorgte in der Folge die Aussage Blöchligers, dass Wikipedia nicht zutreffende Angaben über sie verbreite. Sie besitze – im Gegensatz zu den Informationen auf Wikipedia – die britische Staatsangehörigkeit seit dem Tod ihrer Mutter nicht mehr. Der Tages-Anzeiger, der diese Aussage überprüfte, fand allerdings heraus, dass Blöchliger nie formell auf den britischen Pass verzichtet habe. Die Zeitung machte daraus auch deshalb eine Geschichte, weil die SVP 2019 mit einem Vorstoss – erfolglos – das Verbot einer doppelten Staatsbürgerschaft von Bundesratsmitgliedern gefordert hatte. «Blöchligers Hin und Her um ihre zweite Nationalität» biete neuen «Zunder für diese Debatte», so der Tages-Anzeiger. Blöchliger selber gab bekannt, dass sie offiziell auf die britische Staatsangehörigkeit verzichten werde. Allerdings war die Geschichte für viele Medien ein gefundenes Fressen. Der Tages-Anzeiger urteilte, dass sich Blöchliger mit der versuchten Vertuschung ihrer doppelten Staatsbürgerschaft – «um der eigenen Partei zu gefallen» – wohl selbst aus dem Rennen genommen habe. Als «denkbar schlecht» bezeichnete die Weltwoche den Kampagnenstart Blöchligers.

Weitere Kandidatinnen und Kandidaten hatten entsprechend der Terminplanung der SVP bis zum 21. Oktober Zeit, ihr Interesse zu bekunden. Einen Tag vor Ablauf dieser Frist meldete sich die SVP Zürich mit einem eigentlichen Überraschungscoup doch noch zurück und präsentierte den 2021 aus dem Nationalrat zurückgetretenen Hans-Ueli Vogt (svp, ZH) als Kandidierenden. Er sei aus der Politik ausgestiegen, weil ihm die parlamentarische Arbeit nicht zugesagt habe, das Bundesratsamt reize ihn aber, erklärte Vogt. Er wolle «ein Opfer erbringen», zudem sei seine Kandidatur «weder eine Verlegenheitslösung noch eine Alibiübung», gab Vogt der NZZ zu Protokoll, eine urbane Vertretung in der Landesregierung sei zudem wichtig. «Professor Vogt» sei der «Wunschkandidat» der Zürcher Kantonalsektion, betonte Kantonalpräsident Domenik Ledergerber (ZH, svp), der den Kandidierenden als «gründlich, aber zielstrebig, urban und doch bodenständig» beschrieb. In den Medien wurde die Kandidatur begrüsst. Nun habe Zürich doch noch einen Kandidaten, freute sich etwa die NZZ. Vogt sei in Bern auch nach seinem Rücktritt 2021 noch genügend bekannt und werde nach wie vor als seriöser Sachpolitiker geschätzt; vor allem auf linker Seite könne er punkten, ergänzte die NZZ. Auch 24Heures urteilte, dass Vogt mit den Eigenschaften «Intello, urbain, gay» das Zeug habe, die Kampagne aufzumischen. Innerhalb der SVP sei Vogt allerdings ein «OVNI», ein unbekanntes Flugobjekt, urteilte La Liberté. Seine Chancen wurden auch vom Tages-Anzeiger vor allem im Vergleich mit dem «berechenbareren» Albert Rösti als geringer eingestuft. Vogt sei gleichzeitig «Verlegenheitslösung und Befreiungsschlag» für die Zürcher SVP, befand die Weltwoche.

Da bis zum Ende der Meldefrist alle weiteren Favoriten abgesagt hatten – darunter etwa auch Thomas Aeschi, der nach seinem Misserfolg 2015 auf eine zweite Bundesratskandidatur verzichten und sich auf seine Parlamentsarbeit konzentrierten wollte, oder der Aargauer Regierungsrat Jean-Pierre Gallati (AG, svp), der sich bis Meldeschluss bedeckt gehalten hatte – und sich keine neuen Personen mehr gemeldet hatten, standen mit Werner Salzmann, Albert Rösti, Heinz Tännler, Michèle Blöchliger und Hans-Ueli Vogt die fünf Kandidierenden für die Nachfolge von Ueli Maurer fest. Die Partei habe sich knapp gerettet, fasste die Aargauer Zeitung zusammen. Mit einer Frau und einem Kandidaten aus Zürich könne die SVP nun doch verschiedene Optionen bieten. Die Empfehlung der Kandidierenden durch die jeweiligen Kantonalsektionen war Formsache. Für Spannung sorgte einzig die Frage, ob die Kantonalberner Sektion eine Vorselektion treffen und lediglich einen der beiden Kandidierenden vorschlagen würde. Sie schob die Frage einer allfälligen Vorselektion allerdings an die nationale Findungskommission weiter und nominierte sowohl Albert Rösti als auch Werner Salzmann einstimmig. Besagte Findungskommission nahm sich dann bis Mitte November Zeit, die Kandidierenden auf Herz und Nieren zu prüfen, um der Fraktion einen Vorschlag zu unterbreiten.
Wie schon die Kantonalberner scheute sich dann allerdings auch die Findungskommission, eine Vorentscheidung zu treffen. Alle fünf Kandidierenden seien wählbar und in den Hauptthemen strikt auf der Parteilinie. Sie würden einen eindrücklichen Leistungsausweis und die nötige Führungserfahrung mitbringen. Die von alt-Nationalrat Caspar Baader (BL, svp) präsidierte Kommission empfehle der Fraktion zudem, ein Zweierticket zu bilden. Somit stand also die Fraktion in der Verantwortung, die Vorauswahl zu treffen. An der Favoritenrolle von Albert Rösti ändere dies nichts, waren sich die Medien einig. Spannend sei einzig, wer neben ihm aufs Ticket komme, so etwa die NZZ.
Am 18. November entschied sich dann die SVP-Fraktion für ein Zweierticket aus Albert Rösti und Hans-Ueli Vogt. Rösti sei in der ersten Runde mit 26 von 51 Stimmen zum einen Kandidaten auf dem Zweierticket bestimmt worden, wussten die Medien zu berichten. In dieser ersten Runde hätten Michèle Blöchliger vier und Heinz Tännler lediglich eine Stimme auf sich vereinen können. Vogt sei auf 13 und Salzmann auf 5 Stimmen gekommen. Dreimal sei es dann in der Folge zu einem 25:25 Unentschieden zwischen dem Berner und dem Zürcher Kandidaten gekommen, bevor wahrscheinlich eine sich bis dahin enthaltende Stimme in der fünften Runde den Ausschlag für Hans-Ueli Vogt gegeben habe. Das Ringen zeige, dass fraktionsintern befürchtet werde, dass Vogt im Parlament auf linker Seite Stimmen holen könnte und so zum «Rösti-Verhinderer» werde, analysierte die NZZ. Das Rennen zwischen Bern und Zürich sei nun neu lanciert, waren sich die meisten Medien einig.

Bundesratsersatzwahlen 2022 – Nachfolge von Ueli Maurer und Simonetta Sommaruga
Dossier: Bundesratswahlen seit 2008

In einer langen und intensiven Debatte beschäftigte sich der Nationalrat in der Herbstsession 2022 mit der Vorlage über einen Systemwechsel bei der Wohneigentumsbesteuerung mittels Abschaffung des Eigenmietwerts. Daniela Schneeberger (fdp, BL) und Céline Amaudruz (svp, GE) erstatteten als Sprecherinnen der WAK-NR der grossen Kammer Bericht über den umstrittenen Erlassentwurf und die von der Kommission beantragten Änderungen gegenüber der vom Ständerat verabschiedeten Version. Die Kommissionsmehrheit sei weiterhin der Ansicht, dass der Eigenmietwert als fiktiver Einkommensbestandteil störend wirke und von der Bevölkerung nicht verstanden werde, insbesondere von Personen, die ihre Liegenschaft abbezahlt hätten. Deshalb sehe die Mehrheit der WAK-NR Handlungsbedarf und unterstütze die Bestrebungen zur Abschaffung. Dabei räumten die Sprecherinnen jedoch auch ein, dass es noch einige Punkte anzupassen gebe.

In der Eintretensdebatte galt es über einen Nichteintretensantrag sowie zwei Anträge zur Rückweisung der Vorlage an die Kommission zu befinden. Der Nichteintretensantrag sowie einer der beiden Rückweisungsanträge stammten aus der Feder von Cédric Wermuth (sp, AG). Dieser liess kein gutes Haar an der Vorlage und nannte vier Gründe, nicht auf sie einzutreten. Erstens sei die Besteuerung des Eigenmietwerts steuersystematisch sinnvoll, da damit ein effektiver ökonomischer Nutzen besteuert werde. Zweitens würde die Vorlage die sowieso schon steuerlich bevorzugten Wohneigentümerinnen und -eigentümer noch zusätzlich bevorzugen. Drittens sei es schwierig, die aktuelle Situation zu ändern, ohne dabei jemanden stark zu benachteiligen, beispielsweise jüngere Menschen oder Bergregionen. Viertens führe die Vorlage auch zu gewichtigen finanziellen Ausfällen. Wermuth beantragte deshalb, nicht auf die Vorlage einzutreten. Falls der Rat doch auf sie eintrete, dann werde er sich für seinen Rückweisungsantrag einsetzen. Dieser sah vor, dass die parlamentarische Initiative der WAK-SR, auf der die Vorlage basiert, stattdessen mittels einer Härtefallregelung umgesetzt werden soll, womit insbesondere Rentnerinnen und Rentner, welche ihre selbstbewohnte Immobilie abbezahlt haben, aber nur über ein tiefes Einkommen verfügen, entlastet würden.

Der zweite Rückweisungsantrag stammte von Markus Ritter (svp, SG). Ritter sprach sich zwar für die Abschaffung des Eigenmietwerts aus, wollte die Vorlage aber zurück an die Kommission schicken, u.a. da eine Volksabstimmung bei erwarteten gesamtstaatlichen Steuerausfällen von CHF 3.8 Mrd. nicht zu gewinnen sei, betonte er auch mit Verweis auf die Abstimmungen über die Vorlagen zur Abschaffung der Stempelsteuerabgabe und der Verrechnungssteuer, die beide an der Urne gescheitert waren. Um die Mängel der Vorlage zu beheben, sei eine Rückweisung sinnvoller als eine direkte Beratung im Nationalrat. Zudem müssten erstens die Kantone enger eingebunden werden, da diese auch stark betroffen seien. Zweitens habe sich die Vorlage zu stark vom ursprünglichen Ziel des Systemwechsels entfernt und drittens störte sich Ritter daran, dass trotz der Abschaffung des Eigenmietwerts Schuldzinsabzüge bestehen bleiben sollen. Schliesslich lägen der eidgenössischen Steuerverwaltung ab Januar 2023 aktualisierte Zahlen aus vier grossen Kantonen vor, welche für die Entscheidfindung in der Kommission wichtig seien. Auch die von Wermuth verlangte Prüfung einer Härtefalllösung sei Teil seines Rückweisungsantrags, betonte Ritter.

Für Eintreten sprachen sich die Fraktionen der FDP und der SVP aus. Von der SVP weibelte unter anderem Esther Friedli (svp, SG) für die Vorlage. Die Besteuerung des Eigenmietwerts sei während des Ersten Weltkriegs provisorisch eingeführt worden und es sei nun endlich an der Zeit, sie wieder abzuschaffen. Man besteuere nämlich ein fiktives Einkommen. Ausserdem sei der Kauf von Wohneigentum ein eigenverantwortlicher Beitrag zur Altersvorsorge, der durch den Eigenmietwert massiv behindert werde. Weiter bestrafe das heutige System diejenigen, welche ihre Hypothekarschulden abbezahlen wollen, und setze so Anreize zur Verschuldung. Die Schweiz habe nicht zuletzt deshalb eine solch gefährlich hohe Privatverschuldungsquote. Schliesslich führe die heutige Lösung auch zu viel Bürokratie. Die Position der FDP-Fraktion legte unter anderem Petra Gössi (fdp, SZ) dar. Sie unterstützte den Systemwechsel und war der Meinung, der Rat habe in der Detailberatung noch genügend Möglichkeiten, über die konkrete Ausgestaltung der Vorlage zu diskutieren. Eine Rückweisung bringe hingegen nichts. Die Kantone hätten sich bisher nicht kompromissbereit gezeigt und man könne auch heute schon den Entscheid zum Systemwechsel «auf ordnerweise Material stützen».

Die Fraktionen der Grünen und der SP plädierten für Nichteintreten. Balthasar Glättli (gp, ZH) sprach beispielsweise von einem fiskalpolitischen Blindflug, der schlussendlich die «Welt ungerechter statt gerechter» machen würde. Bei der Vorlage sei nicht mehr viel zu retten. Auch Vertreterinnen und Vertreter der SP sprachen sich deutlich gegen die Vorlage aus. Jacqueline Badran (sp, ZH) befürwortete zwar einen reinen Systemwechsel, weil damit Immobilien weniger wie Anlagen und wieder mehr wie Wohnobjekte behandelt würden. Doch die jetzige Fassung der Vorlage habe nichts mehr mit einem reinen Systemwechsel zu tun, da sämtliche Abzugskosten erhalten blieben. Das Parlament habe sich hier «komplett übermarcht» und die Ausarbeitung «einmal mehr komplett unsorgfältig gemacht».

Die Fraktionen der Mitte und der GLP sprachen sich für Eintreten und für Annahme des Rückweisungsantrags Ritter aus. Kathrin Bertschy (glp, BE) gab derweil zu Protokoll, dass ihre Fraktion einen Systemwechsel grundsätzlich begrüssen würde, weil damit Verschuldungsanreize und ökologische Fehlanreize im Unterhaltskonsum reduziert und die volkswirtschaftliche Stabilität erhöht werden könnten. Allerdings forderte sie einen «umfassenden und vollständigen» Systemwechsel, also einen Wechsel, der auch Zweitwohnungen umfasst und dafür die Steuerabzüge abschafft. Deshalb unterstütze die Fraktion den Rückweisungsantrag Ritter, nicht aber den Nichteintretensantrag Wermuth, da eine Härtefalllösung einfach «eine Steuersubvention für Wohneigentümer, die mehr oder teureren Wohnraum beanspruchen, als sie benötigen oder bezahlen können», darstelle. Ähnlich argumentierte Leo Müller (mitte, LU) für die Mitte-Fraktion, welche die Abschaffung des Eigenmietwerts sowie der Steuerabzüge als «steuersystematisch richtig» und als Mittel zur Entlastung des Mittelstands erachtete.

Zuletzt äusserte sich Bundesrat Ueli Maurer zur Vorlage. Der Bundesrat befürworte einen Systemwechsel, so Maurer, damit Verschuldungsanreize abgebaut, Komplexität reduziert und Lösungen für Rentnerinnen und Rentner mit tiefem Einkommen gefunden werden können. Die Vorlage sei aber in der vorliegenden Fassung nicht finanzierbar und nicht mehrheitsfähig. Er empfahl dem Parlament deshalb, dem Antrag Ritter zuzustimmen.

In den Abstimmungen lehnte der Nationalrat zuerst den Nichteintretensantrag Wermuth mit 125 zu 68 Stimmen ab. Wermuth zog daraufhin seinen Rückweisungsantrag zurück. Der Antrag Ritter fand in der Folge mit 114 zu 77 Stimmen (bei 2 Enthaltungen) eine Mehrheit im Rat. Die Fraktionen der Mitte, GLP, SP und Grünen stimmten geschlossen für den Antrag und schickten damit die Vorlage zurück an die WAK-NR.

Systemwechsel bei der Wohneigentumsbesteuerung (Pa.Iv. 17.400)
Dossier: Vorstösse zur Abschaffung des Eigenmietwerts (1992-2023)

Réagissant à la guerre en Ukraine et aux mesures proposées par le Conseil fédéral pour réduire l'impact de l'agriculture sur l'environnement, des membres de l'UDC ont annoncé vouloir lancer une initiative pour garantir un plus haut taux d'autosuffisance alimentaire. Esther Friedli (udc, SG) et Marcel Dettling (udc, SZ) – tous deux membres du Conseil national – s'inquiètent des attaques successives du Conseil fédéral contre la production agricole, s'indignant de l'importance donnée à la protection de la biodiversité, au détriment de la production d'aliments. Avec les mesures prévues par le Conseil fédéral, les surfaces de promotion de la biodiversité augmenteraient à partir de 2024, ce qui est inacceptable pour les deux parlementaires. L'initiative inscrirait un objectif de 60 pour cent d'autosuffisance alimentaire nette, alors que ce taux est actuellement de 49 pour cent. Et afin de ne pas atteindre ce taux au détriment de l'élevage animal – une réduction de la consommation de produits animaux pourrait permettre d'augmenter l'autosuffisance alimentaire –, l'initiative serait formulée de telle sorte que cette production soit également renforcée. Marcel Dettling l'explique en rappelant les nombreuses surfaces occupées par les prairies et l'importance du bétail pour empêcher que les montagnes ne se transforment entièrement en forêts. Finalement, l'initiative devrait s'attaquer à la bureaucratie dans le domaine agricole.
Invitée par le journal Blick à réagir à cette initiative, l'écologiste bâloise Maya Graf, elle-même agricultrice, a critiqué une initiative qui ne pourrait se faire qu'au détriment du climat et des écosystèmes. Il serait pourtant possible d'augmenter le taux d'autosuffisance alimentaire en Suisse en se focalisant sur deux mesures phares, à savoir s'attaquer au gaspillage alimentaire et réduire la consommation de viande, ce qui permettrait de cultiver plus de plantes directement consommables par les êtres humains. Cette manière d'agir sur le taux d'autosuffisance alimentaire fait sens selon le chef de la communication de l'institut de recherche fédéral Agroscope Marc Andrey. Cela permettrait, d'une part, une alimentation plus saine et d'autre part, une réduction de la charge sur l'environnement. Un appauvrissement de la biodiversité pourrait, à long terme, mettre en danger la sécurité alimentaire du pays.
Le président de l'Union suisse des paysans (USP), Markus Ritter (centre, SG), n'a pas souhaité se prononcer sur un soutien ou non d une initiative, mais précise que les demandes formulées par les deux initiant.e.s éveillent l'intérêt de l'organisation, même si un taux de 60 pour cent net parait trop ambitieux.

Une initiative pour garantir un taux d'autosuffisance alimentaire
Dossier: Die Frage der Selbstversorgung mit Lebensmitteln taucht vor dem Hintergrund der Krise wieder auf (2022)

Nachdem die SPK-NR entschieden hatte, der Vorlage keine Folge zu geben, beugte sich der Nationalrat in der Sommersession 2022 über die parlamentarische Initiative der Grünen Fraktion, die forderte, dass es Kantonen und Gemeinden ermöglicht werden soll, auf eigene Initiative hin zusätzliche Flüchtlingsgruppen aufzunehmen. Der Minderheitensprecher Balthasar Glättli (gp, ZH) argumentierte für das Anliegen seiner Fraktion, dass es keinen guten Grund gäbe, wieso der Schweizer Föderalismus nicht dazu genutzt werden solle, die Asylpolitik der Schweiz menschlicher und offener zu gestalten. Laut Marianne Binder-Keller (mitte, AG) stünde der vorgeschlagene Mechanismus im Verständnis der Kommissionsmehrheit aber im «Widerspruch zum aktuellen System», welches darauf aufbaue, dass «die Lasten» gemeinsam, statt von einzelnen Gemeinden, getragen würden.
Der Nationalrat entschied mit 119 zu 70 Stimmen, dem Anliegen der Grünen Fraktion keine Folge zu geben. Für die Vorlage sprachen sich lediglich die beiden geschlossen stimmenden Fraktionen der SP und der Grünen sowie die drei Nationalratsmitglieder der EVP aus. Damit blieb der Nationalrat seiner Stellung zu diesem Thema treu – so hatte er bereits eine Woche zuvor einer Standesinitiative aus dem Kanton Basel-Stadt keine Folge gegeben, die eine ähnliche Änderung im Asylwesen gefordert hatte.

Aufnahme von Asylsuchenden: Willkommensstädte und solidarische Gemeinden ermöglichen (Pa.Iv. 21.419)

Das von Balthasar Glättli (gp, ZH) mittels parlamentarischer Initiative geforderte Obligatorium für die freie Rede bei Ratsdebatten löste in der Sommersession 2022 im Nationalrat ein von einiger Heiterkeit begleitetes Frage-Antwort-Spiel aus. Der Initiant legte dar, dass es zu Beginn des Parlamentsbetriebs, also vor 172 Jahren, verboten gewesen sei, eine Rede abzulesen. Er glaube, dass frei gesprochene Reden nicht nur spannendere, sondern auch verständlichere Debatten nach sich ziehen würden, was «der Demokratie guttäte». Wer frei spreche, habe sich mit dem Thema besser auseinandergesetzt, als wer einfach ablese. Er fordere kein Verbot von Unterlagen, aber er wolle verhindern, dass eine Rede lediglich abgelesen werde. Auf die Frage von Roger Nordmann (sp, VD), ob sich Glättli bewusst sei, dass es sprachliche und rhetorisch nicht so begabte Minderheiten gebe, für die die freie Rede nicht so einfach sei – ein Punkt, den auch das Büro-NR in seinem Bericht gegen die parlamentarische Initiative vorgebracht hatte –, erwiderte der Initiant, dass es in der Tat nicht gut sei, dass man einander nicht verstehe, dies aber mit der freien Rede nichts zu tun habe. Beat Flach (glp, AG) wollte von Glättli wissen, ob er mit einem Verbot nicht überschiesse. Hier brachte der Initiant das Beispiel Grossbritanniens vor, wo man ebenfalls ein Ableseverbot kenne, das freilich mit Augenmass umgesetzt werde: «Aber es gibt dann im britischen Parlament auch den Moment, wo es aus den Reihen schallt ‹He is reading!›, weil man merkt, dass jemand nicht mehr bei der Sache ist, sondern nur noch am Papier klebt. Das will ich verhindern.». Ob denn die freie Rede nicht einfach «in zielloses, polemisches Geschwafel» ausarte, wollte Kurt Fluri (fdp, SO) wissen. Man müsse hierfür wohl zuerst Erfahrungen sammeln und dann allenfalls korrigieren, verteidigte sich Glättli. Es brauche keine Kontrolle, sondern individuelle Abwägung, wie viel man von einem Spickzettel ablesen wolle, antwortete Glättli eine Frage von Lorenz Hess (mitte, BE) und auch die Frage von Benjamin Roduit (mitte, VS), ob denn mit freier Rede nicht die Gefahr eines Überziehens der Zeit bestehe, konterte Glättli: Auch diese Regel müsste eigentlich überdacht werden und auch hier könnte man eine gewisse «souplesse» oder Flexibilität walten lassen.
Das Büro hatte zuvor mit 10 zu 1 Stimmen (bei 2 Enthaltungen) entschieden, dem Vorstoss keine Folge zu geben. Neben den in den Fragen angesprochenen Kritikpunkten (Überforderung von Minderheiten, schwierige Kontrolle, Bedeutung der «Legiferierung» statt Debattenkultur in der Schweiz) fügte das Büro im Bericht auch noch das Argument der nötigen Präzision von Reden an: Komplexe Geschäfte sowie die Berichterstattung von Kommissionsdiskussionen bedingten eine möglichst präzise und doch möglichst knappe Sprache. Dies sei in freier Rede kaum möglich. Mit Ausnahme der GLP- und der FDP-Fraktion fanden sich aus allen Fraktionen Unterstützerinnen und Unterstützer des Antrags. Die insgesamt 30 befürwortenden Stimmen reichten allerdings gegen die 129 Stimmen, die der Initiative keine Folge geben wollten, nicht aus. Ins Auge fielen die 32 Enthaltungen, die wiederum mit Ausnahme der FDP-Fraktion aus allen parlamentarischen Gruppen stammten. Damit ist die parlamentarische Initiative erledigt.

Freie Rede einführen (Pa.Iv. 21.500)

«Die Ausländerinnen von heute sind die Frauen von damals», zitierte Balthasar Glättli (gp, ZH) zu Beginn der durch zwei parlamentarische Initiativen zum Stimm- und Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer angestossenen Debatte einen Vergleich zwischen den vor 1971 vom politischen Prozess ausgeschlossenen Frauen und den nach wie vor exkludierten Ausländerinnen und Ausländern aus der NZZ. Zwar sei 1971 ein «Demokratieproblem» gelöst worden, es bestehe aber noch ein weiteres, das angegangen werden könne, wenn man der parlamentarischen Initiative der grünen Fraktion Folge gebe. Auch der zweite Initiant, Mustafa Atici (sp, BS), argumentierte, dass der Ausschluss rund eines Viertels der Bevölkerung die direkte Demokratie der Schweiz unvollständig mache. Im Gegensatz zum Vorstoss der grünen Fraktion, die das passive und aktive Stimm- und Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer auf Bundesebene einführen wollte, forderte Atici dieses für kommunale Angelegenheiten. Beiden Anliegen war gemein, dass sie als Bedingung für die Vergabe der politischen Rechte wenigstens fünf Jahre Wohnsitz in der Schweiz voraussetzten. Die Ratsdebatte war nötig geworden, weil die SPK-NR mit je 17 zu 8 Stimmen empfohlen hatte, beiden Anliegen keine Folge zu geben. Die hauptsächlichen Argumente für die abschlägige Empfehlung wurden von Kommissionssprecherin Marianne Binder-Keller (mitte, AG) und Kommissionssprecher Damien Cottier (fdp, NE) vorgebracht: Wer politische Rechte ausüben wolle, müsse sich lediglich einbürgern lassen. Zudem könne die Einführung eines kommunalen Stimm- und Wahlrechts nicht auf der Bundesebene bestimmt werden, sondern sei eine kantonale Angelegenheit. Darüber hinaus erachte die Kommission die Integration von Ausländerinnen und Ausländern in der Schweiz gar «ungeteilt» als «zufriedenstellend»: «Angesichts eines der höchsten Ausländeranteile in Europa gibt es kaum nennenswerte Schwierigkeiten, und ganz offensichtlich fühlen sich die Menschen ausländischer Staatsbürgerschaft abgeholt», erklärte die Kommissionssprecherin. Dies mache den Besitz von Stimm- und Wahlrecht nicht vordringlich. Binder-Keller liess es sich zudem nicht nehmen, den einleitenden Vergleich Glättlis vehement zu kritisieren. Es sei eine «schreiende Ungerechtigkeit» gewesen, «Bürgerinnen und Bürger in einem Land unterschiedlich zu behandeln». Im Gegensatz zu damals bestehe ja heute die Möglichkeit, sich einbürgern zu lassen. Eine links-grüne Kommissionsminderheit stellte bei beiden Vorstössen einen Antrag auf Folgegeben, dem in beiden Fällen allerdings nur die Fraktionen der SP und der Grünen folgten. Die 63 Stimmen reichten allerdings gegen die 110 (Pa.Iv. Atici; 4 Enthaltungen) bzw. 113 (Pa.Iv. GP, 0 Enthaltungen) Gegenstimmen nicht aus. Die Vergabe des Stimm- und Wahlrechts für Nicht-Schweizerinnen und -Schweizer auf kommunaler Ebene hängt somit weiterhin vom Wohlwollen der kantonalen Stimmbevölkerungen ab.

Stimm- und Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer (Pa.Iv 21.405 & Pa.Iv. 21.414)
Dossier: Einführung des Ausländerstimmrechts

Die parlamentarische Initiative der grünen Fraktion für ein qualifiziertes Ständemehr bei Doppelmehrabstimmungen wurde vom Nationalrat in der Sommersession 2022 behandelt. Zugunsten der Initiative äusserten sich Balthasar Glättli (gp, ZH) als Vertreter der Initiantinnen und Initianten und Delphine Klopfenstein Broggini (gp, GE) für die aus Grünen, SP und GLP bestehende Minderheit der vorberatenden SPK-NR). Sie betonten, dass sie nicht etwa die Abschaffung des Ständemehrs forderten, sondern lediglich dessen Anpassung. Es gelte – wie es Glättli formulierte –, «das Gleichgewicht im tragenden Gebälk der Schweizer Demokratie» wiederherzustellen, konkret das Gleichgewicht zwischen Volks- und Ständemehr. Das bestehende System benachteilige namentlich auch die lateinischen Kantone.
Gegen die Initiative stellten sich für die Kommissionsmehrheit Kurt Fluri (fdp, SO) und Piero Marchesi (svp, TI). Sie argumentierten, dass das heutige Ständemehr zum Föderalismus gehöre. Zwar müsse heute nicht mehr wie bei der Einführung des Ständemehrs 1848 ein Ausgleich zwischen katholischen und protestantischen Regionen geschaffen werden, aber nach wie vor brauche es einen Schutz der kleinen Kantone vor einem Übergewicht der bevölkerungsstarken Kantone. Im Übrigen bestehe ohnehin kein Handlungsbedarf, weil das Volksmehr seit 1848 erst in zehn Abstimmungen durch das Ständemehr blockiert worden sei. Mit 105 zu 77 Stimmen bei 4 Enthaltungen entschied der Nationalrat schliesslich, der parlamentarischen Initiative keine Folge zu gegeben. Diese wurde somit vom selben Schicksal ereilt wie eine Reihe früherer Vorstösse, die ebenso erfolglos eine Reformierung des Ständemehrs gefordert hatten.

Qualifiziertes Ständemehr bei Doppelmehr-Abstimmungen (Pa.Iv. 20.484)
Dossier: Vorstösse zur Abschwächung des klassischen Ständemehrs

Der Abstimmungskampf zum Referendum gegen den Ausbau des Schweizer Beitrags an die EU-Grenzschutzagentur Frontex wurde in der Westschweizer Öffentlichkeit schon im Januar 2022 lanciert, noch bevor das Referendum zustande gekommen war. In einem Meinungsbeitrag in Le Temps beschrieben Ständerätin Lisa Mazzone (gp, GE) und eine Flüchtlingshelferin die Zustände auf dem Mittelmeer und in Libyen und wiesen vor allem auf die Menschenrechtsverletzungen durch Frontex hin. Wenige Tage darauf meldete sich FDP-Ständerat Damian Müller (fdp, LU) im gleichen Medium zu Wort und kritisierte seine Ratskollegin dafür, in ihrem Beitrag keine Alternativen anzubieten und stattdessen Frontex kategorisch abzulehnen. Er argumentierte überdies, dass fehlende Mittel für Frontex dazu führen könnten, dass es in Europa und der Schweiz zu einer Explosion «irregulärer Überfahrten» von Wirtschaftsmigrantinnen und -migranten kommen würde. Der Frontex-Beitrag sei essentiell, um ein Mindestmass an Kontrolle der Migrationsströme sicherzustellen. Zudem brauche man darüber hinaus eine verstärkte Entwicklungshilfe in den Ursprungsländern der Flüchtenden in Kombination mit besseren Grenzkontrollen durch die Nachbarländer Libyens.

Die deutschsprachigen Medien griffen das Thema erst im Februar grossflächig auf, nachdem das Referendumskomitee am 20. Januar knapp 58'360 Unterschriften – davon 54'377 gültige – eingereicht hatte. Diskutiert wurde in den Medien insbesondere über mögliche interne Konflikte innerhalb der SP und der SVP. Bei der SP orteten die Medien einen Widerspruch zwischen der Ablehnung von Frontex und dem Wunsch nach Beibehaltung des Schengen-Abkommens, bei der SVP hingegen zwischen dem parteilichen Ziel einer restriktiven Migrationspolitik, und somit der Unterstützung von Frontex, bei gleichzeitiger Ablehnung aller Arten von EU-Verträgen. Der Blick sah die «Linke» gar in der «EU-Falle» sitzen, da die Schweiz bei einem Nein nicht nur aus dem Schengen-Dublin-System ausgeschlossen würde, sondern sich in diesem Fall auch die bilateralen Beziehungen mit der EU dramatisch verschlechtern würden. Dabei waren die Auswirkungen einer Ablehnung auf den Verbleib im Schengen-Raum jedoch umstritten. Gemäss EJPD-Vorsteherin Karin Keller-Sutter würde durch ein Nein zum Frontex-Ausbau ein Beendigungsverfahren für das Schengen-Abkommen ausgelöst, welches bei einer fehlenden Einigung nach sechs Monaten den Ausschluss der Schweiz aus Schengen/Dublin zur Folge hätte. Dieser Einschätzung widersprach jedoch der emeritierte Rechtsprofessor Rainer J. Schweizer in der NZZ. Demnach könne der Ausschluss der Schweiz aus Schengen/Dublin nicht gemäss der Guillotineklausel von 2004 vonstatten gehen, da die Schweiz seither rund 370 Rechtsakte der EU übernommen habe. Dies würde folglich einen umfassenden Austrittsvertrag nach dem Vorbild des Brexit-Vertrags vonnöten machen. Dieser Meinung schloss sich die SP (sowie auch die Grünen) an. Ergänzend präsentierte etwa SP-Ständerat Daniel Jositsch (sp, ZH) einen Plan B in Form einer parlamentarischen Initiative, falls die Schweizer Stimmbevölkerung den Frontex-Ausbau tatsächlich ablehnen sollte. Darin schlug er vor, das Schweizer Kontingent der von der UNO anerkannten Flüchtlinge innerhalb der 90 Tage bis zum Schengen-Ausschluss auf 4'000 zu erhöhen, sozusagen als humanitäre flankierende Massnahme zum Frontex-Ausbau. Da die SP die Unterstützung an den Frontex-Ausbau an diese Bedingung gekoppelt hatte, könnte die Schweiz nach der Aushandlung dieser Erhöhung den Frontex-Beitrag dann trotzdem freigeben.
Die Nein-Parole beschloss die SP an ihrem Parteitag mit grosser Mehrheit, wenngleich einzelne Parteiexponentinnen und -exponenten wie Nationalrat Eric Nussbaumer (sp, BL) sich nur halbherzig anschliessen mochten. In den Befragungen im Vorfeld der Abstimmung zeichnete sich jedoch eine SP-interne Spaltung ab: Die Sympathisierenden der SP wollten der Vorlage gemäss einer Ende April durchgeführten Tamedia-Vorumfrage entgegen dem Kurs des Parteipräsidiums und des Parteitags mit fast 53 Prozent zustimmen. Ähnliches spielte sich bei den Grünen ab, bei denen 48 Prozent der Sympathisierenden trotz Nein-Parole der Partei eine Ja-Stimme in Aussicht stellten, wogegen 44 Prozent der Parteileitung zu folgen gedachten. Auch bei den traditionell SP-nahen Organisationen zeigten sich die Auswirkungen dieses inhaltlichen Dilemmas, wie CH Media berichtete. Obwohl das Sekretariat des Gewerkschaftsbundes seinem Vorstand und den Mitgliedern in einem internen Papier Stimmfreigabe vorgeschlagen hatte, da «ein Interessenkonflikt zwischen einer menschenwürdigen europäischen Flüchtlingspolitik und der Personenfreizügigkeit im Rahmen von Schengen» vorliege, beschloss der SGB-Vorstand die Nein-Parole. Hingegen entschied sich der Gewerkschaftsbund gemäss Mediensprecher Gaillard jedoch dagegen, den Abstimmungskampf des Referendumskomitees mitzufinanzieren. Auch andere NGOs wie die SFH, die traditionell die Anliegen der SP unterstützten, taten sich mit der Parolenfassung schwer. SFH-Direktorin Miriam Behrens befürchtete, dass die Schweiz bei einem Nein nicht mehr an der Verbesserung der europäischen Migrationspolitik mitwirken könnte. Andererseits könnte der Ausbau der EU-Agentur die Kontrolle der Mitgliedstaaten erschweren, in deren Kompetenzbereich die meisten Verstösse fielen. Amnesty International verzichtete darauf, sich am Abstimmungskampf zu beteiligen, da die im Referendum betroffenen Bestimmungen nicht die konkreten Bedingungen von Schutzsuchenden oder die Verteidigung der Menschenrechte beträfen.

Am anderen Ende des politischen Spektrums hatte die SVP ebenfalls mit der Beschlussfassung zu kämpfen. Obwohl die Vorlage zum Ausbau des Schweizer Beitrags an Frontex aus dem Departement von SVP-Bundesrat Ueli Maurer stammte, lehnten sie mehrere einflussreiche SVP-Mitglieder von Anfang an ab, darunter Esther Friedli (svp, SG), Lukas Reimann (svp, SG), Marcel Dettling (svp, SZ)) und Marco Chiesa (svp, TI), oder wechselten nach der parlamentarischen Phase aus dem Ja- ins Nein-Lager (Céline Amaudruz (svp, GE) und Roger Köppel (svp, ZH)). Die Südostschweiz berichtete, dass sich die Parteibasis eine Nein-Parole wünsche, was eine unheilige Allianz mit der SP und den Grünen bedeuten würde. Die Vertreterinnen und Vertreter des Nein-Lagers innerhalb der SVP wollten die Gelder lieber an der eigenen Grenze investieren, als diese der Frontex, deren Nutzlosigkeit sich gezeigt habe, zur Verfügung zu stellen. Die Befürworterinnen und Befürworter setzten sich hingegen für mehr Grenzschutz an den EU-Aussengrenzen und weniger «illegale Migration» ein. Es lag daher an der neunköpfigen Parteileitung, eine Empfehlung auszuarbeiten, deren Mitglieder hatten in der Schlussabstimmung im Parlament aber unterschiedliche Positionen vertreten. Die Partei beschloss schliesslich Anfang April 2022 die Ja-Parole und folgte damit nicht zuletzt der Empfehlung ihres verantwortlichen Bundesrats Ueli Maurer.
Bei der Parolenfassung weniger schwer taten sich die Mitte und die FDP, deren Delegiertenversammlungen im Januar (Mitte) und Februar (FDP) klare Ja-Parolen ausgaben.

Mitte März trat erstmals das Referendumskomitee «No Frontex» an die Öffentlichkeit. Das Komitee lehnte nicht nur die Erhöhung des Beitrags, sondern die Grenzschutzagentur als Ganzes ab, weil diese «ohne jegliche demokratische Kontrolle der Mitgliedstaaten» agiere, berichtete die Tribune de Genève. Mitte April versuchten die Frontex-Gegnerinnen und -Gegner mit Demonstrationen und anderen öffentlichen Anlässen, die Stimmbevölkerung für die Thematik zu sensibilisieren.

In der Folge äusserten sich aber auch zahlreiche Befürworterinnen und Befürworter öffentlich zu Wort. Während sich die Frontex-Gegnerinnen und -Gegner auf humanitäre Argumente stützten, wandten sich Wirtschaftsorganisationen mit ökonomischen Bedenken an die Öffentlichkeit. So gründete der Tourismussektor im April ein Ja-Komitee, da dieser bei einer Ablehnung der Vorlage den Ausschluss aus dem Schengen-Visa-Raum befürchtete. Dadurch bräuchten Touristen aus Fernmärkten ein separates Visum für einen Aufenthalt in der Schweiz, was die Attraktivität einer Schweiz-Reise drastisch senken würde, begründete STV-Direktor Philipp Niederberger die Ängste der Branche. Hotelleriesuisse rechnete mit Einbussen von bis zu CHF 188 Mio. pro Jahr und der Bundesrat erwartete jährliche Ausfälle von jährlich maximal CHF 500 Mio. Franken für den Schweizer Tourismus. Doch nicht nur wirtschaftliche Bedenken wurden vorgebracht, KKJPD-Präsident Fredy Fässler (sp, SG) warnte davor, bei einem Nein zum Frontex-Beitrag vom Sicherheitssystem der EU abgehängt zu werden, was für die Polizeiarbeit hochproblematisch wäre.

Ebenfalls im April, also knapp einen Monat vor der Abstimmung, wurde bekannt, dass OLAF – die Antibetrugsbehörde der EU – in einem geheimen Bericht mehrfache Verfehlungen durch Frontex-Verwaltungsräte festgestellt hatte. Die Frontex-Spitze um Direktor Fabrice Leggeri sei demnach in Mobbing und illegale Pushbacks – also in illegale Ausweisungen oder Rückschiebungen von Migrantinnen und Migranten unmittelbar vor oder nach dem Grenzübertritt, ohne dass diese die Möglichkeit hatten, einen Asylantrag zu stellen – verwickelt gewesen. Nach Veröffentlichung dieser Vorwürfe verweigerte der Haushaltsausschuss des EU-Parlaments Frontex die Décharge. Auch der Vorsitzende des Frontex-Verwaltungsrats, Marko Gasperlin, gab in einem Blick-Interview zu Protokoll, dass in bestimmten Fällen «absolut falsch gehandelt» worden sei, auch wenn das Frontex-System im Grossen und Ganzen funktioniere. Zwei Wochen vor dem Abstimmungstermin bat der umstrittene Frontex-Chef Fabrice Leggeri seinen Rücktritt an, der vom Verwaltungsrat gleichentags akzeptiert wurde. Leggeri wurde nicht nur für die zahlreichen nachgewiesenen Pushbacks verantwortlich gemacht, er wurde auch des Missmanagements und des Mobbings bezichtigt. Unklar war, wie sich diese Nachricht auf die Volksabstimmung auswirken würde. Einerseits bestätige der Rücktritt die Kritik an der Grenzagentur, andererseits sei er Zeugnis einer gewissen Reformbereitschaft, argumentierte der Tages-Anzeiger. Letzterer Interpretation schloss sich das EFD an. Eine Sprecherin erklärte, dass Frontex nun das angeschlagene Vertrauen zurückgewinnen könne und dass sich gezeigt habe, dass die Aufsichtsmechanismen funktionierten.

Eine Tamedia-Meinungsumfrage vom 4. Mai machte jeglichen Anflug von Spannung hinsichtlich des Ausgangs der Abstimmung zunichte, denn eine grosse Mehrheit der Befragten (64%) wollte ein Ja an der Urne einlegen. Auf eine deutliche Annahme der Vorlage am 15. Mai deuteten nicht nur die Meinungsumfragen, sondern auch die Auswertung der Zeitungs- und Inserateanalyse von Année Politique Suisse hin. Während das Ja-Lager in den untersuchten Printmedien rund 120 Inserate publizieren liess, fand quasi keine Gegenkampagne statt (ein einzelnes Kontra-Inserat während der ganzen Untersuchungsperiode). Die Pro-Inserate warnten vor allem davor, dass ein Nein die Sicherheit der Schweiz, die Reisefreiheit und die Schweizer Wirtschaft bedrohen würde. Einen direkten Zusammenhang zum oftmals genannten Ausschluss der Schweiz aus Schengen/Dublin machten nur 35 Prozent der Inserate, also deutlich weniger als drei Jahre zuvor beim Referendum zur Umsetzung der EU-Waffenrichtlinie.

Übernahme und Umsetzung der Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Europäische Grenz- und Küstenwache (Frontex; BRG 20.064)
Dossier: Beteiligung der Schweiz am Ausbau von Frontex

In der Sondersession im Mai 2022 behandelte der Nationalrat die neuste Mehrwertsteuerrevision, ein «Sammelsurium von Massnahmen» (Schneeberger), die grösstenteils auf eine Vereinfachung der Mehrwertsteuer abzielten. Daniela Schneeberger (fdp, BL) und Céline Amaudruz (svp, GE) stellten dem Rat die Vorlage im Namen der WAK-NR vor. Die Hauptpunkte der Revision waren in der Eintretensdebatte kaum umstritten, die Fraktionen zeigten sich aber dennoch wenig begeistert von der Revision: «Zu dieser Mehrwertsteuergesetzrevision haben Sie sich nicht mit grosser Begeisterung geäussert», merkte denn auch Finanzminister Maurer an. Er wies jedoch allfällige Kritik an der Vorlage gleich zu Beginn ans Parlament zurück: Der Bundesrat habe neben minimalen, unumstrittenen Vereinfachungen lediglich vom Parlament überwiesene Vorstösse umgesetzt.
Der Nationalrat schuf nur wenige vom bundesrätlichen Entwurf abweichende Regelungen: Unter anderem verlangte die Regierung aufgrund der Motionen Stöckli (sp, BE; Mo. 18.4194) und von Siebenthal (svp, BE; Mo. 18.4363), im Ausland bewirkte Leistungen der Reisebüros von der Mehrwertsteuer auszunehmen. Damit solle «die administrative Hürde für ausländische Reisebüros» gesenkt und der Schweizer Tourismus gefördert werden, erklärte Schneeberger. Die Kommissionsmehrheit beantragte jedoch erfolgreich die Ablehnung der neuen Regelung, um eine Benachteiligung der Schweizer Reisebüros zu verhindern. Eine Minderheit Aeschi (svp, ZG) hatte hier überdies die Leistungen von Wiederverkäufern im Tourismusbereich von der Mehrwertsteuer ausnehmen wollen, fand damit aber keine Mehrheit.
Auch bei den Bereichen, die von der Mehrwertsteuer ausgenommen werden sollen, setzte sich die Kommissionsmehrheit gegen den Bundesrat durch. Sie wollte neben den bereits betroffenen Gesundheitseinrichtungen und neu auszunehmenden Leistungen der koordinierten Versorgung (Motion Humbel: mitte, AG; Mo. 19.3892) auch Leistungen von Tageskliniken und Ambulatorien von der Mehrwertsteuer befreien. Zudem sollte auch das Anbieten von Anlagegruppen von Anlagestiftungen gemäss BVG zukünftig nicht mehr der Mehrwertsteuer unterliegen. Stillschweigend wurden beide Änderungen angenommen, erstere gegen einen Minderheitsantrag Birrer-Heimo (sp, LU).
Des Weiteren schlug die Kommissionsmehrheit vor, dass Steuerpflichtige mit steuerbaren Leistungen unter CHF 250'000 und ohne Wohn- und Geschäftssitz in der Schweiz ihre Leistungen zukünftig direkt mit der ESTV abrechnen können und nicht wie bisher eine Vertreterin oder einen Vertreter bestimmen müssen. Eine Minderheit Marti (sp, BL) sowie Bundesrat Maurer wollten den diesbezüglichen Status quo verteidigen: Diese Vertretenden dienten der Kommunikation mit den Steuerpflichtigen und seien nötig, weil amtliche Dokumente nur im Inland zugestellt werden dürfen. Allerdings folgte der Nationalrat seiner Kommissionsmehrheit.
Ansonsten wurden zwar zahlreiche Minderheitsanträge diskutiert, von denen blieb jedoch der Grossteil erfolglos. So schuf der Nationalrat zum Beispiel wie vom Bundesrat vorgeschlagen die Plattformbesteuerung der Versandhandelsplattformen, wie sie in der Motion Vonlanthen (damals noch cvp, FR; 18.3540) gefordert worden war. Da deren Zahl geringer sei als diejenige der Verkäuferinnen und Verkäufer, könnten die Lieferungen besser zugeordnet und identifiziert werden, erklärte Daniela Schneeberger für die Kommission. Diese Änderung stiess denn auch nicht auf Widerstand. Vier Minderheitsanträge Aeschi verlangten jedoch eine Präzisierung der Regelungen, um eine Ungleichbehandlung der verschiedenen Plattformen sowie der schweizerischen gegenüber den ausländischen Plattformen zu verhindern. Finanzminister Maurer empfahl diese Anträge zur Ablehnung, zumal die vom Bundesrat vorgeschlagene Regelung «sehr komplex» sei und bei Änderungen «vieles aus dem Lot» geraten könne. Die Minderheitsanträge wurden in der Folge verworfen. Ergänzend definierte der Nationalrat auf Antrag seiner Kommission den Begriff «elektronische Plattform».
Ein weiterer umstrittener Aspekt betraf die Besteuerung der Emissionsrechte. Gemäss Kommissionssprecherin Schneeberger hatte das Bundesgericht in einem Urteil entschieden, dass der Emissionshandel zu besteuern sei, um Missbrauch zu verhindern. Daher habe der Bundesrat eine «generelle Bezugsteuerpflicht [unter anderem] bei der Übertragung von Emissionsrechten» geschaffen. Diesem Vorschlag wollte die Kommissionsmehrheit folgen, während eine Minderheit Aeschi den Handel mit CO2-Emissionsrechten von der Mehrwertsteuer ausnehmen wollte: Die CO2-Zertifikate seien Lenkungsabgaben. Da mit diesen kein Mehrwert geschaffen werde, müssten sie auch nicht der Mehrwertsteuer unterstellt werden, argumentierte Thomas Burgherr (svp, AG), der zudem einen weiteren Minderheitsantrag zu dieser Frage stellte. Finanzminister Maurer wehrte sich gegen diese Einschätzung und erachtete den Kauf von Emissionszertifikaten als «klar definierte Leistung». Auch diese Minderheitsanträge fanden im Nationalrat keine Mehrheit.
Diskussionen gab es auch um die zukünftige Möglichkeit für ein Gemeinwesen, «von ihm ausgerichtete Mittel gegenüber dem Empfänger oder der Empfängerin ausdrücklich als Subvention oder anderen öffentlich-rechtlichen Beitrag» zu definieren – sofern die entsprechenden Rahmenbedingungen erfüllt sind. Dies hatte eine Motion der WAK-SR (Mo. 16.3431) gefordert. So stelle sich «immer die Frage, was eine Subvention» sei, betonte der Finanzminister. Dadurch, dass die Gemeinwesen dies zukünftig festlegen könnten, schaffe man in dieser Frage Klarheit. Dies bestritt jedoch eine Minderheit Aeschi, die bezweifelte, dass die ESTV später entsprechende Klassifizierungen akzeptieren werde. Wiederum folgte der Nationalrat der Kommissionsmehrheit.
Diskutiert wurde auch über die Frage, welche Güter zum reduzierten Satz besteuert werden sollen. Der Bundesrat hatte diesbezüglich eine Änderung bei den Artikeln der Monatshygiene beantragt, wie sie in der angenommenen Motion Maire (sp, NE; Mo. 18.4205) verlangt worden war. Eine Minderheit I Schneeberger wollte auf die Schaffung dieser zusätzlichen Ausnahme verzichten, während eine Minderheit II Gigon (gp, VD) sie um Windeln und Einlagen gegen Inkontinenz ergänzen wollte. Beide Anträge blieben erfolglos, der Nationalrat blieb beim bundesrätlichen Vorschlag. Erfolglos blieb überdies auch eine Minderheit Friedli (svp, SG) zur Unterstellung der Beherbergungsleistungen unter den reduzierten Satz anstelle des Sondersatzes.
Insgesamt war in der Beratung lediglich ein Minderheitsantrag erfolgreich, nämlich derjenige von Markus Ritter (mitte, SG) zur Beschränkung des Vorsteuerabzugs auf die vom Vorsteuerabzug berechtigten Tätigkeiten. Heute gebe es beim Erwerb von qualifizierten Beteiligungen einen Vorsteueranspruch «im Rahmen der zum Vorsteuerabzug berechtigten unternehmerischen Tätigkeiten». Auf zusätzlichen anderen Tätigkeiten sei jedoch kein solcher Abzug möglich. Durch einen Änderungsvorschlag der Kommissionsmehrheit entstünde jedoch neu auch auf Letzteren ein Vorsteueranspruch, was nicht gerechtfertigt sei. Mit 105 zu 77 Stimmen (bei 1 Enthaltung) folgte der Nationalrat Ritter in dieser sehr technischen Frage. Die SVP- und die FDP.Liberale-Fraktion hatten die Version der Kommissionsmehrheit bevorzugt.
Stillschweigend hiess die grosse Kammer unter anderem in Übereinstimmung mit einer weiteren Motion Page (Mo. 17.3657) die Ausnahme der für eine Teilnahme an kulturelle Anlässe verlangten Entgelte von der Mehrwertsteuer gut. Unbestritten war auch die Schaffung einer Mithaftung für Mitglieder der geschäftsführenden Organe bei Serien-Konkursen. Auch die jährliche Abrechnungsmöglichkeit für die Mehrwertsteuer stiess im Nationalrat nicht auf Widerstand.
In der Gesamtabstimmung hiess der Nationalrat diese thematisch breite Mehrwertsteuerrevision mit 129 zu 53 Stimmen (bei 1 Enthaltung) gut. Sowohl die ablehnenden Stimmen als auch die Enthaltung stammten von Mitgliedern der SVP-Fraktion. Zudem nahm der Nationalrat auch die Petitionen von Campax mit dem Titel «Bloody unfair - runter mit der Tampon-Steuer!» (Pet. 19.2017) und von der Jugendsession 2017 zur «Überarbeitung der Mehrwertsteuer zu Gunsten der AHV» (Pet. 18.2006) zur Kenntnis.

Revision des Mehrwertsteuergesetzes: Weiterentwicklung der Mehrwertsteuer in einer digitalisierten und globalisierten Wirtschaft (BRG 21.019)
Dossier: Weiterentwicklung der Mehrwertsteuer in einer globalisierten Wirtschaft – Das Bundesratsgeschäft (BRG 21.019) und der Weg dahin

In der Frühjahrssession 2022 debattierte der Nationalrat über die Vorlage seiner SPK-NR, mit der die Handlungsfähigkeit des Parlamentes in Krisensituationen verbessert werden sollte und die zahlreiche entsprechende Vorstösse aufnahm. Kommissionssprecher Gregor Rutz (svp, ZH) erinnerte an die Ursprünge ebendieser Vorstösse: Die Corona-Pandemie habe nicht nur zum abrupten Abbruch einer Session, sondern auch zur Handlungsunfähigkeit des Parlaments geführt. Die Tätigkeit der Kommissionen sei eingeschränkt, die Organisation einer ausserordentliche Session sei schwierig gewesen und das Parlament habe eine gewisse Ohnmacht gegenüber den Notverordnungen des Bundesrats verspürt. Um für zukünftige Krisen gewappnet zu sein, sei eine Subkommission mit der Ausarbeitung einer Vorlage betraut worden. Diese sei sich jedoch einig gewesen, dass die bestehenden rechtlichen Instrumente dem Parlament eigentlich auch in Krisenzeiten genügend Handlungsspielraum verschaffen würden. Allerdings seien die Strukturen teilweise träge und es fehle an Ressourcen. Hier setzte die Vorlage an, die in drei Blöcken behandelt wurde. Der erste Block zielte auf Vereinfachungen der Organisation von Sessionen und Kommissionssitzungen und insbesondere auch auf die Ermöglichung von hybriden Sitzungen ab; der zweite Block sah die Bildung einer schlagkräftigeren Verwaltungskommission anstelle der bisherigen Verwaltungsdelegation vor und im dritten Block waren Vorschläge für effizientere parlamentarische Instrumente vorgesehen. Eintreten war unbestritten.

Konkret schlug die SPK-NR im ersten Block neue Regelungen für die Einberufung von ausserordentlichen Sessionen vor. Bisher konnte ein Viertel der Mitglieder eines Rats oder der Bundesrat solche ausserplanmässigen Sitzungen einberufen. Neu soll dies auch eine parlamentarische Kommission dürfen, wenn sie dringenden Handlungsbedarf sieht. Eine ausserordentliche Session soll darüber hinaus auch verlangt werden können, wenn der Bundesrat Notverordnungen erlässt, die sich direkt auf die Verfassung stützen. In ausserordentlichen Situationen, in denen die physische Präsenz von Parlamentsmitgliedern verunmöglicht wird – gemeint waren neben Pandemien etwa auch Naturkatastrophen in bestimmten Regionen, höhere Gewalt oder behördliche Anordnungen in Form von Quarantäne –, kann die Ratsmehrheit die Möglichkeit einer virtuellen Teilnahme an den Ratsdebatten beschliessen. Explizit ausgeschlossen wurde eine virtuelle Teilnahme während des Normalbetriebs. Vorgeschlagen wurde des Weiteren, dass eine aufgrund einer Krisensituation nötige Änderung des Tagungsortes neu keinen Parlamentsbeschluss mehr benötigt, sondern von einer Koordinationskonferenz bestimmt werden kann. Ebenfalls in Block 1 wurden die Zusammenkünfte der Kommissionen in Krisenzeiten neu geregelt: In dringlichen Fällen soll neu eine ausserordentliche Kommissionssitzung mittels eines Mehrheitsbeschlusses im Zirkularverfahren beschlossen werden können. Eine virtuelle Sitzung soll dann ermöglicht werden, wenn das Kommissionspräsidium und die Kommissionsmehrheit einer solchen zustimmen. Hybride Sitzungen, also die virtuelle Teilnahme einzelner Mitglieder, sind aber nur dann vorzusehen, wenn eine Stellvertretung rechtlich nicht möglich ist.
Die Minderheitenvorschläge gegen einzelne Teile dieser Vorschläge in Block 1 wurden allesamt abgelehnt. So verlangte etwa Pirmin Schwander (svp, SZ) die ausdrückliche Nennung des Parlamentsgebäudes in Bern als normalen Tagungsort, Samira Marti (sp, BL) wollte die Anzahl zur Einberufung einer ausserordentlichen Kommissionssitzung nötiger Personen auf ein Drittel der Kommissionsmitglieder senken und verschiedene Minderheiten wollten die Möglichkeit virtueller Teilnahmen an Kommissionssitzungen entweder ganz streichen (Minderheit Addor, svp, VS) oder ausweiten (Minderheit Cottier, fdp, NE).

Auch im zweiten Block wurden sämtliche Minderheitsanträge abgelehnt. Dass eine neue, eigenständige Verwaltungskommission anstelle der bisherigen Verwaltungsdelegation geschaffen werden soll, war freilich unbestritten. Die Anträge der Minderheiten zielten vielmehr auf deren Zusammensetzung ab. Die bisherige Verwaltungsdelegation setzt sich aus den je sechs Mitgliedern der Ratspräsidien beider Räte zusammen. Neu sollten lediglich noch die beiden Ratspräsidentinnen oder -präsidenten und je vier erfahrene Mitglieder beider Kammern, welche für vier Jahre in die Verwaltungskommission gewählt werden, in der zu schaffenden Kommission Einsitz nehmen. Weil damit auch eine Entflechtung mit den Büros angestrebt wird, sollten Mitglieder des Büros, also vor allem die Fraktionspräsidentinnen und -präsidenten, nicht gleichzeitig in der Verwaltungskommission sitzen dürfen. Eine Minderheit Aeschi (svp, ZG) bekämpfte diesen Passus erfolglos und eine Minderheit Moret (fdp, VD) wollte auch die Vizepräsidentinnen oder -präsidenten der beiden Räte in die Kommission aufnehmen – ebenso ohne Erfolg. Aufgabe der Verwaltungskommission soll auch die Oberaufsicht über die Parlamentsverwaltung sein, konkret also die Bestimmung der Kommissionssekretäre und des Generalsekretärs der Bundesversammlung. Ein Minderheitsantrag Pfister wollte die Wahl der Generalsekretärin oder des Generalsekretärs neu der Bundesversammlung übertragen, was von der Mehrheit aber wohl aus Angst vor einer «Verpolitisierung des Amtes», wie Kommissionssprecher Gregor Rutz (svp, ZH) warnte, ebenfalls abgelehnt wurde.

Der dritte Block zielte auf Effizienzsteigerungen bei der Nutzung parlamentarischer Instrumente ab. Damit von Kommissionen verfasste dringliche Bundesgesetze oder Notverordnungen von der Bundesversammlung rasch behandelt werden könnten, brauche es kürzere Fristen für die Stellungnahme des Bundesrats – so der Vorschlag der SPK-NR. Diese sollen in Krisenzeiten spätestens in der nächsten ordentlichen oder ausserordentlichen Session vorliegen. Neu sollen zudem zwei gleichlautende eingereichte Kommissionsmotionen den Bundesrat im Normalbetrieb dazu verpflichten, bis zur nächsten anstehenden Session eine Stellungnahme zu verfassen. Eine Minderheit Binder-Keller (mitte, AG) und der Bundesrat wehrten sich erfolglos gegen dieses Ansinnen. Da eine Stellungnahme Zeit brauche, würde deren Qualität leiden, wenn sie rasch erfolgen müsse – so die Begründung. Insbesondere im Normalbetrieb sei für eine solche Regelung kein Mehrwert ersichtlich. Darüber hinaus sollten Kommissionsmotionen, die Änderungen von bundesrätlichen Notverordnungen verlangen, innerhalb von sechs Monaten statt wie bisher bei angenommenen Motionen innerhalb von zwei Jahren umgesetzt werden müssen. Weil dies kürzere Fristen nach sich ziehe und damit ein Vernehmlassungsverfahren nicht immer möglich sei, müssten in Krisenzeiten Kantonsregierungen und besonders betroffene Akteure konsultiert werden. Zudem muss der Bundesrat künftig von sich aus die zuständigen parlamentarischen Kommissionen konsultieren, wenn er Notverordnungen erlassen will. Neben der Minderheit Binder-Keller lagen zwei Anträge vor, mit denen eine abstrakte Normenkontrolle für solche Notverordnungen verlangt wurden. Während die Minderheit Glättli (gp, ZH) eine juristische Beurteilung über allfällige Grundrechtsverletzungen von Notverordnungen, die durch das Parlament oder den Bundesrat beschlossen werden, verlangte, sah die Minderheit Addor lediglich eine Kontrolle der bundesrätlichen Notrechtsbeschlüsse vor. Auch in Block 3 folgten komfortable Mehrheiten allen Anträgen der Kommission und lehnten damit auch diese Minderheitsanträge ab.

In der Gesamtabstimmung hiess der Nationalrat den Entwurf mit 183 zu 1 Stimme gut, die entsprechende Verordnung wurde mir 170 zu 1 Stimme (1 Enthaltung) und das Geschäftsreglement des Nationalrats mit 171 zu 1 Stimme (keine Enthaltungen) angenommen. Weil Letzteres lediglich der Zustimmung der grossen Kammer bedurfte, wurde es tags darauf bereits der Schlussabstimmung zugeführt, wo es mit 157 zu 28 Stimmen (5 Enthaltungen) angenommen wurde. Gegenstimmen und Enthaltungen stammten allesamt von Mitgliedern der SVP-Fraktion.

Kontrolle von Notrecht und Handlungsfähigkeit des Parlaments in Krisensituationen verbessern (Pa.Iv. 20.437, Pa.Iv 20.438))
Dossier: Parlament in Krisensituationen

«Plan Wahlen 2.0», voici comment le premier parti de Suisse, l'UDC, souhaite régler la question de l'approvisionnement alimentaire alors que la guerre en Ukraine a des répercussions multiples sur le secteur agricole. En utilisant cette expression – aussi nommée «Aubauschlacht 2.0» outre-Sarine – le parti agrarien vise une augmentation de la production agricole nationale, à l'image de ce qui s'est fait lors de la deuxième guerre mondiale. La situation d'alors avait, entre autres, poussé les autorités à réquisitionner chaque espace à disposition sur le territoire national pour la production de denrées alimentaires; une manière de se prémunir d'une trop forte pénurie due au conflit qui se déroulait de l'autre côté des frontières du pays. Le déclenchement de l'invasion russe en Ukraine a provoqué un débat public clivé sur la situation de l'approvisionnement alimentaire de la Suisse. La réaction de l'UDC et d'une partie du milieu agricole contraste avec celle des milieux écologistes et de l'agriculture biologique. Les solutions proposées également.
Avant d'en venir à ces solutions, rappelons que tant l'Ukraine que la Russie sont deux pays exportateurs nets de certains biens agricoles et que ce conflit amène à des tensions sur le marché international des matières premières. L'Ukraine exporte des céréales, des fourrages et des huiles végétales (colza et tournesol en tête), tandis que la Russie est une productrice importante, entre autres, de blé, d'huile de tournesol et d'engrais azotés; ces derniers étant obtenus par un procédé chimique impliquant du gaz. Dans le courant du mois de mars, la Russie a menacé de bloquer les exportations de ces engrais – dont la Suisse dépend à hauteur de 14 pour cent – ceci afin de faire pression à l'internationale. Bien que la Russie n'ait pas mis ses plans à exécution, les paysan.ne.s en Suisse sont impactés par la hausse des prix des engrais, qui découle de la hausse des cours du gaz, grevant leur budget annuel. Selon l'USP, cela devrait engendrer une hausse des coûts de 10 pour cent pour les exploitations moyennes. Une pénurie de ces engrais ne semble pourtant pas être à l'ordre du jour, la Confédération ayant libéré une partie des stocks obligatoires. A voir quelle sera la situation lors de la prochaine commande.
A côté des engrais, la sécurité de l'approvisionnement en fourrages pour les animaux de rente a également été une question taraudant le monde agricole. Bien que la Suisse n'importe que peu de fourrages de ces deux pays, elle dépend de la production des pays voisins qui s'approvisionnent auprès des deux pays en conflit, menant à une hausse des prix par effet de ricochet. Selon la Confédération, la hausse globale des coûts de production pour les agricultrices et agriculteurs se répercutera en grande partie sur les prix des denrées alimentaires et ne sera pas entièrement portée par le monde rural.
Au-delà des coûts supplémentaires pour les praticien.ne.s de la terre, les autorités suisses se sont, dès le début du conflit, montrées confiantes quant à l'approvisionnement en denrées alimentaires du pays. La Suisse ne dépend pas des céréales ukrainiennes ou russes, étant autonome à 80-90 pour cent à cet égard, contrairement à d'autres régions du monde pour qui cette situation est bien plus sensible (Maghreb et Proche-Orient entre autres). Sur la question des huiles végétales, seuls 10 pour cent de l'huile de tournesol consommée en Suisse provient d'Ukraine, alors que la Confédération ne dépend pas de la production russe, contrairement à la France qui a vu les rayons de ses magasins dévalisés par des citoyen.ne.s inquiets d'une pénurie de cette huile. Les autorités suisses ont toutefois décidé de regarder dans quelle mesure la production indigène d'huile de tournesol pourrait être augmentée à partir de 2023. Quant à l'huile de colza, 3/4 de celle consommée en Suisse est indigène.
La Confédération possède, en plus des stocks obligatoires, un plan d'urgence en cas de pénurie; un plan qui consisterait à augmenter la production végétale au détriment de la production carnée, ce qui impliquerait des changements dans les comportements alimentaires de la population. Christian Hofer, qui dirige l'OFAG, a fait part de ses réflexions au journal alémanique NZZ en mai de cette année, notamment sur la réorientation des cultures de céréales qui sont, à l'heure actuelle, à 60 pour cent dédiées à la production de fourrages. Il faut dire que les stigmates de la guerre en Ukraine ne sont pas près de disparaître, rendant une réflexion sur la production alimentaire nécessaire. C'est du moins l'avis du politologue de l'Université de Berne, Lukas Fesenfeld qui rappelle qu'une partie importante des champs ukrainiens sont minés et qu'il faudra des années pour assurer un déminage complet du pays. La production agricole de l'Ukraine risque d'en être affectée pour un certain temps, ce qui pourrait contribuer à déstabiliser les marchés internationaux (s'ajoutant aux effets de plus en plus perceptibles du changement climatique sur les récoltes). L'une des solutions serait, selon le politologue, de rediriger certaines cultures et de changer nos modes de consommation, à l'image de la proposition émise par le chef de l'OFAG.
Cette position est également défendue par les milieux écologistes pour qui augmenter le taux d'autoapprovisionnement alimentaire en intensifiant les cultures n'est pas tenable, l'agriculture conventionnelle étant entièrement dépendante des importations d'engrais russe et de pesticides, comme pointé par Kilian Baumann (verts, BE). Le député vert, par ailleurs agriculteur bio, estime donc qu'il faut agir sur une augmentation des surfaces bio, sur la consommation de viande et sur le gaspillage alimentaire. Michel Darbellay, membre de la direction de l'USP, s'est dit ouvert à une réduction de la consommation de viande, pour autant que cela ne se fasse pas au détriment de la viande suisse et en laissant la responsabilité d'agir aux mains des consommateurs.trices. L'UDC a déposé une série de motions tant au Conseil des Etats qu'au Conseil national pour s'attaquer à l'écologisation de l'agriculture telle que prévue par le Conseil fédéral, dénonçant une réduction automatique de l'autoapprovisionnement alimentaire en cas de mise en œuvre de ces plans. Mais certain.e.s élu.e.s du parti agrarien veulent aller plus loin: deux de ses membres – Esther Friedli (udc, SG) et Marcel Dettling (udc, SZ) – ont prévu le lancement d'une initiative pour fixer dans la Constitution un taux d'autoapprovisionnement net de 60 pour cent. Celui-ci atteint aujourd'hui 49 pour cent.

La guerre en Ukraine et ses conséquences sur l'agriculture et l'approvisionnement en Suisse
Dossier: Die Frage der Selbstversorgung mit Lebensmitteln taucht vor dem Hintergrund der Krise wieder auf (2022)
Dossier: Covid-19-Krise und Ukrainekrieg: Anpassung der wirtschaftlichen Landesversorgung

Kurz nach Ausbruch der Covid-19-Pandemie machten sich der Bundesrat sowie die Parlamentarierinnen und Parlamentarier Gedanken, wie die besonders stark von der Pandemie betroffenen Unternehmen gestärkt werden könnten. Um die vom Bundesrat im Rahmen der Corona-Pandemie geschlossenen Betriebe zu entlasten, verlangte Esther Friedli (svp, SG) im Mai 2020 in einer Motion einen zwölfmonatigen Mehrwertsteuererlass oder eine Mehrwertsteuerreduktion für die betroffenen Betriebe. Auch nach dem Ende der Schliessungen hätten die Unternehmen weiterhin grösseren Aufwand – etwa durch Schutzkonzepte – bei geringerem Umsatz. Durch den Verzicht auf oder die Reduktion der Mehrwertsteuer hätten sie mehr Liquidität, wodurch auch Arbeitsplätze erhalten werden könnten. Ein solcher Erlass bedürfte einer rückwirkenden Gesetzesänderung, was «verfassungsrechtlich problematisch» sei, gab der Bundesrat zu bedenken. Zudem würden nicht alle Unternehmen gleichermassen von einer solchen Regelung profitieren – Unterschiede gebe es etwa zwischen geschlossenen und anderweitig von der Pandemie betroffenen Unternehmen, zwischen mehrwertsteuerpflichtigen und nicht mehrwertsteuerpflichtigen Unternehmen oder zwischen Unternehmen mit Leistungen zum Normalsatz und solchen mit Leistungen zum reduzierten Satz oder zum Sondersatz für Beherbergungsleistungen. Zudem müsste der Vorsteuerabzug trotzdem ausbezahlt werden. Schliesslich würden sich die daraus entstehenden Kosten in Milliardenhöhe aufgrund der Zweckbindung der Mehrwertsteuer etwa auch auf die AHV und auf den BIF auswirken. In der Frühjahrssession 2022 zog Friedli ihre Motion ohne Begründung zurück.

Mehrwertsteuererlass oder Mehrwertsteuerreduktion für vom Bundesrat geschlossene Betriebe (Mo. 20.3393)
Dossier: Covid-19 – Massnahmen zur Abfederung der wirtschaftlichen Folgen

Anfang März 2022 legte der Bundesrat seine Botschaft zum Bundesgesetz über den Einsatz elektronischer Mittel zur Erfüllung von Behördenaufgaben (EMBAG) vor. Das neue Gesetz soll Grundlage sein für eine moderne Digitalisierung in der Bundesverwaltung sowie für digitale Interaktionen zwischen Behörden verschiedener Stufen und Dritten. Angestrebt werden sollen elektronisch abrufbare Behördenleistungen und eine Verbesserung von Verwaltungsprozessen mit Hilfe von neuen Technologien nach dem Prinzip «digital first», also prioritär via digitale Kanäle. Ziel soll zudem eine möglichst stringente Koordination zwischen Bund und Kantonen sein. Das EMBAG soll zudem E-Government-Elemente regeln, so etwa die Nutzung von Open Source Software und Open Government Data. In die Vorlage flossen unter anderem zwei parlamentarische Vorstösse ein: Ein Postulat Glättli (gp, ZH; Po. 14.4275), das die Freigabe von Open Source Software angeregt hatte, sowie eine Motion Graf-Litscher (sp, TG; Mo. 19.3160), die eine Regelung für die Publikation und Nutzung nichtpersonenbezogener Daten und Dienste der Bundesverwaltung gefordert hatte.

Bundesgesetz über den Einsatz elektronischer Mittel zur Erfüllung von Behördenaufgaben (BRG 22.022)
Dossier: Bundesgesetz über den Einsatz elektronischer Mittel zur Erfüllung von Behördenaufgaben (EMBAG)

Mitte Juni 2021 hatte Grünen-Präsident Balthasar Glättli (gp, ZH) im Nationalrat ein Postulat eingereicht, mit welchem er den Bundesrat beauftragen wollte, zu prüfen, mit welchen Massnahmen der Klimaschutz im Gebäudebereich rascher vorangetrieben werden könnte. Insbesondere solle sich der Bericht auf die Unterschiede in der Treibhausgaseffizienz zwischen Sanierungen und Ersatzneubauten fokussieren. Glättli begründete seinen Vorstoss damit, dass aus einem Grundlagenbericht der Stadt Zürich hervorgehe, dass Gebäudesanierungen, die zu einer starken Verminderung des Wärmebedarfs führen, was wiederum häufig eine Umstellung auf eine Wärmepumpe respektive Fernwärme erlaube, treibhausgaseffizienter seien als ein Abriss und Neubau von Gebäuden. Zudem führte der Postulant aus, dass Ersatzneubauten zu mehr Problemen für Mieterinnen und Mietern führten, da oft der gesamten Mieterschaft gekündigt werde und danach höhere Mietpreise verlangt würden, wodurch bezahlbarer Wohnraum verloren ginge. Glättli kritisierte, dass der Bund mit seiner Energiepolitik den Ersatzneubau von Gebäuden fördere. Der Bundesrat solle deshalb in einem Bericht Sanierungen und Ersatzneubauten vergleichen und danach seinen bisherigen Massnahmenkatalog mit dem Ziel überprüfen, Sanierungen gegenüber Ersatzneubauten zu fördern.
Das Postulat wurde im Nationalrat von Matthias Samuel Jauslin (fdp, AG) bekämpft. Dieser argumentierte in der Debatte, dass es den Bericht des Bundesrates nicht brauche. Es sei nicht am Bund zu entscheiden, wann eine Sanierung und wann ein Neubau angebracht sei. Man müsse das im Einzelfall anschauen und Sanierungen seien nicht immer besser als Neubauten. Auch seien die Ausgangslagen in verschiedenen Regionen und Siedlungstypen unterschiedlich. Weiter befürchtete Jauslin einen Kompetenzverlust der Kantone und ihrer Gebäudeprogramme. Nicht zuletzt subventioniere der Bund ja nur Ersatzneubauten, wenn diese Vorgaben zur Energieeffizienz einhielten, weshalb diese Subventionen durchaus sinnvoll seien.
Der Bundesrat, vertreten durch die UVEK-Vorsteherin Simonetta Sommaruga, empfahl das Postulat zur Annahme. Sommaruga gab zu Protokoll, der Bundesrat erachte es als sinnvoll, eine solche Auslegeordnung vorzunehmen. Sie betonte zudem, der Bundesrat werde in dem Bericht nicht pauschalisierend eine Empfehlung für die eine oder andere Option abgeben und er plane auch nicht, sich in die Gebäudeprogramme der Kantone einzumischen. Entgegen des bundesrätlichen Antrags lehnte die grosse Kammer das Postulat aber mit 105 zu 83 Stimmen ab. Neben den geschlossen stimmenden Fraktionen der FDP und der SVP stimmte auch fast die gesamte Mitte-Fraktion gegen das Postulat.

Ein Profit für Mieter und Mieterinnen und die Umwelt. Sanierungen statt Ersatzneubauten (Po. 21.3759)

Bereits im Vorjahr waren die Meinungen über die Leistungen der Landesregierung während der Covid-19-Pandemie auseinandergegangen. Die Kritik am Bundesrat nahm im Covid-19-Jahr 2021 aber noch einmal merklich zu. Besondere Aufmerksamkeit erhielt dabei Alain Berset. Insbesondere die SVP übte via Medien Kritik am Gesundheitsminister und forderte Mitte Januar 2021, dem SP-Magistraten solle das Gesundheitsdossier entzogen werden, weil er versagt habe. Christoph Blocher bezeichnete Berset gar als «Diktator». Obwohl der amtierende Bundespräsident und SVP-Bundesrat Guy Parmelin daran erinnerte, dass es sich bei der Regierung um «ein Team» handle, und die Kollegialität betonte und der zweite SVP-Bundesrat Ueli Maurer darauf hinwies, dass es niemandem diene, wenn die Bunderatsmitglieder gegeneinander ausgespielt würden – Aussagen, die etwa vom Tages-Anzeiger als Zeichen eines Zusammenschweissens der Landesregierung und von La Liberté als «grand moment d'unité» bezeichnet wurden –, gingen die Angriffe auf einzelne Regierungsmitglieder weiter. So urteilte etwa die Weltwoche, dass Alain Berset «beide Pandemiewellen verschlampt und wirtschaftlich einen Schlamassel angerichtet» habe, von den Medien aber als Held gefeiert werde. Die SVP forderte derweil die Einführung eines Impeachmentverfahrens in der Schweiz, mit dem Regierungsmitglieder abgewählt werden könnten. Die Macht des Bundesrats, der die Diktatur eingeführt habe, müsse gebrochen werden, gab auch SVP-Präsident Marco Chiesa (svp, TI) in Interviews zu Protokoll. Und wiederum die Weltwoche wähnte sich ob des von ihr festgestellten gegenseitigen Misstrauens in der Regierung, in der Anträge von rechts auf eine links-bürgerliche Blockade stossen würden, «wie in einem kalten Krieg». Es brauche deshalb «sieben neue Bundesräte».

Aber auch der Gesamtbundesrat wurde kritisiert. Es brauche ein «deutlich rascheres und entschlosseneres Vorgehen» gegen die Pandemie, forderte etwa die NZZ Mitte Januar 2021. Der Bundesrat müsse seinen Verfassungsspielraum konsequenter ausnutzen und dürfe «entgegen den helvetischen Gepflogenheiten» nicht den langwierigen Mittelweg gehen, bei dem alle Kritikerinnen und Kritiker angehört und integriert würden. Ende Februar ärgerte sich die gleiche Zeitung dann allerdings über die «magistrale Sturheit», die Restaurant-Terrassen noch nicht wieder öffnen zu wollen. Dass die Regierung dem «Druck zur schnelleren Öffnung nicht nachgegeben» habe, sei zwar «hart für die Betroffenen – aber leider richtig», beurteilte denselben Umstand freilich der Tages-Anzeiger und attestierte dem Bundesrat «Rückgrat».

Schriller war die Kritik von Covid-19-Massnahmengegnerinnen und -gegnern an der Regierung. So wusste etwa der Tages-Anzeiger zu berichten, dass der stellvertretenden Armeechef Aldo C. Schellenberg Briefe erhalten habe, die ihn aufforderten, für den Bundesrat ein Kriegsgericht einzurichten. Ende Februar leitete die Bundesanwaltschaft gleich fünf Verfahren wegen Bedrohungen einzelner Magistratspersonen via soziale Medien ein. Bei einem Auftritt in der politischen Diskussionssendung «Arena» im Sommer 2021 erhielt Alain Berset Polizeischutz und auch das Fedpol ergriff zunehmend Schutzmassnahmen wegen massiver Drohungen gegen Bundesrätinnen und Bundesräte.

Immer wieder kritisierten die Medien zudem die Informationspolitik der Regierung. Auf der einen Seite wurden die Indiskretionen gerügt, die verhindert hätten, dass der Bundesrat Entscheidungen über Covid-19-Massnahmen wenigstens so lange habe geheimhalten können, bis sie mit den Kantonen abgesprochen worden seien. Auf der anderen Seite wurde vermutet, dass jene Medien beneidet werden, die mit ebendiesen Indiskretionen versorgt wurden und diese medial ausschlachteten. Die Weltwoche sprach etwa von der «Berset-Verschwörung». Dank «Schützenhilfe von den Medien» könne er die von ihm vorgesehenen Covid-19-Massnahmen stets durchsetzen.

Für einige Diskussionen sorgte auch die Zusammenarbeit zwischen Bundesrat und Wissenschaft. Noch im Januar warfen die Medien der aus Wissenschafterinnen und Wissenschaftern unterschiedlicher Disziplinen zusammengesetzten Task Force vor, selber Politik machen zu wollen. Im Februar wendete sich das Blatt, nachdem bekannt geworden war, dass ebendiese Task Force im Sommer 2020 vor einer zweiten Welle gewarnt hatte, die Behörden diese Warnung allerdings in den Wind geschlagen und wichtige Massnahmen zu früh aufgehoben hätten. Die NZZ kam dabei etwa zum Schluss, dass die Wissenschaft «zu lange ignoriert» worden sei.

Die Kritik flaute parallel mit den abnehmenden Fallzahlen ab dem Frühjahr 2021 dann merklich ab. Zwar wiederholte die Weltwoche noch lange Zeit ihre Kritik an Alain Berset («Captain Long Covid», «Impfdebakel heisst Alain Berset», «Stricken an der eigenen Legende»), bei den restlichen Medien geriet die Regierung allerdings bald aus der Schusslinie.

In die Schlagzeilen geriet Mitte September freilich Ueli Maurer, weil er als «Freiheitstrychler» posierte. An einem SVP-Lokalanlass hatte sich der Finanzminister ein T-Shirt der Covid-19-Massnahmengegnerinnen und -gegner übergestreift und sich fotografieren lassen. Das Bild verbreitete sich via soziale Medien und wurde auf der einen Seite als «Bruch der Kollegialität» (Tages-Anzeiger), ja gar als Versuch, das Land zu spalten (Balthasar Glättli, gp, ZH im Blick) kritisiert, auf der anderen Seite als freie Meinungsäusserung (Thomas Matter, svp, ZH im Tages-Anzeiger) oder auch als Zeichen, dass «vielen Unzufriedenen im Land zumindest inoffiziell magistrales Verständnis» entgegengebracht werde (NZZ), verteidigt. Maurer selber gab in der Aargauer Zeitung zu Protokoll, dass er gar nicht gewusst habe, in «welchen Zusammenhang dieses Leibchen offenbar gebracht wird». Ähnlich wie die SVP im Frühjahr Alain Berset angegriffen hatte, nutzte die SP die T-Shirt-Affäre für Kritik an Ueli Maurer und stellte in der parlamentarischen Fragestunde nicht weniger als neun Fragen zu Maurers von der SP als «Bedrohung der Regierungskollegialität» bezeichneten Aktion. Bundespräsident Guy Parmelin beantwortete alle neun Fragen gleichzeitig, indem er auch bei den Angriffen von links auf das Kollegialitätsprinzip verwies: «Le Conseil fédéral ne commente pas les propos que l'un de ses membres a ou aurait prononcés en public».

Kritik am Bundesrat wegen Covid-Politik 2021

Die grosse Kammer befasste sich in der Wintersession 2021 mit einer parlamentarischen Initiative der Grünen, welche forderte, dass ab 2023 nur noch Personenwagen und leichte Nutzfahrzeuge ohne fossilen Antrieb neu zugelassen werden dürfen. Balthasar Glättli (gp, ZH) wies darauf hin, dass sich die Bundesversammlung verpflichtet habe, die Klimaziele von Paris einzuhalten. Nach der Ablehnung des CO2-Gesetzes an der Urne seien nun alternative Wege umso wichtiger, um den Klimawandel zu bekämpfen. Für den Verkehrsbereich stelle die vorliegende Initiative eine solche Alternative dar. Die Mehrheit der vorberatenden KVF-NR war jedoch anderer Ansicht, wie Kommissionssprecher Matthias Bregy (mitte, VS) erläuterte. Bregy argumentierte, dass die Initiative unrealistisch und unsozial sei: Zum einen sei der Zeithorizont von 2023 nicht zu erreichen, da bis in einem Jahr gar nicht genügend Autos mit alternativen Antrieben zum Verkauf angeboten werden könnten. Zum anderen würde diese geplante Verknappung des Angebots zu höheren Preisen führen, wodurch die Fahrzeuge nicht mehr für alle Personen erschwinglich wären. Der Nationalrat folgte den Argumenten der Kommissionsmehrheit und gab der Initiative mit 115 zu 67 Stimmen bei 2 Enthaltungen keine Folge. Die Initiative ist damit erledigt.

Ab 2023 nur noch Personenwagen und leichte Nutzfahrzeuge ohne fossilen Antrieb neu zulassen (Pa. Iv. 21.425)

Im September 2020 reichte die Fraktion der Grünen eine parlamentarische Initiative ein, mit welcher ein durch ein Losverfahren bestimmter Klimarat geschaffen werden soll. Dieser Klimarat würde aus 200 rein zufällig ausgelosten Personen bestehen, womit die Geschlechter, Altersgruppen, Sprachregionen und weitere Kriterien adäquat abgebildet werden sollten. Um in der aktuellen globalen Klimakrise für mehr Klimaschutz und -gerechtigkeit zu sorgen, soll der Rat politische Rechte ausüben können. So soll er beispielsweise Motionen zu Handen des Parlaments einreichen und mit einer Zweidrittelmehrheit Volksinitiativen vorschlagen können, welche analog einer zustande gekommenen Volksinitiative zur Abstimmung gelangen würden.
Die SPK-NR prüfte die Initiative im Oktober 2021 und gab ihr keine Folge. Es bestünden keine guten Gründe, ein solches Gremium zu schaffen, argumentierte die Kommissionsmehrheit. Zum einen würde dieser Rat das Parlament schwächen. Zum anderen wäre er demokratisch nur ungenügend legitimiert. Insbesondere deshalb wäre es sehr problematisch, wenn «dieser befugt sein soll, Volk und Ständen Verfassungsänderungen zu unterbreiten, wie dies auch 100'000 Bürgerinnen und Bürger tun können». Ausserdem bestünden für die Bevölkerung bereits genügend direktdemokratische Instrumente, um im politischen Prozess mitzuwirken.
Die grosse Kammer behandelte das Geschäft in der Wintersession 2021. Nachdem die beiden Mitglieder der Grünen Partei, Balthasar Glättli (gp, ZH) und Greta Gysin (gp, TI), sowie die beiden Kommissionssprechenden, Damien Cottier (fdp, NE) und Marianne Binder-Keller (mitte, AG), ihre schon aus dem Kommissionsbericht bekannten Argumente noch einmal vorgelegt hatten, schritt die grosse Kammer zur Abstimmung. Der Nationalrat folgte seiner Kommission und gab der Initiative mit 136 zu 33 Stimmen bei 19 Enthaltungen keine Folge. Das Anliegen vermochte nebst den Grünen nur vereinzelte Mitglieder der SP-Fraktion zu überzeugen.

Als Antwort auf die Klimakrise die Demokratie erweitern: Einen durchs Los bestimmten Klimarat schaffen (Pa. Iv. 20.467)