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  • Funiciello, Tamara (sp/ps, BE) NR/CN
  • Geissbühler, Andrea Martina (svp/udc, BE) NR/CN

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Die Diskussionen um das Thema «Frauen im Bundesrat» begannen bereits fünf Tage nach dem Rücktritt von Ueli Maurer und begleiteten die ganzen Bundesratswahlen 2022. Die NZZ titelte zu Beginn, dass die SVP «auffällig viele Bundesratskandidatinnen» habe und «plötzlich Frauenpartei» sei. Auch wenn Magdalena Martullo-Blocher (svp, GR) und Diana Gutjahr (svp, TG) bereits abgesagt hätten, hätten die Medien mit Esther Friedli (svp, SG), Natalie Rickli (svp, ZH), Monika Rüegger (svp, OW) und Cornelia Stamm Hurter (SH, svp) «für eine Partei ohne Frauenförderungsprogramm [...] erstaunlich viele valable Kandidatinnen» ausgemacht. Nachdem bis auf die Nidwalder Regierungsrätin Michèle Blöchliger (NW, svp) alle Kandidatinnen abgesagt hatten, drehte jedoch der Wind in der Berichterstattung: Der SVP mangle es an Frauen, titelte etwa 24Heures. Sie bleibe «le parti des hommes», schrieb Le Temps, wofür sie die lediglich knapp 20 Prozent gewählten SVP-Frauen im nationalen Parlament, aber auch das Verhalten der Männer in der Partei als Belege ins Feld führte. Ueli Maurer habe 2014 Frauen beispielsweise als «Gebrauchtgegenstände im Haushalt» bezeichnet. Entsprechend habe Michèle Blöchliger gegen die männlichen SVP-Schwergewichte auch keine Chance. Der Tages-Anzeiger erinnerte daran, dass die SVP in Geschlechterfragen bereits einmal weiter gewesen sei: Im Jahr 2000 habe sie Rita Fuhrer als Bundesratskandidatin vorgeschlagen, das Parlament habe damals jedoch Samuel Schmid gewählt. Die Sonntagszeitung sprach ob der vielen Absagen hingegen von einer «Partei der Feiglinginnen».
Zwar forderten nicht wenige Exponentinnen und Exponenten der SVP – etwa Toni Brunner (svp, SG), der der Findungskommission angehörte, Nationalrätin Céline Amaudruz (svp, GE) oder gar Christoph Blocher –, dass die Partei dem Parlament eine Kandidatin und einen Kandidaten zur Auswahl präsentiere. Letztlich war die einzige Frau unter den offiziell Kandidierenden allerdings chancenlos: In der Fraktion sprachen sich nur 4 (von 51) Mitgliedern für die Nidwaldner Kandidatin Blöchlinger aus.

Nicht nur die Gleichstellung von Frauen und Männern, auch die Genderdebatte erhielt im Zusammenhang mit den Wahlen einige mediale Aufmerksamkeit. So sorgte eine im Rahmen seiner Rücktrittsankündigung gemachte Aussage von Ueli Maurer für Kritik, wonach es keine Rolle spiele, ob eine Frau oder ein Mann seine Nachfolge übernehmen werde – «solange es kein ‹Es› ist, geht es ja noch». Das Transgender-Netzwerk forderte vom scheidenden Bundesrat eine Entschuldigung und Kim de l’Horizon, die genderfluide, nichtbinäre Person, die mit ihrem Debütroman 2022 mit dem Schweizer und dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet worden war, fragte in einem NZZ-Feuilletonbeitrag, was so schlimm am Körper von Kim de l'Horizon sei, dass ihn Ueli Maurer von politischer Führung ausschliessen wolle. Kim de l'Horizon lade den noch amtierenden Bundesrat auf ein Bier ein, damit dieser ein «Es» kennenlernen könne.

Diese Debatten waren jedoch in der Folge auch deshalb nur noch Randthema, weil die Gleichstellungsdiskussion kurz nach dem Rücktritt von Simonetta Sommaruga auf die SP übersprangen, nachdem die Parteileitung bekannt gegeben hatte, dass die SP auf ein reines Frauenticket setzen werde. Es sei «logisch», dass die SP nur Frauen aufstelle, weil sie mit Alain Berset bereits einen Mann in der Regierung habe, war zwar zuerst der allgemeine mediale Tenor gewesen. Auch nachdem Daniel Jositsch (sp, ZH), der selber Ambitionen auf den Sitz in der Bundesregierung hegte, diese Entscheidung kritisiert und eine eigene Kandidatur in den Raum gestellt hatte, war im linken Lager unbestritten, dass nur eine Frau als Nachfolgerin von Simonetta Sommaruga in Frage kommen würde – auch wenn dieser Entscheid auch von einigen SP-Frauen kritisiert wurde. Einige Kritik wurde jedoch auch aus dem bürgerlichen Lager laut.

Für mehr mediale Aufmerksamkeit sorgte hingegen die von Tamara Funiciello (sp, ZH) lancierte Überlegung, dass es im Bundesrat mehr junge Mütter mit schulpflichtigen Kindern brauche, damit die Gleichstellung und die Diskussion um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie Fortschritte machten. Im Sonntagsblick wurde vermutet, dass junge Mütter wohl bei einer Wahl stärker in der Kritik stehen und wahlweise als schlechte Mutter oder schlechte Bundesrätin gelten würden. Mit Elisabeth Kopp, Micheline Calmy-Rey und Eveline Widmer-Schlumpf seien zwar bereits Mütter in der Landesregierung gewesen, nur die Tochter von Elisabeth Kopp sei damals allerdings im schulpflichtigen Alter gewesen, berichtete der Tages-Anzeiger. Karin Keller-Sutter habe vor einigen Jahren gar gesagt, dass ihre politische Karriere mit Kindern nicht möglich gewesen wäre. In anderen Ländern sei es hingegen Realität, dass junge Frauen mit Kindern Regierungsverantwortung übernähmen. Natürlich sei es in der Schweiz unüblich, dass jemand zwischen 30 und 40 Bundesrätin werde, dennoch sei es nie jemandem in den Sinn gekommen, bei Alain Berset in der entsprechenden Situation nach Vereinbarkeit von Amt und Familie zu fragen, so der Tages-Anzeiger. Freilich habe es auch schon Männer gegeben, die aus familiären Gründen auf einen Bundesratsposten verzichtet hätten, aktuell etwa Marcel Dettling (svp, SZ) bei der Nachfolge von Ueli Maurer. Die NZZ meinte hingegen, dass die Frage nicht sei, ob die Schweiz dafür bereit sei, sondern ob junge Schweizer Mütter sich überhaupt zur Verfügung stellen würden.
Vor allem bei der Kandidatur von Evi Allemann (BE, sp) war das Thema «junge Mütter im Bundesrat» Gegenstand jedes Interviews mit der Bernerin. Es sei «vielleicht eine neue Selbstverständlichkeit», dass junge Frauen, die vor 20 Jahren gewählt worden seien, dank ihrer Erfahrung mehr Verantwortung übernehmen wollten, mutmasste Evi Allemann in einem dieser Interviews. Ihre Arbeit im Regierungsrat des Kantons Bern zeige, dass es sehr wohl möglich sei, Kinder zu haben und ein Regierungsamt zu bekleiden, gab sie dabei zu Protokoll.

Dass Politikerinnen auch medial anders beurteilt werden als Politiker, zeigte dann auch die Kandidatur von Eva Herzog (sp, BS). Nicht ihre Mutterschaft, sondern ihr Alter war häufig Gegenstand der Berichterstattung: «Es ist halt immer das Gleiche. Zuerst sind die Frauen zu jung und unerfahren, dann haben sie Kinder und es geht nicht, und am Schluss sind sie zu alt», kritisierte die Basler Ständerätin die entsprechenden Diskussionen. Beim SVP-Kandidaten Heinz Tännler (ZG, svp), der 62 Jahre alt sei, rede niemand über das Alter. Letztlich gehe es im Bundesrat aber weder um Geschlecht, Familie oder Alter, sondern um Dossierkenntnisse, so Eva Herzog.
Interessanterweise wurde das Thema Vereinbarkeit von Amt und Familie in der Deutschschweizer Presse wesentlich virulenter diskutiert als in der Westschweizer Presse. Als möglichen Grund erachtete Min Li Marti (sp, ZH) in einem Interview mit der NZZ, dass die Vorstellung, dass Familie Privatsache sei und eine Frau, die sich nicht den Kindern widme, eine Rabenmutter sei, in der Deutschschweiz viel stärker verbreitet sei als in der Romandie.

Als positiv wurde es hingegen vielfach erachtet, dass die Diskussion um Frauenvertretung im Bundesrat heute wesentlich wichtiger sei als noch vor ein paar Jahren. Dass die Vertretung von Frauen in der Politik heute viel stärker als Selbstverständlichkeit betrachtet werde, sei ein grosser Fortschritt, urteilte etwa der Tages-Anzeiger. Vielleicht würden künftig andere Kriterien wichtiger. In der Tat gab es im Vorfeld der Ersatzwahlen etwa auch Forderungen für eine bessere Repräsentation hinsichtlich Ausbildung und von «Nicht-Studierten» im Bundesrat. Im Zusammenhang mit möglichen Wahlkriterien wurde zudem oft darauf hingewiesen, dass die früher bedeutende Konfessionszugehörigkeit heute überhaupt keine Rolle mehr spiele.

Mehrfach Grund für Kritik lieferte schliesslich die mediale Berichterstattung zu den Wahlen selbst. So spielten bei der Analyse der Gründe für die Wahl Albert Röstis und Elisabeth Baume-Schneiders in den meisten Deutschschweizer Medien Geschlechterdiskussionen eine relevante Rolle. Hervorgehoben wurde vor allem die im Vergleich zu Eva Herzog sympathischere Art der Jurassierin. Die NZZ beispielsweise kritisierte, dass die «sich zugänglicher und mütterlicher» präsentierende Elisabeth Baume-Schneider die «pragmatisch, kompetent und maximal unabhängig» und «überdurchschnittlich starke Kandidatin» Eva Herzog habe übertrumpfen können. Dies habe einen «schale[n] Nachgeschmack». Bei den beiden SVP-Kandidaten waren solche Attribute kaum zu finden. Zwar wurde anders als noch bei früheren Bundesrätinnenwahlen kaum über Frisur oder Kleidung geschrieben, trotzdem war auffällig, dass nur bei den Frauen ein «sympathisches und mütterliches» Auftreten als möglicher Wahlgrund aufgeführt wurde, nicht aber bei den beiden Männern. Albert Rösti wurde weder als «väterlich» noch als «zugänglich» beschrieben. Er sei zwar «ein fröhlicher Mensch», so die NZZ, er habe aber eine «andere Eigenschaft, die ihn für den harten Job eines Bundesrats empfiehlt: Er ist zäh».

Umgekehrt wurde insbesondere von verschiedenen Frauen mehrfach kritisiert, dass einmal mehr, wie bereits bei der Wahl von Ruth Metzler 1999, nicht die kompetentere, sondern die «Frohnatur», wie es die NZZ ausdrückte, gewonnen habe. «Starke Frauen» hätten es demnach schwer, von den Männern gewählt zu werden, lautete die Kritik. Hingegen verwies die NZZ darauf, dass auch bei den Männern nicht selten der «Gmögigere» gewinne.

Gleichstellungsdiskussionen im Rahmen der Bundesratswahlen 2022

Der Nationalrat beugte sich in der Wintersession 2022 als Zweitrat über die Revision des Sexualstrafrechts. Wie bereits in der Ständekammer wurde das Ziel des Revisionsprojekts, das in die Jahre gekommene Sexualstrafrecht an die veränderten gesellschaftlichen Wertvorstellungen anzupassen, auch im Nationalrat allseits begrüsst. Eintreten war somit unbestritten.

Die Debatte um den umstrittensten Punkt der Vorlage, die Modellwahl zwischen «Nur Ja heisst Ja» und «Nein heisst Nein», fand in der grossen Kammer im Vergleich zum Ständerat unter umgekehrten Vorzeichen statt: Während sich in der Kantonskammer eine Minderheit der Kommission erfolglos für die Zustimmungslösung ausgesprochen hatte, beantragte im Nationalrat die Mehrheit der vorberatenden Rechtskommission die Verankerung des «Nur-Ja-heisst-Ja»-Prinzips im Strafgesetzbuch. Gemäss Kommissionssprecherin Patricia von Falkenstein (ldp, BS) wolle man damit klar zum Ausdruck bringen, «dass einvernehmliche sexuelle Handlungen im Grundsatz immer auf der Einwilligung der daran beteiligten Personen beruhen sollen» und «dass Geschlechtsverkehr ohne Einwilligung als Vergewaltigung betrachtet wird». Mit der Zustimmungslösung solle bei der Aufklärung von Sexualdelikten zudem mehr das Verhalten des Täters oder der Täterin in den Fokus rücken, und nicht die Frage, ob und wie sich das Opfer gewehrt habe. Letzteres solle sich nicht schuldig fühlen, wenn es nicht in ausreichendem Mass Widerstand geleistet habe. Demgegenüber fordere die «Nein heisst Nein»-Lösung vom Opfer weiterhin einen zumutbaren Widerstand. Bundesrätin Karin Keller-Sutter argumentierte hingegen, dass das Widerspruchsprinzip klarer sei. Jemand könne auch aus Angst oder Unsicherheit Ja sagen, ohne dies tatsächlich zu wollen, wohingegen ein explizites oder stillschweigendes Nein – etwa eine ablehnende Geste oder Weinen – nicht als Zustimmung missverstanden werden könne. Über ein geäussertes Nein könne das Opfer im Strafverfahren allenfalls aussagen, über ein fehlendes Ja jedoch nicht, denn einen Negativbeweis gebe es nicht, ergänzte Philipp Matthias Bregy (mitte, VS), der mit seiner Minderheit ebenfalls für «Nein heisst Nein» eintrat. Wie schon im Ständerat herrschte derweil auch im Nationalrat weitgehende Einigkeit, dass der Unterschied zwischen den beiden Varianten juristisch gesehen «verschwindend klein» sei, wie es Tamara Funiciello (sp, BE) ausdrückte, und es vor allem um Signale gehe. Während die Advokatinnen und Advokaten der Zustimmungslösung darin eine gesellschaftliche Haltung sahen, die die sexuelle Selbstbestimmung betone, erachteten die Befürworterinnen und Befürworter der Widerspruchslösung das Strafrecht nicht als den richtigen Ort für Symbolik – so fasste Christa Markwalder (fdp, BE) die Positionen in ihrer gespaltenen Fraktion zusammen. Als eine Art Mittelweg bewarb eine Minderheit Nidegger (svp, GE) unterdessen die im Ständerat gescheiterte Umformulierung des Widerspruchsprinzips. Diese wollte durch die explizite Nennung von verbaler und nonverbaler Ablehnung die Fälle von sogenanntem Freezing – wenn das Opfer in einen Schockzustand gerät und dadurch widerstandsunfähig ist – besser abdecken. Bundesrätin Karin Keller-Sutter betonte indes, auch mit der Widerspruchslösung seien Freezing-Fälle abgedeckt und die Minderheit Nidegger bringe somit keinen Mehrwert. Die Minderheit Nidegger unterlag der «Nein-heisst-Nein»-Lösung wie vom Bundesrat vorgeschlagen denn auch deutlich mit 118 zu 64 Stimmen bei 8 Enthaltungen. Ebenso chancenlos blieb die Minderheit Reimann (svp, SG), die statt dem vorgesehenen Kaskadenprinzip in Art. 189 und 190 StGB – einer Definition des Grundtatbestands ohne Nötigung (Abs. 1), wobei Nötigung sowie Grausamkeit als zusätzliche Erschwernisse in den Absätzen 2 und 3 aufgeführt werden – einen eigenen Tatbestand für Verletzungen der sexuellen Integrität ohne Nötigung schaffen wollte, sodass das Nötigungselement in den Tatbeständen der sexuellen Nötigung und der Vergewaltigung erhalten bliebe. Dieses Konzept war allerdings bereits in der Vernehmlassung harsch kritisiert worden. «Nur Ja heisst Ja» setzte sich schliesslich mit 99 zu 88 Stimmen bei 3 Enthaltungen gegen «Nein heisst Nein» durch. Zum Durchbruch verhalfen der Zustimmungslösung neben den geschlossen dafür stimmenden Fraktionen der SP, der Grünen und der GLP Minderheiten aus der FDP- und der Mitte-Fraktion sowie SVP-Nationalrätin Céline Amaudruz (svp, GE).

Neben der Modellwahl diskutierte die grosse Kammer auch die Strafrahmen ausführlich. Hier hielt sie sich mit einer Ausnahme überall an die Vorschläge ihrer Kommissionsmehrheit und lehnte zahlreiche Minderheitsanträge aus den Reihen der SVP- und der Mitte-Fraktion ab, die schärfere Strafen forderten. Härtere Sanktionen seien ursprünglich das Ziel der Strafrahmenharmonisierung gewesen, wovon auch die vorliegende Revision Teil sei, argumentierte Barbara Steinemann (svp, ZH). Solange «Belästiger mit symbolischen Strafen aus dem Gerichtssaal davonlaufen» könnten, sei auch die Zustimmungslösung nur ein «Ablenkungsmanöver», warf sie der Ratsmehrheit vor. Letztere wollte allerdings den Ermessensspielraum der Gerichte nicht einschränken. Es wurde befürchtet, dass die Gerichte sonst höhere Massstäbe an die Beweiswürdigung setzen könnten und es damit zu weniger Verurteilungen kommen könnte. Eine Mindeststrafe müsse immer «auch den denkbar leichtesten Fall abdecken», mahnte Justizministerin Keller-Sutter. Einzig bei der Vergewaltigung mit Nötigung – dem neuen Art. 190 Abs. 2, der im Grundsatz dem heutigen Vergewaltigungstatbestand entspricht – folgte der Nationalrat mit 95 zu 90 Stimmen bei 5 Enthaltungen der Minderheit Steinemann und übernahm die bereits vom Ständerat vorgenommene Verschärfung. Damit beträgt die Mindeststrafe für diesen Tatbestand neu zwei Jahre Freiheitsstrafe, Geldstrafen sowie bedingte Strafen sind demnach ausgeschlossen. Vergewaltigerinnen und Vergewaltiger müssen damit künftig zwingend ins Gefängnis. Bisher betrug die Mindeststrafe für Vergewaltigung ein Jahr Freiheitsstrafe, wobei diese auch (teil-)bedingt ausgesprochen werden konnte.

In einem zweiten Block beriet die Volkskammer noch diverse weitere Anliegen im Bereich des Sexualstrafrechts. Die Forderung einer Minderheit Funiciello, dass verurteilte Sexualstraftäterinnen und -täter obligatorisch ein Lernprogramm absolvieren müssen, wie dies bei häuslicher Gewalt oder Pädokriminalität bereits der Fall ist, wurde mit 104 zu 85 Stimmen abgelehnt. Da die Art des Delikts nicht berücksichtigt würde, handle es sich um eine «undifferenzierte Massnahme», so Kommissionssprecherin von Falkenstein. Mit 98 zu 84 Stimmen bei 7 Enthaltungen sprach sich der Nationalrat indessen dafür aus, die Altersgrenze für die Unverjährbarkeit von Sexualverbrechen auf 16 Jahre anzuheben. Bislang lag diese bei 12 Jahren, wie es bei der Umsetzung der Unverjährbarkeitsinitiative festgelegt worden war. Die Mehrheit argumentierte, so falle die Grenze für die Unverjährbarkeit mit dem Alter der sexuellen Mündigkeit zusammen. Den neuen Tatbestand der Rachepornografie hiess die grosse Kammer stillschweigend gut, verfrachtete ihn aber in einen anderen Artikel innerhalb des StGB. Anders als der Ständerat nahm der Nationalrat stillschweigend auch einen Tatbestand für Grooming ins Gesetz auf. In der Vernehmlassung sei dieser Vorschlag sehr positiv aufgenommen worden, erklärte die Kommissionssprecherin. Das Anliegen einer Minderheit von Falkenstein, sexuelle Belästigung nicht nur in Form von Wort, Schrift und Bild zu bestrafen, sondern auch andere sexuell konnotierte Verhaltensweisen – beispielsweise Gesten oder Pfiffe – unter Strafe zu stellen, scheiterte mit 96 zu 93 Stimmen knapp. Bundesrätin Karin Keller-Sutter warnte vor einer «uferlosen Strafbarkeit», da mit der geforderten Ergänzung die Grenze zwischen strafbarem und straflosem Verhalten unklar wäre. Ebenfalls abgelehnt wurde ein Einzelantrag von Léonore Porchet (gp, VD), die ein Offizialdelikt für sexuelle Belästigungen im öffentlichen Raum einführen wollte. Die betroffene Person solle selbst entscheiden können, ob sie eine Strafverfolgung wünsche oder an ihrer Privatsphäre festhalten möchte, argumentierte Justizministerin Keller-Sutter dagegen.

In der Gesamtabstimmung nahm der Nationalrat den Entwurf mit 127 zu 58 Stimmen bei 5 Enthaltungen an. Mit der Ausnahme von Céline Amaudruz stellte sich die SVP-Fraktion geschlossen dagegen. Sie wurde von einigen Stimmen aus der Mitte-Fraktion unterstützt, aus der auch die Enthaltungen stammten. Das Ergebnis war Ausdruck der Enttäuschung des rechtsbürgerlichen Lagers über die ablehnende Haltung des Rats gegenüber Strafverschärfungen. SVP-Vertreterin Steinemann hatte schon in der Eintretensdebatte angekündigt, dass ihre Fraktion die Vorlage ablehnen werde, «sofern nicht deutlich schärfere Sanktionen resultieren».

Harmonisierung der Strafrahmen (BRG 18.043)
Dossier: Revision des Strafgesetzbuches (2008– )
Dossier: Harmonisierung der Strafrahmen (Besonderer Teil des Strafgesetzbuches)

Ende April 2022 kam das Referendum gegen die AHV21 zustande. Damit wurde an der Urne nicht nur über die Mehrwertsteuererhöhung um 0.4 Prozentpunkte respektive 0.1 Prozentpunkte und somit über eine Zusatzfinanzierung für die AHV von CHF 12.4 Mrd. bis 2032 abgestimmt – diese musste als Verfassungsänderung sowieso der Stimmbürgerschaft vorgelegt werden –, sondern auch über die übrigen Massnahmen des Reformprojekts. Dieses sah vor, das Rentenalter der Frauen in vier Schritten (2024 bis 2027) demjenigen der Männer anzupassen, wodurch die AHV bis 2032 CHF 9 Mrd. weniger ausgeben respektive mehr einnehmen sollte als bisher. Im Gegenzug sollten die ersten neun betroffenen Frauenjahrgänge Zuschläge zu ihren Renten oder günstigere Bedingungen beim Rentenvorbezug erhalten, die insgesamt CHF 2.8 Mrd. kosten sollten. Allgemein sollte der Start des Rentenbezugs flexibilisiert und neu zwischen 63 und 70 Jahren möglich werden – mit entsprechenden Abzügen und (teilweise) Gutschriften bei früherem oder späterem Bezug –, wobei die Rente nicht mehr nur vollständig, sondern auch teilweise bezogen werden kann. Dies würde bis 2032 etwa CHF 1.3 Mrd. kosten. Insgesamt könnten die AHV-Ausgaben bis ins Jahr 2032 um insgesamt CHF 4.9 Mrd. gesenkt werden.

Die Gegnerinnen und Gegner der AHV21-Reform wehrten sich vor allem gegen die Finanzierung der Reform auf dem «Buckel der Frauen» (Tages-Anzeiger), also durch die Erhöhung des Frauenrentenalters. Dadurch würde den Frauen faktisch die Rente gekürzt – ein Jahr weniger Rente entspreche CHF 26'000, rechnete das Referendumskomitee vor. Diese Reduktion würde noch nicht einmal für diejenigen Jahrgänge, welche Kompensationsmassnahmen erhielten, vollständig ausgeglichen. Besonders störend daran sei, dass Frauen noch immer einen deutlich geringeren Lohn für ihre Arbeit und einen Drittel weniger Rente als die Männer erhielten, während sie gleichzeitig sehr viel mehr unbezahlte Arbeit leisteten. Darüber hinaus erachtete die Gegnerschaft die Erhöhung des Frauenrentenalters auch als ersten Schritt hin zum Rentenalter 67, das sie jedoch unter anderem mit Verweis auf die schlechten Arbeitsmarktchancen älterer Arbeitnehmender sowie auf die Erhöhung der Langzeitarbeitslosigkeit und der Sozialhilfequote ablehnte. Schliesslich erachteten die Gegnerinnen und Gegner auch die aktuelle Situation der AHV als weniger gravierend als die Befürwortenden der Revision: Die AHV sei solide, werde aber immer durch dramatische Prognosen schlechtgeredet – diese seien bisher jedoch nie eingetroffen. Die Nein-Parole zu beiden AHV-Vorlagen gaben die SP, die Grünen, die PdA sowie die SD aus, sie wurden von den Gewerkschaften unterstützt.

Die Befürwortenden der Reform betonten, dass die AHV struktureller Reformen bedürfe, zumal sie ansonsten bereits in wenigen Jahren mehr ausgeben als einnehmen werde. Die AHV21-Reform führe durch Massnahmen sowohl auf Einnahmeseite – durch die Mehrwertsteuererhöhung – als auch auf Ausgabenseite – durch die Erhöhung des Frauenrentenalters – zu einer Verbesserung der AHV-Finanzen. Bezüglich des Arguments der Gegnerschaft, dass vor allem die Frauen für die Reform aufkommen müssten, verwiesen die Befürwortenden auf die «substanziellen Kompensationen», welche die Frauen der Übergangsgeneration erhielten. Zudem sei eine Rentenaltererhöhung der Frauen auf 65 Jahre gerechtfertigt, da sie einerseits als Teil der Gleichstellung erachtet werden könne und da die grossen Rentenunterschiede andererseits nicht aus der AHV, sondern aus der beruflichen Vorsorge stammten. Im Gegenzug forderten jedoch auch verschiedene Mitglieder der Pro-Komitees Verbesserungen für die Frauen in der zweiten Säule, vor allem beim Koordinationsabzug, welcher gesenkt werden sollte. Die Ja-Parole zu beiden Vorlagen gaben die SVP, die FDP, die Mitte, die GLP, die EVP und die EDU sowie etwa Economiesuisse, der Arbeitgeberverband, der Gewerbeverband und der Bauernverband aus.

In der medialen Berichterstattung stand vor allem die Frage nach den Auswirkungen für die Frauen sowie der Fairness ihnen gegenüber im Mittelpunkt. Im Zentrum des Interesses stand dabei der Bund Schweizerischer Frauenorganisationen, Alliance f. So zeigten sich die im Verband organisierten Frauen öffentlich gespalten: Selbst der Vorstand des Verbands bestand aus Befürworterinnen und Gegnerinnen der AHV21. Alliance f sei in einer «delikate[n] Ausgangslage», betonten folglich etwa die AZ-Medien. Als Konsequenz gab der Verband Stimmfreigabe heraus und schuf zwei Frauenallianzkomitees, ein befürwortendes und ein ablehnendes. Damit wolle man sich trotz unterschiedlicher Positionen in die Diskussion einbringen und somit verhindern, dass die Männer die Debatte um das Frauenrentenalter dominierten, betonte etwa Co-Präsidentin von Alliance f und Präsidentin des befürwortenden Frauen-Komitees, Kathrin Bertschy (glp, BE).

Zusätzliche Aufmerksamkeit erhielt die AHV21-Abstimmung Ende Mai, als das BSV die neuen Finanzperspektiven der AHV herausgab. So war der Bundesrat in der Botschaft zur AHV21 im August 2019 von einem negativen Betriebsergebnis der AHV im Jahr 2030 von CHF 4.6. Mrd. ausgegangen. Im Juni 2021 hatte das BSV für 2030 ein Defizit von CHF 3.7 Mrd. prognostiziert, in den neusten Finanzperspektiven Ende Mai 2022 war hingegen nur noch von einem Defizit von CHF 1.8 Mrd. die Rede. Das BSV erklärte diese Veränderungen mit dem guten Betriebsergebnis des AHV-Ausgleichsfonds 2021 sowie mit einem stärkeren Beschäftigungs- und Reallohnwachstum als erwartet. Diese Entwicklung zeige auf, dass die AHV in einer «systematische[n] Angstmacherei zulasten der Bevölkerung» schlechtgeredet werde, liess der SGB verlauten. Die NZZ erachtete diese Zahlen trotz der Korrekturen noch immer als schlecht, «die AHV [werde] so oder so ins Minus» rutschen.

Im Juni 2022 entschied die SGK-SR, dass ihr Entwurf zur Pensionskassenreform BVG21 noch nicht reif für die Behandlung in der Herbstsession 2022 sei. Die Gegnerinnen und Gegner der AHV21-Reform sahen darin einen Versuch, kritische Debatten zur BVG21-Reform vor der Abstimmung über die AHV21 zu verhindern. Doch auch Befürwortende der AHV21-Reform störten sich an diesem Vorgehen der Kommission, zumal man bei einer Behandlung der BVG21-Reform den Frauen hätte zeigen wollen, dass man als Ausgleich zur Rentenaltererhöhung wie mehrfach versprochen ihre Pensionskassenrenten erhöhen werde.

Zu medialen Diskussionen führten in der Folge auch die Vorumfragen. Bereits Anfang Mai berichtete die SonntagsZeitung mit Verweis auf eine Umfrage des Marktforschungsinstituts Demoscope, welche gemäss SonntagsBlick von den Befürwortenden in Auftrag gegeben worden war, dass sich 62 Prozent der SP-Sympathisierenden und 59 Prozent der Sympathisierenden der Grünen für die AHV21 aussprechen wollten. Insgesamt machte die Studie eine Zustimmung zur AHV21 von 55 Prozent aus. Darob publizierte jedoch der SGB die Resultate einer eigenen, zuvor beim Forschungsinstitut Sotomo in Auftrag gegebenen Studie, gemäss welcher die Sympathisierenden der SP die AHV21 zu 63 Prozent ablehnten, während der durchschnittliche Ja-Stimmenanteil über alle Parteien hinweg bei 48 Prozent zu liegen kam. Die Diskussion darüber, wie verlässlich Studien sind, welche von den Befürwortenden respektive der Gegnerschaft einer Vorlage in Auftrag gegeben werden, währte in den Medien jedoch nicht lange. Ab August konzentrierte sich die mediale Debatte auf die Vorumfragen von SRG/gfs.bern und Tamedia/Leewas, welche auf eine mehr oder weniger deutliche Annahme der zwei Vorlagen hindeuteten (Mehrwertsteuererhöhung: zwischen 54 und 65 Prozent, AHVG: zwischen 52 und 64 Prozent). Vor allem zeichnete sich in den Vorumfragen aber bereits ein deutlicher Geschlechtergraben ab, so sprachen sich beispielsweise Anfang August 2022 in der ersten Tamedia-Umfrage 71 Prozent der Männer für die Änderung des AHVG und somit für die Erhöhung des Frauenrentenalters aus, während diese nur 36 Prozent der Frauen befürworteten.

Hatten die Vorumfragen letztlich doch eine relativ deutliche Annahme beider AHV21-Vorlagen in Aussicht gestellt, wurde es am Abstimmungssonntag für die Gesetzesänderung sehr eng: Mit 50.55 Prozent Ja-Stimmen und gut 31'000 Stimmen Unterschied sprach sich die Stimmbürgerschaft für Annahme der Reform aus. Deutlicher fiel das Verdikt für die Zusatzfinanzierung über eine Mehrwertsteuererhöhung aus (55.07%).


Abstimmung vom 25. September 2022

Änderung des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG; AHV21)
Beteiligung: 52.2%
Ja: 1'442'591 Stimmen (50.5%)
Nein: 1'411'396 Stimmen (49.5%)

Bundesbeschluss über die Zusatzfinanzierung der AHV durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer
Beteiligung: 52.2%
Ja: 1'570'813 Stimmen (55.1%)
Nein: 1'281'447 Stimmen (44.9%)

Parolen:
-Ja: SVP, FDP, Mitte, GLP, EVP, EDU; Economiesuisse, SAV, SBV, SGV
-Nein: SP, GPS, PdA, SD; SGB, Travail.Suisse, VPOD
* in Klammern Anzahl abweichender Kantonalsektionen


«Männer haben Frauen überstimmt», titelte in der Folge der «Blick», von einem «eklatante[n] Geschlechtergraben, wie es ihn noch nie gegeben hat», sprach die WOZ. In der Tat zeigten verschiedene Nachbefragungen einen grossen Zustimmungsunterschied zwischen Frauen und Männern. In der Vox-Analyse lag die Zustimmung zur Gesetzesänderung bei den Frauen im Schnitt bei 38 Prozent, bei den Männern bei 64 Prozent – wobei die direktbetroffenen Frauen unter 65 Jahren der Vorlage nur mit 25 Prozent (18-39 Jährige) respektive mit 29 Prozent (40-64 Jährige) zustimmten, die Frauen im Rentenalter hingegen mit 63 Prozent. In der Folge kam es in Bern und anderen Städten zu Demonstrationen, in denen Teile der Gegnerinnen der Vorlage ihre Wut über das Ergebnis ausdrückten. In einer Rede zeigte sich Tamara Funiciello (sp, BE) gemäss Medien empört darüber, dass «alte, reiche Männer» entschieden hätten, dass «Kita-Mitarbeiterinnen, Nannys, Reinigungskräfte und Pflegefachfrauen» länger arbeiten müssten. Dies führte im Gegenzug zu Unmut bei Vertreterinnen und Vertretern der bürgerlichen Parteien, welche kritisierten, dass «die Linke» den Stimmentscheid nicht akzeptieren wolle. Zudem sprach Regine Sauter (fdp, ZH) Funiciello die Berechtigung ab, im Namen aller Frauen zu sprechen, zumal Frauen keine homogene Masse bildeten. Funiciello hingegen betonte gemäss Tages-Anzeiger, dass es «für Verbesserungen [...] den Druck von der Strasse und den Dialog im Bundeshaus» brauche.

Doch nicht nur zwischen den Geschlechtern, auch zwischen den Sprachregionen zeigten sich bereits am Abstimmungssonntag grosse Unterschiede. Sämtliche mehrheitlich romanischsprachigen Kantone lehnten die Reform ab, allen voran die Kantone Jura (29% Ja-Stimmen), Neuenburg (35%) und Genf (37%), während sich nur drei deutschsprachige Kantone mehrheitlich gegen die Reform des AHV-Gesetzes aussprachen (Basel-Stadt: 47% Zustimmung; Solothurn: 49.8%, Schaffhausen: 50.0%). Die höchste Zustimmung fand sich in den Kantonen Zug (65%), Nidwalden (65%) und Appenzell-Innerrhoden (64%). «Die Deutschschweiz sichert die AHV», bilanzierte folglich etwa die NZZ, während SGB-Präsident und Nationalrat Maillard (sp, VD) die Unterschiede zwischen den Sprachregionen kritisierte, neben dem Geschlechtergraben und dem Sprachgraben aber auch einen Einkommensgraben ausmachte. Diese Ergebnisse bestätigte später auch die Vox-Analyse, welche für Personen mit Haushaltseinkommen unter monatlich CHF 3'000 eine deutlich tiefere Zustimmung zur Gesetzesänderung ermittelte als für Personen mit höheren Haushaltseinkommen (unter CHF 3'000: 32%; CHF 3'000-5'000: 49%, CHF 5'000-9'000: 52%, CHF 9'000-11'000: 59%, CHF über 11'000: 60%). Dieselben Unterschiede waren jeweils auch bei der Mehrwertsteuererhöhung erkennbar, wenn auch in geringerem Ausmass.

Als Motive für ihren Stimmentscheid machte die Vox-Analyse bei den Befürwortenden die Notwendigkeit zur Stabilisierung der AHV aus – sowohl bei der Gesetzesänderung (41%) als auch bei der Mehrwertsteuererhöhung (64%) wurde dieser Punkt häufig genannt. Zusätzlich erachteten aber die Befürwortenden die Gesetzesänderung – also wohl vor allem die Rentenaltererhöhung – auch als Schritt hin zur Gleichberechtigung (45%). Die Gegnerinnen und Gegner erachteten sowohl die Gesetzesänderung als ungerecht (84%), insbesondere im Hinblick auf die Lohnungleichheit zwischen Frauen und Männern, als auch auf die Mehrwertsteuererhöhung (46%), die vor allem einkommensschwache Personen treffe und allgemein ein «schlechtes Finanzierungsmittel» (Vox-Analyse) darstelle.

Bereits am Tag nach der Volksabstimmung zur AHV21 schwenkte das mediale Interesse weg von der Reform der AHV hin zur BVG21-Reform. Denn nicht nur die Gegnerinnen und Gegner der AHV21-Reform, sondern auch weite Teile der Befürwortenden wiesen auf die Verpflichtung oder gar das «Versprechen» (AZ) hin, die mit dieser Annahme der Reform einhergingen: Im Gegenzug müsse das Bundesparlament die Benachteiligung der Frauen bei der Altersvorsorge im Rahmen der anstehenden BVG21-Reform korrigieren.

Reform «Stabilisierung der AHV (AHV 21)» (BRG 19.050)
Dossier: Debatten um das Frauenrentenalter
Dossier: Erhöhung des Rentenalters

Ständerätin Carobbio Guscetti (sp, TI; Mo. 22.3234) sowie die Nationalrätinnen Funiciello (sp, BE; Mo. 22.3333) und de Quattro (fdp, VD; 22.3334) lancierten drei wortgleiche Motionen zur Schaffung von Krisenzentren für Opfer sexualisierter und geschlechterbezogener Gewalt. Alle drei Vorstösse verfolgten das Ziel, mithilfe einheitlicher Regelungen und Standards kantonale oder regionale Krisenzentren zu schaffen, in denen Opfer psychisch und physisch betreut werden können. Ebenfalls sollten diese Krisenzentren zur Dokumentation und Spurensicherung von Gewalttaten ohne direkten Beizug der Polizei dienen, um das Wohlbefinden der Opfer zu schützen und eine vollständige Beweislage für eine allfällige Strafverfolgung zu gewährleisten. Auch der Bundesrat sprach sich für eine entsprechende Förderung von Krisenzentren, insbesondere in Erfüllung der Istanbul-Konvention, aus. Der Ständerat kam dem Antrag des Bundesrats in der Herbstsession 2022 nach und nahm den Vorstoss von Ständerätin Carobbio Guscetti stillschweigend an.
Auch die grosse Kammer beugte sich in der Herbstsession über die Motionen der beiden Nationalrätinnen, nachdem diese in der vorherigen Sommersession von Therese Schläpfer (svp, ZH) bekämpft worden waren. Während die Motionärinnen insbesondere die ungleiche Verteilung von Krisenzentren innerhalb der Schweiz anprangerten, zweifelte Schläpfer die Notwendigkeit der vorgeschlagenen Massnahmen an. Der Nationalrat kam in der Herbstsession 2022 dem Antrag des Bundesrats nach und nahm sowohl die Motion Funiciello mit 130 zu 42 Stimmen (bei 2 Enthaltungen) als auch die Motion de Quattro mit 133 zu 44 Stimmen (bei 1 Enthaltung) an, wobei lediglich die SVP-Fraktion geschlossen gegen beide Vorstösse stimmte.

Krisenzentren für Gewaltopfer - Vorstösse im National- und Ständerat (Mo. 22.3333, Mo. 22.3334 und Mo. 22.3234)
Dossier: Gewalt gegen Frauen* / häusliche Gewalt (ab Ratifikation Istanbul-Konvention)

In der Sommersession 2022 brachten die eidgenössischen Räte die Revision der Strafprozessordnung zum Abschluss. In der Differenzbereinigung verhärteten sich die Fronten in den zentralen Diskussionspunkten zunächst, sodass Bundesrätin Karin Keller-Sutter bereits mit einer Einigungskonferenz rechnete. Der Ständerat kam dem Nationalrat zuerst nur bei Fristen für die Beschwerdeinstanz und das Berufungsgericht entgegen, die der Nationalrat zwecks Beschleunigung der Verfahren neu in die StPO aufgenommen hatte. Gemäss Berichterstatter Daniel Jositsch (sp, ZH) hielt die RK-SR diese zwar für wenig zweckmässig, aber tolerierbar, weil die Fristen mangels rechtlicher Konsequenzen bei Nichteinhaltung «lediglich als Richtgrösse im Sinne einer Konkretisierung des Beschleunigungsgebots» zu verstehen seien. Der Nationalrat beugte sich seinerseits in einigen Punkten der Argumentation des Schwesterrats und verzichtete auf zwei von ihm eingefügte, aber vom Ständerat abgelehnte Bestimmungen: Erstens strich er die Regelung zur präventiven verdeckten Ermittlung bei Sexualdelikten wieder aus dem Gesetz, weil dies Sache des kantonalen Polizeirechts sei. Zweitens soll eine Genugtuung nun doch nicht mit Geldforderungen des Staates aus dem Verfahren verrechnet werden können; werde der Betrag nicht ausbezahlt, verpuffe der Ausgleichseffekt für die unrechtmässig erlittene Rechtsverletzung. Weiter räumte die grosse Kammer die beiden Differenzen zu den DNA-Profilen aus, sodass dafür nun die vom Bundesrat vorgesehenen Regeln umgesetzt werden: Von einer beschuldigten Person darf während des Strafverfahrens ein DNA-Profil erstellt werden, wenn konkrete Anhaltspunkte bestehen, dass sie weitere Delikte begangen haben könnte. Die SVP-Minderheit, die dafür nur eine «gewisse Wahrscheinlichkeit» voraussetzen wollte, blieb letztlich chancenlos. Zudem darf von einer verurteilten Person am Ende des Strafverfahrens ein DNA-Profil erstellt werden, wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte anzunehmen ist, dass sie weitere Delikte begehen könnte. Hier unterlag die links-grüne Minderheit mit ihrem Streichungsantrag ebenso deutlich.
Bei der Einschränkung der Teilnahmerechte verharrten indessen beide Räte auf ihrer Position. Während sich der Ständerat mit 32 zu 11 Stimmen dafür aussprach, dass eine beschuldigte Person von der ersten Einvernahme einer mitbeschuldigten Person ausgeschlossen werden kann, solange sie selber noch nicht einvernommen worden ist, lehnte der Nationalrat diese Einschränkung mit 137 zu 50 Stimmen (1 Enthaltung) ebenso klar ab. Als Berichterstatter der RK-NR fasste Beat Flach (glp, AG) zusammen: «Für die eine Seite ist es der Hauptinhalt und das wichtigste Element dieser Revision, und für die andere Seite [...] ist das, was vorgeschlagen wird, ein No-Go.» Die ablehnende Seite argumentierte, dieser Eingriff in die Rechte der Beschuldigten bringe das sorgfältig austarierte Kräfteverhältnis zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung aus dem Lot und sei darum inakzeptabel. Die Befürworterinnen und Befürworter der Änderung betonten hingegen, dass es sich um einen «moderaten Eingriff» (Karin Keller-Sutter) handle und dass dies der Hauptauslöser für die ganze Revision gewesen sei, weil hier von den Staatsanwaltschaften konkrete Probleme in der Praxis festgestellt worden seien.
Ebenso unversöhnlich standen sich die beiden Kammern beim Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft gegen Haftentscheide gegenüber. Der Ständerat entschied mit 25 zu 19 Stimmen, an der bundesrätlichen Version festzuhalten, die ein solches Beschwerderecht explizit vorsieht. Damit werde nichts Neues eingeführt, sondern die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichts kodifiziert; es sei allemal besser, wenn der Gesetzgeber die Grundsätze des Verfahrens in der StPO festschreibe, als dass das Bundesgericht sich wie bisher das Recht nehme, selber zu entscheiden, erklärte der erfolgreiche Antragsteller Daniel Fässler (mitte, AI). Der Nationalrat beschloss demgegenüber mit 109 zu 79 Stimmen, eine solche Beschwerdemöglichkeit für die Staatsanwaltschaft ausdrücklich auszuschliessen, weil die EMRK-Konformität einer solchen Regel mindestens zweifelhaft sei. Es sei problematisch, wenn eine nach Gerichtsentscheid freizulassende Person noch länger in Haft behalten werde, bis die Beschwerde erledigt sei, so die Bedenken. Selbst der Bundesrat war sich in dieser Sache nicht sicher, sagte Justizministerin Keller-Sutter doch, der Bundesrat habe versucht, «das Risiko einer EMRK-Widrigkeit zu reduzieren, indem er für das Verfahren möglichst kurze Fristen festgelegt» habe.
Resigniert stellte der ständerätliche Kommissionssprecher Jositsch am Ende der zweiten Runde der Differenzbereinigung fest, dass man in diesen beiden letzten Fragen keine Lösung gefunden habe. Bei der Beschwerdelegitimation der Staatsanwaltschaft gebe es mit der EMRK-Konformität «tatsächlich einen Punkt, der für die Fassung des Nationalrates spricht», weshalb die Kommission die Zustimmung zum Beschluss der Schwesterkammer beantragte. Dasselbe beantragte die RK-SR auch bei den Teilnahmerechten. Die Fassung des Ständerates sei im Nationalrat nicht mehrheitsfähig und eine zweckmässige Kompromisslösung nicht in Sicht, weshalb man im Zweifelsfall eben beim geltenden Recht bleiben wolle, so Jositsch. «Das heisst, dass wir mit dieser Revision das ursprüngliche Hauptproblem vielleicht nicht haben lösen können, aber wir haben doch einiges gemacht, um diese Strafprozessordnung besser zu machen», resümierte er. Obwohl die Kommission damit in beiden Punkten die bundesrätliche Lösung fallen liess, beantragte Karin Keller-Sutter keine Abstimmung. So räumte die Ständekammer die beiden letzten Differenzen stillschweigend aus. In den Schlussabstimmungen nahm der Ständerat die Vorlage mit 38 zu 6 Stimmen bei einer Enthaltung an. Der Nationalrat stimmte ihr mit 147 zu 48 Stimmen bei 2 Enthaltungen zu. Unzufrieden zeigten sich in beiden Räten grosse Teile der SVP-Fraktion, die die fehlende Einschränkung der Teilnahmerechte bedauerten. Dadurch werde «die Erforschung der materiellen Wahrheit eminent erschwert», was zu einer «massiven Bevorteilung der Täter» führe und damit indirekt die Stellung des Opfers erheblich schwäche, hatte Nationalrätin Andrea Geissbühler (svp, BE) während der Debatte im Namen ihrer Fraktion erklärt.

Änderung der Strafprozessordnung (BRG 19.048)
Dossier: Revision der Strafprozessordnung (Umsetzung der Mo. 14.3383)

Die Motion Maret (mitte, VS), die den Bund dazu aufforderte, regelmässige nationale Präventionskampagnen gegen Gewalt zu organisieren, wurde in der Sommersession 2022 auch vom Nationalrat angenommen. Der Kommissionsminderheit folgend plädierte beinahe die gesamte Fraktion der SVP sowie vereinzelte Vertretende der FDP.Liberalen-Fraktion erfolglos für Ablehnung. Die Forderung der Walliser Mitte-Ständerätin war damit die erste in einer Reihe von fast identisch lautenden Anliegen, die zur Umsetzung an den Bundesrat überwiesen wurde. Zum Zeitpunkt der Überweisung war neben den Motionen der beiden Nationalrätinnen De Quattro (fdp, VD; Mo. 21.4470) und Funiciello (sp, BE; Mo. 21.4471) auch noch eine Motion der Mehrheit der WBK-NR (Mo. 22.3011) hängig.

Nationalrätinnen fordern Präventionskampagnen gegen Gewalt (Mo. 21.4418, Mo. 21.4470, Mo. 21.4471)
Dossier: Behandlung der Petitionen der Frauensession 2021 in parlamentarischen Vorstössen
Dossier: Gewalt gegen Frauen* / häusliche Gewalt (ab Ratifikation Istanbul-Konvention)

Man müsse sich überlegen, wie der Corona-Schuldenberg von rund CHF 35 Mrd. wieder abgebaut werden könne, warb Andrea Geissbühler (svp, BE) für ihre im März 2021 eingereichte parlamentarische Initiative. Weil die Parlamentsmitglieder für diese Schulden, die man künftigen Generationen hinterlasse, mitverantwortlich seien und im Gegensatz zu vielen anderen Arbeitnehmenden auch während und nach der Pandemie noch den vollen Lohn erhielten, sei es angezeigt, einen Corona-Solidaritätsbeitrag von den Parlamentsmitgliedern zu verlangen. Die CHF 1.2 Mio., die sich jährlich ergäben, wenn jede Parlamentarierin und jeder Parlamentarier auf CHF 6'000 verzichten würden – dies käme einer Reduktion um rund 20 Prozent des Jahreseinkommens für Vorbereitung und Ratsarbeit über CHF 26'000 gleich –, seien zwar nur ein «Tropfen auf den heissen Stein», aber ein wichtiges Zeichen gegen aussen, dass auch das Parlament einen Sparbeitrag leisten wolle, so Geissbühler. Gerhard Pfister (mitte, ZG) fasste die Gegenargumente der SPK-NR zusammen, die mit 18 zu 5 Stimmen beantragte, der parlamentarischen Initiative keine Folge zu geben: Es werde aus dem Vorstoss nicht klar, ob die Abgabe einmalig oder wiederkehrend sein solle. Letzteres wäre kein Solidaritätsbeitrag, sondern schlicht eine Kürzung der Entschädigungen. Eine solche könne für einzelne Ratsmitglieder aber finanzielle Folgen haben – vor allem für jene, die nicht in gut bezahlten Verwaltungsräten sässen, wie die zweite Kommissionssprecherin Delphine Klopfenstein Broggini (gp, GE) ergänzte – und das Ziel der Entschädigungen, existenzielle Bedrohungen abzuwenden, könnte so vielleicht nicht mehr eingehalten werden. Solidarität könne zudem nicht erzwungen werden, sondern müsse freiwillig geschehen, so Pfister weiter. Die CHF 35 Mrd. an Schulden seien darüber hinaus auch für künftige Generationen keine untragbare Last, weil – wie schon vor der Pandemie – in den kommenden Jahren wohl eher wieder Schulden abgebaut werden würden. Gestossen habe sich die Mehrheit der SPK-NR schliesslich an der Vorstellung der Initiantin, die Bevölkerung sei der Meinung, das Parlament handle ungerecht, weil es lediglich von anderen, nicht aber von sich selber Opfer verlange. Die Mitglieder der Kommission würden «bei Begegnungen mit der Bevölkerung eine andere Erfahrung» machen, so Pfister. In der folgenden Abstimmung erhielt Andrea Geissbühler lediglich aus ihrer Fraktion teilweise Unterstützung: Die 40 befürwortenden Stimmen von Mitgliedern der SVP-Fraktion (5 Fraktionsmitglieder stimmten gegen den Vorstoss und 9 enthielten sich der Stimme) standen aber 140 Stimmen aller anderen Fraktionen gegenüber, die der Initiative keine Folge gaben.

Corona-Solidaritätsbeitrag durch die Parlamentsmitglieder (Pa.Iv. 21.417)
Dossier: Mögliche Massnahmen zur Reduktion des Covid-19-bedingten Defizits

Nachdem sich die SPK-NR entgegen ihrer Schwesterkommission entschieden hatte, der Standesinitiative des Kantons Basel-Stadt, welche forderte, zusätzliche, in Griechenland gestrandete, besonders schutzbedürftige Personen aufzunehmen, keine Folge zu geben, kam das Anliegen in der Sommersession 2022 in die grosse Kammer.
Marianne Binder-Keller (mitte, AG) argumentierte für die Kommissionsmehrheit, dass die Situation in Griechenland nicht mehr «dermassen tragisch» sei wie im Herbst 2020, weshalb sich die Mehrheit der Kommission dafür ausgesprochen habe, der Standesinitiative keine Folge zu geben. Ausserdem tue die Schweiz bereits viel – etwa in Form von Hilfsgütern oder mit der Aufnahme von unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden. Als Sprecherin der Kommissionsminderheit setzte sich Tamara Funiciello (sp, BE) für Folgegeben ein und forderte den Nationalrat auf, «endlich das Richtige» zu tun und mehr humanitäre Verantwortung zu übernehmen. Der Krieg in der Ukraine habe gezeigt, dass die Schweiz durchaus in der Lage sei, schutzbedürftigen Menschen die nötige Sicherheit und Aussicht auf Arbeit zu geben. Die Frage sei nun, wieso dies für Menschen, welche an den europäischen Aussengrenzen unter prekären Umständen ausharren müssen, nicht auch möglich sein soll. Funiciello vermochte jedoch den Nationalrat nicht für das Anliegen zu gewinnen, welcher mit 98 zu 59 Stimmen entschied, der Standesinitiative keine Folge zu geben. Lediglich die Fraktionen der SP und der Grünen stimmten geschlossen für das Anliegen, zusätzliche Unterstützung erfuhr die Standesinitiative darüber hinaus lediglich von den beiden EVP-Nationalrätinnen.

Aufnahme von Menschen aus Griechenland und Auslastung der Asylzentren (Kt.Iv. 21.310)
Dossier: Dublin-Verordnung

Mit identischen Motionen forderten drei Parlamentarierinnen aus drei verschiedenen Parteien nationale Präventionskampagnen gegen Gewalt (Marianne Maret, mitte, VS, Mo. 21.4418; Jacqueline de Quattro, fdp, VD, Mo. 21.4470; Tamara Funiciello, sp, BE, Mo. 21.4471). Eingereicht worden waren die drei Vorstösse nur wenige Tage nach Publikation eines Berichts zu Ursachen von Tötungsdelikten im häuslichen Umfeld. In ihren Begründungen verwiesen die Motionärinnen auf weitere aktuelle Studien, die das Ausmass von häuslicher und sexueller Gewalt in der Schweiz aufzeigten: Eine im Herbst 2021, kurz vor dem Start einer Öffentlichkeitskampagne der Frauenhäuser Schweiz und Liechtenstein durchgeführte Umfrage von sotomo ergab, dass ein Drittel der befragten Personen – 42 Prozent der befragten Frauen und 24 Prozent der befragten Männer – bereits Gewalt in Paarbeziehungen erfahren hatten. Neben den vom EBG bereitgestellten Daten, die für den Zeitraum 2009 bis 2018 alle zwei Wochen einen durch häusliche Gewalt bedingten Todesfall verzeichneten, verwiesen die Motionärinnen auch auf eine im Jahr 2019 durchgeführte Befragung von gfs.bern, in der 22 Prozent der befragten Frauen berichtet hatten, bereits ungewollten sexuellen Handlungen ausgesetzt gewesen zu sein. Nationale Sensibilisierungs- und Präventionskampagnen forderte überdies eine Petition, die bereits im Herbst 2021 im Rahmen der Frauensession eingereicht worden war (Pet. 21.2045).
Nachdem sich der Bundesrat für Annahme der drei Vorstösse ausgesprochen hatte, wurden die beiden im Nationalrat eingereichten Motionen in der Frühjahrssession 2022 von Barbara Steinemann (svp, ZH) bekämpft. Die Motion der Walliser Ständerätin Marianne Maret (mitte) passierte den Ständerat in derselben Session stillschweigend. Die Motionen der Nationalrätinnen Jacqueline de Quattro und Tamara Funiciello standen daraufhin in der Sondersession im Mai 2022 in der grossen Kammer zur Diskussion, wo sie einzig von den geschlossen stimmenden Vertreterinnen und Vertretern der SVP abgelehnt wurden. Mit 135 zu 51 Stimmen (bei 1 Enthaltung) respektive mit 129 zu 51 Stimmen (bei 6 Enthaltungen) scharte sich somit auch im Nationalrat eine komfortable Mehrheit hinter die Forderung.

Nationalrätinnen fordern Präventionskampagnen gegen Gewalt (Mo. 21.4418, Mo. 21.4470, Mo. 21.4471)
Dossier: Behandlung der Petitionen der Frauensession 2021 in parlamentarischen Vorstössen
Dossier: Gewalt gegen Frauen* / häusliche Gewalt (ab Ratifikation Istanbul-Konvention)

Wie jedes Jahr fanden am 1. Mai 2022 in der ganzen Schweiz 1.-Mai-Kundgebungen statt. In Bern, Zürich, Aarau, St. Gallen, Bellinzona und weiteren Städten versammelten sich tausende von Menschen, wobei die Kundgebung in St.Gallen auf den 30. April vorverschoben wurde, weil der 1. Mai auf einen Sonntag fiel, wie die Medien berichteten.
Vorneweg marschierten jeweils nationale Politikerinnen. In Bern etwa führte die Berner Nationalrätin Tamara Funiciello (sp, BE) die offizielle Demonstration an, die sich später mit der von Personen aus dem linksautonomen Lager organisierten Demonstration zusammenschloss. In St. Gallen hielten Nationalrätin Claudia Friedl (sp, SG) sowie erneut Tamara Funiciello eine Rede, während sich in Aarau Nationalrätin Sibel Arslan (basta, BS) auf der Bühne äusserte. Bei allen Demonstrationen wurde Solidarität mit der Ukraine aufgrund des Angriffs durch Russland bezeugt. Weiter wurde die AHV-Reform in den Kundgebungen und vor allem in den verschiedenen Reden thematisiert. So nannte etwa Funiciello die AHV-Reform, die unter anderem die Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 Jahre vorsah, in St. Gallen eine «politische Frechheit». Stattdessen verlangte man neben den klassischen Forderungen der Arbeiterschaft, wie guten Arbeitsbedingungen und fairen Löhnen, eine Förderung der Frauenrechte und Parität der Geschlechter.
Just am Vortag der Demonstrationen schlug der Think Tank Avenir Suisse gemäss einem Artikel in der NZZ eine Reform zum Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Unternehmen und Staat vor. So würden die Gewerkschaften «nur eine Minderheit der Arbeitnehmenden» repräsentieren, zumal ihre Mitgliederzahl abnehme, wie Peter Grünenfelder, Direktor des Think Tanks, betonte. Entsprechend sei es wichtig, sich zu fragen, wie viel Einfluss den Gewerkschaften zugestanden werden solle. Angefragt von der NZZ verwiesen hingegen VPOD-Sekräter Duri Beer und Sprecherin der Unia Zürich-Schaffhausen Nicole Niedermüller auf die Relevanz ihrer Arbeit für den Arbeitnehmerschutz.

1.-Mai-Kundgebungen 2022

Der Nationalrat befasste sich in der Frühjahrssession 2022 als Erstrat mit den drei Entwürfen, die seine SPK zur Regelung des Arbeitsverhältnisses der oder des EDÖB ausgearbeitet hatte. Diskussionsbedarf gab es bei zwei Punkten: Erstens hatte die Mehrheit der SPK-NR ursprünglich eine Änderung im neuen Datenschutzgesetz vorgesehen, die eine Entschädigung für den oder die EDÖB nach Auflösung des Arbeitsverhältnisses ausdrücklich ausschliesst. Eine Minderheit Widmer (sp, ZH) wollte hingegen dem oder der EDÖB eine Abgangsentschädigung zugestehen, wie sie auch der Bundesanwalt bzw. die Bundesanwältin und die erstinstanzlichen Bundesrichterinnen und -richter erhalten. Auch der Bundesrat hatte sich in seiner Stellungnahme für die Abgangsentschädigung ausgesprochen, weil das Fehlen einer solchen die Unabhängigkeit des oder der EDÖB insofern beeinträchtigen könne, als mit einer Nichtwiederwahl finanzielle Konsequenzen verbunden sind. Die Kommissionsmehrheit schwenkte daraufhin auf die Linie des Bundesrates um und beantragte dem Rat, dem nunmehr einzigen Vorschlag Widmer zuzustimmen, was die grosse Kammer dann auch stillschweigend tat. Zweitens wollte die Kommissionsmehrheit den oder die EDÖB mit einer Änderung im Informationssicherheitsgesetz von der Personensicherheitsprüfung ausnehmen, wie das auch für andere Magistratspersonen üblich sei. Wie Kommissionssprecher Kurt Fluri (fdp, SO) erklärte, sehe die Kommissionsmehrheit die öffentliche Wahl – neu wird der oder die EDÖB vom Parlament gewählt – «gewissermassen als Substitut für die Personensicherheitsprüfung». Eine Minderheit Addor (svp, VS) sprach sich indessen gegen eine solche Ausnahme aus. Angesichts der extrem sensiblen Daten, auf die der oder die EDÖB Zugriff habe, erscheine eine solche Überprüfung als notwendig. Der Nationalrat folgte entgegen der geschlossen stimmenden SVP-Fraktion seiner Kommissionsmehrheit und nahm den oder die EDÖB von der Personensicherheitsprüfung aus. In der Gesamtabstimmung nahm die Volkskammer die beiden Gesetzesentwürfe zur Änderung des neuen Datenschutzgesetzes und zur Änderung des Informationssicherheitsgesetzes mit einer Gegenstimme (Andrea Geissbühler; svp, BE) an. Der «Verordnung über das Arbeitsverhältnis der Leiterin oder des Leiters des EDÖB» stimmte der Nationalrat einhellig zu.

Verordnung über das Arbeitsverhältnis der Leiterin oder des Leiters des Eidgenössischen Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragten (Pa.Iv. 21.443)

In der Frühjahrssession 2022 folgte der Nationalrat dem Antrag seiner RK-NR und stimmte gegen eine Harmonisierung der Alimentenbevorschussung auf Bundesebene. In der parlamentarischen Debatte hob die Initiantin Valérie Piller Carrard (sp, FR) hervor, dass sowohl die SODK als auch die SKOS bereits seit mehreren Jahren kantonsübergreifende Lösungen zur Alimentenbevorschussung forderten. Des Weiteren sei einer Standesinitiative des Kantons Zürich zur Harmonisierung der Alimentenbevorschussung (Kt.Iv. 09.301) von den Rechtskommissionen beider Räte Folge gegeben worden, diese sei dann aber unter «unklaren Umständen» abgeschrieben worden. Die Notwendigkeit einer bundesweiten Harmonisierung bestehe weiterhin, insbesondere da die beiden Elternteile oftmals in verschiedenen Kantonen lebten. Auch Nationalrätin Tamara Funiciello (sp, BE) argumentierte, dass aufgrund der unterschiedlichen Regelungen und der damit verbundenen ungleichen Beiträge an alleinerziehende Eltern vor allem Kinder unter Armut leiden würden. Die Gegnerinnen und Gegner der parlamentarischen Initiative hoben hervor, dass einige Kantone alleinerziehenden Eltern und/oder armutsbetroffenen Familien zusätzliche soziale Unterstützung zukommen lassen würden, was nicht direkt in der Alimentenbevorschussung abgebildet werde. Abschliessend entschied der Nationalrat mit 109 zu 82 Stimmen bei 3 Enthaltungen, der Initiative keine Folge zu geben. Den geschlossen gegen den Vorstoss stimmenden Fraktionen der SVP und FDP schlossen sich ein Mitglied der Grünliberalen und eine grosse Mehrheit der Mitte-Fraktion an.

Alimentenbevorschussung harmonisieren (Pa.Iv. 19.459)

Anfang Mai 2020 reichte Nationalrätin Tamara Funiciello (sp, BE) eine Motion zur geschlechtergerechten Verteilung der Gelder zur Bewältigung der Coronakrise ein. Um diese Gleichstellung der Geschlechter zu erreichen, sei das Gender Budgeting, also «das finanzpolitische Instrumentarium der gleichstellungspolitischen Strategie des Gender Mainstreaming», eine geeignete Budgetierungsmethode. Insbesondere die Verteilung zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit müsse bei der Verteilung staatlicher Gelder während Krisenzeiten vermehrt in den Fokus rücken, was durch Gender Budgeting gewährleistet werden könne. Der Bundesrat wies in seiner Stellungnahme darauf hin, dass die Sofortmassnahmen zur Bewältigung der Coronakrise geschlechterunabhängig und aufgrund der individuellen Betroffenheit ausgezahlt würden. Des Weiteren sei eine Forderung nach Gender Budgeting in der Bundesverwaltung bereits 2013 abgelehnt worden. Dies unter anderem, da der Ansatz einen höheren Erhebungsaufwand für Kantone, Städte und Gemeinden nach sich ziehen würde, der Bund den Kantonen bei der Verteilung der Bundesmittel keine Vorgaben machen könne und viele Bundesmittel einen hohen gesetzlichen Bindungsgrad aufwiesen. In der Frühjahrssession 2022 bemängelte Nationalrätin Funiciello im Ratsplenum, dass unterschätzt werde, wie geschlechterspezifisch Bundesinvestitionen seien. Bundesrat Ueli Maurer verwies darauf, dass das Parlament das Bundesbudget aufgrund des neuen Führungsmodells für die Bundesverwaltung mitbestimme und diese Forderung am besten in diesem Rahmen eingebracht werde. Auch die Mehrheit der Nationalratsmitglieder lehnte die Forderung und somit die Motion mit 119 zu 70 Stimmen (bei 3 Enthaltungen) ab, befürwortet wurde sie von den Mitgliedern der SP- und der Grünen-Fraktionen.

Gender-Budgeting. Für eine gerechte Bewältigung der Krise (Mo. 20.3397)

In der Frühjahrssession 2022 begann der Nationalrat mit der Differenzbereinigung bei der Revision der Strafprozessordnung. Auf die Linie des Ständerats schwenkte er bei den Voraussetzungen für die Untersuchungs- und Sicherheitshaft ein, wo mehrere Minderheiten Addor (svp, VS) für weniger strenge Voraussetzungen als vom Ständerat beschlossen mangels Unterstützung von ausserhalb der SVP-Fraktion chancenlos blieben. Zudem folgte der Nationalrat mit 104 zu 86 Stimmen einer Minderheit Marti (sp, ZH) und hiess den Vorschlag von Ständerat und Bundesrat gut, dass bei einem Strafbefehl, der eine zu verbüssende Freiheitsstrafe nach sich zieht, zwingend eine Einvernahme erfolgen muss. In dieser Frage setzte sich die links-grüne Ratsseite mit grossmehrheitlicher Unterstützung aus der Mitte-Fraktion durch. Ebenfalls seiner Schwesterkammer folgend verzichtete der Nationalrat nunmehr auf das Konzept der restaurativen Gerechtigkeit, das er als Erstrat in den Entwurf eingefügt hatte und das vom Ständerat abgelehnt worden war. Kommissionssprecher Beat Flach (glp, AG) erklärte, nach der Lancierung der Motion 21.4336 habe die Kommission davon abgesehen, «die Justice restaurative bereits in dieser Phase in die Strafprozessordnung aufzunehmen». Eine Minderheit Walder (gp, GE) wollte dagegen an den Bestimmungen festhalten. Die grosse Kammer folgte ihrer Kommissionsmehrheit mit 110 zu 79 Stimmen, wobei sich das links-grüne Lager ebenso geschlossen für Festhalten wie das bürgerliche Lager für Streichen aussprach.
In den anderen grossen Diskussionspunkten hielt die Volkskammer indessen an ihren vorherigen Beschlüssen fest. Die vom Bundesrat beabsichtigte Einschränkung der Teilnahmerechte von beschuldigten Personen fiel im Nationalrat abermals durch. Bundesrätin Karin Keller-Sutter hatte vergeblich darauf hingewiesen, dass «gerade diese Frage auch Auslöser für die Teilrevision der Strafprozessordnung» gewesen sei, weil sich in der juristischen Praxis gewisse «Nebenwirkungen» der geltenden Regelung – etwa dass mehrere Beschuldigte ihre Aussagen einander anpassen können – gezeigt hätten. «Nichtstun» sei hier «keine Option», so ihr Appell. Kommissionssprecher Flach ergänzte, der Ständerat habe mit seiner Neuformulierung «einen Schritt auf die nationalrätliche Version» zu gemacht. Dennoch habe die Kommission «mit einer sehr deutlichen Mehrheit» befunden, dass eine Einschränkung der Teilnahmerechte das derzeit «ausgewogen[e] System» aus dem Lot bringe, das sicherstelle, dass «zwischen Staatsanwaltschaft, Beschuldigten, ihren Verteidigern und letztlich dem Gericht, das urteilen soll, mit gleich langen Spiessen gekämpft wird». Die Minderheit Geissbühler (svp, BE), die dem Ständerat folgen wollte, konnte nur einen Grossteil der SVP- und FDP-Fraktionen sowie einzelne Mitte-Stimmen überzeugen und unterlag mit 70 zu 116 Stimmen bei 2 Enthaltungen dem Antrag der Kommissionsmehrheit, die Teilnahmerechte unverändert zu lassen.
Auch bei der im Ständerat gutgeheissenen Beschwerdemöglichkeit für die Staatsanwaltschaft gegen Entscheide des Zwangsmassnahmengerichts hielt der Nationalrat an seinem Entscheid fest, diese zu streichen. Mit 100 zu 86 Stimmen bei einer Enthaltung setzte sich das links-grüne Lager mit mehrheitlicher Unterstützung aus der Mitte-Fraktion durch und gab dem Antrag der Kommissionsmehrheit statt. Eine Minderheit Lüscher (fdp, GE) hatte sich dem Ständerat anschliessen und die Beschwerdemöglichkeit wie vom Bundesrat vorgesehen in die StPO aufnehmen wollen. Kommissionsberichterstatter Flach begründete die Position der Kommissionsmehrheit auch hier mit «massiv ungleich lange[n] Spiesse[n]», die eine solche Beschwerdemöglichkeit zugunsten der Staatsanwaltschaft bedeuten würde. Justizministerin Keller-Sutter hatte dem Rat empfohlen, der Minderheit zu folgen, sich aber schwergetan mit dieser Empfehlung, da mit der Beschwerdemöglichkeit einerseits die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichts niedergeschrieben würde, andererseits aber «gewisse Zweifel» bestünden, ob so ein Beschwerdeverfahren EMRK-konform wäre.
Bezüglich der DNA-Profile wiederholte die grosse Kammer mit knappen Mehrheiten ihre beiden Entscheide, die sie schon als Erstrat gefällt hatte: Von beschuldigten Personen soll ein DNA-Profil erstellt werden dürfen, wenn «eine gewisse Wahrscheinlichkeit» besteht, dass die beschuldigte Person weitere Verbrechen oder Vergehen begangen haben könnte. Bundesrat, Ständerat und eine Minderheit Marti wollten dafür «konkrete Anhaltspunkte» verlangen. Der Antrag der Kommissionsmehrheit für die weniger hohe Hürde wurde vom rechtsbürgerlichen Block aus SVP-, FDP- und dem Grossteil der Mitte-Fraktion unterstützt und mit 99 zu 83 Stimmen bei einer Enthaltung angenommen. Bei bereits verurteilten Personen hatte der Bundesrat im Entwurf die Möglichkeit zur Erstellung eines DNA-Profils vorgesehen, «wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte anzunehmen ist, die verurteilte Person könnte weitere Verbrechen oder Vergehen begehen». Eine Minderheit Geissbühler beantragte, dem Ständerat zu folgen und diesen Artikel so in die StPO aufzunehmen, während die Kommissionsmehrheit für Streichen plädierte. Äusserst knapp mit 89 zu 88 Stimmen bei 11 Enthaltungen setzte sich der Streichungsantrag durch. Das Zünglein an der Waage spielte die FDP-Fraktion, die sich zu rund je einem Drittel enthalten, dafür und dagegen ausgesprochen hatte.
Die Volkskammer zeigte sich auch bei weiteren, kleineren Differenzen nicht in Kompromisslaune und erhielt viele davon aufrecht. So blieb sie dabei, dass Opfern, die nicht am Strafverfahren teilnehmen, der Entscheid automatisch zugestellt werden soll, ausser sie verzichten ausdrücklich darauf. Ebenfalls behielt der Nationalrat die von ihm eingeführten und vom Ständerat gestrichenen, verschiedenen Behandlungsfristen im Gesetz. Er hielt auch daran fest, dass die Strafbehörde ihre Forderungen aus Verfahrenskosten nicht nur mit Entschädigungen, sondern auch mit Genugtuungen, die an die zahlungspflichtige Partei zu entrichten sind, direkt verrechnen darf.

Änderung der Strafprozessordnung (BRG 19.048)
Dossier: Revision der Strafprozessordnung (Umsetzung der Mo. 14.3383)

Bereits kurz nachdem ein Komitee, prominent vertreten durch die beiden SVP-Nationalrätinnen Yvette Estermann (LU) und Andrea Geissbühler (BE), zwei Volksinitativen zur Einschränkung des Rechts auf Abtreibung lanciert hatte, äusserten sich andere SVP-Exponentinnen kritisch zu den beiden Volksbegehren, die konkret «einen Tag Bedenkzeit vor jeder Abtreibung» sowie ein Verbot von Spätabtreibungen fordern. In einem Streitgespräch mit Andrea Geissbühler über die Bedenkzeit-Initiative sprach die Präsidentin der Jungen SVP Zürich, Camille Lothe, im Tages-Anzeiger von «ein[em] massive[n] Eingriff» in die persönliche Freiheit von Frauen. Gegenüber «24 Heures» gab SVP-Vizepräsidentin Céline Amaudruz (GE) zu Protokoll, dass es bei der Frage der Abtreibung sowohl das Wohl des Kindes als auch dasjenige der schwangeren Frau zu berücksichtigen gelte und sie das bestehende Recht auf Abtreibung deswegen unter keinen Umständen angreifen wolle. Bereits 2014 hatte sich Amaudruz prominent gegen die Volksinitiative «Abtreibungsfinanzierung ist Privatsache» gestellt – entgegen der Parole ihrer Partei.
Wie sich die SVP insgesamt zu den beiden neuen Volksinitiativen stellen würde, blieb vorerst offen. Ein Blick auf die namentliche Abstimmung im Nationalrat über eine Motion Estermann mit ähnlicher Stossrichtung (Mo. 20.3191) zeigte im Mai 2022 indes, dass die Westschweizer SVP-Vizepräsidentin Amaudruz nicht die einzige Parteivertreterin war, die dem Anliegen nur wenig abgewinnen konnte. Von den 12 an der Abstimmung teilnehmenden SVP-Nationalrätinnen fand die Motion lediglich bei deren 4 Unterstützung, wogegen sich 5 dagegen aussprachen und 3 weitere sich der Stimme enthielten. Im Unterschied zu den mehrheitlich skeptisch positionierten SVP-Nationalrätinnen stellten sich die männlichen Nationalratsmitglieder der SVP grossmehrheitlich hinter die Motion. Dennoch fanden sich unter den 38 an der Abstimmung teilnehmenden SVP-Nationalräten 5 ablehnende sowie 4 enthaltende Stimmen – zu Letzteren zählte unter anderem Parteipräsident Thomas Aeschi. Dass sich die SVP-Frauen in der Abtreibungsfrage teilweise anders positionieren als ihre männlichen Parteikollegen, ist jedoch nichts Neues; bereits 2002 hatten die SVP Frauen im Gegensatz zur SVP Schweiz die Ja-Parole zur Fristenregelung gefasst.

Abtreibungs-Initiativen spalten SVP-Vertreterinnen
Dossier: Aktuelle Vorstösse zur Verschärfung der Regelungen zu Schwangerschaftsabbrüchen (ab 2020)

Ende Dezember 2021 startete ein Komitee rund um die beiden SVP-Nationalrätinnen Yvette Estermann (LU) und Andrea Geissbühler (BE) die Unterschriftensammlung für zwei Volksinitiativen zur Reduktion von Schwangerschaftsabbrüchen. Beide verlangen, in der Verfassung den «Schutz des menschlichen Lebens, insbesondere vor der Geburt», explizit zu verankern. Bis am 21. Juni 2023 hat das Initiativkomitee Zeit, die notwendigen 100'000 Unterschriften für ihre Begehren zu sammeln. Während sich die eine Volksinitiative gegen Spätabtreibungen richtet, verlangt die andere Volksinitiative «einen Tag Bedenkzeit vor jeder Abtreibung (Einmal-darüber-schlafen-Initiative)». Letztere will genau das, was der Titel des Anliegens bereits zum Ausdruck bringt: Mit Ausnahme von Schwangerschaftsabbrüchen aufgrund lebensbedrohlicher Umstände sollen Schwangerschaftsabbrüche erst «nach einem Tag Bedenkzeit» durchgeführt werden dürfen. Zu dieser Bedenkzeit würde die ärztliche Pflicht gehören, der schwangeren Frau einen Leitfaden abzugeben, «der sämtliche kantonal und sämtliche national tätigen Beratungs- und Hilfsstellen enthält, welche psychologische, finanzielle oder materielle Hilfe anbieten». Laut Aussagen des Initiativkomitees, dem ebenfalls SVP-Nationalrat Erich von Siebenthal (BE) und die Zürcher SVP-Kantonsrätin Maria Rita Marty angehören, bestünden in 18 Ländern in Europa Bestimmungen für Wartefristen. Mit einer Wartefrist verfolge die Initiative das Ziel, überstürzte Entscheidungen für einen Schwangerschaftsabbruch zu verhindern. Die Initiantinnen und Initianten gaben an, auf das Mittel der Volksinitiative zurückgegriffen zu haben, weil entsprechende Anliegen in parlamentarischen Vorstössen nicht auf Gehör gestossen waren. Zur Frage der Bedenkzeit hatte sich der Bundesrat in Beantwortung einer Motion Herzog (svp, TG; Mo. 14.3442) negativ geäussert. Dabei hatte er angemerkt, dass er eine solche Regelung nicht als notwendig erachte, und auf die geltende Praxis basierend auf Art. 120 StGB verwiesen, die darin besteht, dass die ärztliche Fachperson vor einer Abtreibung zur Beratung und Information ein eingehendes Gespräch mit der schwangeren Frau führen muss. Da die Motion nicht innert der vorgegebenen Frist von zwei Jahren im Nationalrat traktandiert worden war, war sie im Jahr 2016 unbehandelt abgeschrieben worden.

Volksinitiative «Für einen Tag Bedenkzeit vor jeder Abtreibung (Einmal-darüber-schlafen-Initiative)»
Dossier: Aktuelle Vorstösse zur Verschärfung der Regelungen zu Schwangerschaftsabbrüchen (ab 2020)

Weil sich in der Wintersession 2021 beide Räte wenig kompromissbereit zeigten, mündete die Differenzbereinigung bei der Harmonisierung der Strafrahmen in eine Einigungskonferenz. Einzig die Differenzen zu den Bancomatensprengungen und zur Verjährung im Verwaltungsstrafrecht konnten vorher ausgeräumt werden. Bei Ersterem beugte sich der Ständerat dem Willen seiner Schwesterkammer und stimmte der Aufnahme einer speziell auf Bancomatensprengungen zugeschnittenen Qualifikation in Art. 139 StGB zu. Bei Letzterem einigte man sich darauf, die aufgeworfenen Fragen nicht an dieser Stelle, sondern im Rahmen der vom Bundesrat angekündigten Revision des Verwaltungsstrafrechts zu klären. Bis zum Schluss umstritten blieben dagegen die Parallelität von Geld- und Freiheitsstrafen sowie die Strafdrohung für Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte.
Der Ständerat stellte sich auf den Standpunkt, es sei in der juristischen Praxis unbestritten, dass eine Mindestgeldstrafe von beispielsweise 30 Tagessätzen auch immer eine Mindestfreiheitsstrafe von 30 Tagen bedeute, weshalb er diese Parallelität mehrheitlich ausdrücklich im Gesetz festhalten wollte. Die Mehrheit im Nationalrat sah in dieser Änderung jedoch einen Eingriff in den richterlichen Ermessensspielraum und lehnte sie deshalb ab. Die Argumentation des Nationalrates bekräftigte die ständerätliche Mehrheit indessen in ihrer Meinung, dass es wichtig sei, die Parallelität im StGB niederzuschreiben. Ständerat Andrea Caroni (fdp, AR) befürchtete, wenn man darauf verzichte, könnte dieser Entscheid künftig dahingehend ausgelegt werden, dass das Parlament die Parallelität an sich verneint habe, was ja aber nicht der Fall sei – zumindest nach Ansicht des Ständerates und des Bundesrates. Die Einigungskonferenz beantragte schliesslich mit 13 zu 11 Stimmen, dem Beschluss des Ständerates zu folgen und die Parallelität von Mindestgeld- und -freiheitsstrafen explizit im StGB zu verankern.
Bei Gewalt und Drohungen gegen Behörden und Beamte sprach sich der Ständerat mehrheitlich für eine Strafverschärfung gegenüber dem geltenden Recht aus, indem er die Freiheitsstrafe zur Regel machen und Geldstrafen nur noch in Bagatellfällen zulassen wollte. Eine Verschärfung bei diesem Tatbestand sei nicht zuletzt von verschiedenen Kantonen gefordert worden, argumentierte Daniel Jositsch (sp, ZH) als Sprecher der RK-SR. Die Nationalratsmehrheit wollte hingegen am geltenden Recht festhalten und die Freiheitsstrafe alternativ zur Geldstrafe vorsehen, weil sie auch hier nicht in den richterlichen Ermessensspielraum eingreifen wollte. Ein Einzelantrag Bregy (mitte, VS), der einen Konzeptionsfehler in der ständerätlichen Variante korrigierte – in der ursprünglichen Formulierung des Ständerates hätte in leichten Fällen immer eine Geldstrafe ausgesprochen werden müssen, während in der korrigierten Version in leichten Fällen eine Geldstrafe ausgesprochen werden kann –, scheiterte in der grossen Kammer am Stichentscheid von Ratspräsidentin Irène Kälin (gp, AG). Wenig überraschend war es dann auch diese korrigierte Lösung, die sich in der Einigungskonferenz durchsetzen konnte.
Der Antrag der Einigungskonferenz wurde im Ständerat mit 35 zu 1 Stimme bei 4 Enthaltungen gutgeheissen, im Nationalrat mit 122 zu 65 Stimmen. Dagegen stellten sich die Fraktionen der SP und der Grünen. In den Schlussabstimmungen stimmte der Ständerat dem Entwurf zur Harmonisierung der Strafrahmen sowie jenem zur Anpassung des Nebenstrafrechts an das geänderte Sanktionenrecht einstimmig (bei 4 bzw. 5 Enthaltungen aus der SVP-Fraktion) zu. Der Nationalrat nahm die Strafrahmenharmonisierung mit 96 zu 67 Stimmen bei 30 Enthaltungen an, wobei sich die Ratslinke gegen die ihrer Ansicht nach zu weitgehenden Verschärfungen aussprach und sich die SVP-Fraktion mehrheitlich der Stimme enthielt, weil sie die Vorlage als «verwässert» (Andrea Geissbühler/svp, ZH), d.h. zu wenig scharf, ansah. Der zweite Entwurf zur Anpassung des Nebenstrafrechts passierte die Schlussabstimmung in der grossen Kammer mit 123 zu 67 Stimmen bei 3 Enthaltungen.

Harmonisierung der Strafrahmen (BRG 18.043)
Dossier: Revision des Strafgesetzbuches (2008– )
Dossier: Harmonisierung der Strafrahmen (Besonderer Teil des Strafgesetzbuches)

Ende Dezember 2021 startete ein Komitee rund um die beiden SVP-Nationalrätinnen Yvette Estermann (LU) und Andrea Geissbühler (BE) die Unterschriftensammlung für zwei Volksinitiativen zur Reduktion von Schwangerschaftsabbrüchen. Beide verlangten, in der Verfassung den «Schutz des menschlichen Lebens, insbesondere vor der Geburt», explizit zu verankern. Während die eine Volksinitiative einen Tag Bedenkzeit vor einer Abtreibung einführen wollte, richtete sich die Volksinitiative «Für den Schutz von ausserhalb des Mutterleibes lebensfähigen Babys (Lebensfähige-Babys-retten-Initiative)» gegen Spätabtreibungen. Konkret verlangte Letztere, dass Schwangerschaftsabbrüche nicht mehr vorgenommen werden dürfen, wenn ein Ungeborenes zum Zeitpunkt der Abtreibung mit intensivmedizinischer Betreuung überlebensfähig wäre. Gemäss Initiativkomitee, dem ebenfalls SVP-Nationalrat Erich von Siebenthal (BE) und die Zürcher SVP-Kantonsrätin Maria Rita Marty angehörten, würden in der Schweiz pro Jahr etwa 100 ausserhalb des Mutterleibs lebensfähige Ungeborene abgetrieben. Gemäss geltender Regelungen im Strafgesetzbuch (Art. 119) sind Abtreibungen in der Schweiz in gewissen Fällen auch nach der 12. Schwangerschaftswoche noch möglich. Dies konkret, wenn sich die Mutter in einer schwerwiegenden seelischen Notlage befindet oder wenn eine Abtreibung notwendig ist, um eine schwerwiegende körperliche Schädigung der schwangeren Frau zu verhindern. Falls Behinderungen oder schwerwiegende Erkrankungen beim ungeborenen Kind festgestellt werden, werden in der Schweiz auch Abtreibungen nach der 12. Schwangerschaftswoche mit der Begründung der physischen oder psychischen Beeinträchtigung der Mutter durchgeführt, wobei die Gründe für die Abtreibung umso schwerer wiegen müssen, je weiter fortgeschritten die Schwangerschaft ist. Über Vorliegen solcher Umstände entscheidet dabei eine ärztliche Fachperson – dies im Unterschied zu Schwangerschaftsabbrüchen bis zur 12. Schwangerschaftswoche: Seit Annahme der Fristenregelung entscheidet in letzterem Fall allein die schwangere Frau über eine Abtreibung.
Als Begründung für die Lancierung seiner Volksinitiativen gab das Komitee an, auf dieses Mittel zurückgegriffen zu haben, weil entsprechende parlamentarische Vorstösse bei Bundesrat und Parlament nicht erfolgreich waren. Zum Zeitpunkt der Lancierung der Volksinitiativen war eine Motion Estermann (Mo. 20.3191) mit der Forderung nach Reduktion von Spätabtreibungen hängig, die der Bundesrat zur Ablehnung empfohlen hatte. Bis am 21. Juni 2023 hat das Initiativkomitee Zeit, die notwendigen 100'000 Unterschriften für seine Begehren zu sammeln.

Volksinitiative «Für den Schutz von ausserhalb des Mutterleibes lebensfähigen Babys (Lebensfähige-Babys-retten-Initiative)»
Dossier: Aktuelle Vorstösse zur Verschärfung der Regelungen zu Schwangerschaftsabbrüchen (ab 2020)

In der Herbstsession stimmte der Ständerat zwei Motionen aus der Feder der Nationalrätinnen Funiciello (sp, BE) und Vincenz-Stauffacher (fdp, SG) diskussionslos zu, welche die Bereitstellung eines 24-stündigen Beratungsangebots für von Gewalt betroffene Personen forderten. Die Kantonskammer stützte ihren Entscheid auf einen Bericht ihrer Rechtskommission, die dem Ständerat einstimmig die Annahme der Motionen beantragte. Darin bestätigte die Kommission, dass noch nicht alle Kantone ein rund um die Uhr erreichbares, professionelles Betreuungsangebot bereitstellen würden und der Istanbul-Konvention damit noch nicht vollumfänglich nachgekommen werde. Ebenfalls erinnerte die Kommission ihren Rat daran, dass dieser einer fast identisch lautenden Motion Herzog (sp, BS; Mo. 20.4463) bereits in der Frühjahrssession zugestimmt hatte. Auch der Nationalrat sprach sich in der Herbstsession 2021 für die Motion Herzog aus.

Rund-um-die-Uhr-Beratung für von Gewalt betroffene Personen (Mo. 20.4451; Mo. 20.4452)
Dossier: Gewalt gegen Frauen* / häusliche Gewalt (ab Ratifikation Istanbul-Konvention)

In der Herbstsession 2021 überwies der Nationalrat gemäss Mehrheitsantrag der RK-NR die Motion Caroni (fdp, AR) für eine Reform der lebenslangen Freiheitsstrafe. Ihre Empfehlung begründete die zuständige Kommission damit, dass der Bundesrat in seinem Bericht zur Reform der lebenslangen Haftstrafe zwar keinen grundlegenden Handlungsbedarf erkannt hatte, jedoch punktuelle Revisionsmöglichkeiten einräumte. Sowohl aus dem Kommissionsbericht als auch aus den Erläuterungen der beiden Kommissionssprechenden Andrea Martina Geissbühler (svp, BE) und Sidney Kamerzin (mitte, VS) im Ratsplenum ging hervor, dass eine Mehrheit der Kommissionsmitglieder diese Verbesserungen am bestehenden System unterstützten und als notwendig erachteten. Im Namen der starken Minderheit widersprach SP-Nationalrätin Min Li Marti (ZH): Da erstens in der Praxis weder Handlungs- noch Sicherheitsprobleme bestünden und zweitens der Bundesrat in seinem Bericht keinen akuten Reformbedarf sehe, lohne sich der Anstoss eines Gesetzgebungsprozesses nicht. Besonders schwere Straftaten könnten bereits heute angemessen bestraft und so dem Schutzbedürfnis der Gesellschaft Rechnung getragen werden. Darüber hinaus sei die generalpräventive Wirkung von langen Haftstrafen umstrittener als deren erschwerender Effekt auf die Resozialisierung. Justizministerin Karin Keller Sutter stimmte dem insofern zu, als dass die Verbesserungsmöglichkeiten von eher untergeordneter Bedeutung seien. Der Bundesrat wolle einer Gesetzesrevision jedoch nicht im Wege stehen und habe deshalb die Annahme beantragt. Der Nationalrat stimmte der Motion mit 110 zu 60 Stimmen zu.

Reform der lebenslangen Freiheitsstrafe (Mo. 20.4465)

Mit derselben Begründung wie ein Jahr zuvor der Ständerat lehnte in der Herbstsession 2021 auch der Nationalrat die Tessiner Standesinitiative für die Erhöhung des Strafmasses bei Delikten gegen die sexuelle Integrität ab: Der betreffende Strafrahmen sei im Zuge der laufenden Revision des Sexualstrafrechts zu prüfen und gegebenenfalls anzupassen. Eine SVP-Minderheit beantragte Folgegeben, um ein «deutliches Zeichen» für den Schutz vor sexuellen Übergriffen zu setzen, wie Andrea Geissbühler (svp, BE) ausführte, unterlag mit 123 zu 55 Stimmen bei 2 Enthaltungen aber deutlich. Die Initiative war damit erledigt.

Erhöhung des Strafmasses für Straftaten im Zweiten Buch, Fünften Titel des Schweizerischen Strafgesetzbuches (Kt.Iv. 19.301)

Das Gesetzgebungsprojekt zur Strafrahmenharmonisierung und Anpassung des Nebenstrafrechts an das neue Sanktionenrecht stand in der Sommersession 2021 auf der Agenda des Nationalrates. Als Zweitrat trat er zwar oppositionslos auf das Geschäft ein, hatte sich aber sogleich mit einem Rückweisungsantrag des Genfer SVP-Nationalrats Yves Nidegger zu befassen. Der Antragsteller monierte, der Bundesrat habe dem Parlament nur eine «Alibi-Harmonisierung» vorgelegt, weil sie nicht sämtliche in der Schweiz ausgesprochene Strafen harmonisiere, sondern sich zu stark auf das Kernstrafrecht konzentriere, das im Schweizerischen Strafgesetzbuch geregelt ist. Er verlangte eine überarbeitete Vorlage, in der auch alle Strafnormen des Nebenstrafrechts, also die Strafnormen in anderen Gesetzen, nach den zu schützenden Rechtsgütern bewertet und die Strafen dementsprechend harmonisiert (und nicht nur wie vom Bundesrat vorgesehen an das geänderte Sanktionenrecht angepasst) würden. Justizministerin Karin Keller-Sutter bat den Rat um Ablehnung der Rückweisung. Sie bezeichnete den Antrag als «nicht zielführend, weil wir uns ohne klaren Auftrag quasi im Kreis bewegen würden und in zwei, drei Jahren etwa gleich weit wie heute wären». Ausser der SVP-Fraktion, die geschlossen für die Rückweisung votierte, sah der Rat dies genauso und lehnte die Rückweisung mit 139 zu 49 Stimmen ab.
In der Detailberatung diskutierte die Volkskammer zunächst 15 Anträge zu Änderungen am Allgemeinen Teil des StGB. Dieser war eigentlich nicht Gegenstand des vorliegenden Geschäfts, sondern mit der Revision des Sanktionenrechts bereits erneuert worden. Bundesrätin Karin Keller-Sutter forderte den Rat aus diesem Grund auf, überall der Kommissionsmehrheit zu folgen, die eine solche Ausdehnung der Vorlage auf den Allgemeinen Teil des StGB ablehnte. Die hier eingebrachten Vorschläge – allesamt zur Verschärfung des Strafregimes und bis auf drei Minderheiten Bregy (mitte/centre, VS) alle vonseiten der SVP-Fraktion – seien im Zuge der Revision des Sanktionenrechts bereits breit diskutiert und damals verworfen worden. Der Nationalrat erachtete es mehrheitlich nicht als sinnvoll, diese Büchse der Pandora zu öffnen, und lehnte alle Minderheits- und Einzelanträge in diesem Block ab. Damit machte die grosse Kammer unter anderem die vom Ständerat abgeänderte Kann-Formulierung bei den bedingten Strafen wieder rückgängig, sodass das Gericht bei Ersttäterinnen und Ersttätern auch weiterhin «in der Regel» eine bedingte Strafe aussprechen muss (und nicht nur kann). Für Unverständnis bei Antragsteller Philipp Matthias Bregy sorgte die Ablehnung seines Vorschlages, die Unverjährbarkeit schwerster Verbrechen im StGB zu verankern, gerade weil der Nationalrat am Vortag einer Standesinitiative mit ebendieser Forderung (Kt.Iv. 19.300) Folge gegeben hatte.
In einem zweiten Block wandte sich der Nationalrat dem Kern der Vorlage, den Strafrahmen im Besonderen Teil des StGB, zu. Hier strich er das vom Ständerat eingeführte Konzept, wonach eine Mindestgeldstrafe von X Tagessätzen immer auch eine Mindestfreiheitsstrafe von X Tagen bedeuten sollte, wieder aus dem Gesetz. Einer Minderheit Bregy folgend nahm er einen neuen Straftatbestand für die Sprengung von Geldautomaten auf. Der Aufhebung einiger Sondernormen bei Vermögensdelikten und des Tatbestandes der staatsgefährlichen Propaganda stimmte die grosse Kammer wie vom Bundesrat vorgeschlagen zu und schuf damit weitere Differenzen zur Schwesterkammer, die diese Änderungen abgelehnt hatte. Beim viel diskutierten Artikel 285 StGB betreffend die Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte lagen dem Nationalrat vier verschiedene Konzepte vor. Er entschied sich für dasjenige seiner Kommissionsmehrheit, die dem Bundesrat im Grundsatz folgte, aber bei Gewalttaten im Kontext einer Zusammenrottung einen differenzierteren Weg wählte. So soll Gewalt an Personen aus einem zusammengerotteten Haufen heraus künftig mit mindestens drei Monaten Freiheitsstrafe geahndet werden. Für Gewalt an Sachen setzte die grosse Kammer mindestens eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen fest. Der Bundesrat hatte für Gewalt an Personen oder Sachen eine Mindestgeldstrafe von 120 Tagessätzen vorgeschlagen; der Ständerat hatte eine zwingende Freiheitsstrafe gefordert. Des Weiteren beantragte die Kommissionsmehrheit, den Tatbestand der Majestätsbeleidigung aus dem StGB zu streichen, was der Nationalrat aber ablehnte. Er folgte der Minderheit Lüscher (fdp, GE), die sich für die Beibehaltung der Norm einsetzte.
Zuletzt nahm sich die Volkskammer der Anpassung des Nebenstrafrechts an, wo sie unter anderem die Gelegenheit nutzte, auf Antrag ihrer Kommissionsmehrheit die ihrer Ansicht nach unverhältnismässige Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe aus dem sogenannten Raserartikel im Strassenverkehrsgesetz zu streichen. Eine unterlegene Minderheit Nidegger hatte beantragt, den Raserartikel ganz zu streichen. In der Gesamtabstimmung stimmte der Nationalrat dem Bundesgesetz über die Harmonisierung der Strafrahmen mit 134 zu 48 Stimmen und dem Bundesgesetz über die Anpassung des Nebenstrafrechts an das geänderte Sanktionenrecht mit 133 zu 48 Stimmen zu. Dagegen stimmten jeweils die geschlossene SVP-Fraktion sowie SP-Vertreterin Tamara Funiciello (sp, BE). Die Ablehnung der SVP-Fraktion kam angesichts der vielen gescheiterten Minderheitsanträge für diverse Strafrechtsverschärfungen aus ihren Reihen wenig überraschend. Barbara Steinemann (svp, ZH) hatte die Vorschläge des Bundesrates schon in der Eintretensdebatte als blosse «Basteleien am Strafrahmen [...] ohne konkrete Auswirkungen auf die Strafrechtspraxis» bezeichnet. Im Anschluss an die Debatte schrieb der Nationalrat die Vorstösse 06.3554, 09.3366, 08.3131, 10.3634 und 17.3265 stillschweigend ab.

Harmonisierung der Strafrahmen (BRG 18.043)
Dossier: Revision des Strafgesetzbuches (2008– )
Dossier: Harmonisierung der Strafrahmen (Besonderer Teil des Strafgesetzbuches)

Mithilfe zweier identischer Motionen erinnerten die Nationalrätinnen Tamara Funiciello (sp, BE; Mo. 21.4551) und Susanne Vincenz-Stauffacher (fdp, SG; Mo. 21.4552) an die für die Schweiz mit der Ratifikation der Istanbul-Konvention einhergehende Verpflichtung zur Bereitstellung eines 24-stündigen Beratungsangebots für von Gewalt betroffene Personen. Die Covid-19-Pandemie habe zu einer Verschärfung der Problematik häuslicher Gewalt beigetragen, betonten sie. Die Hemmschwelle, sich direkt bei er Polizei zu melden, sei für die Betroffenen oftmals zu hoch. Ein landesweites, kostenloses und rund um die Uhr erreichbares Betreuungsangebot, das in unterschiedlichen Sprachen und sensibilisiert auf unterschiedlichste Personen, neben Herkunft etwa auch in Bezug auf Alter und sexuelle Orientierung, angeboten werde, sei vonnöten. Der Bundesrat wies darauf hin, dass die Zuständigkeit für die Errichtung eines solchen Betreuungsangebots bei den Kantonen liege, weswegen deren Zustimmung einzuholen sei. Er beantragte die Annahme der Motionen und zeigte sich gewillt, die Kantone beim Aufbau eines solchen Angebots koordinierend zu unterstützen. Nachdem Andrea Geissbühler (svp, BE) die Motionen in der Frühjahrssession 2021 bekämpft hatte, befasste sich der Nationalrat in der Mai-Sondersession damit, wo er sie unter Opposition der SVP mit 125 respektive 127 zu 51 Stimmen (bei 3 Enthaltungen) annahm.

Rund-um-die-Uhr-Beratung für von Gewalt betroffene Personen (Mo. 20.4451; Mo. 20.4452)
Dossier: Gewalt gegen Frauen* / häusliche Gewalt (ab Ratifikation Istanbul-Konvention)

Die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates (RK-NR) gab Anfang November 2020 einer parlamentarischen Initiative von Nationalrat Sebastian Frehner (svp, BS), welche nach dessen verpasster Wiederwahl in den Nationalrat von seinem Parteikollegen Bruno Walliser (svp, ZH) übernommen worden war, mit 13 zu 7 Stimmen (4 Enthaltungen) keine Folge. Die parlamentarische Initiative beabsichtigt, den «nachehelichen Unterhalt dem Wandel der Zeit anzupassen», und zielt konkret darauf ab, Artikel 125 ZGB so zu ändern, dass Ehegattinnen und Ehegatten den nachehelichen Unterhalt vertraglich frei regeln können. Damit solle verhindert werden, dass der oder die Besserverdienende nach Scheitern der Ehe einer «finanzielle[n] Kausalhaftung» unterliegt, was «im Zeitalter der Gleichberechtigung» und in Anbetracht der guten Ausbildungschancen nicht mehr zeitgemäss sei, so die Begründung der Initiative. Wenn eine vertragliche Einigung des nachehelichen Unterhalts nicht getroffen werden könne, solle lediglich eine Unterhaltspflicht von maximal zwei Jahren festgelegt werden können. Diese hätte das Ziel, den anderen Ehepartner bis dahin wieder (verstärkt) in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Anders als im aktuellen Unterhaltsrecht, das zur Bestimmung der Höhe der Unterhaltszahlungen den Lebensstandard während der Ehe benennt, solle neu das betreibungsrechtliche Existenzminimum als Grundlage dienen.
Die Kommissionsmehrheit hob hervor, dass Frauen nach wie vor schlechter in den Arbeitsmarkt integriert seien als ihre Ehepartner – trotz guter Ausbildung seitens der Frauen. Ein Eingriff ins Scheidungsrecht könne denn auch kaum eine vermehrte Arbeitsmarktintegration von Frauen nach sich ziehen. Für die Kommissionsmehrheit betonte Nationalrätin Funiciello in der Ratsdebatte in der Frühjahrssession 2021, dass bei Umsetzung der parlamentarischen Initiative im Falle einer Scheidung kaum mehr finanzielle Verpflichtungen seitens der finanziell stärkeren Seite gegenüber der finanziell schwächeren Seite bestünden. Ebenfalls berücksichtige der Vorschlag nicht, welche Seite während des Eheverhältnisses mehr unbezahlte Arbeit verrichtet habe. Mit ihr sprach sich auch die Mehrheit des Nationalrats gegen eine Änderung des Artikels 125 ZGB aus und gab damit der parlamentarischen Initiative mit 117 zu 68 Stimmen (7 Enthaltungen) keine Folge.

Nachehelichen Unterhalt dem Wandel der Zeit anpassen (Pa.Iv. 19.457)

Rétrospective 2020: Groupes sociaux

Pendant plusieurs années consécutives, la politique d'asile occupait le premier plan des discussions parlementaires au sujet des groupes sociaux. Cette année, comme par ailleurs la précédente, la question des personnes réfugiées est restée plus en retrait. La restructuration du domaine de l'asile terminée trop récemment pour qu'il soit possible de bénéficier d'un recul suffisant pour en faire la critique est sans doute une partie de l'explication, de même que les mouvements populaires d'égalité des genres et d'orientation sexuelle, qui ont réussi à faire entrer leurs thèmes sous la coupole.

Politique à l'égard des étrangers: Au printemps 2020, le Conseil national a définitivement liquidé la question du délit de solidarité. Il a refusé de donner suite à l'initiative parlementaire Mazzone, qui voulait réintroduire la notion de motifs honorables, atténuant voire annulant la peine en cas d'aide au séjour illégal (art. 116 LEI). Deux pétitions émanant d'organisations de la société civile avaient été déposées en soutien à l'initiative, en vain. Du côté de la droite, la question de la régulation de l'immigration est restée d'actualité. Le député Philippe Nantermod a réussi à faire accepter un postulat demandant au Conseil fédéral de réfléchir sur une adaptation des contingents de personnes étrangères qui pourraient absorber les besoins de l'économie, tandis que l'UDC n'a pu que constater l'échec dans les urnes de son initiative de limitation.

Qu'à cela ne tienne, l'UDC aura l'occasion de proposer des limitations supplémentaires dans le cadre de la politique d'asile. Bien que recalée sous sa forme parlementaire, l'initiative promue par Luzi Stamm, qui vise à privilégier l'aide sur place plutôt qu'un accueil sur le territoire suisse, sera proposée prochainement au peuple. Pour la deuxième année consécutive, l'asile n'a pas occupé la place principale parmi les sujets les plus abordés dans ce chapitre. La récente restructuration du domaine de l'asile – absence de recul – ou encore la prégnance des thèmes liés à la situation sanitaire peuvent expliquer cette baisse d'intérêt des parlementaires. Cependant, quelques objets ont quand même été discutés, d'un point de vue principalement sécuritaire par la droite, et sous un aspect humanitaire et de défense des droits humains par la gauche. Des sanctions plus lourdes pour les requérant-e-s d'asile mineur-e-s considérés comme réfractaires ont été refusées, tandis que la possibilité de contrôler les téléphones portables (initiative Rutz) et la substitution de la détention administrative par un bracelet électronique (motion Nantermod) ont passé les premières étapes vers une acceptation. En revanche, l'initiative Müller, qui visait à réduire le droit au regroupement familial pour rendre opératoire le permis S a échoué au deuxième conseil.

Plusieurs objets parlementaires souhaitaient mettre un terme à la détention administratives des enfants. Seule une initiative cantonale genevoise a passé la rampe, d'un cheveu, au Conseil national. L'initiative Mazzone et le postulat Quadranti (pbd, ZH) ont été refusées et respectivement retirées.

Alors que la présidente de la Commission européenne, Ursula von der Leyen présentait le «nouveau pacte sur la migration et la solidarité», censé succéder aux Accords de Dublin en matière d'asile, une motion de la CIP-CN demandait au Conseil fédéral de s'engager au niveau européen pour venir en aide aux personnes dans les camps de la mer Egée ainsi que pour une réforme de ces accords.

Dans le domaine de la politique d'égalité de genre et d'orientation sexuelle, quelques pas décisifs ont été franchis. Au terme d'une longue campagne, placée sous le signe du compromis (deux semaines au lieu de quatre prévu par l'initiative retirée), la population votante a accepté un congé paternité, financé par les APG. Plusieurs objets concernant l'égalité dans le monde du travail ont également été traités. Un postulat Marti demandant une recension précise et régulière des différences de salaire entre hommes et femmes, a été adopté par le Conseil national. En revanche, ce même conseil a refusé d'entrer en matière sur quatre initiatives proposant de mettre en œuvre des mécanismes contraignant pour atteindre l'égalité salariale. Suite à ces refus, la CSEC-CN a décidé de lancer sa propre initiative demandant la transmission des résultats des analyses des inégalités de salaire à la Confédération. Il en a été de même pour une motion Reynard qui souhaitait sanctionner plus durement les licenciements pour cause de grossesse ou de maternité. Par contre, un postulat Moret (plr, VD), demandant un recensement des besoins et de l'offre en matière de conseil pour faciliter la réinsertion professionnelle des femmes qui ont cessé de travailler pour des raisons familiales a été accepté par la chambre basse en septembre.

Deux victoires d'étape pour les personnes homosexuelles. D'abord, les deux conseils ont accepté l'initiative vert'libérale pour le mariage pour toutes et tous. Puis, suite à la votation populaire du 9 février, les propos homophobes seront désormais punis, au même titre que les injures racistes; les attaques contre les personnes transgenres ne sont toutefois pas concernées par le projet, selon le compromis trouvé en chambres. Il devrait par contre être plus facile pour elles de changer de sexe à l'état civil, grâce aux travaux parlementaires actuellement menés en ce sens.

La lutte contre les violences faites aux femmes est restée au point mort au Conseil national, quatre objets qui allaient dans ce sens ont échoué. Deux initiatives parlementaires, déposées par la députée UDC Céline Amaudruz voulaient considérer l'atteinte fondée sur l'appartenance au sexe féminin ou à un corps de police comme des circonstances aggravantes et renforcer la protection de ces personnes. Le Conseil national a refusé d'y donner suite. Une motion qui visait à octroyer un permis de séjour aux victimes de violences, dans le sens de la Convention d'Istanbul, a été classée, faute de traitement dans un délai de deux ans. Enfin, la chambre basse a refusé de donner suite à une initiative parlementaire Wasserfallen (plr, BE), qui voulait augmenter l'indemnité maximale due à la victime en cas de harcèlement sexuel au travail.

Si la politique familiale a trouvé un large écho dans la presse durant cette année 2020, c'est principalement dû à la votation sur le congé paternité. Au Parlement, l'autre événement notoire est l'avancée des travaux sur l'allocation familiale en cas d'adoption, à savoir un congé parental de deux semaines, qui avaient été lancés en 2013 par le PDC Marco Romano. Après l'entrée en matière par la chambre basse, il appartient au Conseil des États de statuer sur le projet.

Un rapport sur les moyens de prévenir la violence sur les personnes âgées a été publié en septembre 2020. Au sujet de la politique concernant les personnes en situation de handicap, le Conseil des États a adopté un postulat Maret demandant d'investiguer les possibilités d'attribuer aux proches aidants une allocation perte de gain, notamment lors de la situation sanitaire particulière liée au coronavirus.

Pandémie mondiale oblige, les débats sociétaux ont beaucoup tourné autour des mesures prises pour contrer la propagation du virus. Les milieux défenseurs du droit d'asile ont notamment dénoncé les conditions de vie des personnes requérantes logées dans des centres. Il a également beaucoup été question de la possible augmentation des violences domestiques, provoquée par les mesures de confinement. Pour les familles avec enfants, la prise en charge de ceux en dehors du foyer a été au centre de beaucoup de discussions. Cette question des conséquences, parfois inégales sur les différents groupes sociaux, des mesures sanitaires ont trouvé un écho au Parlement. Deux postulats, déposés par les socialistes Tamara Funiciello et Schneider Schüttel demandaient l'examen de ces effets, respectivement sur les groupes sociaux minorisés et sur les femmes en particulier. Les deux textes ont été combattus par l'UDC et refusé par le Conseil national.

Rétrospective annuelle 2020: Groupes sociaux
Dossier: Jahresrückblick 2020